Leichenstarr an der Bar - Joost Jensen - E-Book

Leichenstarr an der Bar E-Book

Joost Jensen

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Leichenstarr an der Bar ist ein packender Nordsee-Krimi mit viel Lokalkolorit, ostfriesischem Schnack, nordisch-derbem Humor und einem hochaktuellen Fall.

Enno Prester, Umweltaktivist und enger Freund der Friesenbrauerin Gesine Felber, stirbt in ihrem Armen. Seine letzten Worte geben Gesine Rätsel auf: Schimmelreiter klaut. Was hat das zu bedeuten? Gleichzeitig will die Firma Friesenklima eine klimaneutrale Ferienanlage in der Nähe von Sünnum, Gesines ostfriesischer Heimat, bauen und die Einwohner an der saftigen Rendite beteiligen. Eine so gute Gelegenheit können sich die Sünnumer keinesfalls entgehen lassen. Als Gesine aber entdeckt, dass Enno vor seinem Tod Nachforschungen über die Friesenklima AG angestellt hatte, wird sie misstrauisch und will die Wahrheit unbedingt ans Licht bringen. Dabei begibt sie sich in tödliche Gefahr ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 362

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover

Titel

Joost Jensen

Leichenstarr an der Bar

Die Friesenbrauerin ermitteltEin Nordsee-Krimi

Insel Verlag

Impressum

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.

eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5053.

© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: FinePic®, München; Getty Images, München/Ashley Cooper (Dünengras); mauritius images, Mittenwald/Alamy/Pawel Kazmierczak (Dorf), Manfred Ruckszio (Haus)

eISBN 978-3-458-77985-8

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Menatur

Friesenklima

Inselflucht

Sonnenwind

Auftrag

Heringsschwärme

Schattenmann

Frühschoppen

Segeltörn

Schimmelreiter

Standpauke

Ermittlungsansatz

Friesenstift

Wellentanz

Aufruhr

Einbrecher

Geisterhaus

Feuerteufel

Flammenengel

Unvernunft

Lagebesprechung

Sandburg

Interpretationsversuche

Himmelspforte

Sandspuren

Zahlenreich

Hannibal

Norderney

Wolkenkuckucksheim

Nummernkonto

Knockout

Brummschädel

Blitzerfoto

Erklärungsnot

Verbündete

Kaleidoskop

Kommandozentrale

Wolfrisse

Vertrauen

Observierung

Planmäßig

Leuchtturmgespräch

Treuhandkonto

Prophezeiung

Fischbrötchen

Familienbande

Dreimaster

Nachtschicht

Zuckerfische

Danksagung

Tüdelbräu – Das Bier zum Buch

Informationen zum Buch

Leichenstarr an der Bar

Menatur

Sünnum.

Sie sprach das Wort laut aus, als könnte sie ihm auf diese Weise eine tiefere Bedeutung verleihen.

Der Klang ihrer Stimme verhallte in dem alten Gebäude. Aus dem Stuck, mit dem die hohen Decken im Raum verziert waren, brachen immer wieder kleine Stückchen heraus. Das Parkett wies tiefe Schrammen auf. Einige Bretter knarzten beim Betreten. Zerschlissene Vorhänge tanzten in einer leichten Sommerbrise, die durch das geöffnete Fenster hineinwehte.

An der Stirnseite hing ein verstaubtes Ölgemälde, auf dem der Künstler einen Dreimaster verewigt hatte, der in stürmischer Flut Schiffbruch zu erleiden drohte. Am Steuerrad stand ein bärtiger Mann in einem gelben Friesennerz. Auf dem Kopf trug er einen Südwester, die Haare hingen nass in seiner Stirn. Der bis auf die Brust reichende Bart wirkte wie ein vollgesogener Schwamm. Sein Blick war auf eine gigantische Welle gerichtet, die wie eine Wasserwand vor ihm aufragte. Seine Hände hielten das hölzerne Steuerrad mit festem Griff.

Auf ihren Pumps stolzierte sie zu dem Gemälde und blieb davor stehen. Eine Weile betrachtete sie den Seemann, der mit seinem entschlossenen Gesichtsausdruck die entfesselten Kräfte der Natur herauszufordern schien – so wie sie ihr Schicksal.

Sünnum.

Sie sprach das Wort ein weiteres Mal laut aus, als wollte sie es dem Steuermann zurufen. Sie hatte keine Ahnung, ob der Seefahrer auf dem Gemälde einer historischen Figur entsprach oder ob sich der Maler den Mann nur ausgedacht hatte. Letzten Endes war es egal, denn in dem Seemann hatte sie einen Seelenverwandten entdeckt, den sie im realen Leben bisher nicht gefunden hatte. Da sie keinesfalls länger auf Mr. Perfekt warten wollte, würde sie ihre Zukunft in die eigene Hand nehmen und endlich auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Sünnum.

Konnte sie in dem Ort, der so winzig war, dass er nicht einmal bei Google Maps auftauchte, finden, wonach sie bisher vergeblich gesucht hatte?

Sicherlich nicht.

Trotzdem war das Dorf ein weiteres Puzzleteil ihres Plans, auf das sie keinesfalls verzichten wollte.

Sie drehte sich um und betrachtete den Schreibtisch, dessen ramponierte Holzplatte vollständig von Schriftstücken, Prospekten und Dokumenten bedeckt war. Der Computermonitor ragte wie ein Leuchtturm aus der papiernen Flut empor. Tageslicht fiel auf eine Zeichnung, die im Gegensatz zu dem altertümlichen Bild aus einem modernen Farbdrucker gekommen war.

Auf der dreidimensionalen Darstellung war eine Ferienanlage zu sehen, die auf den ersten Blick einem Gutshof glich, wie sie überall in Ostfriesland zu finden waren. Auf den Weiden grasten Kühe, Pferde galoppierten in einer Koppel. Zwei Kinder – ein Junge und ein Mädchen – liefen mit einem Hund lachend über eine Wiese. Ihre Eltern saßen auf einer Bank und winkten ihnen zu. Die Sonne schien von einem azurblauen Himmel und überzog die Landschaft mit goldenem Schimmer.

Der wirkliche Wert der Anlage bestand allerdings weder in der Abbildung der luxuriösen Gebäude noch in der detailgetreuen Nachbildung der wundervollen Landschaft, sondern in dem Versprechen einer glücklichen Zukunft.

Die Friesenklima AG sorgte mit ihren Bauprojekten für nachhaltige Investitionen und zugleich für unbeschwerte Urlaubsfreuden. Noch war der Gutshof eine Ruine, die mit den Millionen, die sie bei den Kapitalgebern einsammeln würde, zu einer klimaneutralen Ferienanlage umgebaut werden würde.

Nach der Fertigstellung würde es ein emissionsneutrales Vorzeigeobjekt sein, das mit Windrädern und Solardächern seine eigene Energie erzeugte, seinen Wasserbedarf aus einer im Boden versenkten Zisterne deckte und seinen Abfall recycelte.

Das Projekt, das sie auf den Namen Menatur getauft hatte, würde die erste Ferienanlage sein, bei der Mensch und Natur im vollständigen Einklang miteinander lebten, ohne dass die Feriengäste auf ihren gewohnten Komfort verzichten mussten.

