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Phönizier und Römer, Araber und Berber, Moslems, Juden, portugiesische, spanische und französische Kolonisatoren – die Einflüsse, denen Marokko als Land am Schnittpunkt Schwarzafrikas, Arabiens und Europas ausgesetzt war, sind von kaum zu überbietender Vielfalt. Denkbar bunt ist auch das kulturelle Spektrum, das die Gesellschaft im heutigen Marokko prägt. In den Oasen am Rand der Sahara und in den abgeschiedenen Berberdörfern des Atlas- und des Rif-Gebirges kann die Mehrheit der Menschen nicht lesen und schreiben, während die Geschäftsleute in Bürohochhäusern der Sechs-Millionen-Metropole Casablanca vom Anschluss an die Europäische Union und von der Tunnelverbindung nach Andalusien träumen. Walter M. Weiss besucht Schauplätze moderner Mythen wie Tanger und Casablanca oder Meknes und Fes, die beiden Zentren mittelalterlicher Gelehrsamkeit und Städtebaukunst, die Lehmburgen entlang der "Straße der Kasbahs" und die Basare und Luxusvillen von Marrakesch. Dabei begegnet er Sufi-Musikern, Studenten und Straßenhändlern, Akrobaten, Pilgern und Handwerkern, Rabbinern, Beatniks und berberischen Bauern. Und er erfährt maghrebinische Geschichten einer neuen, realen und gegenwartsbezogenen Art.
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Seitenzahl: 127
Copyright © 2011 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Umfassend überarbeitete Neuausgabe 2019
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung:
© Jean-Pierre De Mann/www.buenosdias.at
ISBN 978-3-7117-1094-9
eISBN 978-3-7117-5397-7
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des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at
Walter M. Weiss, 1961 in Wien geboren, studierte Geschichte, Publizistik und Politikwissenschaften und arbeitete viele Jahre als Chefredakteur namhafter Zeitschriften. Parallel seit bald 30 Jahren als freier Autor tätig, hat er ausgedehnte Reisen, vor allem in die arabisch-islamische Welt, unternommen und eine große Zahl von Sach- und Reisebüchern veröffentlicht. Zu seinen Themenschwerpunkten zählen neben dem islamischen Kulturkreis mitteleuropäische Kunst- und Kulturgeschichte sowie die Länder Süd- und Ostasiens. Im Picus Verlag erschienen seine Reportagen Syrien und Ägypten sowie die Lesereise Marokko. http://wmweiss.com
Walter M. Weiss
Im Labyrinth derTräume und Basare
Picus Verlag Wien
An der Tür zu Afrika
Wo Noah und Paul Bowles vor Anker gingen
Koexistenz auf Marokkanisch
Begegnungen mit der jüdischen Gemeinde
Paradies im Dies- und im Jenseits
Begegnungen mit Kiffern, Gnawas und den Beatniks
Hippietreff und Hochburg des Widerstands
Tetouan und Chefchaouen: Zentren der Kiffer und des Kabylen-Krieges
Only gucken!
Auf labyrinthischen Pfaden durch den Basar von Fès el-Bali
Vom Hammam über den Hades in den Hängebauch
Eine Wallfahrt der Sinne in das Innerste von Fès
Die Heilkraft der Toten
Auf der Suche nach segensreichen Energien
Zwischenruf: Reisen als politischer Akt
Antworten auf eine Gewissensfrage am Beispiel Marokkos
Ausflug an den Rand der Zeit
Zu Besuch bei den Berbern im Rif-Gebirge
Moulay Ismails Vermächtnis
Prunk und Wahn in Meknes
Hinter den Mauern der Macht
Rabat: Königssitz und Tor zum Westen
Leben und beten im Weißen Haus
Casablanca: Hafenstadt als Metropole und Moloch
Maritime Momentaufnahmen
An der Atlantikküste Richtung Agadir
Unter Akrobaten, Gauklern und Poeten
Das magische Treiben auf dem Djemaa el-Fna
Oase des Luxus und der Moden
Durch Marrakeschs grüne Peripherie
Von kargen Böden und ehernen Dogmen
Auf Spritztour in den Hohen Atlas
In Hollywoods Heiligem Land
Von Agadir durch den Anti-Atlas nach Ouarzazate
Zweiundfünfzig Tage bis Timbuktu
Auf der Straße der Kasbahs Richtung Sahara
Mythische Orte bedürfen offenbar mythischer Gründungsgeschichten. Am besten gleich mehrerer, um den sagenhaften Ruf gebührlich zu untermauern. Im Falle von Tanger machten die alten Griechen Antaios verantwortlich. Der riesenhafte Sohn von Poseidon und Gaia, der Erde, soll es gewesen sein, der in der amphitheatralischen Bucht an der nordwestlichen Spitze Afrikas eine erste Siedlung ins Leben rief und nach seiner Frau Tingis benannte. Eine andere Legende schreibt die Namensgebung Noah zu. Er habe, heißt es, als die Taube mit Lehm an den Krallen auf die Arche zurückkehrte und so von wieder aufgetauchtem Land kündete, »Tinga’a!« gerufen, »Erde ist gekommen!«. Und indirekt zumindest war auch Herakles an der Stadtentstehung beteiligt, indem er zu beiden Seiten des Meerestores seine zwei Säulen aufrichtete, die Gebirge Calpe und Abyle, heute Djebel Musa und Djebel Tarik alias Gibraltar, und so der späteren Siedlung ihren imposanten Landschaftsrahmen schuf.
