Leinsee - Anne Reinecke - E-Book
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Anne Reinecke

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Beschreibung

Karl ist noch nicht einmal dreißig und hat sich schon als Künstler in Berlin einen Namen gemacht. Er ist der Sohn von August und Ada Stiegenhauer, ›dem‹ Glamourpaar der deutschen Kunstszene. Doch in der symbiotischen Beziehung seiner Eltern war kein Platz für ein Kind. Nun ist der Vater tot, die Mutter schwer erkrankt. Karls Kosmos beginnt zu schwanken und steht plötzlich still. Die einzige Konstante ist ausgerechnet das kleine Mädchen Tanja, das ihn mit kindlicher Unbekümmertheit zurück ins Leben lockt. Und es beginnt ein Roman, wild wie ein Gewitter, zart wie ein Hauch.

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Seitenzahl: 330

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Anne Reinecke

Leinsee

Roman

Diogenes

{5}Für Markus

{7}Kanarienvogelgelb und silbern

Dieses Gelb war unangemessen. Woher die Farbe kam, konnte Karl sich nicht erklären. Soweit er sich erinnerte, hatte er nichts Gelbes gegessen. Seit zwanzig Minuten kotzte er sich – ja, was eigentlich – aus dem Leib. Kanarienvogelgelb in silberner ICE-Kloschüssel, ganz hübsch, ein schönes Bild für – ach, auch egal.

Mara hatte ihm verboten, mit dem Auto zu fahren, weil er betrunken sei und durch den Wind.

Mara. Als der Anruf gekommen war, war sie ans Telefon gegangen. Sie hatte die Stirn gerunzelt und gesagt: »Ja. Einen Moment.« Sie hatte ihm den Hörer gereicht und ihn nicht mehr aus den Augen gelassen, die Hand auf der Brust in Ahnungspose, zu allem Überfluss auch noch umleuchtet von der Sonne, die hinter ihr durchs Fenster fiel. Mara Dolorosa.

Wahrscheinlich holte sie gerade sein schwarzes Jackett aus der Reinigung. Das war eigentlich für die Vernissage gewesen. Praktischer Zufall, dachte {8}Karl und ärgerte sich sofort darüber. Andererseits: Irgendetwas musste er ja denken, er konnte ja nicht einfach aufhören damit, und dieser Gedanke war genauso gleichgültig wie jeder andere. »Soll ich mitkommen?«, hatte Mara gefragt, und Karl hatte den milden Ton in ihrer Stimme nicht ertragen und gesagt: »Nein. Komm dann zur Beerdigung.«

Erhängt, hatte der Mann am Telefon gesagt. Karl überlegte seitdem, wie das aussehen musste: sein Vater, erhängt. Am Lampenhaken, im Salon, in Leinsee. Aber er bekam nicht mal mehr zusammen, wie sein Vater im Leben ausgesehen hatte. Vor allem das Gesicht fehlte. Er erinnerte sich nur an den doppelköpfigen Umriss seiner Eltern, Arm in Arm in flackernden Fernsehbildern. Ada und August Stiegenhauer, das Künstlerpaar, die Ikonen des späten zwanzigsten Jahrhunderts, leuchtend und schön, abwechselnd redend und nickend. Wenn er sich anstrengte, sah Karl seine Mutter vor sich. Dunkle Augen, geschwungene Lippen, viel Stirn und scharfe Brauen in Schwarz. Das Gesicht des Vaters aber hatte er verloren. Nicht mal mehr ungefähr hatte er es vor Augen. Stattdessen die schöne, konkrete Oberfläche der Silberschüssel.

Früher hätte jemand in seiner Situation das Gleisbett durch das Kloloch sehen können, dachte Karl, das wäre vielleicht ein tröstlicher Anblick {9}gewesen, das gleichmäßige Vorbeiziehen der Schwellen, wahrscheinlich tröstlicher als die Landschaft. Er versuchte, den Gedanken festzuhalten. Aber da musste er schon wieder kotzen.

Rachen, Zunge, Nase, alles brannte. Der Schmerz tat gut. Das war wenigstens eine Wahrnehmung. Was Karl verrückt machte hier drin, war das Fehlen der Geräusche. Kein Rattern, nichts. Alles, was er hörte, kam aus ihm selbst oder von anderen Menschen an Bord, Schritte und Gemurmel im Gang.

Karl stand auf und stützte sich auf das Waschbecken. Sein Gesicht im Spiegel war nicht zu fassen, es kippte hin und her wie ein Vexierbild. Er griff sich ein paar Papierhandtücher, hielt sie unters Wasser und wischte sich den Mund ab. Im Spiegel fischte er nach seinen Augen, als er sie hatte, fixierte er sie einen Moment lang, atmete zweimal ein und aus und trat dann auf den Gang hinaus, in die besorgten Blicke der wartenden Fahrgäste.

Wahrscheinlich hatten sie die Kotzgeräusche gehört. Und alles in allem war er wohl kein besonders erbaulicher Anblick. Er schwitzte und fror. Außerdem spürte er deutlich, dass er nicht unerheblich geschrumpft war, das musste irgendwie mit der Fahrtrichtung zusammenhängen. Vielleicht irritierte die Leute auch, dass er ein Kippbild war. Also glotzten sie eben, was sollten sie machen, das {10}hatte er erwartet. So höf‌lich er konnte, nickte er allen der Reihe nach zu, dann hangelte er sich zurück in sein Abteil.

Dort war es etwas besser, dort waren es nur noch zwei, beide allein reisend, beide mit Buch, eine junge Frau im blauen Kleid, mit Zopf und nackten Füßen in Sandalen und eine etwas ältere im Trenchcoat, mit hautfarbenen Strümpfen. Um zu seinem Platz zu kommen, musste er kompliziert über ihre vier Beine steigen. Wahrscheinlich roch er irgendwie, vielleicht hatte er auch ein bisschen geflucht, als er seine Füße zwischen ihre zu setzen versuchte, jedenfalls glotzten sie auch, aber nur kurz, dann klebten sie ihre Blicke in die Bücher, und Karl war ihnen dankbar und legte seine Schläfe ans Fenster, um das Glas zu fühlen und zu sehen, wie sich die Landschaft von ihm wegbewegte.

