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Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG

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Beschreibung

Im Frühjahr 2021 geht es um Herkunft, Familie, Identität und Zugehörigkeit. Ob humorvoll, ernst oder persönlich, lassen Sie sich überraschen und lesen Sie, was kommt!
Elf Leseproben, elf Bücher – von T. C. Boyle über Monika Helfer bis zu überraschenden Debüts. Die Suche nach der Familie beginnt bei „Vati“, dem großen Porträt einer Nachkriegskindergeneration, und führt über „Das achte Kind“, das gleich drei Väter hat, zu einem Mädchen, das so sehr „Die Fremde“ ist, dass sie sogar die Sprache ihrer Eltern aus Büchern lernen muss. Wie ein ewiges „Unter Wasser Nacht“ fühlen sich hingegen die Schuldgefühle eines Elternpaares an, das seinen Sohn verloren hat. Andere müssen beim Versuch, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen, „Eine Formalie in Kiew“ erledigen, was nichts ist gegen den Skandal, den eine Person of Colour entfacht, als klar wird, dass sie WEISS ist: was für eine „Identitti“! Noch spannender ist die „Unsichtbare Tinte“, die in einer französischen Detektei auftaucht, während auf dem Land „Der Tod in ihren Händen“ für Unruhe sorgt. Doch erst „Die Eroberung Amerikas“, ein Gleichnis für unsere von Gier gesteuerte Gesellschaft, zeigt, wie wichtig es nach „Ground Zero“ ist, die Welt endlich neu zu denken. Wie das gehen soll? „Sprich mit mir“ rät einer. Und meint wen?

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Über das Buch

Im Frühjahr 2021 geht es um Herkunft, Familie, Identität und Zugehörigkeit. Ob humorvoll, ernst oder persönlich, lassen Sie sich überraschen und lesen Sie, was kommt!Elf Leseproben, elf Bücher — von T. C. Boyle über Monika Helfer bis zu überraschenden Debüts. Die Suche nach der Familie beginnt bei »Vati«, dem großen Porträt einer Nachkriegskindergeneration, und führt über »Das achte Kind«, das gleich drei Väter hat, zu einem Mädchen, das so sehr »Die Fremde« ist, dass sie sogar die Sprache ihrer Eltern aus Büchern lernen muss. Wie ein ewiges »Unter Wasser Nacht« fühlen sich hingegen die Schuldgefühle eines Elternpaares an, das seinen Sohn verloren hat. Andere müssen beim Versuch, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen, »Eine Formalie in Kiew« erledigen, was nichts ist gegen den Skandal, den eine Person of Colour entfacht, als klar wird, dass sie WEISS ist: was für eine »Identitti«! Noch spannender ist die »Unsichtbare Tinte«, die in einer französischen Detektei auftaucht, während auf dem Land »Der Tod in ihren Händen« für Unruhe sorgt. Doch erst »Die Eroberung Amerikas«, ein Gleichnis für unsere von Gier gesteuerte Gesellschaft, zeigt, wie wichtig es nach »Ground Zero« ist, die Welt endlich neu zu denken. Wie das gehen soll? »Sprich mit mir« rät einer. Und meint wen?

Lesen, was kommt!

Frühjahr 2021

Werfen Sie hier schon vor Erscheinen einen Blick in ausgewählte Bücher aus dem Frühjahrsprogramm der Hanser Literaturverlage.

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

unsere Romane im Frühjahr 2021 sind mal humorvoll, mal ernst, spielen in der Vergangenheit oder im Hier und Jetzt, sie erzählen von der großen weiten Welt ebenso wie von ganz persönlichen Dingen. Und fast immer geht es dabei um sehr aktuelle Themen wie Herkunft, Familie, Identität und Zugehörigkeit.

Beginnen wir im Hier und Jetzt: Prof. Dr. Saraswati ist die Göttin aller Debatten über Identität. Sie nennt sich selbst »Person of Colour«, ist Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf — und WEISS! Was für ein Skandal. Mithu Sanyal erzählt in ihrem rasanten Roman Identitti von einer »gnadenlos witzigen Identitätssuche, die nichts und niemanden schont« (Alina Bronsky). Um Identität geht es auch bei Dmitrij Kapitelman, der mit acht Jahren aus Kiew nach Deutschland kam. Dmitrij möchte Deutscher werden. Er sächselt besser als die Beamtin, bei der er den Pass beantragt, und trotzdem muss er nach Kiew, um eine Apostille zu besorgen. Eine Formalie in Kiew ist eine tragikomische Reise zur Familie, in die Vergangenheit und mitten hinein in unsere politische Gegenwart.