Tatsache ist, dass Tanger, das einstige Tingis, der älteste ununterbrochen besiedelte Ort Marokkos ist – von Berbern, Phöniziern und Römern früh geprägt, von den Vandalen und Westgoten heimgesucht und Anfang des 8. Jahrhunderts von den Arabern erobert. Und dass es seither bis in die jüngste Vergangenheit Zankapfel diverser Großmächte war.
Wir sitzen auf der Terrasse des Café Hafa im Viertel Marshan, im Westen der Stadt. Zitronenbäumchen, Jasminsträucher, Bougainvilleen haben rund um uns das ganze Duftpolster eines mediterranen Frühlings ausgebreitet. Zikaden zirpen, Bienen summen. Auf dem wackeligen Tischchen vor uns verströmt ein Glas brühheißen Tees das unvergleichliche Aroma frischer Pfefferminzblätter. Uns zu Füßen liegt unverschämt prallblau und mit Schiffen gesprenkelt die Straße von Gibraltar. Ein idealer Ort, um unsere Ankunft zu begießen und zugleich über die Bedeutung und das merkwürdige Schicksal dieser Nahtstelle zwischen Kontinenten und Meeren zu räsonieren. Über den zum Islam konvertierten Berberführer Tariq Ibn Ziyad etwa, der 711 mit seinen Getreuen von hier nach Al-Andalus, wie die Araber Spanien nannten, übersetzte. Worauf es sieben Jahrhunderte lang, bis zum Abschluss der Reconquista, muslimisch blieb. Über Ibn Battuta, den Marco Polo des Orients, der, 1304 in Tanger geboren, von hier aufbrach, um nahezu die gesamte damals bekannte Welt von Samarkand bis Timbuktu zu bereisen, und Jahrzehnte später zum Sterben in die Heimatstadt zurückkehrte. Über Admiral Nelson, der 1805 in Sichtweite von hier, vor Kap Trafalgar südlich von Cádiz, die französisch-spanische Flotte versenkte und damit den Briten für lange Zeit erneut die Seeherrschaft sicherte. Oder über die Sehnsucht, die auch in unserem Jahrhundert die Menschen zu beiden Seiten dieses Scharniers der Kulturen nach der jeweils vis-à-vis lockenden, fremden Welt befiel und immer noch befällt.