Natürlich war das eine Lüge – wie die Hotelanlage Friesenbrise, die niemals erbaut werden würde.

In einer Zeit, in der Unwahrheiten lediglich Fake News waren und jeder Blödsinn zur Wahrheit wurde, wenn man ihn im Internet nur oft genug wiederholte, konnte man den Menschen alles verkaufen.

Wenn sie das Versprechen einer besseren Zukunft mit der Aussicht auf baldigen Reichtum verband, ließen sich viele Interessenten davon so sehr blenden, dass sie ihren gesunden Verstand ausschalteten und der Gier das Kommando überließen. In den letzten Monaten waren bereits viele Investoren auf die Fotos und Texte der Hochglanzprospekte reingefallen und hatten ihre Gelder auf das Firmenkonto der Friesenklima AG überwiesen.

Sünnum.

Nach den anderen Orten würde sie auch die in diesem Kaff lebenden Tranfunzeln um ihre Ersparnisse erleichtern.

Ein Lächeln huschte über ihre dunkelrot geschminkten Lippen, als sie nach einem der auf dem Schreibtisch liegenden Prospekte griff und ihn durchblätterte.

Wenn die Sünnumer erst einmal einige Gläser ihres Tüdelbräus, wie das Bier der Friesenbrauerin genannt wurde, intus hatten, würden die Einfaltspinsel jeden Vertrag unterschreiben.

Sie drehte sich zu der im Türrahmen stehenden Gestalt um und rief ihr zu: »Auf nach Sünnum.«

Friesenklima

»Ein Tüdelbräu. Gesine, mach hinne.«

Der Tischler Hinnerk Gravenhorst drückte die Tür zum Kroog hinter sich zu und marschierte durch den kleinen Schankraum zur Theke, die fast die gesamte Stirnseite des Raums einnahm. Die Fächer in dem dahinter stehenden Wandregal waren mit Schnapsflaschen, Gläsern, Strandgut und dem Watthumpen, einer Trophäe, die die Friesenbrauerin Gesine Felber bei einem Bierwettbewerb gewonnen hatte, gefüllt.

An den übrigen Wänden hingen maritime Gemälde in alten Holzrahmen. Auf einem von ihnen war seit Jahren ein daumengroßer schwarzer Fingerabdruck zu sehen, über dessen Herkunft sich die abenteuerlichsten Gerüchte rankten.

Der Tischler bahnte sich seinen Weg durch die dichtgedrängt stehenden Gäste, die an diesem Samstagabend ihr Bier in der Dorfkneipe tranken. Alle Sünnumer, die nicht an der Theke auf Barhockern saßen, standen in Trauben um die drei Stehtische herum und schnackten. Einige von ihnen musterten den Hünen in seinem weißen Hemd, über dem er ein modisches Leinensakko trug, irritiert.

Die hinter dem Zapfhahn stehende Friesenbrauerin reagierte nicht auf seinen Zuruf, sondern unterhielt sich weiter mit ihrem alten Freund, dem früheren Kapitän Joris Harms.

Ihre ehemals brünetten Haare waren inzwischen von silbernen Fäden durchzogen. Die Falten in ihrem Gesicht zeugten vom rauen Leben an der Küste und verliehen ihr eine natürliche Schönheit, die sie gelegentlich mit etwas Lippenstift aufpeppte. Ihre blauen Augen strahlten noch immer eine unbändige Energie aus.

Der Raum war erfüllt von Stimmengewirr und Gelächter. Aus den Lautsprechern erklang das Lied Mein Ostfriesland, meine Heimat das von einigen Gästen textsicher mitgesungen wurde.

Hinnerk stellte sich neben Joris an die Theke. Darüber hing eine ausrangierte Schiffsglocke aus Messing, die nur zu besonderen Anlässen geläutet wurde.

»Wo bleibt mein Bier?« Er stützte sich mit den muskulösen Unterarmen auf die Theke und beugte sich etwas vor. Am linken Handgelenk prangte eine teure Uhr.

Die Friesenbrauerin, die ihr Tüdelbräu in einer im Keller stehenden Brauanlage selbst herstellte, würdigte ihn keines Blickes und zapfte in aller Seelenruhe weiter. Als das Glas endlich gefüllt war, streckte der Tischler die Hand danach aus, aber Gesine reichte es dem alten Kapitän.

»He, das war mein Glas«, beschwerte sich Hinnerk.

»Ich kann dich nicht hören.«

Gesine Felber, die wegen ihrer Erzählungen, in denen sie reale Geschehnisse oft mit einer Prise Seemannsgarn aufpeppte, von den Sünnumern liebevoll Tüdelbüdel genannt wurde, legte die linke Hand hinter ihr Ohr.

»Ich will ein Bier. Aber zackig.«

Hinnerk deutete mit einem Kopfnicken zum Zapfhahn. Die Friesenbrauerin zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder Joris zu. Dieser trank einen Schluck und schob dann seine Seemannsmütze in den Nacken. Dabei waren die stoppelkurzen Haare auf der wettergegerbten Haut des ehemaligen Kapitäns zu sehen, die wie der weiße Vollbart in hellem Kontrast zu seinem gebräunten Gesicht standen.

»Du solltest wissen, dass sich meine Mutter nicht hetzen lässt.« Wiebke Felber, Gesines Tochter und einzige Polizistin des Dorfes, stellte ein Tablett mit leeren Gläsern auf der Theke ab und strich sich eine Strähne ihrer dunkelblonden Haare, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte, hinter das linke Ohr. Nach ihrem Dienst half die sportliche Beamtin, der man ihre zweiunddreißig Jahre nicht ansah, oft in der Gaststube aus, so auch an diesem Samstagabend.

Als die Friesenbrauerin ein neues Glas unter die Zapfanlage stellte, leckte sich Hinnerk über die Lippen und fragte: »Gesine, würdest du die Freundlichkeit besitzen und mir ein Tüdelbräu zapfen?«

»Jetzt kann ich dich endlich verstehen.« Sie zwinkerte dem Tischler zu und hielt ein neues Glas unter den Zapfhahn. »Was ist heute nur mit dir los? Du bist sonst nicht so ungeduldig.«

»Zeit ist Geld, das weißt du doch.«

»Wat is denn dat för’n Schwachsinn?« Joris schüttelte den Kopf.

»Davon ist mein Bankberater überzeugt. Der hat mir auch gesagt, dass ich mich zur Ruhe setzen und das Geld für mich arbeiten lassen soll. Angeblich machen das alle reichen Leute so. Nur Döspaddel schuften den ganzen Tag.«

»Oha. Den Spruch hättest du dir im Kroog besser verkniffen.« Der alte Kapitän schaute zur Friesenbrauerin, die Hinnerk aus zusammengekniffenen Augen musterte.

»Hältst du mich für eine Idiotin, weil ich tagsüber im Lädchen schufte und abends Bier ausschenke? Soll ich etwa mit dem Brauen aufhören und meine Ersparnisse für mich arbeiten lassen?«

»Mit dem Brauen aufhören? Das kannst du nicht machen!« Joris riss die Augen auf und wedelte mit den Händen, als wollte er ein fahrendes Auto anhalten. »Hinnerk, du hältst jetzt den Sabbel, bevor du dich um Kopf und Kragen redest. Ein Leben ohne Tüdelbüdel kann ich mir nicht vorstellen.«

»Mein lieber Seebär, das war ein wundervolles Kompliment. Ich wusste nicht, dass dir so viel an mir liegt.« Gesine strich ihrem alten Freund über die linke Wange.