Eine ganz besondere Familiengeschichte hat Claudia Durastanti: Ihre gehörlosen Eltern wandern in den sechziger Jahren nach New York aus. Claudia kommt in Brooklyn zur Welt und als kleines Mädchen zurück in ein Dorf nach Italien. Mit Büchern bringt sie sich selbst die Sprache bei, die ihr die Eltern nicht geben können. Aus all den Facetten dieses Anderssein entstand der Roman Die Fremde, den Ocean Vuong als »eine Rettungsboje in den dunklen Gewässern der Erinnerung« bezeichnet. Über ihre Familie schreibt auch Monika Helfer. Wer ihren berühmten Bestseller Die Bagage kennt, kann sich jetzt auf den neuen Roman Vati freuen. Hier erzählt sie von der eigenen Kindheit in den Bergen, von der Armut, und immer wieder von ihrem Vater, dem Mann mit der Beinprothese, dem Abwesenden, der so schweigsam war wie viele Männer dieser Zeit. Es ist ein außergewöhnliches Erinnerungsbuch, das zum Porträt einer Nachkriegskindergeneration wird. Ganz anders sind die Väter bei Alem Grabovac. Er hat gleich drei davon: der Vater ein Taugenichts, der Pflegevater ein Nazi, der Stiefvater ein brutaler Säufer. Das achte Kind ist eine aufrüttelnde Geschichte über Herkunft und Zugehörigkeit zwischen Jugoslawien und Deutschland — und »ein ganz besonderer Bildungsroman« (Maxim Biller).

Auch im neuen Roman des Nobelpreisträgers Patrick Modiano geht es um Erinnerung und die Deutung der eigenen Geschichte. In »Unsichtbare Tinte« heuert Jean Eyben in einer Pariser Detektei an und wird auf die verschwundene Noëlle Lefebvre angesetzt. Wer ist sie? Warum verlor sich ihre Spur? Als Jean einen Jugendfreund trifft, erscheint ihm ein Detail plötzlich von Bedeutung: Sie stammt aus demselben Dorf wie er selbst. Ein verblüffender, tief berührender Roman. Wer noch nie Modiano gelesen hat, sollte jetzt damit beginnen.

Kennen Sie Ottessa Moshfegh? Die einen halten sie für »verdammt noch mal genial« (Florentin Schumacher, F.A.S.), andere für »eine der aufregendsten Autorinnen unserer Zeit« (Harpers Bazaar) und die New York Times ist der Meinung, sie zu lesen sei »purer Genuss«. Viel mehr möchte man fast nicht verraten, höchstens, dass »Der Tod in ihren Händen« eine Kriminalgeschichte der anderen Art ist und mit den Sätzen beginnt: »Sie hieß Magda. Niemand wird je erfahren, wer sie ermordet hat. Ich war es nicht. Hier ist ihre Leiche.«

Dass die Vergangenheit für immer verborgen bliebe, wünschen sich Thies und Sophie, die mit Freunden in den idyllischen Elbauen im Wendland leben. Ihr Sohn ertrank unter ungeklärten Umständen im Fluss. Seitdem müssen sie mit ihren Schuldgefühlen leben und Tag für Tag das scheinbar perfekte Familienglück der anderen mit ansehen. In Unter Wasser Nacht erzählt Kristina Hauff — die unter ihrem echten Namen Susanne Kliem erfolgreiche Kriminalromane schreibt — mit feinem psychologischen Gespür von Misstrauen, Freundschaft, Schmerz und Hoffnung.

In die große weite Welt entführt Franzobel mit Die Eroberung Amerikas. Wie schon in seinem gefeierten Roman Das Floß der Medusa hat er sich einen historischen Stoff vorgenommen: Es geht um die Spur der Verwüstung, die die Einwanderer in Amerika hinterlassen haben, und darum, wie 500 Jahre später ein New Yorker Anwalt im Namen aller indigenen Stämme auf Rückgabe der gesamten USA an die Ureinwohner klagt. Entstanden ist ein Feuerwerk des Einfallsreichtums und ein Gleichnis für die von Gier und Egoismus gesteuerte Gesellschaft.

Der Frage nach dem Menschsein geht T. C. Boyle in seiner unnachahmlichen Art nach. Er erzählt von Sam, einem Schimpansen, der in der Gebärdensprache mit Menschen agieren kann. Und von Aimee, die eine ganz besondere Beziehung zu ihm entwickelt und an das Menschliche im Tier glaubt. Wo verläuft die Grenze des menschlichen Bewusstseins — und sind uns Tiere ähnlicher, als wir vermuten? Die unterhaltsame Antwort finden Sie in Boyles neuem Roman Sprich mit mir.

Zum Schluss möchten wir Ihnen noch ein Sachbuch empfehlen, das uns die Gegenwart erklärt, in der wir heute leben. In Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart stellt Stefan Weidner die These auf, dass Terrorismus, Bürgerkriege und Migration Auswirkungen von 9/11 sind. Erst, wenn wir uns von den Feindbildern der letzten 20 Jahre verabschieden, so der Autor, können wir uns den gemeinsamen Herausforderungen der Menschheit — etwa dem Klimawandel — widmen. Ein Plädoyer dafür, die Welt neu zu denken.

