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WIR MÜSSEN VERNÜNFTIG SEIN. FÜR DIESEN ARTIKEL, FÜR MEINE KARRIERE, FÜR UNS.
»WIR KÖNNEN ES JA ZUMINDEST VERSUCHEN«
Als Paula Castillo das Angebot bekommt, einen Artikel über einen aufstrebenden Fußballspieler des College-Teams zu schreiben, ist das ihre einzige Chance, ihr Journalismus-Studium doch noch herumzureißen und ihren Abschluss zu schaffen. Leider hat Henry Parker Pressley vor Kurzem nicht nur einen Millionen-Vertrag bei einem MLS-Verein unterschrieben, sondern auch Paulas Herz gebrochen! Plötzlich jede Sekunde mit ihrem Ex-Freund verbringen zu müssen, ist das Letzte, was sie gerade gebrauchen kann. So sehr sie sich auch vornimmt, sich nicht noch einmal in ihm zu verlieren, kommen sie in ihren Interviews nicht nur ihrer Vergangenheit unweigerlich wieder näher ...
»Selina Mae schafft die perfekte Balance zwischen Herz und Humor mit Büchern, die absolut süchtig machen.« Ana von malfoyuh
Band 2 der HALL-BECK-UNIVERSITY-Reihe von WATTPAD-Erfolgsautorin Selina Mae
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Seitenzahl: 496
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Bücher von Selina Mae bei LYX
Impressum
SELINA MAE
Lessons in Forgiving
Roman
Ins Deutsche übertragen von Maike Hallmann
Als Paula Castillo das Angebot bekommt, einen Artikel über einen aufstrebenden Fußballspieler des College-Teams zu schreiben, ist das ihre einzige Chance, ihr Journalismus-Studium nach über einem Jahr ohne Veröffentlichung doch noch herumzureißen und ihren Abschluss zu schaffen. Leider hat Henry Parker Pressley vor Kurzem nicht nur einen Millionen-Vertrag bei einem MLS-Verein unterschrieben, was die Hall Beck University in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit gerückt hat, sondern auch Paulas Herz gebrochen! Seitdem haben sie und Henry kein Wort mehr miteinander gesprochen und sich auf dem Campus gemieden, wann immer sie sich begegnet sind. Plötzlich jede Sekunde mit ihrem immer noch viel zu charmanten Ex-Freund verbringen zu müssen, um das begehrte Exklusivinterview über die Träume und Ziele des Campus-Superstars zu schreiben, ist das Letzte, was Paula gerade gebrauchen kann. Doch so sehr sie sich auch vornimmt, sich nicht noch einmal in ihm zu verlieren, kommen sie in ihren Interviews nicht nur ihrer gemeinsamen Vergangenheit unweigerlich wieder näher …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Selina und euer LYX-Verlag
Gewidmet all jenen, die aus ganzem Herzen lieben und niemals wirklich damit aufhören. Ich danke euch.
(P. S.: Do not get back with your ex. Sie sind nicht fiktiv, und ihr verdient so viel Besseres.)
DAMALS, August: vor drei Jahren und sieben Monaten
In den letzten achtzehn Jahren meines Lebens hatte ich gelernt, meine Eltern zu lesen wie ein offenes Buch. Ich sah ihre Launen voraus, kannte den richtigen Zeitpunkt, sie um etwas zu bitten oder lieber den Mund zu halten, und wusste, wann ich ihnen mit einem schwierigen Thema kommen konnte und wann ich es besser bleiben ließ.
In diesem Moment merkte ich ihnen deutlich an, dass sie alles bitter bereuten.
Ich erkannte es daran, wie sich María Castillos Augenbrauen zusammenzogen und wie Juan Castillo besorgt die Unterlippe vorschob. Meine Eltern waren kurz davor, mich ins Flugzeug zu zerren und in die sengende, vertraute karibische Hitze zurückzuverfrachten.
Sie hatten ganze zwei Tage länger durchgehalten, als ich ihnen zugetraut hatte.
»Es ist … groß.«
Mom gab ihr Bestes, sich der Umgebung sprachlich anzupassen, aber ihr Akzent war unüberhörbar. Sie starrte zu den hohen Decken hinauf, dann huschten ihre Augen über die ansteigenden Sitzreihen des Hörsaals. Nach einer letzten Begutachtung der anderen Familien ringsum drehte sie sich zu mir um.
Oh ja. Allergrößte Sorge stand María ins Gesicht geschrieben. »Mach dir keine Sorgen, Mami.«
Ich versuchte, nicht auszuflippen, bei der Aussicht, dass sie ausflippte, also winkte ich gelassen ab und überspielte mein eigenes Unbehagen. Dadurch kam ich mir allerdings ziemlich steif vor. Wie ein Roboter.
In Dads Stimme erkannte ich dieselbe Sorge wie auf Moms Gesicht. »Mi vida«, murmelte er, riss sich jedoch sogleich wieder zusammen. Seine Hand ruhte auf ihrem Rücken, er dirigierte sie sanft auf den Gang hinaus. Über die Schulter hinweg warf er mir einen Blick zu, der mir sagte: Wir beide waren auf derselben Seite.
Und er versuchte verzweifelt, auch Mom dorthin zu ziehen, sie davon zu überzeugen, dass ich hier ganz sicher meinen Platz finden würde. »Estoy seguro de que nuestra Paulita se integrará …«
Aber Moms Kopf schoss so schnell herum, dass er sofort verstummte, ohne dass sie etwas erwidern musste. Ihr vernichtender Gesichtsausdruck reichte völlig.
»Coño, Juan. Por favor. Englisch!« Hektisch sah sie links und rechts den Korridor hinunter und vergewisserte sich, dass niemand den versehentlichen Spanisch-Ausrutscher gehört hatte.
Nicht, dass es jemanden außer ihr wirklich interessierte.
Aber wenn es etwas gab, das María nicht ausstehen konnte, dann war es, herauszustechen. Und wenn es noch etwas gab, das sie ebenso sehr verabscheute, dann wohl, nicht zu wissen, was ihre einzige Tochter gerade tat.
Die Aussicht, mich in einem fremden Land zurückzulassen, in dem ich höchstwahrscheinlich herausstechen würde, war für sie auf dem Papier deutlich attraktiver gewesen. Es hatte ihr Freude gemacht, Cousins, Tanten und Onkeln stolz zu erzählen, dass ihre Tochter in den Vereinigten Staaten studieren würde – so penetrant, bis alle anfingen, ihr aus dem Weg zu gehen –, aber sie schien offensichtlich kein Fan davon zu sein, dass diese Vision jetzt Realität wurde.
Sie runzelte die Stirn und biss sich auf die rot geschminkte Unterlippe, und ich wusste: Mir blieben etwa zwei Sekunden Zeit, um sie davon zu überzeugen, dass ich hierhergehörte.
An die Hall Beck University. In den Vereinigten Staaten. Etwa 2.500 Kilometer von der Dominikanischen Republik entfernt. Meinem Zuhause.
Schwieriger, als es klang, weil ich ja selbst noch nicht ganz davon überzeugt war.
»Sieh mal«, begann ich zaghaft und schob die beiden in einen der kleineren Räume, an denen wir bei der Orientierungstour vorbeigekommen waren. Hier gab es keine ansteigenden Stuhlreihen und kein einschüchterndes Podium, auf dem Professoren und Professorinnen stundenlange Vorlesungen hielten. Der einfache Seminarraum würde meine Eltern hoffentlich aus ihrem Schockzustand herausholen. Ich spürte, wie sich meine Schultern ein wenig entspannten. »Es ist gar nicht so anders als an der Universidad Tecnológica de Santiago.«
Denn dort würde ich wahrscheinlich landen, wenn ich das hier nicht in den Griff bekam. Und zwar schnell.
Mom schüttelte den Kopf und zischte ein missbilligendes »Tsssk« durch die Zähne. »Erzähl mir doch nichts, Paulita«, schimpfte sie. »Das hier ist etwas ganz anderes.« Und angesichts der großen Fensterfront, des Whiteboards und der Tablets auf jedem Platz … hatte sie vermutlich völlig recht. Sie seufzte. »Ich … weiß nicht. Vielleicht solltest du doch wieder mit uns zurückfliegen. Was hältst du davon, Juan?«
Panik. Heiß und weißglühend schoss Panik durch meinen ganzen Körper, als sie fragend zu meinem Vater blickte. Ich konnte mich beim besten Willen an keine einzige Gelegenheit erinnern, zu der Juan Castillo meiner Mutter etwas verweigert hätte. Und als ich jetzt den Mann anschaute, der sich so sehr dafür eingesetzt hatte, dass ich meinen Abschluss in den Staaten machen konnte … Tja, er wirkte nicht so, als würde er heute damit anfangen.
Ich konnte ihm regelrecht dabei zusehen, wie er nachgab. Wahrscheinlich rechnete er im Kopf bereits aus, was ein zusätzliches Ticket zurück nach Puerto Plata kosten würde.
