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Falsches Spiel am Lago di Como In Bellagio am Comer See ist das Wasser besonders blau. Prachtvolle Villen, herrliche Gärten, Alpenblick – eine Kulisse, wie sich Regisseurin Aurora Damiani keine bessere wünschen könnte. Mit ihrem Film über Franz Liszt und seine Geliebte will sie es zurück auf die roten Teppiche dieser Welt schaffen. Schon viel zu lange wartet sie auf ihr großes Comeback. Doch als ihr Hauptdarsteller Umberto Farini kurz nach Beginn der Dreharbeiten tot aufgefunden wird, sieht sie sich auf einmal mit ganz anderen Problemen konfrontiert. Commissario Giulia Cesare, deren kriminalistisches Gespür mindestens so groß ist wie ihre Leidenschaft für gutes Essen, steht vor einem verzwickten Fall. Glücklicherweise hat ihr Freund Brutus, ein zartbesaiteter Briefträger mit Hundephobie, eine Statistenrolle am Set ergattert. Gemeinsam nehmen sie das gesamte Filmteam genau unter die Lupe. Schnell zeigt sich: Fast jeder hier hatte eine Rechnung mit Farini offen, der sich nicht nur vor der Kamera dem Drama hingab. An potenziellen Mördern und möglichen Motiven mangelt es nicht. Es gilt also, kühlen Kopf zu bewahren. Und sich nicht allzu sehr vom schönen Schein der Filmwelt blenden zu lassen …
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Seitenzahl: 447
Veröffentlichungsjahr: 2020
In Bellagio am Comer See ist das Wasser besonders blau. Prachtvolle Villen, herrliche Gärten, Alpenblick – eine Kulisse, wie sich Regisseurin Aurora Damiani keine bessere wünschen könnte. Mit ihrem Film über Franz Liszt und seine Geliebte will sie es zurück auf die roten Teppiche dieser Welt schaffen. Schon viel zu lange wartet sie auf ihr großes Comeback. Doch als ihr Hauptdarsteller Umberto Farini kurz nach Beginn der Dreharbeiten tot aufgefunden wird, sieht sie sich auf einmal mit ganz anderen Problemen konfrontiert.
Commissario Giulia Cesare, deren kriminalistisches Gespür mindestens so groß ist wie ihre Leidenschaft für gutes Essen, steht vor einem verzwickten Fall. Glücklicherweise hat ihr Freund Brutus, ein zartbesaiteter Briefträger mit Hundephobie, eine Statistenrolle am Set ergattert. Gemeinsam nehmen sie das gesamte Filmteam genau unter die Lupe. Schnell zeigt sich: Fast jeder hier hatte eine Rechnung mit Farini offen, der sich nicht nur vor der Kamera dem Drama hingab. An potenziellen Mördern und möglichen Motiven mangelt es nicht. Es gilt also, kühlen Kopf zu bewahren. Und sich nicht allzu sehr vom schönen Schein der Filmwelt blenden zu lassen …
© Peter Hansen
Clara Bernardi ist das Pseudonym der Autorin Julia Bruns, die bereits einige Regionalkrimis veröffentlichte. Julia Bruns studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie. Nach ihrer Promotion arbeitete sie viele Jahre als Redenschreiberin und in der Öffentlichkeitsarbeit. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Thüringen. Der Comer See ist für sie seit vielen Jahren der ideale Rückzugsort. Zuletzt erschien bei DuMont ›Requiem am Comer See‹ (2019).www.clara-bernardi.de
Clara Bernardi
LETZTE KLAPPEAM COMER SEE
Ein Fall für Giulia Cesare
Kriminalroman
Von Clara Bernardi ist bei DuMont außerdem erschienen:
Requiem am Comer See
eBook 2020
© 2020 DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog Dr.Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Satz: Fagott, Ffm
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
PERSONAL
GIULIA CESARE
Commissario und stolze Comasci, der die Prioritäten zwischen ihrem Heimatdorf und der Polizeiarbeit öfter mal verrutschen
BRUTUS GRAZIOLI
Giulias bester Freund und akribischer Postbote, der mehr Angst vor Hunden als vor Kriminellen hat
JACOPO PAWESE
Ein liebender Ehemann, der hervorragend kocht und Giulia fast keinen Wunsch abschlagen kann
MARIA CESARE
Temperamentvolle, argentinische Mutter Giulias – bisweilen mit flinken Fingern, wenn es um das Eigentum anderer Leute geht
PIERGIUSEPPE CESARE
Der Vater, der sein halbes Leben auf die große Schauspielkarriere gewartet hat und ungefragt gut gemeinte Ratschläge zur Polizeiarbeit gibt
TIZIANA DE ANGELIS
Eine eigensinnige Bestatterin und Freundin, die über alle am See etwas sagen kann, es aber meistens nicht tut
ELENA
Die taughe Assistentin Giulias, die ihrer Commissario immer wieder aus der Patsche hilft und sich ab und zu mit Jacopo verbündet
CHIARA ELISA ZORZI
Leiterin der Kriminalpolizei, die ihre Lippen etwas zu rot schminkt und Giulia zu oft in ihre Schranken weist
PROFESSORE ANDREA FONTANA
Charmanter Rechtsmediziner aus Mailand, der extrem eigenwillige Untersuchungsmethoden praktiziert und den See mehr liebt, als seiner Ehe guttut
CARMELO RISO
Leiter der Kriminaltechnik, der seine Zunge nicht im Zaum halten kann und an einem Tatort nur selten gesehen wird
UMBERTO FARINI
Erfolgreicher Schauspieler und perfekter Liszt-Mime, der sich selbst und anderen ein Rätsel ist
ENZA DAFNE FARINI
Die liebende Großmutter Umbertos, die von ihren Schwächen immer wieder eingeholt wird
SANTO FARINI
Der strenge Vater, dessen Rolle in der Familie lange verborgen bleibt
GRETA ESPOSITO
Eine oberflächliche Spielerin, die keine Demut kennt und sich vor allem für sich selbst interessiert
GAIA ARIANNA ESPOSITO
Gretas Mutter, die für die Karriere ihrer Tochter lebt
AURORA DAMIANI
Einstiger Stern am Regiehimmel mit dem unerbittlichen Anspruch, es wieder zu werden
ALFONSO PETRONI
1 Der Stamm der alten Platane verströmte einen kräftigen Geruch, eine Mischung aus Erde, Holz und dem leicht süßlichen Duft von gebackenen Maronen, und er war so dick, dass selbst ein erwachsener Mann ihn nicht umfassen konnte. Ihr Blätterdach, das in den vielen Jahren ihres Lebens eine so beachtliche Dichte erreicht hatte, ließ nicht einmal einen winzigen Sonnenstrahl hindurchdringen und hätte einer ganzen Schulklasse ein schattiges Plätzchen bieten können. Erstaunlicherweise schien dies dem darunterliegenden Rasen, der jedem englischen Gärtner höchsten Respekt abverlangt hätte, nichts auszumachen. Er bot die perfekte weiche und vor allem kühle Unterlage für eine Commissario der Questura in Lecco, die einen anstrengenden Tag gehabt hatte.