Und mit dieser Idee, die Welt neu zu denken, möchten wir Sie eintauchen lassen in unsere Bücher und Leseproben des Frühjahrs 2021. Viel Freude damit wünschen

Ihre Hanser Literaturverlage

Hanser, Hanser Berlin, hanserblau und Zsolnay

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Leseprobenauswahl

Vorwort

>> ZUM VORWORT

Mithu Sanyal

Identitti

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Dmitrij Kapitelman

Eine Formalie in Kiew

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Claudia Durastanti

Die Fremde

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Monika Helfer

Vati

>> ZUM BUCH

Alem Grabovac

Das achte Kind

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Patrick Modiano

Unsichtbare Tinte

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Ottessa Moshfegh

Der Tod in ihren Händen

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Kristina Hauff

Unter Wasser Nacht

>> ZUM BUCH

Franzobel

Die Eroberung Amerikas

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T. C. Boyle

Sprich mit mir

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Stefan Weidner

Ground Zero

>> ZUM BUCH

Impressum

Mithu Sanyal

Mithu Sanyal

Identitti

Das Buch

Was für ein Skandal: Prof. Dr. Saraswati ist WEISS! Schlimmer geht es nicht. Denn die Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf war eben noch die Übergöttin aller Debatten über Identität — und beschrieb sich als Person of Colour. Als würden Sally Rooney, Beyoncé und Frantz Fanon zusammen Sex Education gucken, beginnt damit eine Jagd nach »echter« Zugehörigkeit. Während das Netz Saraswati hetzt und Demos ihre Entlassung fordern, stellt ihre Studentin Nivedita ihr intimste Fragen. Mithu Sanyal schreibt mit beglückender Selbstironie und befreiendem Wissen. Den Schleudergang dieses Romans verlässt niemand, wie er*sie ihn betrat.

>> ZUR LESEPROBE

>> ZUR AUTORIN

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Leseprobe

Me and the devil

Identitti

Ein Blog von Mixed-Race Wonder-Woman

Über mich:

Das letzte Mal, dass ich mit dem Teufel sprach, war er nackt, sichtlich sexuell erregt und eine Frau. So viel zu sozialen Gewissheiten: Wenn man sich nicht einmal darauf verlassen kann, dass der Teufel ein Mann ist, kann man direkt jede Form von Identität ablegen wie ein altes T-Shirt! Was ich ja gerne tun würde, wenn ich denn eine hätte, die ich an- geschweige denn ablegen könnte. Genau darum ging es bei diesem wie jedem weiteren Treffen mit meinem Devil, der eine Devi ist: Eine indische Göttin mit zu vielen Armen und einer Kette aus den abgerissenen Köpfen ihrer Feinde. Ja, ich spreche von Kali.

»Alles Dämonen«, sagte sie in demselben wegwerfenden Tonfall, in dem meine Cousine Priti ›alles Männer‹ sagen würde, und rüttelte ihre Kette, dass ihren erledigten Feinden die Zähne klapperten. Und tatsächlich sahen Kalis Dämonenköpfe alle verdächtig nach Männerköpfen aus.

Doch sie war bereits mit anderen Dingen beschäftigt: »Lass uns um die Wette ejakulieren. Wer am weitesten spritzt, hat gewonnen.«

Ich deutete verblüfft auf ihre haarige Vulva. »Wie willst du damit …?«

»Ah! Nicht nur cis Männer können abspritzen«, rief Kali und guckte dabei so triumphierend, dass mir einen Moment lang nicht einmal auffiel, dass sie gerade cis gesagt hatte.

»Und warum auch nicht? Drei Geschlechter hatten wir schon Jahrhunderte, bevor euer Gott auch nur geboren wurde.«

»Aber du bist doch meine Göttin«, erinnerte ich sie.

»Ich dachte, ich wäre dein Teufel?«

»Wo ist da der Unterschied?«

Race & sex. Wann immer Kali und ich redeten, ging es um race & sex. Also — in Ermanglung einer korrekten Übersetzung oder auch nur einer, die nicht sofort in bodenlose Abgründe führt — um mein Verhältnis zu Deutschland und Indien, meinen beiden Nicht-Heimatländern (remember: Mixed-Race Wonder-was-auch-immer), und um … Sex.

Dieser Blog besteht vor allem aus Transkripten unserer Gespräche. Wenn Ihr ihn lange genug lest, werde ich Euch irgendwann verraten, warum ich mich die ganze Zeit mit einer Göttin unterhalte.

Mein Name ist Nivedita Anand. Ihr könnt mich IDENTITTI nennen.

Strange Fruit

1

Der Tag, an dem die Hölle ihre Schlünde öffnete und heulende Furien ausspie, fing an wie ein ganz normaler Tag, wenn ein normaler Tag mit einer Rakete anfängt.

Das ist keine Rakete, das ist ein Satellit, las Nivedita, zumindest interpretierte sie die Whatsapp ihrer Cousine Priti so. Was Priti tatsächlich geschrieben hatte, war: tisNOrukula isssSATELITE!!! und dazu ein Emoji, das aussah wie ein Bund Spargel. Nivedita schaute an den neunzehn Betonetagen des Deutschlandfunks hoch, die prekär auf einem winzigen Sockel balancierten, der sich zum Rest des Funkhauses verhielt wie der Feuerschweif auf grafischen Darstellungen des Rückstoßprinzips zum Flugkörper, und textete zurück: Eindeutig eine Rakete!

An der Spitze des Gebäudes, da, wo sich bei Saturn V die Apollokapsel befunden hatte, formten Eisenstreben einen Pyramidenpfeil in den gleißend grauen Himmel und Nivedita fühlte sich gleichzeitig erhaben und winzig angesichts dieses Betonraumschiffs, über dessen Eingang in blauen Buchstaben stand: Die Nachrichten.