Die norddeutsche Tiefebene war fortgezogen worden, stattdessen gab es jetzt Wald ohne Horizont. Bäume und Bäume und Bäume auf irgendeinem Gelände, das sich dicht neben dem Fenster auf‌türmte und den Sichtraum abschloss wie eine Wand. Das musste Hildesheim sein, so ungefähr. Aus dem Fenster zu sehen half ein wenig gegen den Schwindel. Das Schrumpfen musste tatsächlich eine Folge des Rückwärtsfahrens sein. Das war plausibel. Mit der Ursache vor Augen war es leichter zu {11}ertragen: Er schrumpf‌te, aber wenigstens wurde er nicht verrückt.

Karl nahm sein Handy aus der Hosentasche und legte es vor sich auf das Tischchen. 16:19. Keine neuen Nachrichten. Also operierten sie noch. Also lebte sie noch. Sobald es etwas Neues gäbe, wollten sie sich melden. Aber gleich kam Hildesheim. Und danach kamen immer diese vielen Tunnel, das wusste er noch. Da würde es Funklöcher geben, und wenn die Mutter ausgerechnet dann starb, würden sie ihn nicht erreichen.

»Raumforderung«, das Wort hatte Karl gefallen, es klang nach Sternfahrt und Kraft und so weiter, und er hatte es noch nie gehört. Seine Mutter würde mit hoher Wahrscheinlichkeit noch heute einer Raumforderung erliegen. Karl hatte nichts gesagt, nur ins Telefon geatmet, und der Arzt hatte »Hirntumor« gesagt und »Koma« und »plötzlich« und »faustgroß«, und Karl hatte geatmet, und der Arzt hatte »Notoperation« und »mit hoher Wahrscheinlichkeit« gesagt und »nicht« und »keine Zeit zu verlieren« und »trotz allem unser Bestes«. Und Karl hatte geatmet und an den Schädel seiner Mutter gedacht, an ihre Stirn, an ihren Hinterkopf. Dunkle Locken. Einmal hatte er seine Nase in ihr feuchtes Haar gehalten. Da musste er drei oder vier gewesen sein. Seine Mutter war mit ihm auf dem {12}Rücken durch den Garten gerannt, nackt, unterm Strahl des Rasensprengers, hin und her, immer wieder. Sie hatte laut gelacht, und Karl hatte sich an ihr festgeklammert und geschrien und nicht genug bekommen.

Der Vater hätte ihn anrufen müssen, verdammte Scheiße. Nicht einmal deswegen hatte er ihn anrufen können. Stattdessen hatte dieser Mann angerufen und der Arzt, und der Vater baumelte währenddessen vom Lampenhaken im Salon, weil er es nicht hatte aushalten können.

Und jetzt kamen auch schon diese scheiß Tunnel, und vielleicht starb die Mutter an der Faust in ihrem Gehirn, und woher sollte er das dann wissen in diesem netzlosen Schwarz, und hatten sie ihr alle Haare abrasiert oder nur die Stelle, an der sie ihren Kopf aufmachten, und welche Stelle war das, und würden die Haare dann nach ihrem Tod noch nachwachsen, und wo hatte er das gelesen, und weinte er etwa?

Keine Ahnung, verschwommenes Schwarz sah schließlich nicht anders aus als klares Schwarz, was er jetzt brauchte, war ein Wodka, ja. Vielleicht würde dann auch endlich das Schrumpfen aufhören, das war unangenehm und peinlich.

Mara hatte ihn keinen Wodka mitnehmen lassen, also musste er in den Speisewagen, also musste er {13}wieder über die vier Beine steigen: »Pardon.« Er war auf einen Sandalenfuß getreten, die Zopf‌frau zog die Augenbrauen hoch und schnaubte, Karl musste sich nochmals entschuldigen, er griff nach seiner Tasche, um nicht wieder zurückzumüssen.

Zu Karls Erleichterung war das Bordrestaurant fast leer. Es gab keinen Wodka, es gab nur Bier, aber das war besser als nichts. Er stürzte es hinunter, das half ein bisschen. Die weiße Tischdecke half auch, Karl befühlte sie gerührt, legte sein Telefon darauf und bestellte ein zweites Bier. Er putzte sich die Nase mit der Serviette, nahm die Tunnelschwärze hinter der Scheibe als Spiegel und strich sich das Haar glatt. Wenn seine Mutter jetzt starb, dann saß er wenigstens an einem Tisch mit Tischdecke.

Aber als es wieder Netz gab, in Göttingen, war sie noch nicht gestorben, und auch in Kassel noch nicht. Karl trank Bier um Bier und rechnete. Sie operierten jetzt seit über acht Stunden. Draußen wurden Weiden vorbeigespult, mit Tieren darauf, vielleicht hätte man sie zählen können, Schafe und Kühe.

Er streichelte die Tischdecke und wartete. Kassel, Fulda, nichts. Frankfurt, nichts. In Mannheim würde er umsteigen müssen. Wo war der Zettel? Mara hatte es ihm ausgedruckt: Gleis neun. Elf Minuten Umsteigezeit, wenn er den ersten Zug verpasste, fuhr {14}nach achtundzwanzig Minuten der nächste, vom selben Gleis. Mara hatte die Zahlen mit gelbem Textmarker bemalt, das rührte ihn ein bisschen.

Er trank das letzte Bier aus, gab dem Kellner viel zu viel Trinkgeld, steckte Portemonnaie und Handy ein, nahm seine Tasche und versuchte aufzustehen, was gleich beim zweiten Versuch gelang. »Nicht schlecht, Karl, nicht schlecht«, flüsterte er sich zu und hangelte sich in den Gang hinaus und dann in die Nähe der Tür.

Rechts und links drängten Menschen, es wurden immer mehr, sie kamen aus allen Abteilen, aber vor ihm war ein Fenster, da konnte er hinausschauen, und darunter war eine Stange, da konnte er sich aufstützen, es würde schon gehen. Gleich wäre er hier raus, die Häuser da, das war schon Mannheim, an eine Mauer hatte jemand geschrieben: »Halten Sie sich fest!« Und dann fuhr der Zug eine scharfe Kurve, und Karl lachte und lachte und floss einfach in der Menge auf den Bahnsteig hinaus. Es war gar nicht schwer, es gab Rolltreppen, und auf dem von Mara gelb markierten Gleis stand sein Zug schon bereit, mit offenen Türen, und Karl schob sich hinein und fand einen Sitz und ließ sich fallen. »Gut, Karl«, flüsterte er.