Giulia Cesare lehnte mit lang ausgestreckten Beinen am Fuße des Baumes und strich mit sanften Handbewegungen über die feinen Halme des Grases. Sie war müde. Eigentlich hätte es ihr gutgetan, die Augen zu schließen und damit der Welt für eine Weile zu entrücken, aber hier in den Gärten der Villa Melzi wäre dies einer Todsünde gleichgekommen. Giulia kam viel zu selten hierher. Sie konnte nicht einmal sagen, wann sie das letzte Mal in den Gärten gewesen war. Ihr stressiger Job, vor allem aber die vielen Verpflichtungen in ihrem Dorf ließen ihr keine Zeit für ein paar Mußestunden im Grünen. Entsprechend angetan war sie von der Idee gewesen, ihren Vater und ihren besten Freund Brutus an diesem herrlichen Frühlingstag hier abzuholen. Sie war, wie so oft, spät dran, aber davon hatte sie sich noch nie aus der Ruhe bringen lassen. Die Männer waren, wie Brutus sie gerade per SMS hatte wissen lassen, ohnehin noch nicht fertig. Das jetzt waren die ersten ruhigen Minuten eines chaotischen Arbeitstages, und sie genoss sie an diesem herrlichen Ort in vollen Zügen. Wie hatte sie nur vergessen können, welchen Reiz die Gärten der Villa Melzi ausstrahlten? Nachdem sie die lange Platanenallee vom Eingang hinauf zum herrschaftlichen Haus durchschritten hatte, tat sich diese wunderbare Welt vor ihr auf. Fächerahorne, Rhododendren, Tulpenbäume, Zedern, Zitronenbäume, Kamelien, hier wuchs alles in einer Üppigkeit, die die Pracht der einstigen Villa des Vizepräsidenten von Napoleons italienischer Republik fast schon verblassen ließen. Zwischen den Pflanzen fanden sich Skulpturen, künstlich angelegte Grotten, Wasserspiele und Bachläufe von Gartenkünstlern des 19.Jahrhunderts, die sogar bei der ansonsten eher nüchtern veranlagten Giulia Begeisterung hervorriefen. Dieses aus der Zeit gefallene Fleckchen Erde am Eingang des kleinen Ortes Bellagio wirkte vor der Kulisse des Comer Sees wie der Garten Eden. Das galt jedoch nicht nur allein für die Giardini di Villa Melzi, sondern für ganz Bellagio, den an der Spitze einer schmalen Halbinsel, am Lariano-Dreieck, liegenden Ort, der die beiden Arme des Sees, den linksseitigen Lago di Como und den rechtsseitigen Lago di Lecco, miteinander vereinte und damit einen einzigartigen Panoramablick über nahezu den gesamten See bot. Der Lario, wie die Einheimischen ihn nannten, hatte wie auch bei allen anderen Gemeinden am Ufer die Geschicke der Gemeinde von jeher geprägt. Wer das einstige Fischerdorf mit seinen schmalen, steilen Treppengässchen, Bogengängen, den bunt bemalten Häusern und opulenten Villen besuchte, begab sich auf eine Zeitreise in die Belle Èpoque, deren Romantik hier bis heute fortlebte. Aber Bellagio hatte es auch seiner besonderen Lage zu verdanken, dass es noch immer als eine der Hauptattraktionen des Sees galt und nicht nur Touristen, sondern auch zahlreiche Prominente anlockte.
Giulia blinzelte und bewunderte die satten roten Blüten einer Azalee, die einen bezaubernden Kontrast zu dem in der Sonne glitzernden tiefblauen Wasser des Comer Sees und den umliegenden schneebedeckten Bergen boten. Obwohl es erst Ende April war, hatte die Sonne tagsüber bereits einen Vorgeschmack auf ihre hochsommerliche Kraft gegeben, aber nun, da sie langsam hinter den gewaltigen Felsen des Monte di Tremezzo verschwand, wurde die Temperatur ein wenig angenehmer und der Blick klarer. Die Farben des Frühlings zogen zum Ende des Tages wieder über dem See auf und ließen sein Wasser dunkler und die Konturen der Berghänge schärfer erscheinen. Das am anderen Seeufer liegende Dorf Tremezzo, der einstige Stammsitz der Familie Brentano, war gut zu erkennen, und Giulia überlegte, was wohl heute bei Mario, dem Betreiber ihres dortigen Lieblingsristorante, auf der Tageskarte stand. Giulia genoss diese kurze Auszeit, die sie zwar nicht eingeplant hatte, aber die sie sich jetzt einfach gönnte. Hin und wieder hörte man in einiger Entfernung die sanften Wellen des Sees in einem so beruhigenden Gleichklang gegen die Kaimauern der Bootsanlegestelle schlagen, dass Giulia erneut die Augen schloss und noch tiefer in angenehmer Entspannung versank. Der See brachte eine frische Brise mit, die sie, als müsste sie ihre Lungen von der tagsüber darin aufgestauten Hitze ihres Büros befreien, tief in sich einsog. Über ihr knackte die Rinde der Platane, und irgendetwas rieselte ihr auf die Stirn. Sie kniff die Augen zusammen, beugte den Kopf nach vorn und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Dann öffnete sie ihren verknoteten Pferdeschwanz, schüttelte den Kopf und band sich ihre schwarze Mähne schließlich wieder mehr schlecht als recht im Nacken zusammen. Mit einem Lächeln zupfte sie die braun-grünen Rindenstückchen des Baumes von ihrem T-Shirt und ihrer ausgebeulten Jeans. Platanen befreiten sich regelmäßig von ihrer nicht mitwachsenden Rinde, und wenn man zufällig unter einem solchen Baum saß, konnte ganz schön was auf einen niedergehen. Giulia störte das nicht, im Gegenteil. Platanen erinnerten sie an ihre unbeschwerte Kindheit in einem Bergdorf am Ostufer des Sees. Abbadia Lariana, ihre Heimat, der sie bis heute treu geblieben war. Und an Brutus Grazioli, ihren besten und längsten Freund. Sie musste daran denken, wie er vor Jahren einmal verschwunden war – ausgerechnet in der Nacht seines vierzehnten Geburtstags. Und sie ihn nach einer intensiven Suchaktion an eine dicke Platane gefesselt wiedergefunden hatte, im Garten des Ziegenhirten Matteo. Schuld an der Misere waren, wie so oft, die vier Marcello-Brüder, für die Giulia bis heute nichts als reine Abneigung empfand. Unter dem Vorwand, zu seinem Geburtstag eine Überraschung geplant zu haben, hatten sie ihn in den Garten gelockt, um ihn dann hinterrücks an den Baum zu fesseln. Zu allem Überfluss hatten sie dem zuweilen naiven Brutus auch noch erzählt, dass Platanen sich selbst zerstörten und unschuldige Menschenkinder, die sich in deren Nähe befanden, mit in den Tod nahmen. Das Knacken der Platanenrinde muss dem armen Brutus seinerzeit wie die Trompeten von Jericho vorgekommen sein. Giulia jedenfalls konnte ihren Freund retten, und das tat sie, obwohl sie beide nunmehr das fünfzigste Lebensjahr schon überschritten hatten, noch immer.