»Nein!«, rief ich hastig, ehe er nicken und damit seine Entscheidung festigen konnte. »Warum denn? Überlegt doch mal, wie gut sich diese Uni in meinem Lebenslauf machen wird! Und du hast schon Tante … allen Tanten davon erzählt. Und sämtlichen Cousins und Cousinen! Vergiss nicht die Cousins und Cousinen.« Alle dreiundzwanzig. »Was sollen die denn denken?«
Doch sie schüttelte nur den Kopf, und ich spürte, wie mein Elan erlahmte. »Ach was.« Ihre Augen nahmen nun wieder mich ins Visier. »Das interessiert mich nicht.« Gelogen. »Wir wollen nur das Beste für dich, Paula. Und ich weiß nicht, ob es das hier ist. Ich meine, hast du dich überhaupt schon … eingelebt?« Ein besorgter Blick aus ihren braunen Augen. »Hast du schon Freunde gefunden?«
Es überraschte mich nicht, dass Mom sich vor allem darum sorgte, wie gut ich mich einfügte – wie beliebt ich war.
Und ich hatte nicht mal ein schlechtes Gewissen, als ich sie, ohne mit der Wimper zu zucken, anschwindelte.
»Ja!« Hatte ich nicht. »Natürlich.« Ich hatte noch nicht mal meine Mitbewohnerinnen kennengelernt. »Ist es das, worüber du dir Gedanken machst, Mami?«
»Nein.«
Ja. Ja. Ja! Sie log auch, und damit konnte ich arbeiten.
»Oh«, säuselte ich und lotste meine Eltern behutsam von der Stelle weg, an der sie beinahe eine Entscheidung getroffen hätten, die meine gesamte Zukunft gefährdet hätte. Nur für den Fall, dass es sie daran erinnerte. »Ich habe so tolle Leute kennengelernt. Sie sind alle sehr … gesprächig hier!«
»Amerikaner lieben es, zu reden«, stimmte mir Dad unwirsch zu. »Und zwar laut.«
»Wirklich?«
Ich war nicht ganz sicher, ob Mom mich oder Dad gefragt hatte, aber ich riss das Gespräch an mich. Endlich ein Hoffnungsschimmer. Ein Licht am Ende des Tunnels. María Castillo sah erleichtert aus, und darauf konnte ich aufbauen.
Wenn das bedeutete, dass ich jetzt nichts weiter machen musste, als vier Jahre lang so zu tun, als würde ich hier ein phänomenales Sozialleben führen, dann verbuchte ich das ganz klar als Sieg.
»Wirklich«, beteuerte ich und legte meine ganze Überzeugungskraft in dieses Wort. Wir steuerten auf den Ausgang zu, und ich ließ die beiden nicht aus den Augen. »Wir haben gestern den ganzen Tag zusammen verbracht«, behauptete ich rückwärtsgehend. »Und …«
Leider konnte ich meine Lüge nicht weiter ausbauen, weil ich mit dem Rücken gegen ein festes … Etwas stieß. Erschrocken realisierte ich, wie ich das Gleichgewicht verlor.
Ich machte mich darauf gefasst, mit dem Gesicht zuerst auf dem Boden aufzuschlagen. Oder vielleicht mit dem Hinterkopf? So oder so würden meine Eltern daraus schließen, dass ich nicht in der Lage war, auf mich selbst aufzupassen, weil ich zwei Tage nach Beginn meines eigenständigen Lebens mit einer Kopfverletzung im Krankenhaus landete, und ich würde gezwungen sein, ihnen recht zu geben, denn … nun ja, weil ich eben im Krankenhaus gelandet war. Im Geiste war ich schon wieder zurück in der Dominikanischen Republik, bevor ich überhaupt auf den Boden krachte.
Aber das tat ich nie.
Stattdessen spürte ich eine kühle Hand um mein Handgelenk, die mich stützte, bis ich das Gleichgewicht wiederfand.
Der Fremde ließ mich los, und statt aufs Gesicht zu knallen, stolperte ich nur gegen Dads Brust. Und anstatt dass meine Eltern erkannten, wie wenig ich in der Lage war, auf mich selbst aufzupassen, hörte ich nur ein ironisches: »Vorsicht. Nicht, dass du noch jemanden verletzt.«
Gefolgt von Moms neugieriger Stimme: »Kennt ihr beide euch?«
Sie klang … begeistert, und plötzlich war es mir egal, wen ich gerade fast umgerannt hatte. Er würde herhalten müssen.
Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig um, um ihn mit einem Blick zum Schweigen zu bringen. Er hatte bereits den Mund geöffnet, war kurz davor, die naheliegende Antwort zu geben: Nein.
»Ja!«, platzte ich heraus und ignorierte geflissentlich, wie er verwirrt die dunklen Brauen zusammenzog. Und auch, was für einen schönen Kontrast sie zu seinen grünen Augen bildeten. Ich zog eine Grimasse und formte lautlos mit den Lippen: Bitte. Fügte noch ein Sorry hinzu.
Dann schluckte ich mühsam, ehe ich mich meinen Eltern zuwandte und mich neben den brünetten Fremden stellte, dessen Haare ein paar Nuancen heller waren als meine eigenen braunen Locken. »Natürlich!«, flötete ich fröhlich. Zu fröhlich? »Das ist …«
So wie er zusammenzuckte, hatte ich ihm den Ellbogen vielleicht ein wenig zu heftig in die Rippen gerammt. Aber offensichtlich vermittelte es ihm ausreichend deutlich meine Verzweiflung, denn er richtete sich auf und streckte die Hand aus. »Henry Pressley. Freut mich, Sie endlich kennenzulernen.« Ein kurzer Seitenblick zu mir, bevor er weitersprach: »Ich habe schon so viel von Ihnen gehört.«
Wie viel hätte ich ihm in den zwei Tagen, in denen wir uns kennengelernt haben sollten, schon erzählen können? Egal.
Zu meiner Überraschung ergriff mein Vater zuerst das Wort. »Pressley?«, wiederholte er so leise, als spräche er nur zu sich selbst. »¿Donde fué que escuché ese nombre?«
Statt seine Frage zu beantworten, wo er den Namen schon mal gehört haben könnte, rammte Mom ihm beim zweiten spanischen Ausrutscher des Tages liebevoll in die Seite. »Henry!«, rief sie laut und betrachtete ihn eindringlich mit einem gezwungenen Lächeln, höchstwahrscheinlich, um von Dads Spanisch abzulenken und sein Flüstern zu kompensieren. »Kein Wunder, dass Paula so viel von dir erzählt hat.«
Das hatte ich natürlich nicht. Und unter anderen Umständen wäre mir das alles hier sehr unangenehm gewesen. Aber da Henrys Auftauchen sie anscheinend vergessen ließ, dass ich meine angebliche Bekanntschaft bis vor zwei Minuten noch nie erwähnt hatte, konnte ich mit dieser kleinen Peinlichkeit gut leben.
»Hat sie das?« Er guckte mich wieder an, gab ein leises und irgendwie zufrieden klingendes Schnauben von sich und richtete den Blick wieder auf meine Eltern. »Nur Gutes, hoffe ich.«
»Natürlich.« Mom winkte ab und hatte tatsächlich völlig verdrängt, dass ich zuvor überhaupt nicht über ihn gesprochen hatte. Sie schien zu geblendet von der herrlichen Möglichkeit, dass ihre Tochter doch echt einen Freund gefunden haben könnte. Als könnte sie das überhaupt nicht fassen.
Großartig.
»Pressley!«, platzte Dad ohne jede Vorwarnung heraus und bemerkte offenbar jetzt erst, dass er es laut ausgesprochen und nicht nur gedacht hatte. Sein Kopf schnellte hoch, und er riss die Augen auf. »Triste … nein! Entschuldigung! Sorry!« Seine Augen schnellten so hektisch zwischen Henry und Mom hin und her, dass ich mir nicht sicher war, ob er sich bei Henry für den Ausbruch entschuldigte oder bei Mom, weil er Spanisch gesprochen hatte. Schließlich blieben sie an dem Fremden – Henry – hängen, und etwas ruhiger, jedoch immer noch aufgewühlt, sagte er: »Sohn von Felix Pressley? Dem Fußballer?«
Ein Schatten huschte über Henrys Gesicht, so schnell, dass er den Bruchteil einer Sekunde später auch schon wieder verschwunden war. Als wäre nichts gewesen, setzte er ein Lächeln auf, das seine Augen nicht ganz erreichte, und antwortete: »Das stimmt, Sir.«
Ich lächelte ebenfalls. Was Dad an den Amerikanern am besten gefiel, war ihre Angewohnheit, ihn ständig mit Sir anzureden.
»Sind Sie ein Fan?«, fragte Henry.
Normalerweise hatte ich kein Problem mit der Unverblümtheit meiner Familie, aber als Juan Castillo jetzt den Kopf schüttelte und »Nicht wirklich« entgegnete – Sprachbarriere hin oder her –, wünschte ich mir doch, die beiden hätten einen besseren Filter, wenigstens in Momenten wie diesen. Mein Lächeln verblasste.
Ich hätte erwartet, dass es Henry ebenso erging. Aber er sah ganz und gar nicht beleidigt aus, und er ließ auch meine kleine Lüge nicht auffliegen. Stattdessen wirkte sein Lächeln auf einmal echt. Er lachte leise, klang irgendwie erleichtert. »Ich auch nicht.«
Und damit hatten sie einander auch schon ins Herz geschlossen.
