Lebenslang - Thomas Studer - E-Book

Lebenslang E-Book

Thomas Studer

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Beschreibung

Männer zetteln Kriege an und nehmen an Friedensdemos teil, zerstören Wälder und Naturschutzgebiete und verschenken Rosen. Sie jagen dem Glück hinterher und hecheln haarscharf daran vorbei. Immer als Söhne von Vätern, oft als Väter von Söhnen. In den fünfzehn Erzählungen reiben sich Väter und Söhne aneinander, werfen einander Unverdautes und Fehler an den Kopf oder leiden am Leiden des anderen und träumen von einer besseren Zukunft. Unverständnis, Wut, Verzweiflung. Lebenslang. Väter und Söhne fühlen sich in diesen Geschichten aber auch tief verbunden und gehen füreinander durchs Feuer. Zärtlichkeit. Vertrauen. Humor. Bedingungslose Liebe. Lebenslang. Berührende, skurrile, schockierende und ernste Erzählungen, miteinander verknüpft, über verschiedene Kulturen hinweg.

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Seitenzahl: 184

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für Mikko und Jani

Inhaltsverzeichnis

Lieber Chrigu

1

Heilige Kuh

Loeb-Ecke

«Koni, ich bin’s!»

Illegal

Feuernacht

2

Entscheidung

Der Brückenpfeiler

José

Beichtstuhl

1626, Kentucky, USA

3

Unser Sohn!

Eiskristalle

Zwischen Himmel und Hölle

Ode an meinen Vater – oder: Bratwurst mit Magie

Bangkok einfach

Epilog

Dank

Lieber Chrigu

Der Aufenthalt auf diesem Planeten ist eine Zumutung. Du und ich, wir alle stürzen uns in dieses Abenteuer, staunen, lernen, genießen, streiten, kämpfen, leiden, lachen, lieben, geben unser Bestes – und überleben doch nicht. Wozu?

Erst mit der Zeit habe ich gelernt zu verstehen, in welcher Umgebung ich gelandet bin: Auf dem blauen Planeten mitten in den Sternen, umgeben von pulsierendem Leben, Lügen und Intrigen, aber immer wieder mit Hoffnungspflänzchen am Rande meines Lebenswegs. All die guten Menschen. Du.

Die Themen in den Geschichten haben alle etwas mit uns, mit mir zu tun: Freundschaft und Liebe, Wut und Verzweiflung, Versöhnung und Frieden. Vielleicht findest du Antworten auf deine Fragen, die du mir nie stellen konntest? Warum ist mein Vater bloß so stur? Bin ich mehr als nur das genetische und kulturelle Material meines Vaters, meiner Eltern? Wir sind uns oft abhandengekommen. Haben uns aneinander gerieben, darunter gelitten. Fühlten uns aber auch tief verbunden durch unseren funkelnden Schatz an gemeinsamen Erlebnissen und Erinnerungen. Lebenslang, nicht wahr?

Ich habe dich immer geliebt. Tief und stark. Manchmal habe ich die Beziehung zu dir vernachlässigt. Habe vieles verpasst. Das tut mir leid, mein Sohn. Doch ich hoffe, dass du trotz allem genug Wurzeln in deinen Boden schlagen konntest und deine Flügel dich immer wieder in neue Welten tragen mögen.

Mit diesen fünfzehn Geschichten versuche ich, meine Gefühle, Gedanken und Erinnerungen als Vater, Sohn, als Mensch zu einem bunten Mosaik zusammenzufügen. Rahme die schönen Erinnerungen an uns beide ein, und verstaue sie in einem sonnigen Winkel deines Herzens.

Voller Liebe grüße ich dich und deine grosse «Family» aus der Ferne. Koni Kirschbaum, dein Vater

1

Freundschaft und Liebe

Heilige Kuh

Die merkwürdige Geschichte, die unser aller Leben von Grund auf bereichern sollte, begann vor drei Jahren morgens um halb sieben beim Zähneputzen. Unser dreizehnjähriger Sohn Tim stand in seinen blauen Boxershorts und einem weißen T-Shirt neben mir und schmierte sich Colgate auf die Zahnbürste. Dabei erzählte er von einem sonderbaren Traum, den er gehabt habe. Ich war mit dem Schneiden der Fingernägel beschäftigt und hörte ihm zuerst nur mit halbem Ohr zu, wurde nach und nach aber hellhöriger. Es sei keineswegs das erste Mal gewesen, oft schon seien ihm fremde, aber irgendwie bekannte Menschen in seinen Träumen begegnet.