Sie lehnte sich wieder zurück und beschloss, sich noch fünf Minuten Entspannung zu erlauben, als aus der Richtung der Villa klassische Musik zu ihr herüberklang. Giulia, die ansonsten nur auf die Stones & Co. stand, gefielen die sich behutsam über den Garten legenden Klänge, die sich in diese kleine Welt einschmiegten, als seien sie eigens für sie komponiert worden. Es dauerte jedoch nicht lange, da erreichten die Töne eine Lautstärke, die beinahe schmerzte. Sie wartete kurz, ob sich der Lärmpegel wieder normalisierte, erhob sich dann aber schließlich, als nichts dergleichen passierte, und ging über den leicht abschüssigen Kiesweg in Richtung des Anwesens. Wenig später trat sie zwischen den dichten Hecken hervor und staunte nicht schlecht, als sie den Menschenauflauf auf dem Platz vor dem Hauptportal der Villa sah. Die Leute gaben keinen Mucks von sich und starrten nur andächtig zum Haus. Giulia folgte ihren Blicken. Nichts passierte. Unsicher betrachtete sie noch einmal die regungslose Meute. Ganz offenkundig wartete die auf irgendetwas oder irgendjemanden und schien eine Engelsgeduld zu haben. Giulia taxierte gerade einzelne Gesichter, als aus heiterem Himmel Klänge von Posaunen oder Trompeten, Giulia konnte diese Instrumente nicht voneinander unterscheiden, über den Platz dröhnten. Mit einem Mal schien es, als ob die Gruppe der Wartenden Haltung annahm, obwohl Giulia nicht sagen konnte, ob sich wirklich jemand bewegt hatte. Etwas später öffnete sich die breite Flügeltür, und drei Menschen traten heraus. Wie einstudiert hielten sie zeitgleich auf dem Treppenabsatz inne, schauten kurz in die Menschenmenge und liefen dann mit huldvollen Gesten den linken Treppenarm herunter. Ein hübsches Pärchen in Kostümen des 19.Jahrhunderts flankierte dabei eine deutlich ältere, aber beide überragende hagere Dame mit schwarzer Sonnenbrille und einem weißen Kaftan, der so lang war, dass er über den Boden schleifte. Giulia blieb auf der Höhe des Gartenhauses stehen, vor dem ein nun verwaistes Catering aufgebaut war, und beobachtete die absurde Szenerie. Das also musste sie sein, die große Aurora Damiani, die italienische Regisseurin, die einem halben Dutzend Filmen zu weltweitem Ruhm verholfen hatte. Brutus und ihr Vater Piergiuseppe hatten in den letzten Wochen von nichts anderem gesprochen. Die Damiani, wie ihr Vater Piergiuseppe sie nur nannte, war eine der ganz Großen ihres Faches gewesen. Irgendwann. Giulia jedenfalls konnte sich an keinen ihrer Filme erinnern. Das musste allerdings nicht unbedingt etwas heißen, denn Giulias Interesse an Filmen tendierte gegen null. Ganz anders war es bei ihrem Mann Jacopo. Er liebte das Kino, und so kam es nicht selten vor, dass er und ihr Vater während ihrer sonntäglichen Mittagessen ausgiebig darüber fachsimpelten. Während sich Jacopos Kenntnisstand auf den eines normalen Kinobesuchers beschränkte, hatte Piergiuseppe tatsächlich schon einmal vor der Kamera gestanden. Das war zwar an die dreißig Jahre her, aber Piergiuseppe konnte noch heute so detailgetreu und ausschweifend darüber berichten, als wäre es gestern gewesen, und dabei schien es ihn nicht zu stören, dass seine Familie ganze Passagen seiner Erzählungen auswendig konnte und je nach Anzahl vorher genossener Grappa auch jauchzend mitsprach. Giulias Vater war eigentlich einer jener Menschen, die mit wenigen Worten auskamen, aber wenn es um die Kunst der Schauspielerei ging, sprudelte es aus ihm nur so heraus. Wurden seine Schwärmereien einmal unterbrochen, etwa weil seine Frau Maria ihn anfauchte, dass er diese oder jene ihm aufgetragene Aufgabe an Hausarbeit nicht erledigt hatte, dann nahm er den Gesprächsfaden bald mühelos wieder auf, indem er Giulia nach ihrer Arbeit fragte. So kam zumindest indirekt wieder sein Thema zur Sprache: Die einzige Rolle, die Piergiuseppe jemals ergattert hatte, war nämlich die eines Hilfspolizisten in einer italienischen Krimiserie gewesen. Aus seiner Leidenschaft für die Schauspielerei hatte sich so auch eine Leidenschaft für die Polizeiarbeit ergeben. Der verkannte, über siebzigjährige Piergiuseppe Cesare träumte bis heute von seiner Entdeckung als Filmstar und gab Giulia regelmäßig gut gemeinte Ratschläge zur Kriminalitätsbekämpfung am See.
Giulia lächelte beim Gedanken an die liebenswürdigen Marotten ihres Vaters. Dann fiel ihr Blick wieder auf den Einmarsch der großen Regisseurin. Das Trio hatte kaum die letzte Stufe der Treppe erreicht, als ein junges Mädchen auf die Damiani zustürzte und ihr ein randvoll gefülltes Wasserglas reichte. Die Regisseurin schien die eilfertige Assistentin nicht einmal zu bemerken, prostete mehr sich selbst als den Umstehenden zu, trank das Glas in einem Zug leer und begab sich mit federnden Schritten zu dem kleinen Teepavillon am Rand des Seeufers, um den etliche Kameras inklusive Beleuchtung und Tontechnik aufgebaut waren. Der Pulk folgte ihr in einer erschreckenden Ergebenheit.
Giulia, die angesichts dieses befremdlichen Schauspiels neugierig geworden war, ging in Richtung des Publikums, wobei sie bei jedem Schritt, den sie auf dem Kiesweg machte, befürchtete, die Prozession (nichts anderes schien ihr das hier zu sein) zu stören. Dabei hätte man bei dieser musikalischen Begleitung, die ohne Zweifel bis Varenna hinüber schallte, nicht einmal einen Kanonenschuss hören können, geschweige denn das Auftreten der Zehentrennersandalen einer höchstens siebzig Kilo schweren Commissario.
Beim Pavillon angekommen, stoppte die Damiani vor einem weißen Regiestuhl, der auffällig aus dem schwarzen Equipment aus Kameras und Mikrofonen herausstach, wandte sich um und nickte ihrem Publikum einmal kurz zu. Neben ihr postierte sich das Pärchen. Die Musik verstummte.
»Meine Lieben«, hob die Damiani nach einem offenkundig dramaturgisch beabsichtigten Innehalten mit einer für eine Frau ungewöhnlich schnarrenden Stimme an, worauf nochmals eine bedeutungsschwangere Pause folgte. »Bellagio.« Stille. »Das zauberhafte Bellagio.«
Giulia schaute suchend über die Köpfe der Menschen hinweg. Irgendwo mussten auch Piergiuseppe und Brutus stehen.