Abertausende Emigranten zahlen örtlichen Fischern alljährlich Wucherpreise, um sich bei mondheller Nacht per Boot ins nur vierzehn Kilometer entfernte Spanien schmuggeln zu lassen. Die meisten sind Schwarzafrikaner. Viele werden kurz vor dem Ziel von der Grenzpolizei geschnappt. Eine unbekannte Zahl kentert in der gefährlichen Strömung und ertrinkt. Nur ein Bruchteil schafft es, in Ceuta oder Melilla die kilometerlangen Mauern samt Stacheldraht, Flutlicht und thermischen Kameras, welche die Spanier in diesen ihren beiden Enklaven auf marokkanischem Boden errichtet haben, zu überwinden. Dennoch wächst der Flüchtlingsstrom Richtung gelobtes Europa weiter an. 1987 bereits hat sich Marokko um Mitgliedschaft bei der Europäischen Gemeinschaft beworben, freilich ein höfliches »Nein« zur Antwort erhalten. Ein anderer Traum könnte zumindest mittelfristig Wirklichkeit werden: Ebenfalls in den achtziger Jahren begannen mehrere Planungsbüros an dem Projekt eines fast vierzig Kilometer langen und bis zu fünfhundert Meter unter dem Meeresboden verlaufenden Straßentunnels zu arbeiten, der – insha’llah – dereinst Cap Malabata mit dem spanischen Punta Paloma verbinden soll. Lange Zeit geschah offiziellerseits wenig. 2009 dann stellte die EU immerhin einen Bericht über die Machbarkeit vor. Und jüngst erst wurde von mehreren Politikern in Spanien, Marokko und Brüssel die Notwendigkeit der Realisierung bekräftigt. Die technischen Herausforderungen scheinen trotz des instabilen Untergrunds aus tonigem Kalk und Sandstein lösbar. Ein tragfähiges Konzept für die Finanzierung hingegen muss noch gefunden werden.
Umgekehrt weckte auch der Maghreb im Westen von alters her Begehrlichkeiten. Allerdings unter anderen Vorzeichen. Jahrhundertelang hatten abwechselnd die Portugiesen, Engländer, Spanier und Franzosen als Schutzmächte ihren Fuß in der »Tür zu Afrika« stehen, machten Kaufleute aus Genua, Venedig und Marseille und Bankiers aus Paris und London von Tanger aus ihre Geschäfte mit Marokko. Zugleich lockte das Sinnlich-Exotische der Hafenstadt scharenweise Künstler an. Eugène Delacroix und später Henri Matisse erlagen dem betörenden Reiz des Lichts und der Farben. Antonio Gaudí ließ sich von der erdigen Architektur der Berber inspirieren, Camille de Saint-Saëns von ihren schrägen Tönen und Rhythmen. Und Dichter wie Edmondo de Amicis oder Pierre Loti sicherten Tanger schon im 19. Jahrhundert einen Platz als Romankulisse in der Literatur. Die strahlendste Epoche begann Anfang der zwanziger Jahre, als sich die Kolonialländer in ihrem Streit um die strategisch wichtige Stadt zu einem Kompromiss durchrangen und ihr den Sonderstatus einer internationalen Zone verliehen. Fortan gab es hier weder Steuern noch Zoll- und Devisenkontrollen. Ihre Geschicke lenkte ein Stadtrat, in dem einundzwanzig Vertreter von neun europäischen Staaten sowie neun Marokkaner saßen. Ihre seinerzeit siebzigtausend Einwohner – nicht einmal ein Fünfzehntel der heutigen Zahl – kamen aus vieler Herren Länder und hörten mit Pan American Radio das damals einzige kommerzielle Programm der Welt, das täglich in sechs Sprachen – Arabisch, Französisch, Spanisch, Englisch, Italienisch und Hindi – sendete.
Doch die grenzenlose ökonomische Freiheit zog nicht nur redliche Händler, sondern auch Schwärme von Profiteuren, Prostituierten und Schiebern an, und Spione, deren Aufgabe freilich, im Nachhinein betrachtet, vor allem darin bestanden haben dürfte, einander mit Intrigen und Gerüchten selbst in Schach zu halten. Tanger wurde zum schillernden Sündenpfuhl, dessen kosmopolitisches Flair auch auf Bohemiens, vor allem solche aus dem puritanischen Amerika, unwiderstehlich wirkte. Tennessee Williams, Truman Capote und Gore Vidal, Evelyn Waugh und die unvermeidliche