Jedem Außenstehenden wäre sofort aufgefallen, dass mein Vater den Mann neben mir – oder seinen Vater, um genau zu sein – besser kannte als ich. Aber solange Mom lächelte, erfreut dem Gespräch lauschte und meine Lüge nicht aufflog, war ich zufrieden.
Als meine Eltern endlich das Gebäude verließen und ihr Vorhaben, mich wieder mit nach Hause zu schleifen, offenbar völlig vergessen hatten, seufzte ich so tief, dass es von den Wänden widerhallte. »Du hast mir vielleicht gerade aus Versehen den Arsch gerettet, Henry.«
»Nun, Paula.« Ich konnte das Grinsen in seiner Stimme hören, ohne ihn anzusehen. Mein Blick klebte immer noch an den Doppeltüren, die sich gerade hinter meinen Eltern schlossen. »Ich helfe einer Freundin immer gern, wenn sie …« Er brach ab, als würde er hoffen, dass ich seinen Satz beendete. »Wenn sie in welcher Klemme genau steckt?«
»Ach, weißt du.« Ich winkte halbherzig ab und hörte meiner eigenen Stimme das Lächeln an. »Sie musste nur ihre Eltern davon überzeugen, dass sie nach zwei Tagen College bereits ein superaktives Sozialleben genießt, damit die beiden ihre Meinung nicht ändern und sie doch noch dazu zwingen, zu Hause zu studieren.« In diesem Moment wurde mir klar, dass ich von mir selbst in der dritten Person sprach, was wahrscheinlich echt seltsam wirkte. Noch seltsamer als meine Erklärung. Ich räusperte mich und zuckte verlegen mit den Schultern, als sich unsere Blicke trafen. »Keine große Sache.«
»Verstehe.« Die Belustigung in seinem Tonfall ließ mich hoffen, dass es vielleicht doch nicht ganz so seltsam und erschreckend rüberkam wie befürchtet. »Darauf hätte ich eigentlich selbst kommen müssen. Mein Fehler.«
Ich schaute auf, um ihm das erste Mal richtig ins Gesicht blicken zu können. Er hatte sein hellbraunes Haar zu einem lässigen Mittelscheitel gekämmt, das weiße T-Shirt umschloss eng seinen Bizeps und steckte in einer maßgeschneiderten Hose. Ich blinzelte.
Verdammt noch mal. Typisch mein Glück. Henry Pressley war unwiderlegbar und unbestreitbar … verdammt heiß. Einfach umwerfend.
Und ich hatte gerade mit ihm über mich selbst in der dritten Person gesprochen.
Als ich den Blick wieder zu seinen dunkelgrünen Augen hob, zog er ironisch eine Braue hoch. »Wenn du mich fragst«, sinnierte er, »dann würde ich sagen, mein Auftritt hat sie umgestimmt.« Mit einem Nicken deutete er auf die Tür, durch die sie verschwunden waren, doch seine Augen blieben unverwandt auf mein Gesicht gerichtet. »Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder?«
Und mich beschlich das Gefühl, dass das definitiv so sein würde.
»Wollen wir es hoffen.«
JETZT
Mir fielen zwei Dinge zugleich auf.
Ich jagte gerade meinen Redakteur praktisch aus dem Gebäude – und das sollte ich definitiv nicht tun.Ich sollte auf jeden Fall dringend mal ein bisschen Ausdauertraining machen.»Ed, bitte!«, japste ich zwischen zwei angestrengten Atemzügen und hoffte, dass ich den Mann, der für meine gesamte zukünftige Karriere verantwortlich war, noch einholen würde, bevor er das Gebäude verließ. »Du weißt, dass ich darauf angewiesen bin«, fügte ich hinzu. »Mehr als alle anderen. Das weißt du.«
Anstatt mich anzusehen, zu erkennen, dass ich recht hatte, und mir den verdammten Artikel zu überlassen, schüttelte Eddie nur den Kopf. Lief völlig ungerührt weiter die Treppe hinunter, als würde er nicht mit jedem Schritt ein Stück meiner zukünftigen Karriere zerstören.
Dann ging er dazu über, immer zwei Stufen auf einmal zu nehmen, und murmelte: »Tut mir leid, Paula.« Eine sehr halbherzige Entschuldigung, während er völlig darauf konzentriert war, die große Holztür aufzustoßen und in die sonnige Freiheit zu fliehen. »Ist …«
Ich war die letzten vier Stufen gesprungen, um ihm den Weg abzuschneiden, und zuckte nur leicht zusammen, als er gegen mich stieß und wir um ein Haar beide auf dem steinigen Boden vor dem Gebäude landeten.
»Verdammt noch mal.« Nur mit Mühe erlangte Eddie sein Gleichgewicht zurück und zupfte seinen beigen Pullover zurecht. »Ist das dein Ernst?« Ungläubig schüttelte er den Kopf, dass sein blondes Haar nur so flog. Dann sah er mich an, und als ich kein Wort herausbrachte und ihn nur anblinzelte, holte er tief Luft. »Hör zu … ich weiß, dass du diese Story unbedingt willst«, sagte er und schien zu überlegen, was er mit seinen Händen anstellen konnte – ob er mir tröstend auf die Schulter klopfen, sie einfach herabhängen lassen oder sich am Kopf kratzen sollte. Er entschied sich für Letzteres. »Aber ich kann sie dir nicht geben. Es ist zu wichtig. Und nach allem, was letztes Jahr passiert ist …«
Ich wollte nicht schon wieder etwas über mein Versagen hören, also unterbrach ich ihn hastig. »Eddie.« Ein zögerliches Lachen. »Ed. Schau mal. Du verstehst das nicht.« Ich schluckte heftig. »Ich brauche einen Artikel, um meinen Abschluss zu machen! Irgendeinen Artikel!«
Ich konnte unmöglich eines der Horoskope einreichen, die er mich gelegentlich schreiben ließ. In wenigen Monaten stand mein Abschluss an, ich brauchte nur noch … diese Kleinigkeit … und dieses außerschulische Projekt machte fünfundzwanzig Prozent meiner Abschlussnote aus. Vor einem Jahr wäre das kein Problem gewesen – damals, bevor ich meinen journalistischen Ruf durch einen dummen Fehler ruiniert hatte und mich vor Artikeln kaum retten konnte. Aber jetzt war nicht mehr letztes Jahr, und der eingereichte Artikel musste aus dem laufenden Semester stammen.
Leider hatte mir Eddie dieses Semester genau drei Aufträge gegeben, und in allen ging es darum, womit die Sternzeichen in diesem Monat zu kämpfen hatten. Absolut nichts, was ich zur Benotung einreichen konnte.
Wenn es jedoch um meine Fähigkeit ginge, Kaffee zu holen oder wundervolle Kopien anzufertigen, würde ich mit Bravour bestehen.
»Eddie …«, appellierte ich noch mal an sein Gewissen, und das schien der letzte Tropfen zu sein, der das Fass zum Überlaufen brachte.
»Du hast es einfach nicht verdient!«, blaffte er mich an.
Sofort blitzte Bedauern in seinen Gesichtszügen auf, aber das half jetzt auch nichts mehr. Ich spürte, dass er nicht die Absicht gehabt hatte, laut zu werden, sein schroffer Tonfall hallte allerdings noch zwischen uns nach.
Erneut schüttelte Eddie den Kopf. »Es tut mir leid, Paula. Wirklich. Nach allem, was passiert ist, kann ich dir den Artikel einfach nicht geben. Er geht an Lacy, wie besprochen.«
Es war wie ein Schlag ins Gesicht und brachte mich endgültig aus der Fassung. »Du gibst mir aber überhaupt nichts. Nada. Niente. Wie soll ich meinen Abschluss machen, wenn du mir jedes brauchbare Thema vorenthältst, über das ich schreiben könnte?«
Ed kniff sich in den Nasenrücken und schloss die Augen. Als er mich wieder ansah, war das Bedauern verschwunden, und er wirkte wie jemand, der gerade eine Entscheidung getroffen hatte. Leider ahnte ich, dass diese Entscheidung nicht zu meinen Gunsten war.
»Mach dir deswegen keine Sorgen, okay? Ich gebe dir bald einen Artikel. Nur nicht diesen, Paula.«
Diese Ausflüchte hatte ich schon ungefähr eine Million Mal gehört, aber deshalb tat es nicht weniger weh. Wie lange wollte er mich noch in der Luft hängen lassen? Der Abschluss rückte immer näher.
Eddie drehte sich um und ging durch die massiven Hartholztüren zurück ins Gebäude, in dem sich die Büros der Hall Beck Post befanden.
Das brachte mich zurück zu Erkenntnis Nummer eins.
Ich habe gerade meinen Redakteur aus dem Gebäude gejagt.
Ich stöhnte so laut auf, dass er es wahrscheinlich noch in seinem Büro ein Stockwerk höher hätte hören können. Denn einfach so, an einem wunderschönen Freitagnachmittag, war meine Karriere gestorben. Vorbei, ehe sie überhaupt begonnen hatte. Ich hatte es nicht einmal über die Collegezeitung hinausgeschafft!
Wenn ich schon bei der HBP versagte … wie sollte ich dann in der echten Welt dort draußen erfolgreich sein? Unter echten Journalisten? Was sollte ich denn bei Vorstellungsgesprächen vorweisen, wenn unweigerlich die Frage kam, weshalb ich so lange nichts veröffentlicht hatte?