Tim spuckte die Zahnpasta aus, drehte sich um und fixierte mich lange.

«Was ist? Wie geht es weiter?»

Er zögerte, hielt die Zahnbürste unter das fließende Wasser und stellte sie in das Zahnglas.

«Es war Heinz.»

Irritiert schaute ich ihn an. «Heinz …?»

«Ja, Heinz, mein Großvater.»

«Was? Was willst du damit sagen?»

«Ich träumte von Heinz, deinem Vater, der genauso wie auf den Bildern in den Fotoalben aussah.»

An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass Tim, mein Sohn, meinen Vater nicht gekannt hat, weil dieser vor rund zwanzig Jahren von einem Lastwagen überfahren worden ist.

«Bist du dir da sicher? Kein Witz?»

Er schüttelte kurz den Kopf.

«Mein Vater?»

Tim nickte und trommelte mit den Fingern auf den Lavaborand. «Er werde heute in der Nacht wiedergeboren.

Das hat er mir mit zwinkernden Augen erzählt. Nachdem er lange im freien Zeitraum gewesen sei.»

Offensichtlich schaute ich meinen Sohn äußerst kritisch an, denn er begann sich vehement zu verteidigen.

«Ehrlich! Ich erzähle keinen Stuss. Die nackte Wahrheit.»

«Okay», beruhigte ich ihn. «Wie sah er denn aus?»

Die Antwort kam blitzschnell. «Er trug eine braune Baskenmütze, wie auf dem Foto in Lucca, erinnerst du dich?» Ich nickte.

«Irgendwie schien er jünger, dynamischer, sein Gesicht voller Sommersprossen. Großartig. Manchmal zwinkerte er mir zu. Wie ein Großvater eben.»

Befremdet beobachtete ich Tim, wie er vor sich hin lächelte.

«Die Sache mit seiner kommenden Geburt erzählte er mir voller Freude.»

Ich hatte meinem Sohn zugehört, perplex, dass er so voller Zärtlichkeit über meinen Vater sprach; er, der doch dessen Schalk nie persönlich mitbekommen hatte.

Eine tiefe Melancholie überkam mich. Wieder bedauerte ich, dass meine beiden Kinder keine Gelegenheit bekommen hatten, ihren Großvater mit seinem Humor, seiner schrulligen Art, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, kennenzulernen. Und dass ich es als Teenager verpasst hatte, auf seine Gesprächsangebote einzugehen. Erst an seinem Grab wurde mir bewusst, was ich alles verpasst und wie wenig ich ihn eigentlich gekannt hatte.

Plötzlich stand er wieder lebendig vor meinem inneren Auge. Nach so langer Zeit. Wie eine flüchtige Erscheinung aus einem Spiralnebel.

«Er war mir total sympa. Sein Lächeln, sein Schalk in den Augen, seine vielen Grübchen im Gesicht. Genau gleich wie auf den Fotos, aber eben: lebendig. Wie ist er eigentlich so gewesen?»

Ich versuchte, Zeit zu gewinnen, versorgte die Nagelschere langsam im rosa Etui, klaubte die abgeknipsten Nagelsplitter vom Linoleum auf und warf sie in den weißen Behälter.

«Vater? Tja, wie kann ich ihn beschreiben? Wir beide waren sehr verschieden. Er war durch und durch Naturwissenschafter, wollte mir bei jeder Gelegenheit seine Heizungs- und Lüftungsinstallationen erklären und hielt lange Vorträge, die ich hasste. Manchmal war er auch verspielt, humorvoll, das waren die schönsten Momente. Wenn er aber stur auf seinem Standpunkt beharrte, hätte ich ihn am liebsten auf den Mond geschossen.»

«Hast du ihn gerngehabt?»

Ich überlegte. «Ja, meistens. Aber damals, als ich in die Welt aufbrechen wollte, da interessierte er mich nicht besonders.» Schwerfällig ließ ich mich auf dem Badewannenrand nieder. «Wir haben uns damals verpasst. Weil ich so narzisstisch war.»