Fast wäre er eingenickt. Er hob den Kopf und erschrak. Das war bunt und zappelig und zu viel. Das {15}ging nicht. Zu viele. Das war ein verklumpter, wackelnder Haufen Teenager. So ging das nicht. Kaugummi, Schreien, Cola, Fotos machen, Aneinanderkleben. Das war eine Schulklasse. Ein scheiß Klassenausflug war das. Und er mittendrin. Und wieder glotzten sie alle. Gruppenglotzen mit offenen Kaugummimündern. Und gleich musste der Anruf kommen. Das ging nicht. Er musste allein sein. Oder zumindest eine Tischdecke haben. Oder jedenfalls etwas anderes als eine Kaugummigruppe. Scheiße. Er schaffte es gerade noch, bevor die Türen sich zuschoben.

Als der Anruf kam, saß Karl im Taxi. Er hatte dem Fahrer den Namen des Krankenhauses genannt. Nach Leinsee wollte er später fahren, der Vater würde schließlich auch am nächsten Tag noch tot sein. Der Arzt am Telefon war der vom Morgen. Karl streckte den Rücken durch. Seine Mutter hatte überlebt. »Gegen alle Erwartungen«, sagte der Arzt. Sie sei stabil, aber nicht ansprechbar, heute könne er nicht zu ihr, er solle morgen kommen, er solle nach Hause fahren, da würde er im Moment wohl dringender gebraucht, man habe es schon gehört, das mit seinem Vater, herzliches Beileid, ein bedeutender Mann, eine tragische Geschichte, ein großer Verlust, alle sehr betroffen.

Karl zog die Nase hoch und freute sich über die {16}Unberechenbarkeit seiner Mutter. Sie hatte überlebt. Stabil, dachte er und kicherte ein bisschen. Er nannte dem Fahrer die Adresse seiner Kindheit, ließ sich in den Sitz sinken und schloss die Augen, bis sie da waren.

Als er die Augen öffnete, blitzte es. Vor dem Tor zur Einfahrt hatte sich in der Dämmerung eine ganze Menge Presse versammelt, dazu Nachbarn und Neugierige. Hinter dem Tor standen ein Polizeiauto und ein Leichenwagen, in der Heckscheibe der Schriftzug »Heimkehr«. Nicht witzig, dachte Karl, nicht originell. Und lachte trotzdem, kurz und hart.

{17}Teichgrün und orange

»So etwas sehen wir selten, dass jemand solche Vorkehrungen trifft«, sagte die Polizistin und meinte das wohl als Trost. Der Vater hatte eine Plane untergelegt, ein etwa sechs Quadratmeter großes Stück dunkelgrüne Plastikfolie, vielleicht um den Fußboden zu schützen, falls nach dem Tod Körpersäf‌te austräten.

Karl hatte sich die ganze Zeit den baumelnden Körper vorgestellt, aber sie hatten den Vater natürlich abgeschnitten und zugedeckt. Er lag auf dem Boden, unter einem weißen Laken. Teichfolie, überlegte Karl, Vorkehrungen. Der Vater war also in den Baumarkt gefahren und hatte Teichfolie gekauf‌t und ein orangefarbenes Abschleppseil. Das eine Ende hing am Deckenhaken. Das andere musste der Vater noch um den Hals haben, jedenfalls lag es nirgendwo herum. Orange und dunkelgrün, von dieser Kombination war Karl auch früher schon schlecht geworden.

Der Raum schwappte sanft hin und her, Karl {18}brauchte einen Moment, um sich daran zu gewöhnen. Ansonsten sah alles aus wie früher. Naturstein, Glas, Stil und Seeblick. Fünf Leute standen im Salon herum und hatten auf Karl gewartet. Die Polizistin, zwei Männer vom Beerdigungsunternehmen, eine Frau, die sich als Rechtsmedizinerin vorstellte, und dann noch ein Typ, der sich wie ein Gastgeber benahm. Er war ungefähr in Karls Alter, vielleicht fünfundzwanzig, höchstens dreißig. Brille, Tolle, Jackett und große Zähne. Er sah aus wie Buddy Holly. »Guten Abend, wow, du bist also Karl«, sagte er, nickte heftig und lächelte mit den blanken Zähnen. Karl war schwindelig. Buddy Holly tauschte Blicke mit den anderen. Er fixierte Karls Augen und kam auf ihn zu. Karl konnte den Alkohol und die Kotze in seinem eigenen Atem riechen. Falls Buddy Holly sich ekelte, hatte er das gut im Griff. Er wollte Karl sogar umarmen. Aber Karl war schneller, er streckte seinen Arm aus und reichte Buddy die Hand. »Ich bin Torben«, sagte Buddy Holly und schüttelte Karls Hand. Der Typ hörte nicht auf zu nicken, er schüttelte und nickte. »Wir haben telefoniert. Möchtest du einen Kaffee?« Karl zuckte mit den Schultern und sagte: »Ja. Schwarz. Bitte.«

Auf der Anrichte lagen drei Ordner: Anwalt, Finanzen, Versicherung. Daneben eine Karte mit der Adresse des Bestattungsunternehmens: Heimkehr.{19}Darunter ein Blatt mit irgendwelchen Verfügungen. Das alles hatte der Vater zurechtgelegt, überlegte Karl, Vorkehrungen. Und einen Brief: Karl stand darauf. Er strich mit den Fingerkuppen darüber. Dann nahm er den Umschlag, faltete ihn in der Mitte und steckte ihn sich in die Hemdtasche.

Von hinten legte sich ihm eine Hand auf die Schulter. Karl zog den Nacken ein und drehte sich um. Es war Buddy Holly, in der anderen Hand hielt er den Kaffee, der Dampf hatte seine Brille ein bisschen beschlagen lassen. Hinter Buddy Holly standen wie bei einem Krippenspiel aufgereiht die Heimkehrmänner und die Polizistin und sagten nichts, aber offensichtlich wollten sie irgendwas, denn sie hatten ihre Mitleidsblicke fordernd auf Karl gerichtet. »Ich muss meine Freundin anrufen«, sagte er und trat hinaus auf die Terrasse, bevor ihm Buddy Holly den Rücken streicheln konnte.