Ach, das lag an Eddie. Er hat mir zu Recht ein Jahr lang keine guten Artikel gegeben, weil ich es vermasselt habe. So richtig vermasselt. Danach hatte er schlichtweg kein Vertrauen mehr in mich, aber egal, machen Sie sich deswegen mal keinen Kopf!
Ich ballte die Hände zu Fäusten und presste sie kurz gegen die Schläfen, ehe ich mich zögerlich in Bewegung setzte. Dann holte ich tief Luft und schloss im Gehen die Augen.
Ich war so oft zwischen diesem Gebäude und zu Hause hin- und hergelaufen, wenn ich etwas abgeben musste oder noch schnell etwas zu Mittag essen wollte, dass ich den Weg sogar mit verbundenen Augen gefunden hätte. Und außerdem war es mir egal, ob ich gegen einen Laternenmast lief oder nicht.
Ich hatte gerade wahrlich größere Sorgen.
Nächste Woche würde ich noch mal mit Eddie sprechen. Ihm die Situation ein weiteres Mal erklären, meine Verzweiflung deutlich machen … also noch deutlicher. Obwohl er mich im Grunde für ein ganzes Jahr auf die Bank gesetzt hatte, war er als Chefredakteur der Hall Beck Post verpflichtet, mir irgendetwas für dieses außerschulische Projekt zu geben. Und ich wollte bald mit dem Artikel anfangen, ehe die Frist zu knapp wurde, um …
»Augen auf.«
Beim Klang der vertrauten Stimme gefror mir das Blut in den Adern. Unwillkürlich presste ich die Augen noch fester zu, hoffte und betete, dass ich mich vielleicht verhört hatte, aber …
»Nicht, dass du noch jemanden verletzt.«
Das war unbestreitbar Henry Parker Pressleys Stimme.
Meine Brust krampfte sich vor Entsetzen zusammen, und ich geriet ins Stolpern. Fast wäre ich mit dem Gesicht auf den Kieselsteinen gelandet. Direkt vor den Augen meines Ex-Freunds.
Ich fing mich gerade noch rechtzeitig und spürte, wie eine tiefe Röte in meine Wangen kroch. Ich konnte nur hoffen, dass er es nicht bemerkte. Beschämt ging ich an ihm vorbei, und er hielt mich nicht auf. Kein Lächeln. Kein Hallo, wie ist es dir ergangen? Ich vermisse dich, Paula.
Nur der neckische Ton in seiner Stimme, fast, als wäre es nicht schon ein Jahr her, dass wir miteinander gesprochen hatten. Mir drehte sich der Magen um. Er klang, als hätten wir uns nie getrennt.
Um ein Haar hätte ich erneut aufgestöhnt.
Reiß dich zusammen, estúpida.
Ich hatte es ein ganzes Jahr lang geschafft, ihm auf dem Campus aus dem Weg zu gehen. Die ganze Zeit über hatte ich kein einziges Wort mit ihm gewechselt. Meine beste Freundin hatte essehr ernst genommen, dass ich keinerlei Kontakt zu ihm hatte. Und von allen Orten war das Gebäude für Bildende Künste und Kommunikation der letzte, an dem ich ihn zu treffen erwartet hätte. So kindisch es auch klingen mochte, dies war meine kleine Ecke auf dem Campus. Den Rest konnte er meinetwegen haben.
Die Wirtschaftshochschule. Das Sportzentrum, das wirklich und wahrhaftig nach seinem Vater benannt war. Die Bibliothek und die Cafeteria, falls nötig. Nur nicht die Hall Beck Post und das Gebäude, in dem sich die Büros der Campuszeitung befanden.
Was macht er hier?
Ich wusste mit jeder Faser meines Wesens, dass ich mich nicht umdrehen sollte. Ich schrie innerlich und kämpfte gegen den Drang an. Aber ich tat es trotzdem.
Henry stand vor dem Gebäude, das ich eben verlassen hatte, und schien über dieselbe Frage nachzudenken (»Was mache ich eigentlich hier?«). Er warf den Kopf zurück und grub die Hände in sein braunes Haar, das jetzt, da die Sonne direkt darauf fiel, noch heller aussah.
Er schüttelte sich. Eigentlich war das mein Zeichen, jetzt zu verschwinden, oder? Bevor er bemerkte, dass ich ihm hinterherstarrte. Das sollte ich nicht tun, und das wurde mir nur noch um einiges klarer, als er sich umdrehte und sich unsere Blicke über eine Entfernung von gut sechzig Metern hinweg trafen. Jetzt war es zu spät, um kühl und desinteressiert zu wirken, und plötzlich wollte ich quer über den Campus schreien: »Bitte nimm mich zurück!«
Ich war aber natürlich endgültig über ihn hinweg.
Das sagte ich mir immer wieder. Als ich mich auf dem Absatz umdrehte und das Weite suchte. Als ich mich inständig bemühte, nicht darüber nachzudenken, wie eng mir in seiner Gegenwart immer noch um die Brust wurde.
Ich bin endgültig fertig mit ihm.
Dios mío. Ichhörte Maeve schon in meinem Kopf schimpfen, noch bevor ich überhaupt zu Hause ankam. Paula, reiß dich zusammen. Das ist jetzt ein Jahr her. Und: Es gibt gute Gründe für euren radikalen Kontaktabbruch, Darling. Und zu diesem Kontaktabbruch gehört auch, dass du ihm nicht sehnsüchtig hinterherstarrst, wenn du ihm mal zufällig auf dem Campus begegnest.
Meine beste Freundin und ich wohnten zusammen – seit unserem ersten Studienjahr teilten wir unser Haus mit zwei anderen Mädchen (und meiner Katze). Damals war das meine billigste Option gewesen.
Als ich zu Hause ankam, hatte Maeve sich über das ganze Sofa ausgestreckt, ihre roten Haare lagen auf den Kissen ausgebreitet, während Laila und Riley vor der Couch auf dem Boden lagerten. Pip hatte sich zwischen die beiden gekuschelt, ungewohnt friedlich, und schlief.
Irgendwer hatte den Tresen aufgeräumt und geputzt, der Wohnzimmer und Küche trennte – wahrscheinlich Laila. Er war leer, abgesehen von einer ebenso leeren hölzernen Obstschale.
Ich war gerade erst aus meinen Turnschuhen und der übergroßen Lederjacke geschlüpft und hatte noch nicht mal den Mund aufgemacht, als Maeve in meine Richtung sah. Ein einziger Blick, und sie hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen.
Zur Erinnerung: Ich hatte noch kein Wort gesagt.
»Ich sehe, dass du was auf dem Herzen hast«, teilte sie mir mit, und ihre Augen wanderten zurück zum Fernseher. »Aber nicht jetzt, P. Die Mädchen kommen gleich aus Casa Amor zurück!«
Mit einem Schnauben schlängelte ich mich auf dem Boden vorbei, und Maeve war so vertieft in Love Island, dass sie nicht protestierte, als ich mich zu ihr auf die kleine Couch mit dem türkisenen Bezug quetschte und sie dazu zwang, mir Platz zu machen. Eine der rosafarbenen Decken fiel von der Armlehne, ein leises Rascheln war zu vernehmen, und dieses Geräusch reichte aus, um Maeve ein gezischtes »Pssst« zuentlocken. Als wäre es meine Schuld, dass die Decke runtergefallen war.
Der unvermeidliche Cliffhanger kam nur drei Minuten später. Maeve und Riley ächzten so laut, dass es durchs ganze Haus hallte, und Laila schlug den Hinterkopf gegen die Couch. Fast hätte sich ihr blondes Haar an meinen besockten Füßen verheddert.
»So.« Maeve setzte sich auf und musterte mich eingehend. »Ich spüre eine gewisse Zurückhaltung auf dieser Seite der Couch.« Lachend zeigte sie auf mich, und Riley und Laila unterbrachen ihre Love-Island-Diskussion, um zu uns hinauf zu schauen.
Die beiden waren meine beste Chance, ein bisschen Rückendeckung zu bekommen.
Maeves wissendes Lächeln hieß nämlich nichts anderes als: »Was ist es denn, was du uns eigentlich nicht erzählen willst, uns aber trotzdem erzählen wirst?«
Ich bestätigte ihre Vermutung. »Woher weißt du das?«
»Weil ich übersinnliche Fähigkeiten besitze.« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Und weil du auf mich gehört hast, als ich dir sagte, du sollst still sein. Kommt selten vor.«
Eines musste man Maeve Peterson lassen: Ihre Einschätzungen waren immer erschreckend präzise und grenzten an echte Präkognition. Manchmal dachte ich ganz absichtlich an etwas anderes, nur für den Fall, dass sie wirklich Gedanken lesen konnte.
»Na gut«, gab ich zu. »Du liegst nicht direkt … falsch. Also was mein Zögern angeht.«
»Wie unerwartet.« Riley schnalzte amüsiert mit der Zunge. Laila stieß sie an und strich sich mit einer Hand über das glatte Haar, wie sie es immer tat, wenn sie sich im Fokus von zu viel Aufmerksamkeit wiederfand.