»Ich meine natürlich dein Tüdelbräu.«

»Das hast du aber nicht gesagt.« Sie zwinkerte ihm zu.

»Das war nur ein Versprecher. Heute bin ich etwas tüdelig.« Joris griff nach seinem Glas, trank einen Schluck und wandte sich dann an Hinnerk. »Warum läufst du in diesen feinen Klamotten rum?«

»Kleider machen Leute.«

»Das ist Blödsinn. Ein Vollpfosten wird doch nicht schlauer, wenn ich ihn in einen Anzug stecke. Außerdem kapiere ich nicht, wie das Geld für mich arbeiten kann. Sollen meine Scheine jetzt Suppe kochen und die Münzen den Abwasch machen?«

Hinnerk nahm das Glas von der Friesenbrauerin entgegen und trank ordentlich ab. Dann wischte er sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund und erklärte: »Wenn du dein Geld an der Börse investierst, wird es jedes Jahr etwas mehr, weil die Unternehmen Gewinne machen. Davon bekomme ich dann Dividenden, und das sind meine Renditen. Oder waren das die Kurssteigerungen?« Der Tischler fuhr sich über den kahlen Schädel, während er fieberhaft überlegte und dann abwinkte. »Ist auch egal. Hauptsache, die Kohle arbeitet jetzt für mich.«

»Hast du schon so viel verdient, dass du dir den protzigen Klunker leisten kannst?«, fragte die Friesenbrauerin mit Blick auf die Uhr.

»Nee, noch nicht. Die habe ich von dem Kredit gekauft.«

»Welchem Kredit?«

»Den ich bei der Küstenbank aufgenommen habe, damit das Geld für mich arbeiten kann. Dabei muss ich immer die Zeit im Blick haben.«

»Wieso das denn?«, hakte Gesine nach, während sie Bier in ein weiteres Glas laufen ließ.

»Damit ich weiß, wann ich meinen Kurs checken muss.«

»Zum Bestimmen eines Kurses braucht ein Kapitän einen Kompass und keine Uhr«, ließ sich Joris vernehmen.

»Nee, diesen Kurs meine ich doch nicht.«

»Was denn sonst?«

»Mein Kurs hat nichts mit Seefahrt zu tun, sondern ist so ein Aktiending.«

»Worin hast du denn investiert?«, mischte sich Wiebke in das Gespräch ein und stellte das volle Glas, das Gesine ihr anreichte, auf das Tablett. »Doch nicht etwa in Stormpower?«

»Wieso denn nicht? Der Bankfuzzi hat gesagt, dass Windenergie eine große Zukunft hat. Vor allem hier im Norden.«

»Das stimmt. Stormpower ist aber kein deutsches Unternehmen, sondern ein höchst spekulativer amerikanischer Nischenwert.«

»Spekulawat?« Hinnerk leerte sein Glas.

»Spekulativ. Stormpower ist ein riskantes Investment, bei dem du dein gesamtes Geld verlieren kannst«, erklärte Wiebke.

»Wieso verlieren? Davon war nie die Rede.«

»Bankberater vergessen gerne, auf die Risiken hinzuweisen, und lassen dich stattdessen stapelweise Dokumente unterschreiben, die kein Mensch jemals lesen wird und nach denen jede Verlusthaftung ausgeschlossen ist. An deiner Stelle würde ich die Aktien sofort wieder verkaufen und das Geld in andere Projekte investieren.«

»Wieso das denn?«

»Weil ein Konkurrent den Auftrag für den Offshore-Windpark vor der nordöstlichen US-Küste bekommen wird, den die Stormpower bei ihren Erträgen fest eingeplant hat. Die Analysten gehen davon aus, dass das Unternehmen in Schieflage geraten und schon bald Konkurs anmelden wird.«

»Woher weißt du das alles?« Hinnerk war vollkommen perplex.

»Weil ich nicht nur die Gezeitentabellen lese, sondern auch den Wirtschaftsteil der Zeitung. Ich informiere mich täglich im Internet über die aktuelle Börsenentwicklung. Mama, jetzt schau nicht so überrascht. Solange die mickrigen Zinsen auf dem Sparbuch nicht einmal die Inflation ausgleichen, verliere ich jeden Tag etwas mehr von meinen Ersparnissen.«

»Und was soll ich jetzt machen?« Hinnerk fuhr sich nachdenklich über seinen gewaltigen Bart, den er an diesem Abend zu einem Zopf geflochten hatte.

»Erst einmal in Ruhe dein Tüdelbräu trinken.«

»Gute Idee.«

Der Tischler trank in großen Schlucken, als könnte er seine Verunsicherung damit runterspülen.

»An deiner Stelle würde ich das Geld in regionale Umweltprojekte stecken. Sieh dir das hier mal an.« Wiebke zog einen in der Mitte gefalteten Flyer aus ihrer hinteren Jeanstasche und reichte ihn Hinnerk. Dieser betrachtete die Aufnahme eines restaurierten Gutshofs, vor dem eine lachende Familie posierte. Ein Hund tollte im Vordergrund durch das Bild. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, in dem in leuchtend gelben Buchstaben der Firmenname stand.

»Friesenklima? Was soll das sein?«

»Das ist ein norddeutsches Unternehmen, das klimaneutrale Ferienanlagen in der Küstenregion baut. Damit förderst du Firmen aus der Gegend. Vielleicht kannst du bei der Friesenklima AG sogar Aufträge für deine Tischlerei an Land ziehen.«

»Dann arbeitet mein Geld also nicht für mich?« Hinnerk machte ein langes Gesicht.

»Sieht so aus«, bestätigte Joris. »Du solltest die feinen Fummel besser ausziehen und dich wieder an die Werkbank stellen.«

»Echt jetzt?«

»Jo.«

»Schiet ok.«

»Jo.«

»Friesenklima finde ich prima. Den Prospekt kannst du behalten.« Wiebke grinste und reichte ihm die Broschüre.

»Wo hast du das Ding her?« Ihre Mutter stellte ein weiteres Glas mit frisch gezapftem Tüdelbräu auf das Tablett.

»Patrick hat es mir gestern gegeben. Er war auf einer Infoveranstaltung des Unternehmens.«

»Hat er dem Friesenklima auch seine Ersparnisse anvertraut?«

»Mama, der würde seine Scheine am liebsten unter das Kopfkissen legen, so misstrauisch ist der.«

»Kann ich gut verstehen. Ich würde unsere eiserne Reserve auch keinem Unbekannten überlassen.«

»Mareke Renken ist keine Unbekannte, sondern Vorstandsvorsitzende der Friesenklima AG und Geschäftsführerin eines Vereins, der sich für die Förderung eines umweltbewussten Tourismus an der Nordseeküste einsetzt.«

»Friesenklima wird von einer Frau geleitet?« Hinnerk war überrascht. »Dann werde ich mein Geld lieber weiterhin in Aktien stecken.«

»Wieso das denn?« Die Friesenbrauerin beugte sich etwas vor.