»›Wenn Sie die Geschichte zweier glücklicher Liebenden schreiben, so wählen Sie als Schauplatz die Ufer des Comer Sees!‹« Die Damiani ließ den Satz mit einem Pathos auf ihr Publikum nieder, als ob sie das Erscheinen des Heilands verkündete. »Jeder von euch weiß, dass dies kein Geringerer als Franz Liszt gesagt hat.«
Giulia fragte sich, wie viele von den teils etwas irritiert dreinblickenden Menschen eine Ahnung hatte, was Franz Liszt so alles von sich gegeben hatte. Gut möglich, dass so mancher nicht einmal wusste, wer der Mann war. Sogar Giulia hatte einen Moment lang überlegt, klassische Musik war nun mal einfach nicht ihr Steckenpferd. Brutus und ihr Vater Piergiuseppe, die sie gerade zwischen den Massen entdeckt hatte, schienen mit den Gedanken ganz woanders. Die beiden standen da wie die Ölgötzen und starrten hingebungsvoll auf die Regisseurin. Angesichts dieser offenkundigen Begeisterung war es besser, dass Maria davon nichts mitbekam. Das argentinische Temperament von Giulias Mutter kannte kein Erbarmen, wenn ihr Mann, war er auch schon in die Jahre gekommen, eine andere Frau so unverhohlen angaffte. Selbst wenn Piergiuseppe niemals auch nur auf die Idee gekommen wäre, seine Maria zu betrügen, konnte allein schon die körperliche Nähe wie ein zu dichtes Aufrücken an der Supermarktkasse oder auch eine übertrieben freundliche Geste – die Beurteilung lag natürlich in Marias Ermessen – gegenüber einer anderen Frau seine wochenlange Verbannung aus der gemeinsamen Wohnung nach sich ziehen. Erstaunlicherweise hatte Marias Eifersucht in all den vielen Jahren, die Giulias Eltern verheiratet waren, nicht nachgelassen, obwohl der über siebzigjährige Piergiuseppe mit seinem Bruchband und den arthritischen Fingern kaum noch eine wirkliche Gefahr für die Damenwelt darstellen dürfte. Aber wie sicher konnte man sich bei einem echten italienischen Mann schon sein?
»Wir werden diese Liebenden wieder zum Leben erwecken, ihre Einzigartigkeit, ihre Brillanz, ihre Größe heraufbeschwören. Alles, was aus den fulminanten Charakteren dieser beiden Menschen erwachsen ist, bringen wir zurück auf diese Welt. Marie d’Agoult und Franz Liszt …«
Die Damiani hatte den Namen des Komponisten kaum ausgesprochen, da trat der neben ihr stehende junge Mann vor, verneigte sich mit großer Geste und schickte sich an, ein paar Worte zu sagen. Dieses offenkundig nicht abgesprochene Manöver ließ die Gesichtszüge der Regisseurin auf der Stelle einfrieren, woraufhin ein leises Raunen durch das Publikum ging. Giulia schloss daraus, dass einige Leute genau wussten, wen sie hier vor sich hatten, und dass mit ihr nicht zu spaßen war. Dieser Eindruck bestätigte sich umgehend, denn der Mann, der offenbar Franz Liszt mimen sollte, bekam den Ellenbogen der Regisseurin mit einer so unglaublichen Schnelligkeit in die Seite gerammt, dass Giulia es gar nicht mitbekommen hätte, wenn der arme Kerl nicht ins Straucheln geraten wäre. Er versuchte mit einem Ausfallschritt, die Balance zu halten. Es misslang, und er landete mit seinem rechten Knie in gut einem halben Dutzend grellrosa blühenden Eisbegonien in den angrenzenden Rabatten. Auf die Blumen achtete jedoch niemand. Viel interessanter war der seltsam schief im Beet kauernde Liszt, der zugegeben nun eine eher peinliche Figur machte und deswegen auffallend darum bemüht war, sich schnell wieder aufzurichten. Allerdings hatte nun die Permanentbewässerung der Beete einen unschönen Fleck an seinem Hosenbein hinterlassen. Auch an seinen Händen, mit denen er den Sturz abgemildert hatte, klebte nasse Erde. Dass der Rempler die schulterlangen, bis dahin akkurat gelegten dunklen Haare des Mannes ebenfalls aus der Form gebracht hatte, war angesichts dieses Anblickes noch das kleinste Übel. Alles in allem wirkte der vorher auffallend blasierte Liszt nun etwas derangiert und bloßgestellt. Das ließ eine Gruppe Fotografen hervortreten, die Giulia bisher nicht bemerkt hatte und die nun ein geballtes Blitzlichtgewitter auf die Regisseurin und ihre beiden Hauptdarsteller herniedergehen ließ.
»Maske!«, ertönte der markdurchdringende Schrei der Damiani, wobei sie mit ausgestreckter Hand und angewiderter Miene den Paparazzi deutlich zu verstehen gab, dass sie deren Vorgehen zutiefst missbilligte.
Wie aus dem Nichts kam ein Mann mit einem Klemmbrett unter dem Arm und einer Trillerpfeife um den Hals herbeigeeilt, der sich, obwohl er gerade einmal die Figur eines Schulanfängers hatte, vor die Fotoapparate warf, als könnte er sie so alle auf einmal erledigen. Ein kurzes Wortgefecht beendete die Situation, während Franz Liszt sich säuberte und die Stylistin ihm wieder zu einer fest sitzenden Föhnwelle verhalf. Überdies versorgte sie mit einem Abdeckstift die kleine blutende Bisswunde auf seiner Lippe, die er sich vor lauter Schreck selbst zugefügt haben musste. Erst als die Assistentin mit dunkelroten Flecken im Gesicht das Glas der Damiani erneut gefüllt hatte, nahmen alle wieder ihre Position ein, und die Show ging weiter.
»Meine lieben Kinder«, die Damiani sprach, als wäre nie etwas geschehen, »wir gemeinsam werden das Kino neu definieren. Dieser Film …« Sie seufzte. »Ihr alle werdet Teil von etwas ganz Großem. Verschmelzt mit diesem Ort, verschmelzt mit einer der bedeutendsten Liebesgeschichten aller Zeiten, verschmelzt mit dieser Musik … Musik …« Der Verantwortliche hatte seinen Einsatz verpasst. Die Damiani setzte das Glas an. Giulia bezweifelte mittlerweile, dass dieses nur Wasser enthielt. Schließlich schmetterten die Blechblasinstrumente über den See, worauf die Damiani sich auf ihrem Stuhl wie auf einem Thron niederließ und alle anderen lautlos ihre Positionen einnahmen. Nur ein paar Statisten, zu denen auch Brutus und Piergiuseppe gehörten, blieben etwas unschlüssig an ihren Plätzen stehen, was den Mann mit dem Klemmbrett erneut auf den Plan rief. Kurz darauf standen alle Unwichtigen in einer langen Reihe nebeneinander und wagten es nicht einmal, einander anzusehen, geschweige denn miteinander zu plaudern.