Ich räusperte mich. »Du weißt ja, wie schlecht ich darin bin, Entscheidungen zu treffen?« Die eine große Entscheidung, die ich selbst getroffen hatte, hatte buchstäblich mein ganzes Leben verändert. Und seitdem belog ich ständig meine Eltern.
Maeve nickte. »Schwer zu vergessen, Liebes.«
»Und deshalb hilfst du mir bei der Entscheidung, welche Klamotten ich kaufe, welche Filme ich mir ansehe. Welche … Ex-Freunde ich nicht anrufe.«
Es gab nur einen Ex, den ich gemeint haben konnte.
Alarmiert starrte mich meine beste Freundin an. Riley schnappte dramatisch nach Luft, aber nur, um die Stimmung mit ein bisschen Humor aufzulockern – sie war nicht wirklich schockiert.
»Ich habe niemanden angerufen!«, stellte ich hastig klar.
Maeve blinzelte mich an, nicht mehr ganz so amüsiert wie noch vor wenigen Sekunden.
»Spuck es aus, Castillo.«
»Nun ja.« Ich schluckte und ließ die Augen durch unser Wohnzimmer schweifen, um ihrem strengen Blick auszuweichen. Der Fernseher neben der Eingangstür zeigte ein Standbild des Love-Island-Intros, auf unserem Couchtisch lagen nicht etwa schicke Fotobände, sondern Zeitschriften, Zeitungen und drei der Romane, die Riley gerade las. Auf der Anrichte zu unserer Linken stand eine leere Glasvase, und auf dem gerahmten Druck dahinter war in leuchtendem Blau unsere Hausordnung zu lesen:
Schuhe aus!Lacht lautWeint ungehemmtTanzt peinlichAlles in allem gab es nicht viel zu entdecken – jedenfalls nicht mehr als sonst. »Ich bin gerade aus dem Redaktionsbüro raus und wollte mit Eddie über meinen nächsten Artikel sprechen …«
»Oh!«, quietschte Laila auf dem Boden. »Hat er dir endlich was anderes zugeteilt als ein Horoskop?«
Zum Glück wusste ich, dass sie es nicht so gemeint hatte … es klang nämlich echt traurig. Als ich mit fester Stimme »Nein« antwortete, zog sie eine Grimasse.
Ich hätte selbst nicht sagen können, was ich mehr verabscheute: das Mitleid oder die Enttäuschung. »Noch nicht«, korrigierte ich mich, bevor ich zum eigentlichen Thema zurückkehrte. »Wie auch immer. Ihr werdet nie im Leben erraten, in wen ich reingerannt bin, nachdem Eddie und ich uns voneinander … verabschiedet hatten.«
»Reingerannt?« Wieder Riley.
»Fast reingerannt«, berichtigte ich.
Maeve seufzte natürlich theatralisch, noch bevor ich überhaupt einen Namen genannt hatte. »Oh, Paula«, murmelte sie. »Du hast mit ihm geredet, nicht wahr?« Ein weiterer Seufzer. »Erinnerst du dich denn nicht an das Kontaktverbot? Miteinander zu reden fällt auf jeden Fall unter Kontakt …«
»Ich habe nicht mit ihm geredet, vielen Dank.«
Meine Freundinnen schwiegen. Starrten mich erwartungsvoll an. Also sah ich mich gezwungen, das näher zu erläutern.
»Ich habe ihn nur angesehen. Ein bisschen zu lange. Bis er mich irgendwann auch angesehen hat. Dann hatten wir kurz quasi Blickkontakt, aber er war so weit weg …« Maeves Grimasse verriet mir, dass ich zu aufgeregt klang, also unterbrach ich mich und sprach ganz ruhig weiter: »Bis ich zuerst weggesehen habe und abgehauen bin.«
Meine beste Freundin warf den Kopf zurück, ließ ihn gegen die Rückenlehne der Couch sinken und schüttelte ihn, während ein weiterer Seufzer ihren rosa Lippen entwich. »Mein Gott, Paula«, stieß sie hervor und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. Riley und Laila sagten keinen Ton. »Nur fürs Protokoll … Pressley sehnsüchtig hinterherzustarren zählt als Kontakt. So kommst du nie über ihn hinweg, Darling. Es ist doch jetzt schon ein Jahr her.« Ihre Stimme klang besänftigend, und ihr Lächeln war voller Mitleid. Schon wieder Mitleid.
»Ich weiß, ich weiß. Das sagtest du bereits!« Ich stöhnte. Gerade wollte sie mir widersprechen, als es mir selbst auffiel und ich hinzufügte: »In meinem Kopf! Du hast es bereits in meinem Kopf gesagt. Und ich weiß es ja selbst. Und du hast recht. Ich will über ihn hinwegkommen. Und irgendwie bin ich das ja auch. Aber ay dios mío, Maeve, sieh ihn dir an! Es ist unmöglich.«
»Er ist schon echt ein Hübscher«, stimmte Riley mir nachdenklich zu und zwirbelte eine ihrer schwarzen Braids um den Finger.
»Danke!« Ich unterstrich das Wort mit einer Geste in ihre Richtung. »Es ist nichts falsch daran, zuzugeben, dass er … ein Hübscher ist.« Riley zwinkerte mir zu. »Und sein anziehendes Äußeres zu bewundern. Aus der Ferne.«
Maeve legte den Kopf schief und musterte mich. Meine gebräunte Haut, die braunen Augen, die Locken, die mein Gesicht umrahmten. »Nein«, brummte sie. »Daran ist nichts auszusetzen. Und ich liebe den Kerl – guck nicht so, wirklich, ich liebe ihn! Aber sieh dich doch mal an. Du hast ihn nur einmal angeschaut, und sofort bist du wieder in ihn verliebt.«
Wieder dieser mitfühlende Ton, und Mitleid in ihren braunen Augen.
»Das ist ein bisschen übertrieben.« Ich sah zu Riley, dann zu Laila. »Sie übertreibt«, betonte ich nachdrücklich, um das klarzustellen.
Riley kicherte. »Wissen wir doch, Babe.« Anzüglich hob sie eine Augenbraue und zwirbelte ihren Zopf weiterhin so unschuldig zwischen den Fingern, als hätte sie eben überhaupt nichts angedeutet.
Laila schaltete sich ein, ihre Stimme so leise wie immer. »Leute«, mahnte sie sanft. »Paula braucht Henry nicht. Sie hat doch Jack.«
Bei der Erwähnung dieses Namens verzog ich unwillkürlich das Gesicht und krümmte mich. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. Während Maeve und Riley die Augenbrauen tanzen ließen, stöhnte ich auf. »Habe ich das?«
»Du könntest!« Riley musste lachen, und wie jedes Mal, wenn sie gleichzeitig lachte und sprach, klang es wie ein Aufschrei. »Du hast den armen Mann um den kleinen Finger gewickelt. Nein, schüttle nicht den Kopf, es ist wahr. Wenn er morgen kommt, wirst du es selbst sehen.«
»Morgen?«, fragte Maeve.
»Das Ding bei Mike. Hast du das etwa vergessen?«
Übersetzung: eine Party. Riley war ständig auf Partys.
»Er hat mich eingeladen, und ich weiß genau, dass ich euch gesagt habe, dass ich euch auf jeden Fall mitschleppen werde.« Sie warf Laila einen scharfen Blick zu. Laila, die bestimmt auf keinen Fall mitgehen wollte, aber höchstwahrscheinlich trotzdem dort landen würde. Und wenn es nur deshalb war, weil ihre Freundin sicherlich auch dort aufkreuzen würde. Mit einem Blick zu mir fügte Riley hinzu: »Ich nehme an, Henry wird auch da sein.«
Ich spürte, wie ich mich aufrichtete. Jack war sofort vergessen. »Meinst du?« Zu spät bemerkte ich, dass ich nicht mal versucht hatte, subtil zu sein.
»Großer Gott«, seufzte Maeve und barg ihr Gesicht in den Händen. »Das hättest du ihr nicht sagen sollen, Rie.«
Ich schnappte nach Luft, als wäre ich beleidigt. »Ich habe doch nur gefragt! Es ist mir egal. Das klappt schon, ich komme klar.« Mit zusammengekniffenen Augen begutachtete ich meine beste Freundin. »Ich habe ihn monatelang ignoriert, und das schaffe ich die paar Monate bis zum Abschluss garantiert auch noch weiterhin. Aber vielen Dank für dein Vertrauen, Maeve.«
In gespielter Kapitulation hob sie die Hände, und ihre Lippen zuckten. »Ich liebe dich?«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Ganz bestimmt schaffst du das.«
Und ich dachte: Ja. Ich kann es schaffen.
Es konnte doch wohl nicht so schwer sein, so zu tun, als würde ich den einzigen Mann hassen, den ich je geliebt hatte. Außerdem war es irgendwie tröstlich, zu wissen, dass ich ihn nach dem Abschluss wahrscheinlich nie wiedersehen würde.
Die Art Trost, die einem das Herz zerriss.