Über dem See ging mit großer Geste die Sonne unter, aber wenigstens war Karl hier draußen allein. Und den Garten hatte er immer gemocht. Er zündete sich eine Zigarette an und ließ sein Handy die Berliner Nummer wählen. Mara war sofort am Telefon. Sie klang wie Schlagsahne. Das war nicht auszuhalten. Karl suchte nach etwas Hartem. »Die spielen hier Pyramus und Thisbe auf dem Lande«, sagte er, »meine Mutter ist gar nicht tot.«

{20}Mara hatte alles organisiert. In der Galerie würden sie ohne ihn aufbauen, sie hatte ihnen noch einmal gesagt, dass die Vakuumarbeiten nicht zu eng gruppiert werden dürf‌ten. Es werde schon laufen, er solle sich deswegen keinen Kopf machen, der Raiken und sie hätten alles im Griff. Karl müsse dann einfach nur noch auf der Vernissage auf‌tauchen. Alle ließen ganz herzlich grüßen, Beileid und so weiter. »Mara«, sagte Karl. Sie habe auch mit Gramisch gesprochen, das Große und Ganze sei eigentlich klar, Nina könne sie im Theater vertreten. Wenn er wolle, komme sie. »Komm zur Beerdigung.«

Karl steckte das Handy ein und schnippte die Kippe in den Garten. Die Bäume waren gar nicht so sehr gewachsen. Der Kirschbaum am ehesten. Aber vielleicht sah das auch nur so aus, weil er als Einziger mitten auf der Wiese stand. Die Bäume am Rand des Grundstücks mussten auch größer geworden sein. Ein paar Blüten hingen traurig an den Zweigen. Sieben Jahre. Karl zündete sich noch eine Zigarette an. Das Bootshaus sah frisch angemalt aus, aber sonst: wie früher. Rasen, Bäume, der Weg aus roten Sandsteinplatten, und am Ufer rauschte wie immer schon das Schilf.

»Herr Stiegenhauer?« Das war jetzt er, der Vater war tot, es lebe der König. Die Polizistin bat ihn {21}hereinzukommen, man habe vorhin schon unter Strafandrohung die Presse aus dem Garten vertreiben müssen. Die Klingel habe man auch abgestellt, das Telefon aus der Dose gezogen und die Fenster nach vorn verhängt, am besten, man zöge auch die Vorhänge zur Seeseite zu. Besser sei besser, nicht?

Er sollte alles Mögliche ausfüllen und unterschreiben. Sie erklärten ihm irgendetwas. Er trank seinen Kaffee, er rauchte seine Zigarette, er füllte aus und unterschrieb.

Mit einem Elastikband, das sich alle paar Atemzüge zusammenzog, war Karls rechter Augenwinkel an die Leiche gebunden. Das Laken, mit dem sie den Vater bedeckt hatten, trug rechtwinklige Linien, wo es gefaltet gewesen war, ein schöner Kontrast zu der unregelmäßigen Form darunter, fand Karl. Er hatte das Laken eigentlich noch wegziehen wollen, um das Gesicht zu sehen, aber jetzt hatten die Heimkehrmänner den Vater schon auf ihrer Bahre und trugen ihn weg. Karl sah hinterher, bis das Band riss und ihm ins Auge schlug.

Die Polizistin und die Rechtsmedizinerin hatten irgendetwas gesagt, er hatte nicht hingehört, aber es mussten Abschiedsfloskeln gewesen sein, denn sie gaben ihm jetzt die Hand. Karl nickte, und dann war da nur noch Buddy Holly.

Was wollte der? Hatte er den schon mal gesehen? {22}Der Typ kam ihm bekannt vor. Karl würde später darüber nachdenken. Ein andermal. Er wollte jetzt einen Sessel und einen Whisky. Die Eltern hatten doch bestimmt Whisky im Haus. Er fragte Buddy Holly danach, der brachte ihm ein Glas, legte ihm die Hand auf die Schulter, blieb stehen und sah auf ihn herab, so dass Karl genötigt war, ihn ebenfalls anzusehen. Buddy Holly hatte die Unterlippe vorgeschoben, wahrscheinlich zu Karls Erbauung. Karl sah schnell wieder weg. »Ich bin müde. Mein Vater hat mir einen Brief geschrieben. Morgen muss ich ins Krankenhaus. Ich will allein sein. Bitte.« – »Gut«, sagte Buddy Holly und schob sich seine Brille zurecht, »versuch, etwas zu schlafen. Ich komme morgen wieder.« Karl wollte ihm antworten. Er wollte diesen Buddy fragen, wer er überhaupt war, dass er sich hier so aufspielte. Nein, Karl wollte ihm sagen, dass es ganz egal war, wer er war, dass er nicht wiederkommen sollte, morgen nicht und überhaupt nicht. Mit diesen Augen hinter Glas und diesen Zähnen. Solche großen, blanken, nassen Adeligenzähne. Aber das war zu anstrengend. Also nickte Karl und schloss die Augen und wartete, bis er die Tür ins Schloss fallen hörte. Er atmete aus, rollte sich in den Sessel und trank. Er hielt die Augen geschlossen, befühlte das Papier in seiner Hemdtasche und ließ sich vom Raum hin- und herwiegen.

{23}Als er aufwachte, war alles schwarz und ruhig. Alles war gut, nur Schmerzen in Rücken und Bauch, das würde weggehen. Es dauerte einige Atemzüge, bis es ihm wieder einfiel. Es fiel ihm in den Magen und blieb dort liegen wie eine Billardkugel. Karl ächzte und richtete sich auf, tastete sich bis zur Wand und dann weiter, bis er den Lichtschalter fand. Neben der Lampe hing das orangefarbene Seil. Karl starrte eine Weile darauf und schaltete das Licht ein paarmal aus und wieder an. Schließlich nahm er Anlauf, sprang hoch, griff nach dem Seil und hielt es fest. Es trug ihn. Er schaukelte ein bisschen, dann ließ er los.