Stell dir vor, du wärst eine Terroristin, die schon mehrere Menschen umgebracht hat, riet ihr die nächste Whatsapp von Priti in einer noch fantasievolleren Ansammlung von Buchstaben, oder dass du eine Terroristin bist, die schon gefaked hat, she’d killed loads of Leute. Dann ist das hier ein Klacks. Und ein paar Sekunden später: A small step for you, a big step for humankind ROFL LMAO.

Die Glastüren glitten lautlos vor Nivedita auf, sie betrat die heiligen Hallen des Deutschlandfunks. Es roch nach Kerzenwachs und Kunstleder wie bei einer Mischung aus Finanzamt und Geheimdienst, falls der Bundesnachrichtendienst so roch, wie James-Bond-Filme aussahen. Durch die Glasscheibe hatte sie nur den Anzug des Pförtners gesehen und erschrak, als er den Kopf hob, weil er nicht älter war als sie. Doch durch sein bisschen schwarze Dienstkleidung gehörte er zu einer anderen Generation und tanzte zu einer anderen inneren Trommel, es sei denn, er zog sein korrektes Jackett aus oder Nivedita ihre Mischung aus radical chic und seriös — was in vollkommener Unkenntnis der Codes bedeutete, dass sie ihre langen schwarzen Haare am Morgen zu einem Gretchenzopf geflochten hatte, der sich seitdem in stummem, aber entschlossenem Protest Strähne für Strähne auflöste. »Ich soll zu meinem Blog interviewt werden«, sagte sie den Satz, den sie die ganze Zugfahrt über auswendig gelernt hatte.

Der Pförtner entgegnete kryptisch: »Wo?«

»Äh … hier …?«

Er sah sie väterlich an. »Nein, was ist der Name der Redaktion?«

Einen Augenblick lang konnte sich Nivedita nicht einmal erinnern, was ihr eigener Name war. Sie fühlte sich wie ein schräg zugezogener Reißverschluss: verhakt und verrutscht. Dann klingelte das nachtblaue Festnetztelefon auf der Theke und rettete sie.

»Nivedita Anand«, sagte sie im selben Moment, in dem er auflegte und verkündete: »Sie werden abgeholt.«

Sie tat, was sie immer tat, wenn sie sich einer Situation nicht gewachsen fühlte, und ging aufs Klo. Nicht weil sie sich nach einem Quadratmeter Privatsphäre sehnte, sondern um in den Spiegel zu schauen und zu kontrollieren, ob sie noch da war. Auf dem Milchglas der Toilettentür stand: »Frau [ahd. Frouwa ›Herrin‹, ›Gebieterin‹], weibl. erwachsener Mensch. Die Wesensdefinition der F. variiert ja nach geograph. Raum, histor. Epoche sowie Gesellschafts- und Kulturtypus.«

»Bist du drin?«, fragte Priti.

»Ja«, raunte Nivedita.

»Warum gehst du dann ans Handy?«

Gespräche mit Priti verliefen immer nach Pritis Regeln, gleich würde ihr bestimmt einfallen, dass sie Wichtigeres zu tun hatte als mit Nivedita zu plaudern, auch wenn sie selbst angerufen hatte. Vor allem dann. Deshalb machte sich Nivedita nicht die Mühe, sich oder irgendetwas zu erklären, sondern sagte nur: »Du solltest das Klo hier sehen, das ist ein Proseminar in Germanistik.«

»That’s the spirit!«, stimmte Priti resolut zu. »Fühl dich superior zu das toilet und dann … wait! … Something’s come up, Niv.« Wenn Priti Nivedita wohlgesonnen war, nannte sie sie Niv, ausgesprochen wie der irische Vorname Niamh, der Nieve ausgesprochen wurde. Priti kam aus Birmingham und mochte das, nicht weil man sich in Birmingham besonders mit irischen Frauennamen ausgekannt hätte, sondern weil sie damit Differenz markieren konnte. Als hätte irgendjemand zu bezweifeln gewagt, dass Priti Anders mit großem O wie Other war! Solange sie Nivedita mit dem Sternenstaub ihrer Anerkennung besprenkelte, fühlte sich Nivedita ebenfalls bemerkenswert und nicht merkwürdig. Nur konnte Pritis Laune jederzeit umschlagen, und in weniger großzügiger Stimmung nannte sie Nivedita Nivea, wie die weiße Hautcreme-Marke, die regelmäßig mit rassistischer Werbung Skandale auslöste.

»Shit!«

»Priti?«

»Gotta go. Rufe dich später zurück!«

Nivedita tippte auf das rote Telefonhörer-Icon und warf einen tiefen Blick in ihre eigenen Augen, der ihr so gut wie nichts verriet. Sie wünschte inständig, sich von außen sehen zu können, so wie andere sie sahen. Doch war sie genau dazu nicht in der Lage. Sie konnte sich noch nicht einmal so sehen, wie sie sich selbst sah. Aber sie konnte ihren Kajal verwischen, um intellektuellere Schatten um die Augen zu bekommen, also tat sie wenigstens das.