Tim nickte langsam. «Und jetzt? Wenn du an ihn denkst?»

«Er fehlt mir bis heute.»

Tim nickte und lächelte mich an.

«Als was soll er wiedergeboren werden?», wollte ich wissen.

Die Frage schwebte wie ein leuchtender Regenbogen im Badezimmer, leicht zitternd, als ob sie im westlichabendländischen Wissenschaftsdiskurs ein Tabubruch wäre.

Mein Sohn zögerte erneut, was sonst keineswegs seine Art war, bis er sagte: «Als heilige Kuh, in Südindien.»

«Als heilige Kuh in Südindien?» Ich amüsierte mich über die gelungene Pointe meines Sohnes. Doch Tim, der sonst oft zu Späßen und Witzchen aufgelegt ist, blieb ernst.

Sein Blick ruhte auf mir wie der eines abgeklärten Buddhas. «Sind die Dinge nur wahr, wenn sie sichtbar, messbar und kontrollierbar sind?»

Drei Jahre später erhielt ich von einem Hilfswerk den Auftrag, in Indien ein erdbebensicheres Spital zu bauen, in der Provinz Gujarat, der Region, aus der auch Mahatma Gandhi stammte. Während eines besonders starken Erdbebens waren dort rund 20‘000 Menschen verschüttet worden.

Vom Bürgermeister, dem Schulleiter und einer Delegation der Frauenorganisation wurde ich am Flughafen abgeholt und herzlich willkommen geheißen. Wir fuhren mit einem alten Range Rover in den Distrikt Kutch, in dem das Wiederaufbauprojekt unter Leitung der Frauenorganisation umgesetzt werden sollte. Überall sahen wir eingestürzte Häuser, Betonfriedhöfe oder Armierungsverstrebungen, die wie Spinnenbeine in die Luft ragten. Zerstörte Dörfer und Städte, gebrandmarkt und mit offenen Wunden von dem verheerenden Erdbeben.

Die Frauen, die zur Begrüßung für mich gekocht hatten, zeigten mir die großen Fortschritte, die sie zusammen mit den lokalen Partnern erzielt hatten. Von den 2000 geplanten Häusern standen bereits 100 mit fließendem Wasser und einfachen sanitären Installationen. Beeindruckt lobte ich sie für ihre ausgezeichnete Arbeit.

Als sie merkten, dass ich nach der langen Reise doch ziemlich erschöpft war, begleiteten sie mich zu einem der kleinen Neubauten und quartierten mich dort ein. Auf der dünnen Matratze fiel ich in einen tiefen traumlosen Schlaf, der über zehn Stunden dauerte.

Es waren sieben magere Kühe, die vor meinem Haus standen und mich anglotzten, als ich am nächsten Morgen mit einer Teetasse in der Hand auf den überdachten Sitzplatz trat. Ich machte einen Schritt auf sie zu und begrüßte sie mit «Grüessech». Einen Moment schenkten sie mir ihre Aufmerksamkeit, dann widmeten sie sich wieder der spärlichen Wiese. Außer einer, die einfach beim Zaun stehenblieb und wohl versuchte, meinen Berner-Oberländer-Dialekt zu verstehen. Sie hatte ein grauweißes Fell, lange Faltenohren und bedrohlich gebogene, grau pigmentierte Hörner. Mit ihren schwarzen Augen beobachtete sie mich fortwährend.

Ich betrachtete sie ebenfalls, doch mit der Zeit verlor ich das Interesse an ihr und drehte mich ab. Da muhte sie laut und empört, sodass ich mich ihr erneut zuwandte. Wild schüttelte sie den Kopf, stoppte abrupt und muhte nochmals kräftig. Ich musste lachen und trat näher an den Zaun heran, irgendwie zog die Kuh mich an. Da bemerkte ich ein goldenes Glimmen in ihren Augenwinkeln, als ob sich ein Schwarm Leuchtkäfer eingenistet hätte. Und ein leises Zwinkern. Mich traf beinahe der Schlag. Es war das gleiche Glimmen, das mein Vater gehabt hatte, wenn er beim Pétanque-Spiel als Tireur einen Volltreffer gelandet oder meine Mutter und uns Kinder am 1. April mit einem Scherz hereingelegt hatte. Mein königliches Markenzeichen, hatte er es genannt.