»Weil Frauen …«

»… keine Führungspositionen bekleiden können?«

»Gesine, ich meine … nee … aber dennoch …« Der Tischler stolperte über die Worte, als wären sie im Weg liegende Steine.

»Sabbel halten, sonst gibt es Ärger.« Joris schaute von Wiebke zu Gesine, die Hinnerk beide mit missbilligenden Blicken anschauten.

»Besser ist das«, ließ sich die Friesenbrauerin vernehmen. Der Tischler sah auf seine Uhr. »Ich muss jetzt los und den Börsenkurs von Stormpower checken.« Er stand auf und verließ den Kroog.

»Hoffentlich schmiert diese Dingsdafirma nicht ab, bevor Hinnerk seine Aktien verkauft hat. Was sind das nur für Banker, die ahnungslosen Kunden einen Kredit gewähren, damit diese mit dem Geld an der Börse zocken können?« Die Friesenbrauerin stellte ein weiteres frisch gezapftes Bier auf das Tablett. Wiebke griff danach und brachte es zu einem der Stehtische, an dem der beleibte Wattführer Sören Gebhard mit anderen Sünnumern stand und lauthals schnackte.

»Was hältst du von der ganzen Sache?«, wollte Gesine von dem ausgemusterten Kapitän wissen.

»Ich bin unsicher, ob Frauen Unternehmen führen sollten. Im Vergleich zur männlichen Intelligenz ist das weibliche Denkvermögen rudimentär entwickelt und …«

»Ik schiet di wat mit rudimentär entwickeltem weiblichem Denkvermögen.« Gesine drohte ihrem alten Freund spielerisch mit der Faust. Joris lachte, wurde dann aber wieder ernst. »Ich werde mein Geld auf dem Sparbuch lassen. Dort bringt es zwar kaum Zinsen, dafür muss ich allerdings auch keinen Verlust befürchten. Vielleicht sind wir inzwischen zu alt für die modernen Formen der Geldanlage.«

»Wen genau meinst du mit … wir?« Die Friesenbrauerin zog die Buchstaben des letzten Wortes wie Kaugummi auseinander.

»Na, wen wohl? Ich bin ein pensionierter Kapitän und du …«

»Wenn du jetzt alte Frau sagst, bekommst du lebenslanges Lokalverbot«, fiel ihm Gesine ins Wort.

»Das würde ich niemals wagen. Meine liebste Tüdelbüdel, du bist in der Blüte deiner Jahre. Dein Lächeln strahlt heller als die Sonne, der Klang deiner Stimme ist Gesang in meinen Ohren. Deine Worte sind wie süßer Honig. Deine zierliche Figur ist …«

»Mein Tüdelbräu hat dir anscheinend nicht nur den Blick, sondern auch den Verstand vernebelt«, unterbrach Gesine den Redeschwall ihres alten Freundes.

»Habe ich mit meinen Komplimenten übertrieben?«

»Nee, du hast mich äußerst treffend beschrieben. Nur bei der Figur hätte ich die Bezeichnung anmutig vorgezogen. Ich wusste nicht, dass du so poetisch sein kannst.«

»Das bin ich keinesfalls. Das Gesülze habe ich mal in einem Buch gelesen.«

»So etwas hatte ich mir schon gedacht.«

Die Friesenbrauerin stellte ein neues Glas unter die Zapfanlage. Dabei ließ sie den Blick durch die Schankstube schweifen, in der sie unzählige Stunden ihres Lebens mit den Dorfbewohnern verbracht hatte – die für sie keine Gäste, sondern Freunde waren. Für die Welt mochte Sünnum ein bedeutungsloses Kaff im Niemandsland sein, aber für sie würde dieser Ort immer ihre Heimat bleiben. Wirklicher Reichtum war Gesines Meinung nach kein prall gefülltes Bankkonto, sondern ein erfülltes Leben.

»Du siehst so nachdenklich aus. Gehst du die Möglichkeiten durch, mit denen du dein Vermögen am besten anlegen kannst?«

»Meinen Notgroschen werde ich weder in Aktien noch in Unternehmen stecken, die ich nicht kenne. Die ständige Jagd nach mehr Geld bringt doch nichts.«

»Da ist was dran«, stimmte Joris ihr zu und fuhr dann fort. »Ich bin allerdings auch jemand, der nie genug bekommen kann. Wie du weißt, will ich immer mehr …«

»… Tüdelbräu«, ergänzte Gesine.

»Kannst du Gedanken lesen?« Joris grinste.

Inselflucht

Enno Prester hetzte durch die Nacht. Seine Füße versanken bei jedem Schritt im lockeren Sand des Strandes, der um diese Zeit menschenleer war. Einen Moment überlegte er, sich hinter einem der zahlreichen Strandkörbe zu verstecken, entschied sich aber dagegen.

Wenn ihn sein Verfolger entdeckte, war er ein toter Mann. Die Frau, die im Hintergrund die Strippen zog, hatte seinen Tod längst befohlen. Sie konnte ihn unmöglich verschonen, dazu wusste Enno einfach zu viel.

Verdammt, er hätte vorsichtiger sein müssen. Wenn er die Sünnumer nicht rechtzeitig warnte, würden die Dorfbewohner einen hohen Preis zahlen.

Prima Friesenklima.

Der Werbespruch des Unternehmens blinkte wie eine Reklametafel in seinem Kopf auf. Was für ein verlogener Slogan! Friesendrama wäre besser gewesen, denn hinter der glitzernden Fassade des Umweltschutzes verbarg sich ein von Ehrgeiz zerfressener Mensch, der für den Erfolg auch über Leichen ging.

Auf der heutigen Infoveranstaltung des neuen Projektes Menatur war Enno endlich an die Beweise gelangt. Leider hatte ihn Renken dabei erwischt.

Nun rannte er um sein Leben.

Das silberfarbene Licht des Mondes verwandelte Norderney in ein Schattenreich, in dem sich dunkle Gestalten in der Finsternis verbargen.

»Stehen bleiben!«

Enno hörte die Stimme des Verfolgers etwas deutlicher. Sein Vorsprung war geschrumpft.

Er ignorierte die Aufforderung und beschleunigte das Tempo, obwohl er schon jetzt vollkommen außer Puste war.

Das Herz schlug wie verrückt in seiner Brust, der Atem ging stoßweise. Die schulterlangen Haare wehten in einem böigen Nachtwind, der Schaumkronen auf den Wellen tanzen ließ und den Sand hochpeitschte.

Seine Beine, die sich wie geölte Kolben einer Maschine bewegten, würden bald unter ihm nachgeben. Wenn er stürzte, würde seine Flucht am Weststrand der Insel enden.

Wie sein Leben.

Enno biss die Zähne zusammen und zwang die übersäuerte Oberschenkelmuskulatur zum Weiterlaufen.

Er umrundete einen Strandkorb wie eine Slalomstange, wich einem im Sand liegenden Eimer aus und … erblickte seinen Gegner, der urplötzlich direkt vor ihm aufgetaucht war.