Giulia, die Brutus und ihren Vater eigentlich schon vor einer guten Stunde hatte abholen sollen, um mit ihnen auf ihren ersten Drehtag anzustoßen, setzte sich auf den Rasen und wartete. Was sie da gerade erlebt hatte, war ganz augenscheinlich der Beginn der Dreharbeiten gewesen. Warum Brutus und Piergiuseppe aber seit heute Vormittag elf Uhr in voller Kostümierung auf dem Set unterwegs waren, erschloss sich ihr nicht. Noch nicht.
***
Die Schauspielerin, die Marie d’Agoult darstellte, war eine ausnehmend zarte, attraktive Frau von höchstens fünfundzwanzig Jahren, deren sanfte Gesichtszüge zwar etwas Kindliches, aber zugleich auch auffallend Attraktives hatten. Ihre schwarzen Haare waren zu einer für das 19.Jahrhundert typischen Hochsteckfrisur aus kunstvoll drapierten Flechtzöpfen gelegt, und sie trug ein edles, aufwendig verziertes Kleid. Allerdings bestand ihre Rolle seit geschlagenen zehn Minuten einzig darin, auf einer Bank zu sitzen und dem jungen Liszt andächtig zuzuhören, während er mit erhabener Geste vor ihr auf und ab lief und von seiner Arbeit erzählte. Da die Dialoge gähnend langweilig waren, konzentrierte Giulia sich lieber auf die Menschen, die sich vor der Kamera bewegten. Der Liszt-Darsteller, der mittlerweile einen anderen Anzug trug, sah für ihre Begriffe nicht übel aus. Er war hochgewachsen, fast schon etwas zu schlank, aber das war Geschmacksache, und sein Teint war strahlend weiß. Zwei große grüne Augen stachen daraus hervor, in die man – unwillkürlich angezogen und zugleich von ihrer unnatürlichen Farbintensität abgestoßen – immer wieder blicken musste. Seine Mimik wirkte im einen Moment, als würde er das Leid der Welt in sich vereinen, um kurz darauf in fast schon Ehrfurcht gebietende Kälte umzuschlagen, undurchschaubar, geheimnisvoll und auf eine seltsame Weise manieriert. Marie schien ihn zugleich zu begeistern und ihm zuwider zu sein. Giulia hatte keine Ahnung von diesem angeblich so berühmten Paar, aber gegen das Spiel dieses Mannes wirkte die junge Frau blass. Je länger sie zuschaute, umso faszinierter war sie von der Gabe des Schauspielers. Auch wenn das Thema sie nicht interessierte, konnte sie sich vorstellen, nur seinetwegen den Film anzusehen. Und natürlich Brutus und Piergiuseppe zuliebe. Nichtsdestotrotz fragte sie sich, was die beiden diesem Zirkus eigentlich abgewinnen konnten. Sie standen noch immer unbeweglich und ehrfürchtig da, was Giulia für zwei erwachsene Männer als in höchstem Maße albern empfand. Abgesehen davon knurrte ihr Magen ständig. Bis auf das Frühstück und ein paar Biscotti, die bei ihrer Assistentin Elena immer in der Schreibtischschublade lagen, hatte sie heute noch nichts gegessen, und so langsam wurde es Zeit für ein anständiges Abendessen. Jacopo wollte kochen. Das tat er eigentlich immer, denn Giulia hatte nur wenig Sinn für häusliche Arbeiten, aber heute hatte er etwas ganz Besonderes angekündigt, ohne ihr Genaueres zu verraten. Überhaupt hatte er schon das gesamte Wochenende so geheimnisvoll getan. Giulia hoffte nur, dass Jacopo nicht einen seiner legendären Grillabende angesetzt hatte. Dann gab es zwar leckere Rippchen und seine selbst gemachten Dips, allein die Avocado-Creme war göttlich, aber auch jede Menge angetrunkene Kollegen von seiner aktuellen Baustelle, die meistens keine Lust verspürten, irgendwann wieder nach Hause zu gehen. So geschafft wie Giulia heute jedoch war, konnte sie das an ihrem Feierabend nicht gebrauchen. Die Zorzi, Giulias anstrengende Vorgesetzte, hatte – wie immer an einem Montag – ihre gefürchteten Dienstberatungen abgehalten. Wenn diese wie normale Gespräche zwischen Kollegen ablaufen würden, wären sie nicht weiter erwähnenswert, aber bei der Zorzi konnten sie schon mal drei bis vier Stunden andauern. Diese Zeit nutzte sie, um jede noch so unwichtige Kleinigkeit zu erfahren, auszudiskutieren und von ihrem Assistenten, Signore Mancini, protokollieren zu lassen. Nicht nur, dass Giulia alles, was mit Stillsitzen und geschlossenen Räumen zu tun hatte, hasste, sie war natürlich auch mal wieder zu spät gekommen. Die Zorzi hatte ihr die Autopanne selbstverständlich nicht abgenommen, sondern auf ein krankes Schaf, eine verstopfte Wasserleitung oder ein zerbrochenes Kirchenfenster in Giulias Dorf getippt. Die Vorwürfe hatten Giulia noch einmal Zeit gekostet, sodass sie mit der Bearbeitung ihrer Akten, was sie noch mehr verabscheute als die Eskapaden der Zorzi, nicht vorangekommen war.
Der gellende Pfiff einer Trillerpfeife unterbrach die Aufnahmen. Giulia sah, wie ihr Freund Brutus und ein paar andere Statisten zusammenzuckten, während der angestammte Teil des Teams keinerlei Reaktionen zeigte.
Die Damiani hatte sich angeekelt von ihren beiden Hauptdarstellern abgewandt. Einige Momente verstrichen in angespannter Stille, bis ein Ruck durch ihren Körper ging. Sie sprang auf, stand in einem Satz vor Marie, beugte sich zu ihr hinunter, sodass sich ihre Nasenspitzen berührten, und brüllte: »Sie sind eine Frau aus den höchsten aristokratischen Kreisen, schön, reich und gebildet. Sie sind Mutter zweier Kinder und hatten den Schneid, ihren Mann zu verlassen, was Sie zu einer gesellschaftlich Geächteten gemacht hat. Sie haben Ihr gesamtes Leben über den Haufen geworfen, um mit einem selbstverliebten Musiker durch Europa zu ziehen.« Sie hielt mit erhobenem Zeigefinger inne und schloss die Augen. »Wieso um alles in der Welt schmachten Sie ihn also einfach nur an wie eine läufige Hündin? Sie wollen seine Muse sein, aber er empfindet das ganz und gar nicht so. Sie wollen ihn besitzen, ein zurückgezogenes Leben mit ihm führen, aber er …« Sie wedelte mit wachsweicher Hand. Nichts passierte. Die Damiani richtete sich langsam wieder auf und bedachte Marie mit einem Blick, aus dem tiefste Verachtung sprach. »Die Kunst der Schauspielerei ist es, nicht zu schauspielern. Sie, meine Liebe, sollten lieber den Bauarbeitern in irgendeiner heruntergekommenen Pizzeria ihre Bruschetta bringen und sich dabei den Hintern tätscheln lassen, als hier weiter meine Zeit zu verschwenden.«
Marie kämpfte sichtlich um ihre Fassung.