Er landete auf den Füßen und streckte Rücken und Arme zu einer Turnerpose. Dann sah er sich um. Die Teichfolie hatten sie mitgenommen. Auf dem Tisch stand die Whiskyflasche. Er nahm einen Zug und behielt sie in der Hand, während er durch das Haus und das Atelier wanderte.

Als kleiner Junge hatte Karl sich manchmal in den Vorraum des Ateliers geschlichen. Wahrscheinlich war das gar nicht verboten gewesen, er war aber trotzdem am liebsten heimlich hergekommen. Der Vorraum war das Materiallager. Hier wurden die Dinge aufbewahrt, die die Eltern später in ihren Plastiken verarbeiten würden. Riesengroße Figuren aus Harz, die August und Ada Stiegenhauer berühmt gemacht hatten, durchsichtige, verzweigte {24}Formen, Bäume oder Wälder oder Dickichte oder Geschwüre, in denen Dinge eingeschlossen wurden wie zusammengeklebte, halbverdaute Insekten.

Das Lager sah aus wie früher. In raumhohen Regalen war alles sortiert und beschrif‌tet: Abzeichen WKI, Abzeichen WK II, Asche Zeugnisse, Asche Tagebücher, Asche Zeichnungen, Haare A&A, Kleidung Hr. Z., Scherben Geschirr Fr. G., Asche Fotos, Schmuck Fr. D. und so weiter. Lauter Sachen, die in einem vergangenen Zusammenhang einmal etwas bedeutet hatten. Als Kind war Karl oft an den Regalen entlang auf und ab gestrichen, war die Leiter hochgeklettert, hatte vorsichtig Kartons geöffnet und Gläser aufgeschraubt, hatte die Sachen befühlt und an ihnen gerochen. Manchmal hatte er es nicht ausgehalten, die Dinge wieder zurückzulegen. Was er zurücklegte, würde früher oder später zerhackt oder zermahlen werden und im Harz enden. Eine Brosche mit roten Steinen, eine Feder, einen Brautschleier, ein Vogelei, manche Sachen hatte er gestohlen und versteckt. Er hatte gewusst, dass das falsch war und gegen die Kunst, er hatte sich geschämt dafür, aber er hatte nicht anders gekonnt. Bis heute war Karl sich im Unklaren darüber, ob die Eltern diese Diebstähle bemerkt hatten. Oft hatten sie ihn lange ernst und stumm angesehen, der Vater hatte die Augen zusammengekniffen, die Mutter {25}hatte die Brauen hochgezogen, so lange, bis Karl sich sicher gewesen war: Sie wussten alles. Andererseits hatten sie ihn nie zur Rede gestellt, vielleicht war er also doch davongekommen. Keine Ahnung. Manchmal hatte Karl gedacht, das Internat sei die Strafe für seine Beutezüge gewesen. Aber das war wahrscheinlich albern, wahrscheinlich wäre er so oder so dort gelandet.

Erst im Internat hatte er angefangen, darüber nachzudenken, wie sich das angefühlt hatte, in Leinsee dazuzugehören. Aber im Rückblick ließ sich so etwas nicht sagen. Wahrscheinlich war es erst nachträglich zu etwas Besonderem geworden. Das Zuhause war gar keine große Sache gewesen, solange es da gewesen war. Er hatte einfach hierher gehört, in dieses Haus und zu diesen Eltern.

Und jetzt? Keine Ahnung. Wahrscheinlich sollte er gar nicht hier sein. Er nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche und öffnete einen Karton: Heiligenbildchen. Dann den nächsten: präparierte Schmetterlinge, hunderte. Hier nahm er einen heraus. Es war ein besonders schöner, kleiner, blauer Schmetterling in einem Kästchen mit Glasfenster, Karl konnte die Härchen auf den Flügeln einzeln schimmern sehen. Er starrte eine Weile darauf. Dann legte er ihn zurück und ging weiter.

Nebenan stand immer noch die große {26}Rührmaschine. Das Atelier sah aus, als würden Ada und August Stiegenhauer jeden Moment zurückkommen, um hier weiterzuarbeiten. Auf dem großen Tisch lag ein Bogen Papier mit einer unfertigen Entwurfszeichnung für eine Plastik, die Skizze sah aus wie ein dürrer Strauch. Neben dem Blatt standen eine leere Teetasse und ein volles Glas Rotwein, im großen Bottich war Harzmasse angemischt. Karl berührte die Oberfläche, sie war schon ausgehärtet, zu spät, um die Masse zu verarbeiten. Sie war völlig durchsichtig, ohne eingemengte Fremdkörper. Dazu waren die Eltern nicht mehr gekommen.

Neben der Rührmaschine stand eine eckige Blechdose von der Größe eines Bierkastens, darauf klebte ein Etikett mit der Aufschrift: 25-04-05. Karl kannte die Handschrift nicht. Wahrscheinlich wartete darin das Zeug, das Ada und August hatten verharzen wollen. Karl öffnete den Deckel. Was immer das mal gewesen war, die Sachen waren schon verbrannt, zermahlen oder zerhackt worden, viel Asche, dazwischen kleinere Blechstücke und Papierschnipselchen. Kein Teil war größer als ein Fingernagel. Karl wollte nicht hineinfassen und schloss den Deckel wieder.

Auf einem der Stühle lag ein gelber Seidenschal. Karl hob ihn auf und hielt ihn sich vors Gesicht. Er konnte nicht sagen, ob der Stoff nach Mutter oder Vater roch. Vielleicht eher nach der Mutter. Holz, {27}ein bisschen Schweiß und so etwas Ähnliches wie Zimt. Er legte sich den Schal um den Hals und trank das Glas Rotwein in einem Zug aus. Als Nächstes wollte er zurück in die Villa und sich ansehen, wo seine Eltern gelebt hatten.

Auch hier sah es aus wie früher. Karl ging von Zimmer zu Zimmer und machte überall Licht. Im oberen Flur hing ein Foto seiner Eltern, das er noch nicht kannte. Der Vater hielt die Mutter im Arm, sie schaute ihn an, der Blick des Vaters ging in die Kamera. Das war also das Gesicht. Karl versuchte, es sich einzuprägen, aber als er weiterging, verlor er es sofort wieder. Er lief herum, berührte Stoffe und Wände und roch am Holz. Hier und da war etwas umgerückt worden, aber eigentlich war alles wie immer. Was hatte er denn erwartet? So etwas veränderte sich nicht, wenn jemand sich erhängte.