Wie war das möglich? Arbeitete sein Widersacher mit einem Komplizen zusammen? Egal, denn zunächst kam es nur darauf an, lebend an diesem dürren Kerl vorbeizukommen. Der hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen, unter der sein Gesicht verborgen war. Reglos und schweigend versperrte er ihm den schmalen Pfad zwischen zwei Strandkörben.

Warum bewegte er sich nicht? War er einer dieser Karatetypen, die nur auf den perfekten Augenblick für einen tödlichen Angriff warteten?

Ennos Gedanken rasten. Mit einem Ausfallschritt konnte er ausweichen und rechts oder links an den Strandkörben vorbeilaufen, aber bei seinem Tempo würde er im Sand wegrutschen und hinfallen. Wenn er in den Angreifer hineinlief, musste er mit einem Fausthieb oder Handkantenschlag rechnen, der ihn von den Füßen holte. Vielleicht verbarg sich unter der Jacke ein Messer, das ihm der Unbekannte ins Herz rammen würde.

Innerhalb von Sekundenbruchteilen entschied sich Enno für die einzige Option, die ihm sinnvoll erschien.

Er ballte die Hände zu Fäusten, senkte den Kopf wie ein angreifender Stier und rannte mitten hinein in seinen Gegner. Er bekam einen Schlag gegen die Stirn, der ihn aufstöhnen ließ. Zu seiner Überraschung wehrte sich sein Widersacher nicht, sondern kippte nach hinten um und blieb reglos liegen. Enno strauchelte und konnte erst im letzten Moment einen Sturz verhindern. Aus den Augenwinkeln erhaschte er einen Blick auf eine Schaufel, die auf einer Jacke lag. Ein Urlauber hatte das Ding in den Sand gerammt und in eine Garderobe verwandelt, die auf den ersten Blick wie ein Mensch mit über den Kopf gezogener Kapuze ausgesehen hatte.

»Gleich habe ich dich.«

Die Stimme des Verfolgers ertönte direkt hinter ihm. Er hatte weiter aufgeholt. Bald schon würde Enno seinen heißen Atem im Nacken spüren.

Er spurtete los.

Falls er es bis zum Yachthafen schaffte, konnte er von dort aus mit Renkens Motorboot fliehen. Den Schlüssel dazu hatte er bereits gestohlen. Vom Weststrand aus waren es knapp drei Kilometer Fußweg. Wenn er sich abseits der Straße hielt und in den Gärten der Häuser Deckung suchte, würde er seinem Verfolger entwischen. Zudem waren bestimmt noch Nachtschwärmer unterwegs, die in den Kneipen und Bars im Inselzentrum gefeiert hatten und sich nun auf dem Heimweg befanden. Obwohl die Urlauber Enno nicht schützen konnten, würde ihn sein Verfolger sicherlich nicht vor Zeugen umbringen. Mit etwas Glück traf er sogar auf eine Polizeistreife, die in der Nacht für Ruhe und Ordnung sorgte.

Enno schlug einen Haken, er wollte Richtung Strandpromenade. Dabei rutschte er mit dem rechten Bein weg und wäre gefallen, wenn er sich nicht im letzten Moment an einem Strandkorb festgehalten hätte. Obwohl er damit einen Sturz verhindern konnte, kostete ihn die Aktion wertvolle Sekunden.

Sein Verfolger raste hinter ihm her und war nur noch wenige Meter entfernt. Enno zwang sich zu einem weiteren Sprint. Dabei schienen seine Füße immer tiefer im Sand zu versinken, als wollte ihn die Insel an einer Flucht hindern. Jeder Schritt kostete mehr Kraft, seine Wadenmuskulatur war hart wie Stein und schmerzte.

Enno wusste, dass er seine Leistungsgrenze inzwischen weit hinter sich gelassen hatte und längst auf Reserve lief. Wenn die ebenfalls erschöpft war, würde er umfallen – wie eine Spielzeugfigur mit defektem Akku.

Game over.

Aber noch war es nicht so weit.

Enno rannte zwischen Strandkörben hindurch und hielt seinen Verfolger auf Abstand. Auf der Promenade entdeckte er drei Männer, die lauthals miteinander redeten. In ihren Händen hielten sie Bierflaschen.

»Hilfe!«, schrie Enno und fuchtelte mit den Armen, aber die Zecher hörten ihn nicht. Dafür hatte er mit dem Rufen seinen Atem vergeudet, der ihm beim Laufen fehlte.

Sekunden später rammte ihm sein Verfolger die Fäuste in den Rücken. Einen Moment lang konnte Enno sich noch auf den Beinen halten, dann stolperte er und fiel auf die Knie. Sofort rappelte er sich wieder auf, war aber zu langsam. Der Gegner warf sich auf seinen Rücken und drückte sein Gesicht in den Sand.

Enno schloss die Lider und kniff die Lippen zusammen. Trotzdem drangen Sand und winzige Muschelstückchen in Mund und Nase.

Er hielt die Luft an. Wenn er nicht ersticken wollte, durfte er keinesfalls atmen.

Das Herz pumpte wie ein außer Kontrolle geratener Motor Blut durch seinen Körper – der keinen Sauerstoff mehr bekam. Lichtblitze zuckten vor seinen Augen.

Er durfte nicht ohnmächtig werden.

Enno spannte alle Muskeln gleichzeitig an und drehte sich ruckartig auf die linke Seite. Damit schien er seinen Gegner überrascht zu haben, denn der Druck wurde weniger.

Enno hob den Kopf und atmete tief ein. Dann hieb er den rechten Ellenbogen nach hinten und hörte einen erstickten Laut. Schnell rollte er sich zur Seite, stemmte die Füße in den Sand und sprang auf.

Keine Sekunde zu früh, denn sein Widersacher warf sich erneut auf ihn. Aber dieses Mal war er darauf vorbereitet und rettete sich mit einem Ausfallschritt. Der Angreifer sprang ins Leere und Enno konnte sein Gesicht sehen.

»Du?«

Einen Moment starrte er fassungslos auf seinen Widersacher. Dann hetzte er zur Strandpromenade.

Die trinkfreudigen Urlauber schienen von dem Kampf nichts mitbekommen zu haben, sie waren verschwunden.

Enno hastete weiter.

Den Weg zum Hafen legte er wie in Trance zurück. In der Nähe der Segelschule verlangsamte er das Tempo, rang nach Atem und versteckte sich hinter einem am Seitenstreifen geparkten Lieferwagen. Das Herz klopfte so laut wie eine Trommel, das Blut rauschte in seinen Ohren.

Vorsichtig linste er auf die Straße. Niemand war zu sehen. Enno atmete erleichtert auf. In wenigen Minuten würde er Norderney mit dem Motorboot verlassen. Er zwang seine Beine zu einer letzten Anstrengung und lief zum Hafen.

Den Knall hörte er erst, als es bereits zu spät war. Die Kugel holte ihn von den Füßen, und er fiel rücklings auf einen schmalen Grünstreifen neben der Straße. Enno verspürte einen stechenden Schmerz, der sich rasend schnell in seinem Körper ausbreitete. Dann fühlte er nichts mehr.