Vor Schreck ließ ich meine Teetasse fallen. Die Kuh machte einen Satz rückwärts, schüttelte ihre Ohren, kam dann aber langsam wieder auf mich zu. Voller Ehrfurcht hielt ich ihr meine Hand hin, begann zutraulich auf sie einzureden und lockte sie mit der offenen Hand, bis sie ihre breite, raue Zunge über meine Handinnenseite gleiten ließ und mir die Finger abschleckte.

Der Traum meines Sohnes fiel mir ein. War das möglich? Gab es so etwas wie Reinkarnation – und mein vor dreiundzwanzig Jahren verstorbener Vater stand leibhaftig vor mir, allerdings in einer anderen Gestalt?

Fassungslos blieb ich vor dem Zaun stehen, eine Ewigkeit, wie mir schien, streichelte die Kuh, hielt ihr erneut meine Hand vor die Schnauze und schaute in ihre schwarzen Augen, die mir je länger, je vertrauter waren.

Voller Panik, wahnsinnig geworden zu sein, riss ich mich von ihr los, sprintete über den Vorplatz ins Haus, ließ mich auf meine Matratze fallen.

Stopp diesen Blödsinn sofort. Das ist völlig unmöglich.

Sowas widerspricht jeglicher wissenschaftlichen Logik.

In den nächsten Tagen verbrachte ich jeweils nach der Arbeit Zeit mit der mir heiligen Kuh. Ich brachte ihr frisch geschnittenen Salat oder Gemüseabfälle. Sie ließ sich von mir streicheln und hörte mir aufmerksam zu, wenn ich ihr von gemeinsamen Erlebnissen aus meiner Kindheit, von Meret, meiner Mutter, oder Franz, dem dementen Nachbarn, erzählte, den wir manchmal frühmorgens zusammengerollt unter dem Rosenstock in unserem Garten fanden.

Schließlich überwand ich meine Scheu und packte auch das Thema an, das mir am meisten auf der Zunge brannte.

«Erinnerst du dich noch an den 13. April? Als es Bindfäden regnete und …», ich stockte und schaffte es nur mit Mühe, fortzufahren, «… du leicht verspätet zum Tram rennen wolltest?»

Gelassen zupfte die Kuh einzelne Grashalme aus der kargen Wiese und warf mir nur ab und zu einen kurzen Blick zu.

«Damals, als der Lastwagenfahrer dich wegen dem Regen nicht über die Straße rennen sah …». Keine Reaktion. «Und du von ihm fünf Meter aufs Trottoir geschleudert wurdest?»

Die Sekunden tropften schwer wie kleine Bleikugeln zu Boden. Regungslos blieb die Kuh stehen. Bis sie abrupt den Kopf schüttelte und einen kehligen Urlaut ausstieß. Ungelenk schlenzte sie ihre Hinterbeine um die eigene Achse, drehte sich ab und antwortete mit einem kräftigen Pupser.

Ein paar Tage später beschloss ich, mit Rajni, der hochangesehenen Vorsteherin der Frauenorganisation, unter vier Augen über mein eigenartiges Erlebnis zu sprechen.

Rajni hieß mich in ihrer geräumigen Hütte willkommen und bot mir Tee an. In keiner Weise zeigte sie sich verwundert, als ich mit der Geschichte meines verstorbenen Vaters herausrückte, den ich in einer der Kühe vor meinem Häuschen wiedergefunden zu haben vermutete. Dabei kam ich mir selbst ein wenig verrückt vor, wie ein Lügner oder Hochstapler. Doch Rajni antwortete nur, dass reinkarnatorische Ereignisse oft passierten, und fragte mich, was ich denn nun zu tun gedenke.

«Keine Ahnung.» Darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht.

«Nimmst du ihn in die Schweiz mit?»

Mit offenem Mund starrte ich sie an. Verrückt! So eine absurde Idee war mir bis anhin noch nicht gekommen. Rajni ließ sich von meiner Schockstarre nicht beeindrucken und bot mir bei den damit verbundenen administrativen Hürden ihre Hilfe an.