Auf der anderen Seite der Milchglastür wartete eine kleine Frau mit einem großen Hund und sagte: »Willkommen bei Deutschlandfunk Nova, ich bin Verena. Kann ich dich Identitti nennen?«

Verena hatte perfekte Grübchen wenn sie lächelte, und Nivedita stellte sich sofort vor, wie es wäre, mit ihr Sex zu haben. Dann stellte sie sich vor, wie es wäre, mit ihrem Hund Sex zu haben, verlor aber umgehend das Interesse und kehrte zur ersten Überlegung zurück. Das Treppenhaus erinnerte sie wie die Toilette an die Uni — Brutalismus meets Parkhaus —, und sie fühlte sich einen Moment lang wie Freida Pinto in Slumdog Millionaire, bis sie in einer spiegelnden Fensterscheibe bemerkte, dass ihr Kajal weniger nach smokey eyes aussah, sondern eher, als hätte sie auf dem Klo geheult.

Im Studio reichte ihr Verena ein absurd großes Paar Kopfhörer. Der Hund legte sich umständlich in eine Ecke und sah sie dabei unverwandt aus melancholischen braunen Augen an, als wolle er sein Mitgefühl für die Gesamtheit der menschlichen Gattung ausdrücken.

»Das ist Mona«, stellte Verena vor und Nivedita berichtigte sich: sie/ihr Mitgefühl.

»Hallo Mona«, sagte sie, woraufhin Mona sofort wieder aufstand und zu ihr kam, um sich stoisch streicheln zu lassen.

Auf dem Pult gab eine Ampel kontraintuitive Signale.

Grünes Licht: Warten.

Rotes Licht: Aufnahme läuft!

Verena zog das Mikrofon näher zu sich heran und begann: »Wo kommst du her? Über diese Frage wird heftig debattiert. Rassismus oder nur Interesse? Was dürfen wir noch sagen? Was dürfen wir um keinen Preis sagen? Und was sagt uns das alles? Im Studio ist die Bloggerin Nivedita Anand, laut dem Missy Magazine eine der PoCs, die wir kennen müssen. Nivedita, bevor du uns alle Fragen beantworten wirst, erklär doch erst einmal die Bezeichnung PoC, ohne die Worte ›People‹ und ›of‹ und ›Colour‹ zu verwenden?«

Nivedita starrte Verena an, als hätte sie gesagt: Kannst du atmen, ohne Luft zu holen? Oder kannst du deine Mutter treffen, ohne sie wegen einer völlig unerheblichen Angelegenheit anzuschreien? Oder kannst du an Indien denken, ohne dass dir von der Leere, die sich sofort in dir ausbreitet, schwindelig wird? Dann hörte sie ihre eigene Stimme antworten: »PoCs, das sind die Menschen, die gefragt werden: Wo kommst du her?«

»Und wo kommst du her, Nivedita?«

Langsam fühlte sich Nivedita von Verena und ihren Grübchen verarscht. Sie wusste, dass die Frage lustig gemeint war. Provokation ergab gutes Radio. Aber sie konnte nicht zurückprovozieren, weshalb sie defensiv erwiderte: »Aus dem Internet. Ich lebe im Internet.«

Doch das schien genau die Antwort zu sein, auf die Verena gewartet hatte: »Unter dem Namen Identitti bloggt Nivedita über Identitätspolitik und …«

»Brüste«, warf Nivedita ein: Wie du mir, so ich dir.

»Mehr über Brüste oder mehr über Identitätspolitik?«, jubelte Verena. Und Niveditas Abwehr schmolz in der Sonne ihrer Begeisterung.

»Nicht nur über Brüste, ich blogge auch über … darf ich im Radio ›Vulva‹ sagen?«

»Lass uns bei Brüsten bleiben.«

»Okay.« Nivedita fragte sich, wie wohl Verenas Brüste aussahen, konzentrierte sich aber sofort wieder auf … ihre eigenen Brüste. »Alles fing damit an, dass ich ein Foto von meinen Brüsten gepostet habe, auf die ich mit Kajal geschrieben hatte: ›Um ihre Loyalität zu zeigen, saugten die Gefolgsleute im keltischen Irland an den Brustwarzen des Königs.‹«

Verena ließ ihre Grübchen aufblitzen wie zwei hochgestreckte Daumen. »Echt?«

»Keine Ahnung. Meine Cousine Priti hatte das in einer Quizshow gehört und ich fand die Idee von sozialem Brustsaugen super. Aber dann kam sofort ein langer Kommentar von irgendeinem Studienrat, dass die Geschichte nur in der Saga …«, Nivedita schaute auf ihren Unterarm, auf den sie die wichtigsten Namen und Daten notiert hatte, »… von Fergus Mac Léite aus dem achten Jahrhundert verbrieft und dort ein Witz gewesen sei, aber ich würde ja eh keinen Spaß verstehen, weil ich Gender studierte. Ich schrieb zurück: Ich studiere gar nicht Gender, sondern Postcolonial Studies! Darauf der Oberlehrer: ›Die einzige andere Quelle ist St. Patrick, der behauptet, er habe sich geweigert, die Brustwarzen des heidnischen Königs zu saugen. St. Patrick über Heiden ist so zuverlässig wie Donald Trump über Muslime. Das sollten Sie mit Ihrem postkolonialen Gender wissen!‹ Bevor ich dagegen einen weiteren Kommentar schreiben konnte, sperrte Facebook meinen Account. Wegen der Brustwarzen! Doch da war das Bild bereits so häufig geteilt worden, dass klar war, dass ich weitermachen musste. Ich nenne meine Einträge zwar Blog, weil das so schön retro klingt wie … CD …… oder Privat-PKW … oder bürgerliche Ehe, aber genau genommen ist meine Webseite einfach nur das Archiv meiner Threads und Rants und Posts und Stories und Kommentare, weil die Leute die anscheinend hintereinander lesen wollen wie eine Geschichte, weil wir eben mehr sind als nur verstreute Kommentare zu Identitätspolitik.«

Nivedita spürte, wie sich ihre Brustwarzen unter ihrem T-Shirt aufrichteten, als wollten sie sagen: Das alles hast du uns zu verdanken, gut was?