Gertrude Stein, Albert Camus, André Gide, Joseph Kessel, Paul Morand und die Beatniks Allen Ginsberg, William S. Burroughs und Jack Kerouac – sie alle kamen, angelockt von der Verheißung auf exotische Eindrücke, auf knackige Knaben oder auf kif, das örtliche, im Überfluss vorhandene Haschisch. Doch sie alle gingen, von so manchem Exzess lädiert und vielleicht sogar – wer weiß? – von manch schwülstiger Orientfantasie geheilt, früher oder später wieder. Der Einzige, der blieb und bis kurz vor seinem Tod im November 1999 noch gelegentlich im Hafa auf einen Minztee vorbeischaute, war Paul Bowles. Der große Chronist des Mythos von Tanger reiste aus seiner Heimat Neuengland das erste Mal, damals noch als Komponist, im Jahr 1931 an. Gut zehn Jahre später schlug er in Marokko für immer Wurzeln, erschrieb sich mit Romanen wie »Sheltering Sky« (»Himmel über der Wüste«), den Bernardo Bertolucci später kongenial verfilmen sollte, weltweiten Ruhm und erforschte nebenbei mit dem Tonband in der Hand im ganzen Land die musikalischen Traditionen der Berberstämme. Was ihn hielt? »Im Orient«, schrieb er einst mit aus heutiger Sicht reichlich fragwürdiger, naiv-paternalistischer Attitüde, »leben die Menschen im Frieden mit sich selbst. Sie sind einverstanden mit der Lösung ihrer Lebensprobleme. Sie sind zufrieden, weil sie keine Fragen stellen. Sie ruhen in sich. Sind nicht getrieben. Sie sind glücklich«. Und fügte an: »Die dümmste Droge ist der amerikanische Traum.«
Ein leiser Abglanz aus den dekadenten Jahren der Internationalität schimmert noch in manchen Winkeln dieser an ihren Rändern längst beliebig gewordenen und aus allen Fugen geratenen Stadt. Als wir an der Place de France im Café de Paris, wo sich einst tout Tanger traf, einen Café au lait nehmen, finden wir mehrere Tische von älteren Herren bevölkert – blasshäutigen Europäern mit sehr graziösen Gebärden und etwas zu hellen Leinenanzügen, die in ihrer routinierten Langeweile der Gegenwart seltsam entrückt scheinen. Eingesponnen in längst vergangene, plüschige Träume. Die enge, sympathisch vollgeräumte »Librairie des Colonnes« am Boulevard Pasteur, in der sich Generationen von Literaturlegenden, Genet und Beckett zum Beispiel, und Marguerite Yourcenar, Paul Bowles sowieso, aber auch Mohamed Mrabet und Mohamed Choukri, zum Debattieren trafen und mit hochwertigem Lesestoff versorgten, hält unverdrossen das achte Jahrzehnt die Stellung. Und ein paar hundert Meter weiter betreiben die Erben Adolpho de Velascos, des 2004 verstorbenen Doyens der Kunst- und Antiquitätenhändler von Marokko, bis heute seinen Laden, aus dem eine aller Finanzsorgen enthobene Klientel ihren Nachschub an kunstvoll gedrechselten Truhen, kostbaren Messinglampen, antiken Fayencen und mit Lackmalereien verzierten Spiegeln bezieht. Auch die meisten alten Hotels unten nahe dem Strand stehen noch. Wir entdecken das – allerdings seit ein paar Jahren geschlossene – Cecil, wo Michel Foucault abzusteigen pflegte, das Rif, das Continental und vis-à-vis dem Bahnhof das seltsam gotische Immeuble Renschausen, in dem Bertolucci im »Himmel über der Wüste«, der Verfilmung des gleichnamigen Bowles-Romans, seinen zivilisationsmüden Protagonisten Port alias John Malkovich Logis nehmen ließ. Und auch eine Handvoll Fluchtpunkte für die Abendgesellschaften von einst – das Marquis zum Beispiel oder das Negresco – existieren noch. Es ist sogar vorstellbar, dass unter ihren ergrauten Gästen ein paar Erben glorreich gestrandeter Exilanten – ausgedörrter Kolonialoffiziere, gestrauchelter Millionärssöhne, untergetauchter SS-Schergen und Vichy-Kollaborateure – sitzen. Doch sie alle und auch die leicht verlotterten Villen der Europäer auf dem Marshan und der Vieille Montagne sind unwiderruflich Orte am Rande der Zeit.