Die Damiani wandte sich mit der nächsten Bewegung dem Liszt-Mimen zu und presste hervor: »Sollten Sie lesen können, dann versuchen Sie es einmal mit der Biografie des großen Mannes, den sie versuchen zu verkörpern. Sie haben eine Nacht Zeit. Wenn Sie mir morgen nicht alles aus dem Leben von Franz Liszt erzählen können, will ich Sie hier nicht mehr sehen.«
Sie machte eine zackige Kehrtwendung und schritt zurück auf ihren Platz. Dort stand bereits die Assistentin und füllte ihr Glas. Sie trank, setzte sich und sagte in normalem Ton: »Wiederholung, ab Kuss.«
Zwei Stylisten stürzten herbei, um sich mit ihren Puderquasten an den beiden Hauptdarstellern abzuarbeiten. Nachdem sie ihr Werk vollendet hatten, verschwanden sie so schnell, wie sie gekommen waren. Marie und Liszt positionierten sich nun am Eingang zum Pavillon. Er nahm ihre Hände und schaute sie voller Liebe an.
Giulia seufzte unwillkürlich.
»Meine geliebte Marie«, hauchte er, umfasste ihr Gesicht und küsste sie zärtlich. Doch dieser Moment innigster Liebe währte nicht lange. Einer der Statisten hatte sich von irgendwoher einen Apfel besorgt, in den er nun mit lautem Knacken hineinbiss.
Wieder kreischte die Trillerpfeife. Ihr Träger gestikulierte wild, worauf zwei Männer von der Crew heraneilten und den vollkommen überraschten Komparsen abführten, als hätte er ein Verbrechen begangen.
Die Damiani war schlagartig bleich geworden. Ihre Hände klammerten sich so sehr um die Armlehnen des Stuhles, dass auch aus den Fingerknöcheln die Farbe gewichen war. Sie wirkte apathisch, und doch konnte Giulia sehen, wie sie am gesamten Leib zitterte. Schweißperlen traten auf ihre Stirn, und sie schien Mühe zu haben, Luft zu bekommen. Offenkundig ging es ihr nicht gut, aber zu Giulias Erstaunen kam ihr niemand der Umstehenden zu Hilfe, sondern alle gafften sie nur mit augenscheinlicher Sensationsgier an. Die Szenerie hatte etwas Bedrückendes. Kaum dass die Störenfriede weggebracht waren, eilte der Mann mit der Trillerpfeife zur Regisseurin, wobei man ihm – im Gegensatz zu den anderen – eine große Besorgnis ansehen konnte. Er beugte sich zur Damiani hinunter, strich ihr zärtlich über die Wange und überprüfte den Puls an ihrem Handgelenk. Währenddessen sprach er liebevoll auf sie ein, was Giulia nicht hören, aber an seiner Gestik ausmachen konnte. Sie nickte leicht, worauf der Mann ihrer Assistentin mit der Hand deutete, dass sie gebraucht würde. Die junge Frau, die offenkundig wusste, was man von ihr wollte, rannte in großen Schritten herbei, füllte das Glas der Regisseurin erneut auf und reichte es dem Mann. Er führte es langsam zum Mund der Damiani und ließ sie behutsam trinken. Mit jedem Schluck schien das Leben wieder Besitz von ihrem Körper zu ergreifen. Sie legte den Kopf nach hinten, atmete tief durch und nestelte an ihrer Kleidung. Dem Mann war die Erleichterung anzusehen. Er hatte sich kaum entfernt, da kniff sie ihre Augen zusammen und musterte die beiden Hauptdarsteller abfällig. Ohne Vorankündigung sprang sie auf und stürzte sich im nächsten Moment wie eine ausgehungerte Hyäne auf ihre Beute. »Was soll das gewesen sein? Nun? Was soll das gewesen sein?«, kreischte sie hysterisch.
Liszt sagte nichts und schaute sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Abscheu an.
»Der Kuss«, flüsterte Marie unsicher und mit knallroten Wangen. Ihre Hände zitterten.
Die Damiani legte den Kopf in den Nacken und streckte die Arme in Richtung Himmel. »Lieber Gott, das nennen diese Stümper einen Kuss, einen Kuss! Reiß die Erde auf und versenke mich darin, wenn das ein Kuss war.« In einer schnellen Bewegung umfasste sie Liszts Oberarme, grub beide Hände in sein Fleisch und keifte: »Hast du schon mal eine Frau gevögelt? Nicht so ein dusseliges Ding da«, sie deutete mit dem Kopf auf Marie, »eine richtige Frau. Sicher nicht, denn keine Frau«, nun betonte sie das Wort wie eine Offenbarung, »gibt sich einem Mann hin, der sie wie ein Labrador ableckt.« Ein erneuter Schrei. »Wie soll ich den Film des Jahrhunderts machen, wenn man mir dazu nur eine kleine billige Hure und einen selbstverliebten minderbemittelten Gockel zur Verfügung stellt?«
Marie fing leise an zu weinen. »Ich brauche einfach noch etwas Zeit, um mich in die Geschichte hineinzufinden. Es ist unser erster Drehtag. Wir können die Szene doch noch mal wiederholen.« Sie warf ihrem Filmpartner einen verzweifelten Blick zu, aber der wandte sich ab. »Und es ist gar nicht so leicht, gut zu spielen, wenn man vorher acht Stunden, ohne etwas zu tun, herumsitzt.« Beim letzten Satz schaute sie verstohlen zur Damiani hinauf, und man konnte ihr ansehen, dass ihr die Kritik an der großen Meisterin nur aus Versehen herausgerutscht war.
Liszt drehte der Crew den Rücken zu und sah auf den See, als ginge ihn das alles nichts an.
Für eine Weile schien es, als ob das gesamte Team die Luft anhielt.
»Was für ein wundervoller Abend das doch heute ist.« Die Damiani hatte den Tonfall abrupt gewechselt und klatschte fröhlich lachend in die Hände. »Auf, auf, Kinder, wir haben noch eine kleine Szene vor uns.« Sie legte die Hand vor die Stirn. »Marie und Liszt mussten aus Paris fliehen. Das Gerede um ihre Liebe ist zu groß geworden. Eine verheiratete Frau und der herzensbrechende Klaviervirtuose, ein absolutes Skandalpaar seiner Zeit. Sie gehen zunächst nach Mailand, aber das ist ihnen zu voll und zu heiß.« Sie seufzte mit übertriebener Theatralik. »Wieso sollte es im Jahr 1837 anders sein als heute?« Ihr Blick fiel auf den Mann mit dem Klemmbrett. »Alfonso, meinen Schal, bitte.«
Alfonso ging zu einem etwas abseitsstehenden Koffer und hantierte darin herum. Kurz darauf kam er mit etwas Weißem in der Größe eines Bettlakens zurück und legte ihr die Stoffbahnen fast schon zärtlich über die Schultern. Sie bedachte ihn nicht einmal mit einem kurzen Blick.