»Hervorragend«, stimmte Verena ihnen zu. »Kam so der Name Identitti zustande?«

»Nee, zuerst hieß mein Blog 50 Shades of Beige — wegen meiner Hautfarbe, beige halt.«

»Warum nicht braun?«

»Braun zu sagen, ist rassistisch.«

»Wirklich?«, Verenas Grübchen verschwanden bestürzt.

»Keine Ahnung. Genau darum geht es ja, dass wir keine Sprache für Leute wie uns haben. Schließlich waren wir noch bis vor kurzem verboten.«

»Verboten?«

»Verboten«, bestätigte Nivedita. Wenn sie ganz ehrlich war, war das Referat, das sie an der Uni über die verschiedenen »Rassenmischungs«-Gesetze — oder besser all die Gesetze, die »Rassenmischungen« verboten — gehalten hatte, die wirkliche Geburt ihrer Internetpersona gewesen. So faszinierend Brüste auch waren, nie hätten sie sie zu diesem steten Strom an in Worte geronnener Empörung inspiriert. Trotzdem hatte alles mit Sex begonnen. Legalem Sex, illegalem Sex und Sex, der so undenkbar war, dass er die Köpfe der Gesetzgeber zum Explodieren brachte. »Die Nationalsozialisten waren nicht die einzigen, die versuchten, sogenannte Rassenmischungen zu verhindern. In den USA dürfen Weiße und Nicht-Weiße erst seit …«, wieder schaute Nivedita auf ihren Arm, »… 1967 heiraten, in Südafrika erst seit 1985. Und als meine Mutter hier in Deutschland schwanger war, hat ihr Arzt sie noch gewarnt, dass ›Mischlinge‹ eher zu Depressionen neigen würden. Aber als ich das Simon, meinem …«, sie zögerte kaum, »… Freund, erzählt habe, sagte er dazu nur: ›Du immer mit deinem Identitti.‹ Und irgendwie hat sich dann ›Identitti‹ durchgesetzt.«

Beim Stichwort Setzen sortierte Mona ihre langen Hundebeine auseinander, legte sich jedoch auf einen Wink Verenas wieder hin. »Du schreibst wahlweise unter den Künstlernamen Identitti und Mixed-Race Wonder-Woman. Eine deiner Superkräfte, um die es immer wieder geht, ist, dass du mit Göttern sprechen kannst, zumindest mit einer, nämlich Kali, der hinduistischen Göttin der Zerstörung. Die meisten Beiträge sind Gespräche mit ihr. Warum?«

Genauso gut hätte Verena Nivedita bitten können, in die Tiefen ihrer Seele hinabzutauchen und das Ei mit den letzten Wahrheiten heraufzuholen. Aber selbst wenn das möglich gewesen wäre, hätte es nichts an Niveditas Sprachlosigkeit geändert, schließlich gab es gar kein Ei, sondern höchstens Schale und Flüssigkeit, aus der später einmal eventuell ein Wesen mit Federn werden konnte. Eines der Attribute Kalis waren Federn, doch besaß Kali so viele Attribute, dass Nivedita schon lange aufgegeben hatte, den Überblick zu bewahren. Verena schaute sie erwartungsvoll an. Wie lange bereits? Also sagte Nivedita schnell: »Mit irgendjemandem muss ich über diese Dinge reden. Die meisten Leute haben schlicht keine Ahnung davon. Ich ja auch nicht. Deshalb brauche ich jemanden, der mir all das erklärt.«

Aber Verena war gar nicht wirklich an Kali interessiert, sondern brauchte sie nur als Klettergriff für ihre eigentliche Frage: »Jetzt von Göttin zu Göttin: von Kali zu Saraswati. Allerdings nicht zu Saraswati, der indischen Göttin der Weisheit, sondern zu Saraswati, der Professorin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, bei der du Intercultural Studies und Postkoloniale Theorie studierst.«

Nivedita spürte ihr Herz in ihrem Brustkorb.

»Saraswati, genau.« Charismati Saraswati, wie Priti ihre gemeinsame Professorin immer nannte, doch war Pritis Ironie gespielt, da nicht einmal sie sich Saraswatis Charme und ihrer schieren Intelligenz entziehen konnte.

»Warum eigentlich nur Saraswati, hat sie keinen Nachnamen?«

Nivedita zuckte mit den Achseln, woraufhin der Kopfhörer langsam, aber unaufhaltsam von ihrem Kopf rutschte und nur noch ein Hörer war. »Beyoncé braucht ja auch keinen Nachnamen«, sagte sie und versuchte, den Hörer möglichst geräuschlos wieder hochzuschieben. »Oder … die Queen.«

»Aber beide haben Nachnamen.«

»Richtig, Knowles und … Habsburg?«

»Windsor«, berichtigte Verena.