Den Möbeln waren sieben Jahre und ein toter Vater egal. Den Möbeln war die Raumforderung egal. Den Möbeln war egal, wer auf ihnen saß und in ihnen schlief. Den Möbeln war egal, ob sie Karl gehörten oder nicht, ob er hier war oder nicht. Die standen einfach da, provozierend und stoisch, und glotzten. Vielleicht lag es auch am Whisky, aber das hier ging beim besten Willen nicht.

»Das geht nicht, das geht nicht«, flüsterte Karl. {28}Er lief treppauf, treppab, immer wieder, vielleicht war es wirklich der Whisky, vielleicht war er nur müde. Eins nach dem anderen. Er musste jetzt einfach ein Bett finden, in dem er schlafen konnte, oder wenigstens irgendeine Ecke zum Hinlegen, morgen würde er weitersehen.

Aber nein, nein, nein, das ging nicht, wie sollte das gehen, er konnte sich ja nicht einfach in ein Gästezimmer legen, er war kein Gast und wollte auch keiner sein, sein Kinderzimmer gab es längst nicht mehr, das Bett der Eltern kam überhaupt nicht in Frage, das stand da, groß und grau wie tausend Jahre und starrte ihn an, und im Salon hing das Seil, das war wirklich zu viel, das ging einfach nicht, er musste hier raus. Er musste schlafen. Er stieß die Terrassentür auf und rannte in den Garten, ein gutes Stück den Hang hinab, fast bis zum See. Er atmete zwanzigmal ein und aus. Dann erst drehte er sich um.

Besser. Von hier betrachtet, sah die Villa richtig gut aus, fand Karl, er hatte überall das Licht angelassen, richtig gut. Sie leuchtete wie ein Halloweenkürbis. Er stellte erfreut fest, dass er die Flasche noch in der Hand hatte, und nahm einen feierlichen Schluck. Dabei tastete er auf seiner Brust nach dem Brief, er war auch noch da, gut. Karl würde ihn morgen lesen. Er setzte sich unter den Kirschbaum, {29}lehnte seinen Rücken gegen den Stamm, trank gemächlich aus seiner Flasche, rauchte eine Zigarette und sah zu, wie die Kürbislaternenvilla im Nebel aufweichte.

Als er aufwachte, war der Himmel greller Morgen und das Gras nass vom Tau. Um ihn herum stand ein Halbkreis aus Kindern. Karl riss die Augen auf und rechnete: Der Radius betrug etwa vier Meter, Karl war der Mittelpunkt. Es waren acht Kinder, alle etwa neun oder zehn oder elf Jahre alt, alle mit Schulranzen, alle starrten ihn an.

Okay, überlegte Karl, hier hat sich einer erhängt, und ein anderer sieht gefährlich aus und liegt im Garten, das ist eine Mutprobe.

Sie waren durch die Hecke gekommen, alle Achtung, das hatten sich die Fotografen nicht getraut. Karl schwankte nur kurz, dann war er auf den Füßen, den Kirschbaum im Rücken, die Flasche in der Hand. Die Kinder wichen einen Schritt zurück und tauschten Blicke. Karl hob die Flasche wie eine Keule und zischte: »Haut ab! Hier spukt es!« Sie zögerten und starrten, dann rannte das erste Kind, dann das zweite, und Karl zischte und zischte, bis das letzte durch die Hecke verschwunden war: »Hier spukt es! Hier spukt es!«

{30}Gottweiß

»Herr Stiegenhauer, gut.« Das musste der Telefonarzt sein, er war jünger, als Karl gedacht hatte, und auf unmögliche Weise blond. Karl hatte sich gewaschen und gekämmt. Er hatte eine Flasche Wasser getrunken, zwei Tassen Kaffee und nur einen Wodka. Er hatte eine Streuselschnecke gegessen und einen Apfel. Er hatte sich die Zähne geputzt. Er hatte den Vaterbrief in ein frisches Hemd gesteckt und das Hemd in eine frische Hose. Im Garten hatte er ein Bündel Tulpen abgeknickt, das hielt er jetzt im Arm. Der Arzt fasste Karl am Ellenbogen und ging mit ihm den Flur entlang.

Er sei persönlich für die Betreuung der Frau Stiegenhauer zuständig und bleibe das auch, solange sie hier sei. Sie habe die Operation so weit gut überstanden. Sie atme selbständig und sei auch nicht mehr komatös. Man habe leider nicht den gesamten Tumor entfernen können, aber wenigstens bestehe nun keine akute Lebensgefahr mehr. Für eine Strahlentherapie sei sie im Moment noch zu {31}geschwächt, man müsse abwarten und dann weitersehen. Dass sie überhaupt noch lebe, grenze an ein Wunder. Allerdings könne sie noch nicht wieder sprechen. Und dass sie ihrerseits verstünde, was man ihr sagte, sei sehr unwahrscheinlich. »Globale Aphasie«, sagte der Arzt, die Blumen dürfe er nicht mit auf die Intensivstation nehmen, und das hier solle er bitte anziehen, Schwester Alexandra werde ihm alles zeigen, auf Wiedersehen.

Schwester Alexandra lächelte ihn an. Sie hatte einen langen schwarzen Pferdeschwanz, der sich verzögert bewegte, wenn sie ging oder den Kopf drehte. Das sah gut aus, fand Karl. Er tat, was sie sagte, er gab ihr die Blumen, er wusch sich die Hände. Sie zog ihm etwas Grünes über Schuhe, Körper und Mund. Karl sah ihr in die Augen und versuchte, sich die Farbe zu merken. Es gelang ihm nicht, aber er lächelte ihr zu unter dem Zellstoff, und das schien sie zu freuen. Alexandra bewegte sich vor ihm den Gang entlang und öffnete eine Tür. »Hier«, sagte sie.