Ich brauchte drei schlaflose Nächte, bis ich mich entschied, meinen Vater, die heilige Kuh, zu fragen, ob er gerne mit mir in die Schweiz käme.

Als ich am nächsten Tag über die Wiese ging, stand er schon am Zaun und erwartete mich, während die anderen Kühe wiederkäuend verstreut auf der Wiese lagen. Mit zitternder Stimme brachte ich meine Frage hervor. Die Sekunden verstrichen, ohne dass er eine Reaktion zeigte. Ich spürte eine innere Unruhe, die mir den Hals zuschnürte. Hatte er die Frage verstanden? Wie würde er sich äußern?

Als Erstes schüttelte er seine langen Faltenohren und trommelte damit gegen sein grauweißes Fell, das mir plötzlich zu glänzen schien. Mit dem Schwanz vertrieb er die Fliegenschwärme, fuhr sich mit der Zunge über die Nase und blieb stocksteif stehen.

«Papa, kommst du mit mir in die Schweiz, nach Hause?», wiederholte ich atemlos meine Frage.

Erneut verstrichen die Sekunden. Die Luft um uns herum lud sich spürbar elektrisch auf. Bis ihm ein wildes, unkontrolliertes Muhen entfuhr und er seinen Kopf mit den Schlabberohren erneut schüttelte. Wie ein Stier in der Arena vor dem Angriff. Vor Schreck hätte ich beinahe einen Schritt zurück gemacht. War das eine abschlägige Antwort? Ich versuchte mich zu beherrschen. Tief blickte ich ihm in seine schwarzen Augen, beugte mich über den Zaun vorsichtig zu ihm hinüber und versuchte einen Blick in seine Seele zu erhaschen. Da sah ich es erneut: das goldene Glimmen, das mir nun viel stärker vorkam als in den letzten Tagen.

Ich strahlte über das ganze Gesicht. Am liebsten hätte ich ihn in die Arme genommen und liebevoll gedrückt. Doch ich getraute mich nicht. Seine bedrohlich gebogenen Hörner zielten genau auf meine Nasenspitze und flößten mir gewaltigen Respekt ein. Leicht verspannt lächelte ich, in mir aber jubilierte es.

Endgültig überzeugte mich schließlich seine feuchte Zunge, die meine rechte Hand und meinen Unterarm während Minuten liebevoll einseifte.

«Was für ein Wunder», stammelte ich. «Tim, dein Enkel, hat mich zu dir geführt.»

Mit Hilfe von Rajni schafften wir den Wildwuchs an Verwaltungsanträgen. Erstaunlicherweise hatten die meisten Angestellten Verständnis für mein Anliegen, sodass ich nach zwei Monaten die notwendigen Ausfuhr- und Einreisepapiere in den Händen hielt. Wie glücklich war ich! Der Abschied am Flughafen in Ahmedabad war ein Volksfest. Es hatte sich rasch herumgesprochen, dass ein Schweizer seinen Vater wiedergefunden hatte. Dies schien die indische Volksseele zu Tränen zu rühren. Hunderte standen in ihren bunten Saris auf der Terrasse, winkten, tanzten, weinten und fielen sich in die Arme, als sie uns im Gefolge des Bürgermeisters, der Frauen und vieler neuer Freunde über die Flugbahn wandern sahen.

Mein Vater schritt würdevoll die Rampe hinauf in den alten Flugzeugträger und ließ zum Abschied noch einen gewaltigen Kuhfladen fallen.

Es brauchte ein paar Wochen Überredungskünste, bis sich zu Hause alle, vor allem Lilly, meine liebe Ehefrau, die Nachbarn, die Medien und die Stadt an die neue Situation gewöhnt hatten. Nach einer ausführlichen Berichterstattung in der Lokalzeitung pilgerten von überall her Menschen zu uns, um den reinkarnierten Vater zu bestaunen. Seine alten Freunde waren geteilter Meinung. Die einen sprachen von reinem Hokuspokus, es werde sowieso ein viel zu großes Tamtam um solch esoterischen Schnickschnack gemacht. Andere waren überzeugt, in einer Regung seiner Augen, seinem eleganten Schwanzwurf oder seinen abrupten, wilden Sprüngen den Heinz von früher zu erkennen. Alte Kinderfotos wurden mit seinem jetzigen Aussehen verglichen. Die Gilden der Sozialpsychologie und der Fundamentaltheologie zerbrachen sich die Köpfe darüber, warum die seelische Substanz von Heinz Emmentalers Seele sich gerade in Mahatma Gandhis Provinz Gujarat inkarniert haben könnte. Er, der doch eigentlich als passionierter Schütze und Jäger alles andere als pazifistisch gewesen sei. Und meine Familie überbot sich darin, ihm seine alten Leibspeisen zu kochen, die er allerdings verschmähte und ihnen ein saftiges Grasbüschel vorzog.