DAMALS, September: vor drei Jahren und sechs Monaten
»Es tut mir leid.« Mit einem frustrierten Seufzer ließ ich den Kopf in meine Hände sinken, ehe ich wieder zu ihm aufblickte und mir eine verirrte Locke aus dem Gesicht pustete. »So was ist mir noch nie passiert.«
Mit seinen grünen, von langen, dunklen Wimpern umkränzten Augen blinzelte er mich an. Die vereinzelten Sommersprossen auf seiner Nase hatte ich gar nicht bemerkt, als ich – im wahrsten Sinne des Wortes – in ihn hineingelaufen war, und auch als er ein paar Tage später in unserer ersten Vorlesung hinter mir gesessen hatte, waren sie mir nicht aufgefallen. Jene Vorlesung, in der er sich zu mir vorgebeugt hatte, so dicht, dass sein Atem über mein Ohr strich, und mir zuflüsterte: »Deine Eltern halten uns also für beste Freunde?«
Das hatte er offenbar aus der Tatsache geschlossen, dass ich immer noch an der HBU war.
Es hätte mir keine Gänsehaut über den Rücken jagen sollen, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich hatte mich umgedreht und zu Henry hochgeblickt, in der Hoffnung, nicht rot zu werden, aber da war er nicht mehr nah genug gewesen, um die Pünktchen zu sehen.
Doch jetzt, da wir uns mitten in der Nacht an einem Bibliothekstisch gegenübersaßen und uns bei gedämpftem Licht mit gedämpften Stimmen unterhielten – da war er so nah, dass ich den kaum wahrnehmbaren Knick in seiner Nase erkennen konnte, die schwache Narbe an seinem Kinn, die sich seinen Hals hinunterzog – und eben jene Sommersprossen.
Er legte den Kopf schief. »Was ist dir noch nie passiert?«
Ich schnalzte amüsiert mit der Zunge. »Ich höre mich bestimmt wie eine Idiotin an.«
»Probier es aus.«
Vielleicht lag es am Schlafmangel oder der wachsenden leisen Verzweiflung, dass ich mein Geständnis vor ihm ablegte. »Ich war noch nie wirklich schlecht in … irgendwas. In der Schule!«, fügte ich schnell hinzu, als seine Lippen zuckten. »Ich meine, ich war schon immer gut in der Schule. Lernen, Rechnen, Verstehen. Wenn ich irgendwas kann, dann das. Warum tu ich mich dann jetzt so schwer?«
Henry nickte nachdenklich. »Du kommst mir vor wie ein Mädchen, das in seinem Leben noch nie versagt hat.«
Es hörte sich so an, als würde er sich öfters darüber den Kopf zerbrechen, was für ein Mädchen ich war. Als würde ihn das nachts manchmal wach halten und als hätte er so viel gegrübelt, dass er sich seiner Worte absolut sicher war. »Und du bist hier zufällig in der bereits geschlossenen Bibliothek mit einem Typen, der ebenfalls noch nie versagt hat. Wir schaffen das schon, Paula.«
»Wie bescheiden«, schnaubte ich.
»Hey.« In gespielter Kapitulation hob er die Hände und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Du hast es zuerst zugegeben.«
»Das ist richtig«, stimmte ich lachend zu, wurde aber schnell wieder ernst. »Es tut mir echt leid. Du solltest hier nicht festsitzen, nur weil ich das Konzept von Data Science nicht kapiere.« Als er angeboten hatte, mir zu helfen, hatte er gemeint, er hätte bis zehn Zeit.
Jetzt war es bereits nach Mitternacht, und Henry Parker Pressley saß mir immer noch gegenüber und schüttelte lächelnd den Kopf, als hätte es nie ein Zeitlimit gegeben.
»Und Finanzberichterstattung.«
»Was?«, fragte ich.
»Du kapierst weder das Konzept von Data Science noch von Financial Reporting. Oder Technology and Operations Management«, ergänzte er nach einer kurzen Pause, so nonchalant, als würde er nur eine Bemerkung über das Wetter machen, statt all meine Schwächen aufzulisten.
»Vielen Dank, dass du mich an all meine Unzulänglichkeiten erinnerst.« Ich rümpfte die Nase.
»Hey, ich bin hier, um dir genau bei diesen Unzulänglichkeiten zu helfen. Was konntest du damals in der High School gut? Zu Hause?«
Alles!, hätte ich am liebsten geschrien. Aber obwohl wir allein waren, war dies immer noch eine Bibliothek, und laut zu werden hätte sich falsch angefühlt.
Dass ich ihm die Antwort nicht ins Gesicht schrie, machte sie allerdings nicht weniger wahr. Ich war gut in der Schule gewesen. In Mathe. Englisch. Sämtlichen Naturwissenschaften.
An meinen Noten hatte ich mich immer gemessen. Wenn ich eine Eins nach Hause brachte, hatte mir mein Vater zur Belohnung im Laden an der Ecke eine Süßigkeit besorgt. Als ich älter wurde, so um die vierzehn, ging Mom stattdessen mit mir zur Maniküre, und ich lief wochenlang mit leuchtend rosa Nägeln herum.
Bei einer Zwei oder Drei gab es keine Süßigkeiten, keine Maniküre und auch nicht das sonst so liebevolle Lob meiner Eltern. Dann sagten sie zwar immer noch Gut gemacht! oder Nicht übel!, jedoch niemals: Wir sind so stolz auf dich, Paulita! Du wirst es im Leben weit bringen!
Ich glaube nicht mal, dass es Absicht war, aber der Unterschied hatte sich tief in mir eingebrannt. Und wenn ich nach diesem ersten Semester keine guten Noten vorzuweisen hatte … Was dann?
Ich seufzte. »Englisch, denke ich. Und Spanisch.« Sprachen waren immer meine große Stärke gewesen. »Ich habe für die Highschool-Zeitung geschrieben.«
Überrascht zog er die Brauen hoch. »Und da hast du nie darüber nachgedacht, etwas Entsprechendes zu studieren? Wirtschaft scheint mir nicht besonders gut zu jemandem zu passen, dessen Lieblingsfach Englisch war.«
Ich holte tief Luft und ließ den Kopf zurückfallen. »Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass mein Vater jemals in Erwägung gezogen hat, ich könnte etwas anderes als Wirtschaft studieren. Er hat ein kleines Restaurant in der Dominikanischen Republik, also hält er sich für einen Geschäftsmann …«
»Faktisch gesehen ist er das ja auch«, sagte Henry amüsiert, und ich nickte.
»Faktisch gesehen ist er Geschäftsmann«, wiederholte ich. »Und ich glaube, er hat sich insgeheim immer gewünscht, dass wir etwas gemeinsam haben.«
Meine Eltern hatten schon angefangen, für mein Studium zu sparen, als sie erfuhren, dass meine Mutter schwanger war. Ich nahm an, dass seither für sie auch schon festgestanden hatte, dass ich Wirtschaft studieren würde. Darüber war nie verhandelt worden.
Henry nickte, als würde er nur zu gut verstehen. »Englisch«, murmelte er. »Vokabeln also. Das kriegen wir hin.« Er sagte es mehr zu sich selbst als zu mir. Dann sah er mich an. »Wir können uns morgen früh wieder hier treffen. Ich habe bis neun Uhr Training, und unsere Vorlesung ist erst um vier. Das heißt, wir haben sieben Stunden Zeit, um Data Science, Financial Reporting und Technology and Operations Management zu lernen, aber als Vokabeln. Mit Karteikarten und so weiter. Wie hört sich das an?«
Ich wusste nicht, weshalb er so … begierig war, mir zu helfen. Mit hochgezogenen Brauen starrte er mich an und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, als könne er meine Antwort gar nicht erwarten. Für jemanden wie mich, dem es selbst unter Androhung des Todes noch schwergefallen wäre, eigene Entscheidungen zu treffen, war es eine riesige Erleichterung, dass er die Führung übernahm. Ich wollte wahnsinnig gern einfach tun, was er vorschlug.
Mein Gesicht fiel in sich zusammen. »Ich muss arbeiten. Von acht bis drei.«
Das Café, in dem ich jobbte, war zugleich auch ein Blumenladen, und der Job war ganz okay. Die Bezahlung war für eine Universitätsstadt nicht besonders, aber besser als nichts, und ich war dankbar, dass ich so schnell etwas gefunden hatte. Ich war ja erst seit ein paar Wochen an der HBU, und mir war jede Art von Arbeit recht, die half, meine Eltern finanziell zu entlasten.
Umso mehr, weil ich das Gefühl hatte, sie zu enttäuschen.
»Du arbeitest?«
Ich nickte. »Bei Daisy’s. Jack öffnet nicht gern allein, und eine Kollegin ist krank geworden. Also hat er mich vorhin gebeten, ihre Schicht morgen früh zu übernehmen. Ich …«
»Jack?«
»Griffin. Jack Griffin. Mein Arbeitskollege? Er ist der Barista. Ich weiß nicht, ob du schon mal …«
Henry schüttelte den Kopf, bevor ich überhaupt gefragt hatte. »Noch nie von ihm gehört, nein. Aber was für ein Arsch, dass er dich so kurzfristig zur Arbeit ranpfeift.«
Ich lachte, ein Geräusch zwischen Schnauben und Gackern, und schüttelte den Kopf. »Er konnte ja nicht ahnen, dass ich viel lieber in die Bibliothek gehen würde.« Mit dir, fügte ich in Gedanken hinzu.