»Wie auch immer. Saraswati hat bestimmt auch einen Nachnamen, aber sie braucht keinen, weil sie Saraswati ist — und jeder sofort weiß, wer gemeint ist.«

»Das ist richtig!«

Nivedita beobachtete fasziniert, wie Verena ein Blatt hochhob, ohne zu knistern, und davon ablas: »1999 veröffentlichte Saraswati ihr erstes Buch Decolonize your Soul, das sofort zu einem Bestseller wurde und ihr später die Professur in Düsseldorf einbrachte. Doch wird sie nicht nur an der Universität gelesen. Saraswati ist Pop. So sehr Pop, dass sie ihr zweites Buch PopPostKolonialismus nannte. Und wie es sich für Stars gehört, entzünden sich an ihr immer wieder heftige Debatten, vor allem in den sozialen Medien.«

Wieder zuckte Nivedita mit den Achseln, hielt den Kopfhörer diesmal jedoch rechtzeitig fest. »Heutzutage ist man keine ernstzunehmende Intellektuelle, bis man einen Shitstorm bekommen hat.« Und wer Saraswati traf, kam nicht umhin, sie ernst zu nehmen. Niveditas (in Ermanglung einer besseren Bezeichnung) Beziehungspartner Simon sagte immer: Priti hat einen angeborenen Kompass für Macht, deshalb wird ihre innere Nadel unbeirrbar von Saraswati angezogen. Ebenso unbeirrbar, wie Nivedita von Saraswatis Versprechen angezogen wurde, ihre Seele zu retten, Decolonize your Soul. Genau das versuchte Nivedita, seit sie vor drei Jahren begonnen hatte, bei Saraswati zu studieren.

»Beim Phänomen Saraswati geht es aber nicht nur um die normale Aufregung im Netz. Es gibt auch an der Uni regelmäßig Rassismusvorwürfe gegen sie. Und sogar eine gerichtliche Klage bezüglich ihres Umgangs mit weißen Studierenden«, wandte Verena ein.

»Die Leute, die Saraswati Rassismus vorwerfen …« Nivedita liebäugelte damit zu sagen: sollen an ihren eigenen Brustwarzen saugen, entschied sich dann aber für: »… verstehen Saraswati nur nicht. Sie verstehen vor allem nicht, was Weißsein bei Saraswati bedeutet.« In weniger als vierundzwanzig Stunden würde sich Nivedita wünschen, diesen Satz nie gesagt zu haben.

»Genau davon handelt ihr heißdiskutierter Essay White Guilt. Warum niemand weiß sein will«, las Verena von einem weiteren knisterfreien Blatt ab. »Letzten Monat wurde er gleichzeitig im Times Literary Supplement sowie der deutschen und der französischen Ausgabe der Lettre International veröffentlicht. Die TLS bewirbt ihn mit dem Satz: ›Ein essentieller Text in Zeiten, in denen die Bezeichnung ›alte weiße Männer‹ zu einer Beleidigung geworden ist.‹ Will wirklich niemand mehr weiß sein?«

»Also, ich nicht«, log Nivedita, die sich die Hälfte ihres Lebens nach nichts mehr gesehnt hatte — und die andere Hälfte danach, dunkler zu sein, als sie war. Alles, nur nicht dieses hybride Halb-und-halb, das durch alle Raster und Kategorien rutschte und so schwer fassbar war, dass selbst der Farbton nach etwas Flüssigem benannt war: Cognac.

»Warum nicht?«

Wo sollte sie anfangen? »Das liegt an der Geschichte des Begriffs. Bis zum siebzehnten Jahrhundert gab es weiß überhaupt nicht, außer als Beschreibung für Wolken oder …« Auf die Schnelle fiel Nivedita nichts anderes ein als: »Schafe. Dann begann der transatlantische Sklavenhandel, den die Europäer natürlich irgendwie legitimieren mussten, man kann ja nicht einfach irgendwohin gehen und Menschen entführen und verhökern. Also erklärten sie, dass die weiße Rasse überlegen sei. Und dafür mussten sie diese weiße Rasse überhaupt erst einmal erfinden.« Nivedita hatte White Guilt nicht nur gelesen, sie hatte es wie alle Texte Saraswatis wie eine Bibel inhaliert. »Vorher haben sich Europäer nicht als Weiße identifiziert, sondern über den Teil von Europa, aus dem sie kamen, oder über ihre Sprache. Wo bin ich?«