Die Mutter lag allein in dem Zimmer und war verkabelt. Er konnte ihren freundlich fiepsenden Puls hören. Sie wandte den Kopf und starrte ihn an. Die Haare auf der linken Seite waren noch da. Karl stand in der Tür und rührte sich nicht. Alexandra streif‌te ihn, als sie an ihm vorbei in den Raum {32}trat. »Frau Stiegenhauer, Ihr Sohn ist gekommen!« Sie zog die Vorhänge auf, schraubte irgendwas am Infusionsbehälter herum, stellte mit Schwung einen Stuhl neben das Bett und tätschelte die Sitzfläche. »Jetzt kommen Sie!« Er tat, was sie sagte. Die Mutter starrte ihn an und dann Alexandra und dann wieder ihn. Spitz sah seine Mutter aus und alt. Nase und Zähne waren ihm fremd, die Lippen offen und vertrocknet. »Hallo«, sagte Karl und wusste nicht, was tun. Die Mutter starrte. Er nahm ihre Hand, die war ganz weich, da ließ er sie wieder los.

»Reden Sie ruhig mit ihr, das kann nicht schaden«, sagte Alexandra. Karl fiel nichts ein. »Erzählen Sie ihr doch eine Geschichte!« Karl wusste keine Geschichte. Seine Mutter hatte sich früher manchmal welche für ihn ausgedacht, daran erinnerte er sich noch, aber jetzt fiel ihm keine einzige ein, er hatte sie alle verloren. Alexandra sah nebelig aus. Jetzt wurde er also auch noch weinerlich. Scheiße. Sie zog eine Grimasse, schüttelte den Kopf und sagte: »Warten Sie mal.« Als sie zurückkam, hatte sie ein Buch in der Hand, das gab sie ihm und sagte: »Dann lesen Sie ihr eben was vor. Kommen Sie, das kriegen Sie schon hin.« Sie nickte ihm zu, und dann ging sie durch die Tür.

Es war ein Märchenbuch. Karl blätterte darin herum. Hier und da las er einen Satz oder einen {33}Abschnitt vor. Kinder, Könige. Wälder, Brunnen. Die Mutter riss die Augen auf. Vielleicht hörte sie ja zu. »Der Junge ging auch seines Wegs und fing wieder an, vor sich hin zu reden: ›ach, wenn mir’s nur gruselte! Ach, wenn mir’s nur gruselte!‹ Das hörte ein Fuhrmann, der hinter ihm herschritt, und fragte: ›wer bist du?‹ – ›Ich weiß nicht‹, antwortete der Junge. Der Fuhrmann fragte weiter: ›wo bist du her?‹ – ›Ich weiß nicht.‹ – ›Wer ist dein Vater?‹ – ›Das darf ich nicht sagen.‹ – ›Was brummst du beständig in den Bart hinein?‹ – ›Ei‹, antwortete der Junge, ›ich wollte, daß mir’s gruselte, aber niemand kann mich’s lehren.‹« Die Mutter sah ihn an, und Karl hielt ihren Blick. Wahrscheinlich erkannte sie ihn nicht, aber es war schön, ihr so lange in die Augen zu sehen. Das hatte es noch nie gegeben. Zumindest erinnerte Karl sich nicht daran. Er saß einfach da, sie waren allein und sahen einander an. Das einzige Geräusch war das Fiepsen des Mutterpulses. Karl fühlte seinen eigenen Puls, er schlug fast synchron. So saß er ein Weilchen. Dann stand er auf und ging.

Alexandra bestellte ihm ein Taxi und zeigte Karl einen Schleichweg zum Hinterausgang, wegen der Presse. Aber als Karl aus der Tür trat, stand da kein Taxi im Hof. Da stand das Schiff und wartete auf ihn.

Das Schiff war der alte, riesengroße, schwarze {34}Cadillac, den es schon vor Karls Geburt gegeben hatte. Wenn die Familiengeschichte stimmte, war Karl in diesem Cabrio gezeugt worden. Natürlich hatten die Eltern in der Zwischenzeit neue Autos angeschafft. Das Schiff hatten sie trotzdem behalten. Es war der Wagen für besondere Fahrten. Am Steuer saß Buddy Holly und winkte blöd durchs Fenster. Wenigstens war das Verdeck geschlossen. Karl kniff die Augen zusammen, zündete sich eine Zigarette an und blieb auf der Treppe stehen. Er rauchte die Zigarette in größtmöglicher Ruhe zu Ende, drückte sie am Geländer aus, schnippte die Kippe in einem flachen, weiten Bogen in den Hof und zählte dann noch bis fünfzehn, bevor er auf das Auto zuging. Buddy Holly beugte sich über den Beifahrersitz und öffnete Karl die Tür. »Ich habe das Taxi weggeschickt«, sagte er, »ich kann dich ja auch fahren, und dann können wir gleich die nächsten Schritte besprechen.« Karl zog die Augenbrauen zusammen, er hatte keine Lust, mit Buddy im Auto zu sitzen, aber er wollte ihn auch nicht mit dem Schiff davonfahren lassen, also stieg er ein.

Während der Fahrt redete Buddy Holly die ganze Zeit. Karl hörte nicht richtig hin, aber es reichte, um die groben Zusammenhänge zu verstehen. Buddy war offenbar seit drei Jahren der Assistent der Eltern. Wahrscheinlich hatte Karl ihn {35}auf irgendeiner Aufnahme im Fernsehen oder in der Zeitung hinter ihnen hergehen sehen, und deshalb war Buddy ihm bekannt vorgekommen. Er war sechsundzwanzig Jahre alt, genau wie Karl, selber Jahrgang sogar, er hatte die Stiegenhauers irrsinnig bewundert und war wahnsinnig glücklich gewesen, so eng mit ihnen zusammenarbeiten zu dürfen. Jetzt war er total außer sich, wegen der total tragischen Situation, so was Schreckliches, so ein tolles Paar, und dann so was. Er fühlte sich selbst auch total verwaist und wusste gar nicht, wohin mit seiner Trauer. Echt jetzt. Und darum freute er sich umso mehr, ganz irrsinnig, Karl endlich mal kennenzulernen, er hatte schon immer wissen wollen, wie Karl so drauf sei. Der Sohn von Ada und August, wow. Dazu nickte er wieder heftig. »Über dich war ja fast nichts rauszukriegen, total inkognito, das war ja echt ganz streng.« – »Hm«, machte Karl. »Und du, wie heißt du noch mal?« – »Torben«, sagte Buddy Holly, »Torben Behning.« Wieder dieses Nicken und dazu die blitzblanken Zähne. Karl wollte ihm in die Fresse hauen. Total irrsinnig gern.