Denn Henry war klug und witzig … auf diese trockene Art, die nicht jeder zu schätzen wusste. Er sah definitiv sehr gut aus, und ich hatte in den drei Wochen, seit ich ihn kannte, schon zweimal von ihm geträumt – so wenig platonisch, dass ich keine Details verraten werde –, aber es war ausgeschlossen, dass er genauso für mich empfand.
Er will nur nett sein. Weil ich ihm bei unserer ersten Begegnung erzählt habe, dass meine Eltern sich Sorgen machen, ich könnte hier vielleicht keine Freunde finden.
Bei der bloßen Vorstellung daran errötete ich und konnte nur hoffen, dass das schwache Licht es verbarg.
»Ist das so?«, fragte Henry und hob amüsiert die Brauen. »Willst du wirklich lieber hier sein? Über Büchern brüten, während ich da sitze und dich beobachte?«
Ich errötete noch mehr. Meine Wangen wurden richtig heiß. Trotzdem zuckte ich nur mit den Schultern und unterdrückte den Drang, laut auszurufen: Mehr als alles andere!
»Wundert dich das? Meine Eltern halten uns schließlich für die allerbesten Freunde. Was sollte ich mir denn mehr wünschen, als Zeit mit meinen Freunden zu verbringen?«
Henry schluckte schwer und konnte den Anflug eines Grinsens auf seinen Lippen nicht verbergen. Als er sich mit den Unterarmen auf dem Tisch abstützte und sein Gesicht auf einmal im Schatten lag, veränderte sich etwas.
Zwischen uns. In der Art, wie ich atmete. Wie er mich ansah.
»Süß von dir, das zu sagen.« Ich wusste nicht, warum ich den Atem anhielt, bis er fortfuhr: »Aber ich glaube nicht, dass wir Freunde werden, Paula.«
JETZT
Ich wusste, dass ich nach dem dritten Tequila-Shot hätte langsamer machen sollen. Um ehrlich zu sein, hatte ich wahrscheinlich schon nach Nummer zwei mein Limit erreicht.
Aber Riley reichte mir einen weiteren Shot, schrie, lachte, sang laut zur Musik mit, und ihre gute Laune war so verdammt ansteckend … wie hätte ich da Nein sagen können? Schon bevor sie mir das Glas in die Hand drückte, war die Entscheidung im Grunde längst gefallen.
Außerdem hatte ich den Typen, der am anderen Ende des Raums stand, fast völlig vergessen.
Als wir vorhin angekommen waren, hatte Henry mit der Hüfte an der Rückenlehne der Couch gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, sodass sein Bizeps die engen Ärmel zu sprengen drohte. Das braune Haar trug er in der Mitte gescheitelt, und er unterhielt sich mit einer Frau, die nicht ich war.
Mir fiel aber rasch wieder ein, dass es mich überhaupt nichts anging, mit wem er sich unterhielt, weshalb ich meinen ersten Tequila so schnell runterstürzte, dass ich ihn fast wieder hochgehustet hätte.
Ich legte den Kopf zurück, um den vierten Shot runterzukippen. Der Alkohol brannte in meiner Kehle und besänftigte die ungerechtfertigte Eifersucht, die immer noch in meiner Magengrube brannte.
Gegen meinen Willen, möchte ich an dieser Stelle hinzufügen.
Die Mädchen jubelten, und Maeve legte mir den Arm um die Schultern, wiegte sich mit mir zu den Klängen eines mittelmäßigen ABBA-Remixes, der durchs Verbindungshaus schallte.
Es ist alles gut, sagte ich mir.
Obwohl ich nicht mehr zählen konnte, wie oft ich gestolpert, jemandem auf den Fuß getreten oder nach irgendeinem Arm gegriffen hatte, um das Gleichgewicht zu halten, und obwohl mein Ex-Freund irgendwo in diesem Raum war und höchstwahrscheinlich heftig mit einem Mädchen flirtete, dessen Namen ich nicht kannte, war alles gut. Oder?
Schließlich hatte ich meine Mädels, meine Katze … und bevor ich darüber nachdenken konnte, wie erbärmlich das klang, reichte mir Riley einen leeren Becher. Gerade noch rechtzeitig. Sie füllte ihn bis zum Rand mit irgendeinem wilden Mix. Wahrscheinlich konnte man damit jemanden umbringen, aber wir tranken das Zeug trotzdem.
Unwillkürlich schaute ich mich um. Ich suchte wirklich nur nach irgendeiner Uhr! Und wie heftig sich mein Magen zusammenzog, lag auch wirklich nur daran, dass ich keine entdeckte und deshalb nicht wusste, wie spät es war. Keineswegs daran, dass ich Henry nirgends sah.
Nicht, dass ich das wollte. Ihn sehen, meine ich.
»Mädels«, keuchte ich. Dios mío, machte mich der Alkohol echt so schnell fertig? »Ich gehe mal schnell auf die Toilette.«
Laila schaltete in den Muttermodus und fragte mich mit vor Sorgen geweiteten blauen Augen: »Brauchst du uns? Musst du dich übergeben?«
Sie war die Einzige, die den zweiten Shot abgelehnt und sich stattdessen für irgendeinen süßen Drink entschieden hatte. Sie würde morgen vermutlich keinen Kater haben, ich hingegen war schon weit über diesen Punkt hinaus.
Ich schüttelte den Kopf, und leider begann sich sofort die Welt um mich zu drehen. »Nein.« Vielleicht. »Pipi.«
Mehr als ein Wort auf einmal bekam ich offenbar nicht mehr heraus.
Trotz einer steilen Treppe zwischen mir und der Erlösung (welcher Art auch immer) entschied ich mich heldenhaft für die Toilette im Obergeschoss, um die lange Schlange zu vermeiden, die sich vor der Gästetoilette im Erdgeschoss gebildet hatte.
Auf der letzten Stufe ließ ich widerwillig das Geländer los und streckte haltsuchend die Hand nach der gegenüberliegenden Wand aus. Für einen Moment spürte ich ganz deutlich, wie die Welt um ihre eigene Achse rotierte, was mich daran erinnerte, dass wir uns auf einer Kugel im Weltraum befanden. Diese Kugel drehte sich, und wir drehten uns mit. Ich habe ehrlich gesagt nie ganz verstanden, wie das funktionierte. Der bloße Gedanke daran machte mich krank.
»Scheiße«, stöhnte ich auf, legte den Arm gegen die Wand und den Kopf daran … um mehr Halt zu haben? Ich war mir nicht ganz sicher, aber mit geschlossenen Augen war mir immerhin ein bisschen weniger deutlich bewusst, dass wir alle auf einer sich drehenden Kugel gefangen waren.
Aus der mich umgebenden Leere fragte jemand, ob es mir gut ginge. Ich nickte hastig und murmelte mehrere Variationen von Ja gegen die Wand, was mit einem amüsierten Schnauben beantwortet wurde, dem Beginn eines Lachens, das so, so, so … vertraut klang.
Ich riss die Augen auf.
Starrte die Wand an, gegen die ich immer noch die Stirn drückte, um auf keinen Fall Henry Parker Pressley ansehen zu müssen, der direkt neben mir stand.
Ich spürte seine Anwesenheit jetzt ganz deutlich.
Ein zögerlicher Blick aus dem Augenwinkel, und tatsächlich … da war er. Gegenüber der Toilette, direkt neben mir, stand Henry an die Wand gelehnt, die Hände in den Taschen, und wartete.
Darauf, dass sich die Badezimmertür öffnete, oder darauf, dass ich seine Anwesenheit zur Kenntnis nahm? Keine Ahnung.
Ich schnaufte in meinen Arm und schloss wieder die Augen. Frustriert, vielleicht aber auch ein bisschen erleichtert, weil er offenbar doch nicht mit der schönen Brünetten abgehauen war.
Angestrengt presste ich mich gegen die Wand, um dem auszuweichen, was auch immer hier gerade geschah … geschehen könnte. Aber ich spürte Henrys Blick auf mir. Er musterte mich, betrachtete mich von Kopf bis Fuß. Mein Kleid. Vielleicht auch meine nackten Beine.
Und das machte mich wahnsinnig.
»Mierda«, fluchte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen und drehte mich zu ihm um. »Was ist?«
Henry blinzelte mich an, seine Augen waren durchdringend grün und stürzten mich in tiefe Verwirrung. Er schien allerdings ebenso perplex von meinem Tonfall zu sein wie ich selbst.
Ich hatte nicht erwartet, dass die in mir brodelnden Gefühle an die Oberfläche gelangen würden, aber jetzt, wo sie raus waren, fühlte es sich irgendwie … großartig an. Und das war doch gut! Oder?
Am besten konzentrierte ich mich völlig darauf, wie sehr ich ihn hasste, statt darauf, wie gut er heute Abend aussah. Erinnerte mich an all die Gründe, ihn zu hassen, statt darüber nachzudenken, dass wir uns seit der Trennung nicht mehr so nah gekommen waren wie jetzt. Es war so lange her, dass ich fast diese paar über seine Nase verstreuten Sommersprossen vergessen hatte.
Henrys Ego war so schon groß genug. Ich musste es nicht noch mehr aufblähen, indem ich mir anmerken ließ, dass ich (noch) nicht ganz über ihn hinweg war, während er mich eindeutig schon weit hinter sich gelassen hatte (siehe die schöne Brünette von vorhin). Allein bei der Erinnerung daran musste ich mich beinahe schütteln.