Heute lebt mein Vater in unserem Garten, im Sommer hat er einen selbst gebastelten Holzverhau zum Unterstand und im Winter ist er in einem zusätzlich angebauten Wintergarten untergebracht. Keiner in der Familie möchte ihn missen. Wir alle sind überglücklich, dass Heinz wieder bei uns ist und wir nun ein ganz spezielles Mehrgenerationenhaus sind, in dem mein Vater ein neues Leben führen kann.

Als ich gestern im Garten Sträucher schnitt und mein Vater daneben die Gräser unter den am Boden liegenden Ästen schnauste, kam Tim lächelnd auf uns zu.

«Ein schönes Bild, ihr zwei zusammen.»

Ich drehte mich um und nickte glücklich.

«Und stell dir vor: Wir haben uns doch nicht verpasst.»

Loeb-Ecke

Der kleine Junge hält die Hand seiner Mutter und hüpft wie ein Jo-Jo auf und ab. Immer wieder blickt er von der Loeb-Ecke aus sehnsüchtig in Richtung Bubenbergplatz.

«Mama, wann kommt er?»

«Bald.»

«Wann ist bald?»

«Jetzt und ein bisschen noch.»

«Wie viel ist ein bisschen noch?» Seine Ungeduld knistert wie die Tramoberleitungen im Winter.

Die Mutter lächelt und spreizt Daumen und Zeigefinger auseinander. «Das ist ein bisschen.»

Er nickt und beginnt Che che koolay, das Lied der bunten Vögel, zu singen. Die Leute, die auf das Tram 9 warten, drehen sich um. Was für ein fröhliches Kind. Und so hübsch mit seinem süßen Kirschmündchen.

«Da! Siehst du?» Die Mutter streckt ihren Arm weit aus und zeigt zum Bubenbergplatz hinüber.

Langsam wie ein Tatzelwurm nimmt das rote Tram die Kurve bei der Berner Kantonalbank und rollt gemächlich auf sie zu. Der Junge erstarrt und klammert sich an Mamas Hand fest. Sein Herz steht still. «Er kommt.»

Größer und größer wird der Mann, der aufrecht wie ein König im Führerstand thront. Näher, immer näher kommt er. Der kleine Junge staunt, wie der Mann wächst und er ihm auf einmal in die Augen blicken kann.

«Papa», schreit der Junge wie wild und fuchtelt mit den Armen in der Luft.

Der Vater winkt dem Jungen zu. Lachfalten breiten sich im ganzen Gesicht aus. Als sich kurz darauf die Tramtüren öffnen und die Passagiere aussteigen, rennt der Junge nach vorne zum Führerstand. Dort bleibt er stehen und ruft seiner Mutter zu, sie solle sich beeilen. Der Vater kurbelt das Fenster hinunter, die Mutter, endlich angekommen, packt den Jungen um die Hüften und hält ihn in die Höhe.

Wortlos, mit leuchtenden Augen blickt der Junge den Vater an, hört dessen Erklärungen über die vielen Schalter im Führerstand fasziniert zu, nickt dabei immer wieder mit dem Kopf und strahlt über das ganze Gesicht. Bis die Türen sich automatisch schließen. Der Vater strubbelt ihm kurz mit der Hand über die Haare, bevor er sich wieder setzt, ein letztes Mal winkt, die Tramglocke zum Abschied ertönen lässt und langsam in Richtung Bundeshaus davonrollt. Der Junge und seine Mutter winken mit einem rot gesprenkelten Schal, bis das Tram in der Altstadt versinkt. Der Junge ist voller Stolz, und auch die Mutter hat Freudentränen in den Augen.