Sonnenwind

Die Friesenbrauerin öffnete das Fenster. Eine laue Brise wehte ins Zimmer und bauschte die Vorhänge auf. Das Licht der aufgehenden Sonne überzog Sünnum an diesem Sonntagmorgen wie ein honiggelber Zuckerguss. Gesine liebte die frühen Stunden, in denen der Tag voller Verheißungen vor ihr lag. Sie atmete tief ein, füllte die Lungen mit der sauerstoffhaltigen Luft. Nach mehreren Atemzügen schlurrte sie in die Küche, goss Leitungswasser in den Kessel und stellte ihn auf den Herd. Während das Wasser aufkochte, löffelte sie Kaffeepulver in einen Porzellanfilter.

Gesine mochte keine Pads, Kapseln und Vollautomaten. Ihrer Meinung ging nichts über einen von Hand aufgebrühten Kaffee.

Wiebke schlief zu dieser frühen Stunde noch, wie die meisten Menschen des Dorfes – mit Ausnahme der Biobäuerin Hilke Dekker, die ihr jeden Tag frische Backwaren vor die Tür stellte, die Gesine in ihrem Lädchen, wie der Tante-Emma-Laden in Sünnum genannt wurde, verkaufte.

Obwohl das Geschäft nur die Größe eines Wohnzimmers hatte, fanden die Dorfbewohner in den bis zur Decke reichenden Regalen fast alle Artikel des täglichen Bedarfs.

Vor der Kühltheke stapelten sich Kisten mit frischem Obst und Gemüse. Auf dem hölzernen Tresen stand immer ein mit bunten Zuckerfischen gefülltes Glas, das auf den ersten Blick wie ein Aquarium aussah. Verkauft wurden die süßen Meeresbewohner in sogenannten Heringsschwärmen. Zunächst hatten sich nur die Kinder des Dorfes für die Nascherei begeistert. Inzwischen verlangten immer mehr Erwachsene nach der Leckerei – allen voran Sören Gebhard, der sich am liebsten nur von diesen Dingern ernähren würde. Auch Joris ließ sich immer wieder einen Heringsschwarm geben, den er mit einer Flasche Tüdelbräu herunterspülte, um die Fische in seinem Bauch schwimmen zu lassen.

Da Gesine während der Öffnungszeiten nicht ständig im Laden sein konnte, bedienten sich die Einheimischen während ihrer Abwesenheit selbst und trugen die Einkäufe in eine auf dem Verkaufstresen liegende Kladde ein. Bezahlt wurde bei der nächsten Besorgung oder im Kroog. Obwohl die Kneipe erst ab neunzehn Uhr offiziell öffnete, ließ die Friesenbrauerin auch tagsüber niemanden verdursten und verkaufte notfalls nach Ladenschluss noch Shampoo, Wärmflaschen oder andere Utensilien, deren Erwerb nicht bis zum nächsten Tag warten konnte.

Gesine trank eine Tasse Kaffee, machte sich im Bad fertig und zog sich an. Der morgendliche Strandspaziergang war seit vielen Jahren ein fester Bestandteil ihres Lebens, auf den sie nur dann verzichtete, wenn es aus Eimern schüttete oder ein Sturm über Sünnum wütete.

Sie trat durch die Hintertür in den Innenhof ihres hufeisenförmig angelegten Gebäudes. Hortensien, Rosensträucher und Wildblumen wucherten in leeren Bierfässern, die sie in Pflanzentröge verwandelt hatte. Dazwischen standen aus alten Schiffsplanken gezimmerte Bänke und Tische, an denen sich Dorfbewohner in lauen Sommernächten auf ein Bier und einen Klönschnack trafen.

Die Friesenbrauerin durchquerte den Innenhof und trat vor das Anwesen, dessen mittlerer Teil den Kroog beherbergte. Rechts befand sich das Wohnhaus, auf der linken Seite das Lädchen. Vor den weiß gekalkten Wänden standen Sonnenblumen, die ihre Köpfe etwas hängen ließen. Gesine füllte eine Gießkanne aus dem fast leeren Regenfass und goss zunächst die Pflanzen im Innenhof und danach die Sonnenblumen.

In den letzten Wochen hatte es wenig geregnet.

Obwohl es auch in der Vergangenheit immer wieder heiße Sommer gegeben hatte, zweifelte Gesine keine Sekunde daran, dass die Trockenheit eine Folge des menschengemachten Klimawandels war.

Prima Friesenklima.

Der Werbeslogan ging ihr durch den Kopf. Vielleicht sollte sie Wiebkes Rat doch folgen und mit ihren Ersparnissen umweltfreundliche Projekte in der Region unterstützen. Auf dem Sparbuch nützte das Geld niemandem etwas.

Gesine spazierte an der vor dem Kroog stehenden Holzbank vorbei, deren dunkelblaue Farbe inzwischen derart verblasst war, dass diese kaum noch zu erkennen war.

In Gedanken notierte sie: Bank streichen auf ihrer ellenlangen To-do-Liste und marschierte mit großen Schritten zum Deich. Dort wurde sie von blökenden Schafen empfangen, die hinter der Absperrung grasten. Sie schritt mitten durch die Herde, wobei sie einige Tiere streichelte, und war wenige Minuten später am Strand. Der Leuchtturm, in dem Joris Harms wohnte, ragte neben ihr auf.

Die Friesenbrauerin schlüpfte aus ihren Schuhen und spazierte barfuß durch den Sand, der an diesem frühen Morgen noch kühl war. Inzwischen schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel, über den Schäfchenwolken zogen. Das Wattenmeer lag beim jetzigen Niedrigwasser wie ein feuchter Teppich vor ihr. Im Watt war eine orangefarbene Boje zu sehen und … ein weißes Motorboot?

Gesine blieb verwundert stehen und rieb sich über die Augen, als würde es sich dabei um eine Fata Morgana handeln – aber die Yacht war weiterhin zu erkennen.

Um ein solches Schiff vor Sünnum trockenfallen zu lassen, musste der Skipper entweder betrunken oder dämlich gewesen sein. Wahrscheinlich handelte es sich um einen jener dusseligen Freizeitkapitäne, die ihren Bootsführerschein auf dem Bodensee oder ähnlichen Pfützen gemacht hatten und sich nun für Seebären hielten, die jedem Sturm trotzten. Im Vergleich zu den Binnengewässern mussten die Schiffsführer auf der Nordsee aber nicht nur die Gezeiten beachten, sondern auch Strömungen und Sandbänke.

Die Friesenbrauerin legte die Hände trichterförmig vor den Mund und rief: »Ist da jemand?«

Sie wartete auf eine Antwort, aber außer den Schreien der Möwen und den Rufen der Austernfischer war nichts zu hören.

»Hallo?«, versuchte sie es erneut, erhielt aber auch jetzt keine Reaktion. Eine Wolke schob sich vor die Sonne.

Gesine fröstelte. Sie zog die blaue Strickjacke enger um ihren Körper und betrachtete das Boot einen Moment unschlüssig. Musste sie die Polizei einschalten?

Wiebke konnte sie jetzt nicht benachrichtigen, da ihr Mobiltelefon auf dem Nachttisch lag. Sollte sie nach Sünnum zurückkehren und ihre Tochter wecken?