»Schließlich kommen sie nach Bellagio, den Ort seiner Inspirationen und ihres Glückes.« Sie breitete ihre Arme aus und begann, sie wie Flügel zu schwingen. »Hier sind sie sich so nah wie nie. Die Magie des Sees ergreift sie. Das will ich spüren. Die Magie.« Sie senkte die Arme, schloss die Augen und blieb still stehen.
Schließlich trat Alfonso zu ihr, flüsterte ihr etwas zu, hakte sie unter und führte sie ins Haus. Sie ließ es geschehen. Kaum dass die beiden über die breite Freitreppe der Villa verschwunden waren, begann die Crew damit, die Ausstattung zusammenzupacken. »Für heute ist Feierabend«, rief ein Mann in die Menge. Daraufhin hasteten die Statisten zum Gartenhaus, wobei sie schon auf halbem Weg damit begannen, sich die Jacken und Westen auszuziehen. Die Erleichterung darüber, dass dieses Spektakel für heute ein Ende hatte, war ihnen anzusehen. Giulia lief hinüber zu Brutus und Piergiuseppe, die mit einem Mann vom Team sprachen. Gerade als sie bei den beiden ankam, verabschiedete dieser sich höflich und verschwand.
»Seid ihr für die Exekution eures Kollegen, der sich des Apfelessens schuldig gemacht hat, abgestellt?«, witzelte Giulia und küsste erst ihren Vater und dann Brutus zur Begrüßung liebevoll auf die Wange.
Brutus wippte aufgeregt hin und her. »Giulia, das glaubst du nicht, Giulia.«
Piergiuseppe plusterte sich auf und lächelte seine Tochter glückselig an. »Ab morgen spiele ich den Hotelchef des Albergo Genazzini«, sagte er voller Stolz, um, als Giulia nicht reagierte, anzufügen: »Dort wohnen Marie und Franz. Das ist das heutige Hotel Metropole, weißt du?«
»Aha«, entgegnete Giulia, der nichts Besseres einfiel. Da das Kostüm ihres Vaters gerade aus der armseligen Kleidung eines Seefischers bestand, schien er soeben tatsächlich aufgestiegen zu sein. »Glückwunsch. Das nenne ich mal eine Blitzkarriere.«
Piergiuseppes Augen strahlten. »Ein richtiger Hotelchef.«
Brutus kämpfte fast mit den Tränen. »Ich bin so stolz auf dich.« Er umarmte Piergiuseppe fest.
»Da musst du aber bestimmt ziemlich viel Text lernen«, sagte Giulia und schickte sich an zu gehen.
»Ach«, Piergiuseppe winkte ab. »Das bisschen ›Guten Morgen, die Herrschaften‹ habe ich schnell drauf. Nur an der Betonung muss ich noch etwas arbeiten.«
Giulia schaute Brutus ungläubig an. Der nickte eifrig. »Und ich bringe das Soda. Aber ich soll dabei nicht reden.« Er lächelte fröhlich.
Giulia hatte sich das aufgrund der Kellneruniform ihres Freundes bereits gedacht, aber dass er nichts sagen durfte, fand sie schade. Brutus sprach den breiten Dialekt hier vom See, mehr Authentizität hätte sich die Regisseurin nicht wünschen können. Noch dazu hätte sie gedacht, dass jemand, der nur einen stummen Kellner spielen durfte, ein wenig beleidigt sein könnte. Aber das Gegenteil war der Fall. Der gutmütige Brutus schien sehr zufrieden zu sein und schon jetzt in seiner Rolle förmlich aufzugehen. Und dass, obwohl er anfänglich gar nicht bei diesem Abenteuer hatte dabei sein wollen. Nur auf das unerbittliche Drängen von Piergiuseppe hin hatte er sich als Statist gemeldet. Giulias Vater wollte seine Chancen im Filmgeschäft noch einmal ausloten, noch dazu, wo sich diese quasi vor der eigenen Haustür ergeben könnten. Er hatte Brutus Gott weiß was versprochen, wenn er ihn begleitete. Piergiuseppe konnte mitunter durchaus erfinderisch sein, vor allem dann, wenn er, der keinen Führerschein besaß, jemanden brauchte, der ihn während der Dreharbeiten von Abbadia Lariana zum Filmset nach Bellagio fuhr. Dafür eignete Brutus sich nun mal hervorragend. Ein anderer hätte sich sicherlich nicht für diesen Blödsinn breitschlagen lassen. Maria, Giulias Mutter, die Piergiuseppe ihr halbes Leben umherkutschierte, hatte das jedenfalls abgelehnt, obwohl sie die Karriere ihres Mannes bislang nach Kräften unterstützt hatte. Insgeheim glaubte selbst sie wohl nicht mehr so ganz an den Durchbruch ihres Gatten. Allerdings war sie klug genug, dies dem zartbesaiteten Piergiuseppe nicht auf die Nase zu binden, sondern hatte ihm von vornherein die Dienste von Brutus anempfohlen. Und Brutus, der vom ersten Tag seines Berufslebens an für die Posteitaliane arbeitete und kaum Urlaub nahm, schien sich über diese Abwechslung durchaus zu freuen. Dass Maria und Piergiuseppe noch etwas anderes im Sinn hatten, ahnte er jedoch nicht. Insgeheim hofften die beiden, dass Brutus, wenn er Abbadia Lariana schon einmal verließ, endlich eine Frau kennenlernen würde. Nur eine Angehörige des Filmteams sollte es, wenn es nach Maria ging, nicht unbedingt sein. Ob die Chancen für Brutus, der sich zumeist am Filmset bewegte, so gut standen, war allerdings dahingestellt.
»Was habt ihr eigentlich den ganzen Tag hier gemacht? Wenn ich das richtig mitbekommen habe, ging es doch vorhin mit diesem inszenierten Einmarsch der Damiani erst los, oder?« Giulia erfasste bei dem Gedanken an diese seltsame Frau ein leichtes Schaudern. Was sie ihren Leuten da zugemutet hatte, war ziemlich harter Tobak gewesen.
»Gewartet«, antwortete Brutus, ohne irgendeine Verwunderung oder Verärgerung darüber erkennen zu lassen. »Und den Profis zugeguckt. Das war toll!«
»Sieben Stunden lang?« Giulia konnte es nicht glauben.
»Weißt du, Giulia, bei den Künstlern ist das alles etwas anders als bei euch im öffentlichen Dienst. Wir Kreative müssen auf den richtigen Moment warten, die perfekte Aura«, sagte Piergiuseppe belehrend. »Man kann nicht immer und überall einfach so loslegen.«
»Genau, die perfekte Aura«, pflichtete Brutus ihm bei.
Giulia war sich sicher, dass keiner der beiden jemals vorher diesen Begriff in den Mund genommen hatte. Sie hakte sich rechterhand bei ihrem Vater und linkerhand bei Brutus unter und schlenderte zwischen den beiden zum Ausgang des Parks.