Ich pflügte mich durch die vielen wartenden Menschen vor der Heiliggeistkirche und wollte zum Länggassbus, als ich plötzlich erstarrte. Nicht zu fassen! ¿Qué pasa? Wieder standen die beiden auf der anderen Seite des Perrons vorne bei der Haltestelle des 9er-Trams und warteten: der kleine Junge, der auf und ab hüpfte, an der Hand seiner eleganten Mutter, heute in ein langes meergrünes Gewand gekleidet, die Haare mit einem gelben Tuch zusammengebunden. Ich blickte auf die Uhr. Tatsächlich, es war wieder Punkt vier. Genau wie letzte Woche. Rasch griff ich zu meiner Spiegelreflexkamera, die ich immer bei mir habe. Ich zoomte auf die beiden mir gegenüber und drückte, ohne mir weitere Gedanken zu machen, mehrmals in Folge ab. Wie eine Ertrinkende sog ich das Glück dieses vielleicht fünfjährigen Jungen ein, der seinen Vater herbeisehnte. Mutter und Sohn hatten ihre Augen in die Ferne gerichtet. Ihr Körperausdruck signalisierte «Warten». Sie mit ständigen kurzen Blicken auf ihre Uhr, er ergriffen und hibbelnd. Die Füße stampften auf den Boden, die Arme schlenkerten um seinen dünnen Körper, und die Hände wirbelten wie eine Spatzenschar durch die Luft.

Ich spürte, wie mein Puls stieg. Fasziniert gab ich mich der Szene hin. Glücksmomente, die aus dem Alltag emporstiegen und ihm eine besondere Bedeutung verliehen. Wie in Trance drückte ich auf den Auslöser. Nichts war mir in diesem Moment wichtiger, als diese Bilder festzuhalten.

Klar, ging es mir ein paar Stunden später in meinem Fotolabor durch den Kopf, als die Bilder wie langsam aufblühende Nachtkerzen vor mir aus dem Wasserbad auftauchten. Das wird eine längere Fotoserie, daraus mache ich eine Fotoreihe samt Ausstellung! Zusammen mit Josés Skulpturen. Wie schön! Unsere Hauptthemen «Glück» und «Gerechtigkeit» im gleichen Raum vereint.

In den nächsten sechs Wochen stand ich jeden Freitag bereits ab drei Uhr bei der Heiliggeistkirche, vis-à-vis des Loeb. Würden sie wieder kommen? Ich tigerte auf dem Perron auf und ab, rempelte Wartende an und wäre einmal aus Unachtsamkeit beinahe vom 12er-Bus überfahren worden, als ich, ohne zu schauen, die Straße überqueren wollte. Nur das schrille Hupen des Busses rettete mich davor, von den Rädern zerquetscht zu werden. ¡Chuta!

Sobald ich die Mutter in der Menge erblickte, wie sie majestätisch, ihren kleinen zwirbligen Jungen an der Hand, auftauchte, erfüllte mich eine innere Ruhe. Sie sind da, ¡qué lindo! Am liebsten hätte ich beide umarmt. Doch sie kümmerten sich nicht um mich. Ihre Blicke gingen zum Bubenbergplatz hin, dort, wo das rote Tram aus der Kurve heraus gerade in ihre Seele fahren würde.

Der Ablauf war stets der gleiche. Das Tram fuhr langsam ein, der Fahrer war von Weitem an seiner aufrechten, stolzen Haltung zu erkennen. Dann die überbordende Freude des Jungen, wenn sein Vater ihm aus dem Führerstand zuwinkte, kurze Worte, ein letztes Winken, und schon sah man nur noch die Rücklichter des Trams kurz vor dem Wegtauchen in die Altstadt.

Bis zu dem Freitag, an dem sie nicht erschienen. Ich wartete, wurde immer unruhiger, begann wie der kleine Junge auf den Boden zu stampfen und die Hände nervös in der Luft zu bewegen. Was war passiert? Wo steckten sie? War ihnen etwas zugestoßen? ¡Puta!

Auf einen Schlag erkannte ich, dass ich meinen Fokus vor allem auf diese Begegnungen zwischen Vater und Sohn ausgerichtet hatte: im Verlangen, ihre Momente des Glücks zu archivieren.