Wenn jemand auf dem Motorboot Hilfe brauchte, würde sie damit wertvolle Zeit verlieren. Entschlossen krempelte Gesine die Hosenbeine hoch und marschierte ins Watt. Schlick quoll mit schmatzenden Geräuschen zwischen ihren Zehen hindurch, und nach wenigen Schritten waren ihre Füße bis zu den Knöcheln schlammverschmiert.

»Hört mich jemand?«

Gesine machte sich erneut bemerkbar, allerdings reagierte auch jetzt niemand auf ihre Zurufe. Bei jedem zurückgelegten Meter wurde ihr etwas kälter, als wäre das Boot für den Temperaturabfall verantwortlich. Obwohl die Friesenbrauerin wusste, dass die Abkühlung nur an der fehlenden Sonne und dem auffrischenden Wind lag, schien eine eisige Kälte von innen in ihre Glieder zu kriechen, als würde sich auf dem Schiff etwas Böses verbergen.

»Was bist du nur für eine Bangbüx«, schimpfte Gesine mit sich und legte die restliche Strecke mit strammen Schritten zurück. Vor dem Motorboot blieb sie stehen.

Sonnenwind stand in verschnörkelten Buchstaben auf der zum Watt geneigten Seite des Rumpfes.

»Ich komme jetzt an Bord«, sagte sie laut, ohne sich Hoffnung auf eine Reaktion zu machen. Wer auch immer das Schiff gesteuert hatte, war entweder verschwunden, lag sturzbetrunken in einer Ecke, war verletzt oder … tot.

Der letzte Gedanke wirkte wie eine eiskalte Dusche.

Die Friesenbrauerin holte tief Luft, griff nach der Reling und zog sich an Deck. Dort sah sie sich um – was nicht einfach war, denn durch die Schieflage musste sie sich immer irgendwo festhalten. Wenige Minuten später hatte sie das Deck inspiziert, aber niemanden entdecken können.

Gesine kämpfte sich bis zur Tür vor, hinter der eine Treppe in die Kajüte führte. Auf den Holzstufen waren dunkle Flecken erkennbar, als hätte dort jemand mit einem Farbeimer hantiert. Sie ging in die Hocke, fuhr mit dem rechten Zeigefinger durch eine der münzgroßen Lachen und betrachtete ihre verschmierte Fingerkuppe.

»Keine Farbe. Blut.« Sie merkte nicht einmal, dass sie die Worte flüsterte, als wäre die grauenvolle Erkenntnis weniger schlimm, wenn sie leise sprach.

Die Friesenbrauerin verharrte einen Moment in der unbequemen Haltung. Das Verlangen, so schnell wie möglich zu verschwinden, war derart übermächtig, dass sie ihm am liebsten nachgegeben hätte. Wenn sich ein Mörder unter Deck verbarg, würde sie sein nächstes Opfer sein. Andererseits konnte sich dort auch eine verletzte Person befinden, die dringend Hilfe benötigte.

Gesine richtete sich wieder auf und hangelte sich die restlichen Stufen hinab. Da durch die Bullaugen kaum Licht ins Innere fiel, waren diese nur schemenhaft zu erkennen.

Unten angekommen, tastete sie an den Wänden neben der Tür nach einem Schalter, und wenige Augenblicke später erhellten Deckenspots das Innere der Yacht. Auf der rechten Seite befand sich eine Sitzbank mit einem schmalen Tisch, gegenüber war die Kombüse. Durch die Schieflage waren einige Teller und anderes Geschirr von der Tischplatte und der Anrichte gerutscht und lagen in Scherben auf dem Boden. Die Schranktüren waren geschlossen. Der Erbauer dieser Yacht hatte die Einrichtung sturmfest konstruiert.

Überall waren Blutspuren erkennbar.

Die Friesenbrauerin kraxelte zum hinteren Teil des Schiffs, der mit einer Tür gesichert war. Sie öffnete sie und erblickte ein Schlafzimmer, in dem ein breites Bett stand. Kopfkissen und Decke lagen auf dem Boden.

Das Laken war blutverschmiert.

Sie musste Wiebke sofort benachrichtigen. Gesine drehte sich um und wollte das Schiff gerade verlassen, als sich hinter ihr quietschend eine Schranktür öffnete.

Hatte sich dort jemand versteckt?

Gesine hastete zur Treppe, eilte die Stufen empor und kletterte über die Reling ins Watt. So schnell es auf dem matschigen Untergrund möglich war, lief sie zum Strand.

Auf ihrem Weg drohte sie immer wieder auszurutschen, aber davon ließ sie sich nicht beirren. Lieber würde sie schlammverkrustet nach Sünnum zurückkehren, als ihr Leben im Watt auszuhauchen.

Auf dem Deich blieb sie erstmals stehen und schaute sich um. Hinter ihr war niemand.

Natürlich nicht.

Sie hatte zu viele Krimis gesehen. Wenn sich im Schrank wirklich ein Mörder versteckt hatte, hätte er sie längst erwischt. Gesine drängte sich zwischen den friedlich grasenden Schafen hindurch und war wenige Minuten später im Zimmer ihrer Tochter.

»Aufwachen!«

»Mama, was ist denn los?« Wiebke setzte sich im Bett auf.

»Auf dem Schiff ist überall Blut.«

»Schiff? Blut?«

Wiebke sah sie mit schlaftrunkenen Augen an, und die Friesenbrauerin erzählte, was sie auf der Sonnenwind gesehen hatte.

»Ich kümmere mich sofort darum.« Wiebke, nun ganz Polizistin, schwang die Beine aus dem Bett. »Warst du so durch den Wind, dass du die ganze Strecke barfuß gelaufen bist?«

Gesine sah an sich herab und erblickte zwei schlammverkrustete Füße, mit denen sie auf ihrem Weg durch die Wohnung dreckige Spuren hinterlassen hatte.

»Ich wollte dich so schnell wie möglich benachrichtigen.«

»Du hättest mich auf dem Handy erreichen können.« Mit einem Kopfnicken deutete Wiebke auf ihr Gerät, das auf dem Nachttisch lag.

»Ich hatte mein Mobiltelefon nicht dabei. Du solltest nicht ohne Verstärkung zum Schiff gehen.«

»Wenn dort ein Mord geschehen ist, wird der Täter längst das Weite gesucht haben. Dennoch werde ich Gesner benachrichtigen, schließlich könnte es sich dabei um einen Tatort handeln, den wir entsprechend sichern müssten.« Wiebke griff nach ihrem Handy und tippte auf einen im Kurzwahlverzeichnis hinterlegten Namen. Wenige Augenblicke später hatte sie ihren Vorgesetzten informiert, der sich sofort auf den Weg machen wollte. Nach dem Telefonat verschwand Wiebke im Bad und verließ das Haus wenige Minuten später. Die Friesenbrauerin sah ihr sorgenvoll nach.

Auftrag

»Prester ist mit der Sonnenwind entkommen?«

Sie schaute ihn mit jenem Blick an, unter dem er jedes Mal zu schrumpfen schien und sich in ihrer Gegenwart wie eine Ameise fühlte, die sie mit Leichtigkeit zertreten konnte.

»Der Kerl muss auf der Norderneyer Veranstaltung den Schlüssel geklaut haben.« Er senkte den Kopf und betrachtete seine Fußspitzen.