In der Bar des El Minzah, dem exquisitesten Hotel am Platz, wird noch die mondäne Vergangenheit beschworen. Immerhin diente sie als Vorbild für Rick’s Café in »Casablanca«. Doch in den neunziger Jahren hat man dem altehrwürdigen Kasten ein zusätzliches Stockwerk aufgesetzt und bereut es bereits, weil die erhofften zusätzlichen Gäste ausbleiben. Trotzdem hat man jüngst erst den lange Zeit desolaten Luxuskasten Villa de France, in dem Matisse einst mehrere Meisterwerke malte, als Nobelherberge namens Grand Hotel auferstehen lassen. Südmarokko, Marrakesch, der Atlas, die Wüste haben dem Norden als Ferienziel und Abenteurerrevier den Rang abgelaufen. »Eine ungeliebte Frau, verführt und unverstanden, vergessen von ihren Liebhabern«, so hat der in Fès geborene und in Frankreich zu Ruhm gekommene Schriftsteller Tahar Ben Jelloun Tanger Ende des 20. Jahrhunderts in einem Essay beschrieben und diesen »Le grand réveil«, »Das große Erwachen«, betitelt. Auch wenn die Stadt in den letzten Jahren einen merklichen Aufschwung verspürt, ihre Bausubstanz saniert, ihr Hafen modernisiert und ihre politische Bedeutung aufgewertet wurden: Grundsätzlich, und vor allem im Vergleich zur glorreichen Zwischenkriegszeit, hat sich an Ben Jellouns Diagnose nicht sonderlich viel geändert.
Authentischer wirkt Tanger in seinem arabischen Herzen, der medina, deren weiße, würfelige Häuser sich malerisch in das steile Halbrund der Hafenbucht schmiegen. Wir schlendern vom Gran Socco, dem »Großen Markt«, wo früher der mendoub, der Repräsentant des Sultans, residierte und bis heute die Berberfrauen der Umgebung Obst und Gemüse verkaufen, durch die Rue des Siaghin, das einstige Revier der jüdischen Geldwechsler, zum Petit Socco. In den schmuddeligen Cafés dieses schmalen Platzes pflegten die Beatniks mit Vorliebe ihre Zeit totzuschlagen. Er ist Mittelpunkt des kleinen, aber quirligen Basars und offenbar immer noch beliebte Kulisse für halbseidene Geschäfte. Etliche Male versuchen uns Halbwüchsige im zischenden Flüsterton mit kif, Haschisch, gefüllte Stanniolbällchen anzudrehen. Hier und in den angrenzenden Gässchen waren Mohammed Choukri, Driss ben Hamed Charhadi und Mohammed Mrabet zu Hause, Paul Bowles’ literarische Ziehkinder, die mit den ungeschminkten Schilderungen ihrer Jugend als Strichjungen, Kiffer und Tagediebe auch in der deutschsprachigen Buchwelt Furore machten. Wir sind im Café Tingis auf dem Petit Socco mit Moïse Bengio verabredet. Der freundliche, soignierte Herr, ein Kaufmann in Ruhestand mit Geschäftsverbindungen in alle fünf Kontinente, hat sich tags zuvor bereit erklärt, uns die Relikte des jüdischen Tanger zu zeigen. Wenig später folgen wir ihm, an der Großen Moschee und der Spanischen Kathedrale vorbei, in ein enges Gässchen, die Rue de la Synagogue. Die ärmeren Juden, hören wir, hätten hier in der medina gelebt, die reicheren hingegen in Villen auf dem Marshan. Das Bethaus, in das er uns als Erstes führt, trägt den Namen seiner berühmten Erbauer, der Bankiersfamilie Nahon, und ist kaum mehr als hundert Jahre alt. Dennoch dient es heute als Museum. In den vierziger Jahren, sagt Bengio, habe die hiesige Gemeinde noch fast zwanzigtausend Juden umfasst. »Viele waren im internationalen Handel und Finanzwesen tätig, viele aber auch als Ingenieure, Architekten, Handwerker.« Heute zähle sie kaum mehr als hundert Mitglieder (in ganz Marokko leben mittlerweile keine dreitausend Juden mehr). Man habe keine eigene Schule mehr, nur noch ein Altersheim. Doch wenigstens die Versorgung mit koscherem Fleisch und somit die Einhaltung der Kaschrut, der Speisegesetze, sei dank einem Schächter aus Meknes noch gewährleistet. Der erste Exodus fand 1956 statt – aus politischen Gründen, wegen der Unabhängigkeit, und auch aus ökonomischen, weil Tanger damals seinen Sonderstatus verlor. Weitere Auswanderungswellen folgten 1967 und 1973, in den Jahren der arabisch-israelischen Kriege. Zielländer waren vor allem Frankreich und Spanien, Kanada und Venezuela. Nach Eretz Israel ging aus Tanger nur eine Minderheit. Die zweite Synagoge, die uns Bengio zeigt, ist nur wenig älter als die erste und kunsthistorisch von ebenso geringem Reiz. Sie erfüllt immerhin jeden Sabbat noch ihren eigentlichen, seelsorgerischen Zweck.