Buddy würde Karl nach Kräften unterstützen. So, wie er sich Karls Eltern verbunden gefühlt hatte, so fühlte er sich jetzt Karl verbunden. Verpf‌lichtet fühlte er sich außerdem. Er wollte mit Karl jetzt erst mal die Beerdigung besprechen. Tragisch oder nicht {36}tragisch, das musste ja jetzt geregelt werden, nicht? Ada war wohl nicht ansprechbar, die Ärmste? So eine Frau und so ein Ende! Er war am Morgen schon da gewesen, aber man hatte ihn nicht zu ihr gelassen und ihn auch nur teilweise informiert. Vielleicht könnte Karl da ein gutes Wort für ihn einlegen? Und was stand denn eigentlich in dem Brief? August hatte ja sicher Vorstellungen geäußert, nicht?

Karl schluckte, er würde jetzt nicht anfangen zu weinen, nicht neben diesem Jahrgangsarschloch. »Ich habe den Brief noch nicht gelesen«, murmelte er. Buddy glotzte ihn an. »Du hast ihn noch nicht gelesen?« – »Ich habe ihn noch nicht gelesen.« Buddy sagte nichts, hatte aber den Mund offen. »Das steht dir nicht«, sagte Karl. Buddy japste ein bisschen nach Luft und schob sich die Brille zurecht. Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend.

Die Pressetraube vor der Einfahrt war schon kleiner geworden, jemand rief: »Herr Stiegenhauer!«, aber das war’s schon, nichts Schlimmes. Als sich das große Tor hinter ihnen schloss, war Ruhe. Buddy parkte das Schiff in der Garage und ging dann neben Karl her bis zur Tür. Offensichtlich wollte er mit reinkommen. »Danke fürs Fahren«, sagte Karl, »ich bräuchte dann den Schlüssel.« Buddy öffnete und schloss den Mund. »Für das Schiff«, sagte Karl. {37}»Ah, okay«, sagte Buddy, gab ihm den Schlüssel und stand immer noch da. Karl schüttelte ihm die Hand, ging ins Haus, schloss die Tür hinter sich und atmete aus. Gut. Er würde den Brief jetzt trotzdem lesen. Am besten ging er wieder in den Garten, da war es am erträglichsten.

Aber als er auf der Terrasse stand und den Garten sah, war da wieder der Kinderhalbkreis. Karl war sich ziemlich sicher, dass es dieselbe Gruppe war wie am Morgen. Wieder acht, wieder mit Schulranzen, jetzt wahrscheinlich auf dem Heimweg. Sie standen in Formation aufgereiht auf halber Strecke zum See, den Blick in Richtung Haus, und sahen aus, als hätten sie auf ihn gewartet. Mutprobe, dachte Karl wieder, na gut, das könnt ihr haben, mein Vater war ein Jägersmann, und mir steckt’s auch im Blut. Dann musste er eben noch einmal hineingehen.

Die Kellertreppe knarzte wie immer schon. Die Eltern hatten im Sommer manchmal mit Gästen unten am Ufer ein Tontaubenschießen veranstaltet. Die Ausrüstung war noch da. Er griff sich das Gewehr, lud es und ging wieder nach oben. Offensichtlich machte er Eindruck. Sechzehn Augen aufgerissenes Entsetzen. Keiner rührte sich. Karl schoss zweimal in den Himmel. Das reichte.

Er lachte ein bisschen, sog die Luft ein und ging {38}langsam über den Rasen bis zum See hinunter. Dort setzte er sich auf den Steg, das Gewehr legte er neben sich. Er sah aufs Wasser, zündete sich eine Zigarette an und rauchte sie langsam bis zum Ende. Dann nahm er den Umschlag aus der Brusttasche und sah ihn ein Weilchen an. Karl. Er sah aufs Wasser, holte Atem, als wollte er hineinspringen, und riss den Umschlag auf.

Karl.

Wenn du das liest, werden Ada und ich gegangen sein. Ich bin in Eile. Ich will nicht mehr länger warten, jede Minute fällt mir schwer. Sie stirbt, und ich bin noch hier, das sollte nicht sein. Dennoch: Du bist unser Sohn, und ich will diese Welt nicht verlassen, ohne dir zu schreiben.

Ada und ich, wir sind eins, unsere Leben sind verknüpft und verwachsen, sie haben einander getragen, sie haben am selben Tag begonnen, und so sollen sie auch am selben Tag enden. Ich hatte ein gutes Leben mit Ada, es war das einzige Leben, das ich hätte haben wollen, auch jetzt will ich kein anderes. Ich habe mich schon vor langer Zeit entschieden, keinen Tag ohne sie zu sein. Ich bin vorbereitet, und ich bin ganz ruhig, auch wenn dieser Tag früher und plötzlicher gekommen ist, als ich es mir gewünscht hätte. Bitte sorge dafür, {39}dass sie und ich eingeäschert werden und unsere Asche gemeinsam im Leinsee verstreut wird, ich weiß, dass auch Ada es so gewollt hätte.

Was unseren künstlerischen Nachlass angeht, so weiß ich sämtliche Angelegenheiten in den besten Händen. Unser Assistent Torben ist über alles Wichtige informiert, wir vertrauen ihm völlig. Ich bin sicher, er wird die Dinge nach unserem Willen regeln. Das muss dich also nicht belasten. Lass die Verantwortung bei ihm, und geh du deinen eigenen Weg.

Du sollst wissen, dass ich in Frieden gehe und ohne Groll. Gott weiß, was die Gründe für dein Schweigen sein mögen. Was immer es sei, ich habe dir verziehen. Ich verstehe dich nicht, aber ich verzeihe dir.

Lebe wohl.

Dein Vater, August Stiegenhauer,

am 25. April 2005

»Gott weiß«, das hatte der Vater schon immer gesagt. Immer schon, obwohl er überhaupt nicht religiös gewesen war. Als Kind hatte Karl geglaubt, das sei eine Farbe: allerweißestes Weiß, die Bartfarbe Gottes oder so. Karl griff nach dem Gewehr, er wollte es abfeuern, aber das war ja albern, wohin wollte er denn bitte schießen? Also ließ er es wieder {40}