»Was ist mit den Informationen?«

»Du willst wissen, ob er die Konten gehackt hat?«

»Nee, ich interessiere mich für seine Schuhgröße.«

»Sorry, war eine dämliche Frage.«

»Kann man so sehen.«

»Jo.«

»Jo … was?« Sie stemmte die Hände in die Seiten.

»Ich habe Prester überrascht, als er sich die Finanzdaten runtergeladen hat. Er muss das Passwort geknackt haben.«

»Hat er die Daten kopiert und irgendwo gespeichert?«

Er überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf.

»Ich denke nicht. Als er mich bemerkte, ist er direkt geflohen. Ich bin ihm nachgelaufen und habe ihn mit einer Kugel erwischt, aber …«

»… du hast ihn nicht erledigt«, beendete sie den Satz.

»Könnte sein.«

»Warum hast du es nicht zu Ende gebracht?«

»Wegen des Pärchens, das plötzlich aufgetaucht ist. Außerdem dachte ich, dass Prester tot sei.«

»Du dachtest? Wann kapierst du endlich, dass dein Gehirn mit derart komplexen Vorgängen überfordert ist?«

»Ich bin nicht doof«, verteidigte er sich kleinlaut.

»Wie lautete dein Auftrag?« Ihre Stimme war kalt wie Eis.

»Prester eliminieren.«

»Hast du ihn ausgeführt?«

»Nee … Jo … Weiß nicht.«

»Du weißt es nicht?«

»Selbst wenn er entkommen ist, wird er die Verletzung nicht überlebt haben.«

»Er könnte vor seinem Tod etwas ausgeplaudert haben.«

»Hm.«

»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«

»Verdammt, was willst du denn von mir hören?«, schrie er sie an und ballte die Hände zu Fäusten – was sein Gegenüber nicht im mindesten beeindruckte.

»Dass du die Sache im Griff hast und keinen Mist mehr bauen wirst. Du solltest … warte, da muss ich rangehen.«

Sie drehte sich zum Schreibtisch um, auf dem ihr dort liegendes Mobiltelefon klingelte. Nach einem kurzen Gespräch wandte sie sich ihm wieder zu.

»Die Sonnenwind wurde im Watt vor Sünnum gefunden.«

»Was ist mit Prester?«

»Der wurde nicht erwähnt.«

»Er wird während der Fahrt über Bord gegangen sein. Wahrscheinlich ist der Schnüffler längst Fischfutter.«

»Wahrscheinlich reicht mir nicht. Ich will Gewissheit, ist das klar?«

»Jo.«

»Dann wirst du dich sofort auf den Weg nach Sünnum machen. Prester könnte sich dort an Land gerettet haben.«

»Sünnum?«

»Das ist ein Kaff im Nirgendwo.«

»Wird mein Navi schon finden.«

»Nee, das Dorf ist auf keiner digitalen Landkarte verzeichnet. Ich erkläre dir den Weg.«

»Woher kennst du den denn?«

»Weil auch dort Menschen leben, die ihre Ersparnisse für eine gute Sache opfern wollen.«

»Damit meinst du sicherlich den Umweltschutz.« Er grinste und entblößte dabei gelbliche Zähne.

»Richtig. Entschuldige, dass ich dich vorhin so hart rangenommen habe. Du weißt, dass ich dich mehr liebe als mein Leben.«

»Du bist die einzige Frau, die mir jemals etwas bedeutet hat.«

Er verabschiedete sich und eilte zu seinem Wagen. Sie sah ihm nach. Wenn Prester geredet hatte, konnte die Sache außer Kontrolle geraten. Und das würde sie keinesfalls zulassen.

Heringsschwärme

»Das Motorboot gehört der Friesenklima AG?«

Gesine, die das Glas mit Zuckerfischen auffüllte, sah ihre Tochter überrascht an. Wie an den meisten Sonntagen nutzte sie auch heute die morgendlichen Stunden, um im Lädchen Ordnung zu schaffen, bevor sie den Kroog zum beliebten Frühschoppen öffnete.

»Nicht dem Unternehmen, sondern deren Vorstandsvorsitzenden Mareke Renken«, präzisierte Wiebkes Vorgesetzter, Steffen Gesner, der mit ihr in das Lädchen gekommen war. »Wir haben bereits mit Renken gesprochen. Ihrer Aussage nach wurde das Boot in der letzten Nacht aus dem Norderneyer Yachthafen gestohlen.«

»Was ist mit dem Blut?« Die Friesenbrauerin schraubte das Glas zu.

»He, was soll das?«, beschwerte sich Joris, der vor dem Verkaufstresen auf einem hölzernen Klappstuhl hockte. »Ich habe heute noch keine roten Fische gegessen.«

»Dafür hast du von allen anderen Farben mehr als genug genascht. In deinem Magen dürfte ein buntes Durcheinander herrschen.«

»Beim Frühschoppen muss ich ordentlich Tüdelbräu trinken. Die Fische können sonst nicht richtig schwimmen.«

»Artgerechte Haltung von Zuckerfischen?« Gesner grinste.

»Kann man so sagen.«

»Was ist denn jetzt mit dem Blut? Konnte man es schon einer Person zuordnen?«, hakte Gesine nach.

»Noch nicht. Die Spurensicherung nimmt das Schiff gerade unter die Lupe. Bald wissen wir hoffentlich mehr.«

»Hat Renken einen Verdacht?« Die Friesenbrauerin stützte sich auf den Tresen und beugte sich vor.

»Leider nicht. Da die Sonnenwind auf Norderney entwendet wurde, suchen die Inselpolizisten vor Ort nach dem Täter und unterstützen uns bei den Ermittlungen.«

»Der Gauner muss den Bootsschlüssel während der gestrigen Infoveranstaltung aus Renkens Handtasche genommen haben«, ergänzte Wiebke.

»Was ist mit ihren Wertsachen? Wurden die ebenfalls gestohlen?«

»Davon hat Renken nichts erzählt.«

»Findet ihr das nicht komisch?«

»Mama, wieso das denn?«

»Warum hat der Dieb nur den Bootsschlüssel und nicht die ganze Tasche mitgenommen? Da war doch bestimmt der Geldbeutel mitsamt den Kreditkarten drin.«

»Wir stehen mit unseren Ermittlungen noch am Anfang«, wich Gesner einer Antwort aus.

»Mit anderen Worten: Ihr habt keine Ahnung.«

»Mama, ist gut jetzt. Kann ich ein paar Zuckerfische bekommen?«

»Du wirst nie erwachsen, oder?« Wiebkes Mutter lächelte verschmitzt.

»Joris ist älter als ich und futtert ständig Heringsschwärme«, beschwerte sich Wiebke.

»Der ist auch ein Kindskopf.«

»Das kann man so nicht sagen. Ich bewege mich gelegentlich zwar etwas außerhalb der gesellschaftlich vertretbaren Konventionen und bin darüber hinaus …«

»Halt den Sabbel.«

Joris blickte von Gesine zu Wiebke, die die Worte gleichzeitig ausgesprochen hatten.

»Das habt ihr vorher einstudiert!«, grummelte er.

Die Friesenbrauerin zwinkerte ihrer Tochter zu und füllte einen Heringsschwarm in eine Papiertüte.