»Weiße Überlegenheit.«

»Genau«, nur dass sie dafür im Seminar das englische Lehnwort verwendeten: White Supremacy. White Supremacy war so etwas wie die Erbsünde in den Postcolonial Studies, das Zentrum des Erdbebens, dessen Erschütterungen noch heute zu spüren waren. »Aus diesen historischen Gründen ist weiß untrennbar mit weißer Vorherrschaft verbunden. Weiß hatte niemals eine andere Bedeutung. Entsprechend können sich weiße Menschen auf ihr Weißsein auch nicht anders beziehen als durch die Brille weißer Herrschaft, es gibt für sie keine spezielle weiße Kultur oder weiße Musik, weil für sie alles weiß ist, wie in einem Schneesturm. Schwarze werden nach wie vor diskriminiert — keine Frage! —, aber gleichzeitig verbinden wir mit Schwarzsein auch Vorstellungen wie Revolution und Subversion und Black Power. Von Weißsein dagegen gibt es keine progressiven Vorstellungen. Daraus schließt Saraswati, dass Weißsein etwas ist, das auch Weiße einschränkt.« Einen Moment lang fühlte sich Nivedita ihrer Professorin so nah, dass sie meinte, Saraswatis unvermeidliche Dupatta um ihre eigenen Schultern zu spüren, und die ziehenden Nervenstränge unter dem Schlüsselbein wegen Saraswatis ständiger Primaballerinapose mit weit geöffneten Schultern und hocherhobenem Kopf. Saraswati hatte einmal gesagt: Du hast die Nackenschmerzen hinten, ich habe sie vorne. Also hob Nivedita ihren Kopf und taxierte Verena prüfend mit gesenkten Augenlidern: »Wie ist das für dich? Spürst du, wie dein Weißsein dich einschränkt?«

Verena warf einen nackten, ungeschützten Blick zurück und Nivedita dachte: So macht Saraswati das also.

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Auf dem Rückweg zum Kölner Hauptbahnhof überlegte Nivedita, ob sie sich den Moment nur eingebildet hatte. Verena hatte das Gespräch danach zu der ewigen Frage Wo kommst du her? zurückgeführt und Nivedita war in ihre Comedy-Routine geschlüpft — »Ich habe einen Monat lang Gespräche mitgeschrieben, bei denen Leute mich gefragt haben: ›Wo kommst du her?‹ Aus Essen. ›Nein, wo kommst du her her?‹ Aus Essen-Frillendorf. ›Nein, wo kommst du wirklich her her her?‹ Aus dem Bauch meiner Mutter? ›Nein, warum bist du braun?‹« —, aber der Höhepunkt des Interviews war eindeutig Niveditas Regelbruch gewesen, als sie die Rollen umgedreht und Verena die Frage zurückgestellt hatte.

Sobald sie aus dem Bus stieg und die schwüle Luft sie so in die Arme schloss, als würde das angekündigte Gewitter nie kommen, versuchte sie, Simon anzurufen. Sie hatte irgendwo gelesen, Busse wären Faradaysche Käfige, und stellte sich darum immer vor, dass die Handystrahlung in ihnen von der Stahlkarosserie hin- und hergeworfen wurde, bis sie wie Bleistiftgekritzel den ganzen Raum ausfüllte und alle Passagiere hinter einer grauen Wolke aus Statik verschwanden. Wie die beiden Male zuvor ging nur Simons Voicemail dran: »Ich weiß Ihren Anruf zu schätzen. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton, ich werde Sie umgehend zurückrufen.« Nur dass er eben nicht umgehend zurückrief.

Nivedita ging ins Museum Ludwig, um das WLAN zu benutzen, sie mochte fremdes WLAN, das war so demokratisch, und postete auf Instagram und ihrem Blog ein auf der Hinfahrt im Netz gefundenes Foto eines kuscheligen Katzenbabys.

Identitti:

Jedes Mal, wenn du einen rassistischen Gedanken denkst,

tötet Gott ein Kätzchen.

Aber keine Sorge:

Es ist keine deutsche Katze!

Am liebsten hätte sie über das flauschige Katzenköpfchen Maradonas Hand als Hand Gottes montiert, entschied sich dann aber aus Bedenken wegen des Copyrights für Simons Hand. Wie sich bald herausstellen würde, hatte Simon ebenfalls ein Copyright auf Gott.

»Warum bist du nicht drangegangen?«, rief Nivedita, als ihr Regionalexpress in den Düsseldorfer Hauptbahnhof einfuhr.

»Ich gehe doch jetzt dran«, antwortete Simon mit dieser Stimme, die ihr wie immer unter die Haut ging. Seine weiteren Ausführungen wurden vom Schaffner übertönt, der alle erdenkbaren Anschlussmöglichkeiten für alle erdenkbaren Verbindungen aufzählte. Die Türen öffneten sich lautstark, das Gleis war noch lautstärker, und als sie Simon endlich wieder verstehen konnte, sagte er: »Mein Handy war leise gestellt«, als wäre sein Handy ihrer Umgebung überlegen.

»Aber wir waren vor drei Stunden in Köln verabredet!«

»Ich habe meinen Termin bei Campact vorbereitet und die Zeit vergessen.«

Eine Welle von Eifersucht auf Simons Selbstgenügsamkeit schwappte durch Nivedita. Sie übersetzte sich seine Erwiderung mit Ich habe Jura studiert und werde einmal die Menschenrechte retten, das ist wichtiger als dein bisschen Seelenretten, oder kürzer: Ich bin dir wichtiger als du mir.

»Aber ich war im Radio!«, heulte sie auf.

»Aha«, sagte Simon.

Nivedita spürte, wie ihre Verletzung in Gereiztheit umschlug. »Was?«

Nichts.

»WAS?!?«