Wieder ergriff ich das Wort, und wieder war ich von meinem eigenen Tonfall überrascht. »Spuck’s schon aus, Henry. Was willst du sagen?«
Er schluckte schwer, seine Brauen zuckten, dann schwand jedes Zögern aus seiner Miene. Er gab ein Schnauben von sich, aber es klang nicht wirklich belustigt. »Nichts«, erwiderte er sanft. »Ich mache mir nur Sorgen, dass du die Treppe runterfallen könntest.«
Bei dieser (durchaus zutreffenden) Feststellung hätte ich am liebsten die Augen verdreht und ihm mitgeteilt, dass ich nicht halb so betrunken war, wie er offenbar glaubte. Dass ich vollkommen aufrecht und sicher stehen konnte.
Leider schwankte ich, sobald ich die stützende Wand losließ. Aber nach ein, zwei Schritten fing ich mich wieder. Also hatte ich ihm quasi das Gegenteil bewiesen, oder?
Mit einem stolzen Lächeln sah ich ihn an. Siehst du, wollte ich sagen. Ich kann aufrecht stehen.
Da bemerkte ich seine Hand, die sich um mein Handgelenk geschlossen hatte.
Eine Sekunde verging, dann noch eine. Ich betrachtete die Hand, mit der er mich festhielt, direkt über meinem Puls, und ich hoffte bei Gott, dass er nicht spürte, wie mein Herzschlag unter seiner Berührung auf Hochtouren kam.
Ich hatte mich nicht selbst wieder gefangen. Henry hatte mich gestützt.
Er musterte mich mit gerunzelter Stirn, in seinen Augen stand, wenn ich mich nicht irrte, echte Besorgnis. Unsere Blicke verfingen sich einen Moment lang ineinander, doch was auch immer er in meinen Augen suchte, er fand es offenbar nicht.
Henry räusperte sich, ließ mein Handgelenk los und vergewisserte sich, dass ich auf eigenen Füßen stehen konnte, ohne umzufallen wie ein neugeborenes Giraffenbaby. Na super. »Bist du sicher, dass es dir gut geht, Paula?«
»Ja. Besten Dank …«, brachte ich hervor. Wütend, ermahnte ich mich. Ich sollte wütend sein. Nicht nett und höflich. »Nein.« Keine Dankbarkeit. Ich hatte schließlich schon das mit dem Kontaktverbot gründlich vermasselt. »Vergiss das mit dem Dank. Vielmehr …« Vielmehr was? »Vergiss es einfach.«
In dem Moment öffnete sich die Badezimmertür, und ein Mädchen kam heraus, um den Raum für den Nächsten freizugeben. Und das war Henry.
»Würdest du einfach reingehen, bitte …?«
»Sag doch nicht bitte«, unterbrach mich Henry und sah aus, als müsste er ein Lächeln unterdrücken. »Nicht, dass du später deine guten Manieren bereust, Paula.« Fast hätte ich entgegnet: SagmeinenNamennichtso,dasmachtwasmitmir!, aber da trat er auch schon beiseite. »Ich glaube, bei dir ist es dringender.«
Er hatte recht. Sobald ich die Tür hinter mir schloss, stürzte ich auch schon zur Schüssel, heilfroh, dass das Mädchen vor mir den Deckel aufgelassen hatte. Und noch froher war ich darüber, dass ich es geschafft hatte und nicht alles auf Henrys Schuhen gelandet war.
Ich kauerte auf dem Boden … für eine ganze Weile. Und während ich so über der Toilettenschüssel hing und sich alles um mich drehte, dachte ich über die letzten zwanzig Minuten nach und beschloss, meinen Freundinnen nichts von dieser Begegnung zu erzählen.
Das war eine schwere Entscheidung für mich. Ich neigte dazu, immer viel zu viel zu erzählen. Allerdings … Wenn Maeve schon einen kurzen Blick auf Henry als Verstoß gegen unser Kontaktverbot betrachtete, war es in ihren Augen vermutlich eine Straftat, mit ihm zu sprechen – ihn sogar zu berühren!
Glücklicherweise sah ich mich dieser Gefahr nicht noch mal ausgesetzt, denn als ich das Bad verließ, war Henry verschwunden. Vielleicht hielt er seine Chancen beim Klo unten für günstiger – hätte mich nicht gewundert, so analytisch, wie er nun mal dachte. Oder vielleicht wollte er mir einfach nicht noch mal über den Weg laufen.
Mit schmerzhaft heftig pochendem Herzen schleppte ich mich die Treppe hinunter, wo Maeve auf mich wartete und geduldig mein Getränk hielt, gewissenhaft eine Hand darübergelegt.
Nachdem ich mich gerade frisch übergeben hatte, fühlte ich mich bereit für einen Nachschlag … und leerte versehentlich den ganzen Becher in einem Zug.
Meine beste Freundin betrachtete mich neugierig, ihr Blick huschte zwischen mir und der Treppe hin und her. Ich kannte diesen Blick nur zu gut. Die übersinnliche Maeve war wieder am Start, und mit einem Mal geriet mein Vorhaben, ihr nichts zu erzählen, empfindlich ins Wanken.
Die Rothaarige schenkte mir ein verschwörerisches Lächeln und trank einen großen Schluck. »Warum hast du so lange gebraucht?«, fragte sie.
Sie weiß alles, war mein erster Gedanke. Wahrscheinlich hatte sie gesehen, wie Henry die Treppe herunterkam, und eins und eins zusammengezählt.
Maeve wiegte sich leicht im Takt der Musik.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hab mich übergeben.«
Laila stieß mich mit der Schulter an und öffnete den Mund zu einem lautlosen Keuchen. »Du hättest etwas sagen sollen!«, quietschte sie. »Mädchen sollten sich nie allein übergeben müssen! Wer hat deine Haare gehalten, Paula?« Die Blondine sah ernstlich besorgt aus, fast verzweifelt, und ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen.
Maeve stimmte mit ein, aber sie ließ mich nicht aus den Augen, während sie ihren Becher leerte. »Ja, Paula.« Sie seufzte. »Wer könnte denn wohl da gewesen sein, um deine Haare zu halten?«
Japp, sie weiß alles.
Ich beschloss, ihr wissendes Lächeln zu ignorieren, und wandte mich stattdessen wieder Laila zu. »Tut mir leid, Lil«, entschuldigte ich mich, eine Hand über meinem Herzen, die andere auf ihrer Schulter. »Nächstes Mal darfst du gern mein Haar halten.«
Sie schnaubte, aber ihr Stirnrunzeln wich einem Lächeln. »Gut.« Sie nickte und nahm einen weiteren Schluck von ihrem süßen Drink. »Danke.«
Ein letztes Mal wanderte Maeves Blick zur Treppe, dann ließ sie es erst mal gut sein. Ihr blieb auch keine andere Wahl, denn im nächsten Moment zog uns Riley auf die improvisierte Tanzfläche.
JETZT
Der darauffolgende Sonntag war wirklich nicht besonders schön. Wie erwartet, verbrachte ich ihn praktisch im Rausch der Schmerztabletten und Erinnerungen an Henrys Hand an meinem Handgelenk. Ich lag den ganzen Tag im Bett und rappelte mich höchstens mal kurz auf, um einen Schluck Wasser zu trinken oder nachmittags ein fettiges Frühstück in mich reinzustopfen.
Richtig lustig wurde es erst am Montag.
Als ich das Büro betrat, schlugen mir hämmerndes Tastaturklappern, das Surren unseres nichtsnutzigen Druckers und kräftiger Kaffeeduft entgegen, und ich hatte meine übliche Ich-will-an-meinen-Schreibtisch-und-endlich-wieder-was-Sinnvolles-schreiben-Sekunde.
Ich musste dringend mit Eddie reden. Bis er mir entweder einen Artikel gab oder so verärgert war, dass er mich endgültigrauswarf. Wenigstens konnte dann niemand mehr behaupten, ich hätte mich nicht genug bemüht.
Ein paar Köpfe tauchten hinter ihren Bildschirmen auf und begrüßten mich mit einem stummen Lächeln. Riley, die sich überlegt hatte, dass bei der HBP zu arbeiten eine gute Ergänzung zu ihrem Eventmanagement-Studium wäre, winkte mir zu – vor ihr stand ihr sicherlich bereits vierter Kaffee.
Alfie, der wohl nicht damit gerechnet hatte, dass der Schreibtisch neben ihm heute besetzt sein würde – wir waren beide in die hinterste Ecke des Büros verbannt worden –, warf mir einen überraschten Blick zu.
Lacy – ja, die Ich-bekomme-jeden-Artikel-den-ich-will-Lacy – nickte vage in meine Richtung, völlig auf ihren Bildschirm konzentriert.
Trotz der Ereignisse im vergangenen Jahr durchströmte mich ein seltsames Gefühl der Zugehörigkeit, wann immer ich das Büro betrat. Ob ich nun über Horoskope schrieb, Kaffee holte oder mich lautstark mit dem Drucker stritt, bis er endlich tat, was ich von ihm verlangte, ich konnte fast so tun, als sei alles in Ordnung. Normal.