»Die Signora war etwas unpässlich und brauchte ein wenig Ruhe«, ergänzte Piergiuseppe. »Und wir hatten eine ausgezeichnete Verpflegung, fast so gut wie bei deiner Mutter.« Piergiuseppe lief langsam, blieb aber hin und wieder stehen und atmete tief durch. Das hatte, und da war Giulia sich sicher, nichts mit dem Anblick der zauberhaften Gärten zu tun. Piergiuseppe hatte heute einen kleinen Durchbruch erlangt – immerhin war er zum Hotelchef befördert worden – und war von einer so tiefen Glückseligkeit ergriffen, dass er es selbst noch nicht fassen konnte.
»Na ja, der Panettone war eigentlich sogar besser als der von Maria«, bemerkte Brutus. »Gar nicht trocken. Aber sag ihr das bitte nicht, du weißt ja, wie sie ist.«
»Die haben euch die Reste vom Weihnachtskuchen serviert?«, erwiderte Giulia. »Na, das nenne ich ja mal ein tolles Catering.«
»Marias Kuchen ist trocken?« Piergiuseppe schaute Brutus böse an. »Es setzt gleich was. Auf keinen Fall war der Kuchen besser als der von meiner Maria.« Piergiuseppe fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Brutus herum. »Sei vorsichtig, Junge.« Der sanftmütige, fast schon liebevolle Klang seiner Stimme passte überhaupt nicht zu seinen Worten. Aber so war Piergiuseppe nun einmal. Er konnte keine Kante zeigen, auch wenn er sich hin und wieder ernsthaft darum bemühte.
Seine Ansage verfehlte ihre Wirkung bei Brutus, der zu ihm wie zu einem Vater aufschaute, dennoch nicht. Er senkte den Kopf. »Ich meine ja nur. Aber frisch war er trotzdem. Nicht von Weihnachten.«
»Es ist der Lieblingskuchen von Signora Aurora«, sagte Piergiuseppe andächtig. »Und man hört ihn nicht.«
Giulia schaute ihren Vater verwundert an. »Wie bitte?«
»Giuli, man kann ihn nicht hören«, erklärte Brutus, als wäre es das Normalste der Welt.
»Also, sag bloß, das hast du nicht mitbekommen«, ergänzte Piergiuseppe vorwurfsvoll. »Die begnadete Signora Aurora Damiani leidet unter Misofonie, das weiß doch jeder in Italien.«
Giulia, die bis vor ein paar Wochen nicht einmal eine Ahnung hatte, dass die Signora existierte, hatte keinen Schimmer, was Misofonie sein könnte.
»Das ist, wenn man es nicht erträgt, bestimmte Geräusche zu hören. Bei Signora Aurora ist es besonders schlimm. Sie bekommt Panikattacken, wenn sie Menschen essen hört, also kauen, schlucken, schmatzen, schlürfen …« Brutus machte ein betroffenes Gesicht.
»Das ist ja schrecklich. Die arme Frau.« Giulia schlug sich die flache Hand vor den Mund. »Wird sie daran sterben?«
Brutus und Piergiuseppe, denen aufging, dass sie sie gerade auf den Arm nahm, schauten Giulia nur vorwurfsvoll an.
»Damit macht man keine Scherze. Das ist eine richtige Krankheit«, maßregelte Brutus sie.
»Gut.« Giulia bemühte sich darum, ernst zu bleiben. »Dann habt ihr also den ganzen Tag nur weichen Rührkuchen und Polenta bekommen? Suppe fällt ja schon mal aus, so, wie du, mein lieber Brutus, schlürfst.«
Brutus zog einen Flunsch.
»Sie isst zwar nicht direkt mit uns, aber ihr Assistent meint, wir sollen kein unnötiges Risiko eingehen«, sagte Piergiuseppe. »Große Künstler sind nun mal speziell.« Er schmatzte laut. »Und ich hatte ganz ausgezeichnete Pizzoccheri, bei denen der Koch an Bitto-Käse nicht gespart hat. Die Buchweizennudeln waren auf den Punkt, obwohl das ja bei einem Eintopf eine Herausforderung ist.«
»Verstehe«, antwortete Giulia und fragte sich, warum das Team derart auf die Macken der Regisseurin Rücksicht nehmen musste. Die beiden Männer auf dieses überzogene Verhalten aufmerksam zu machen, hätte allerdings keinen Sinn gehabt. Die beiden ergaben sich ihrer Ikonenverehrung, und Giulia wollte sie ihnen auch gern lassen. Offenkundig bereiteten ihnen die Dreharbeiten Vergnügen, und das freute sie. »Aber das mit der Geräuschempfindlichkeit«, hob sie an und bemühte sich um mehr Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme.
»Es ist nicht nur einfach eine Empfindlichkeit«, verbesserte Brutus. »Tu das bitte nicht so ab und danke Gott, dass keiner von uns daran leidet.«
»Du hast mal wieder keine Ahnung«, sagte Piergiuseppe mit vorwurfsvollem Unterton. »Die Crew bekommt natürlich eine ausführliche Unterweisung.«
»Da haben die gesagt, was wir alles nicht dürfen«, ergänzte Brutus. »Also laut essen, die Kostüme mit nach Hause nehmen, unpünktlich sein, die Regisseurin ansprechen, Alkohol trinken …« Er nickte dazu bedeutungsschwer. »Und dass es natürlich für den Erfolg wichtig ist, dass wir geistig-emotional richtig schwingen.«
Jetzt konnte Giulia nicht mehr an sich halten. »Wir reden über einen Spielfilm, der von den zahlreichen Affären eines längst toten Musikers erzählt. Wie wichtig kann so etwas schon sein?«
»Meine liebe Giulia, wie ich sehe, haben deine Mutter und ich nicht genügend Zeit in deine kulturelle Bildung investiert«, bemerkte Piergiuseppe. »Franz Liszt ist auch heute noch ein ganz Großer seines Faches. Und Marie d’Agoult …« Piergiuseppe kam ins Stocken.
Bevor er als Hotelchef emotional in alle Richtungen ordentlich schwingt, muss er noch mal sein Wissen auffrischen, dachte Giulia amüsiert.
»Nimm das ernst«, forderte Brutus. »Dein Vater und ich verbringen die nächsten zwei Wochen beim Dreh, wenn es sein muss, Tag und Nacht.«
»Für wie viele Minuten, die ihr dann in dem Streifen zu sehen sein werdet?«, wollte Giulia wissen. »Und eine Gage zahlen die euch doch bestimmt auch nicht.«
Brutus blieb mit dem Ausdruck grenzenloser Entrüstung stehen. »Darum geht es doch gar nicht. Das ist die Geschichte des imposantesten Liebespaares des 19.Jahrhunderts. Dafür muss man alles zu geben bereit sein.«
Giulia war hundertprozentig sicher, dass diese Worte nicht auf dem Mist von Brutus gewachsen waren. Und so langsam beschlich sie das Gefühl, dass Aurora Damiani nicht nur einen riesigen Vogel hatte, sondern Qualitäten einer Sektenführerin an den Tag legte. Giulia würde auf Brutus und Piergiuseppe ein Auge haben müssen, so viel war sicher.
2 »Es ist mir unbegreiflich, wie er so geschmacklose weite Boxershorts tragen kann und dann auch noch in diesem nichtssagenden Farbton«, murmelte Gerichtsmediziner Professore Andrea Fontana ungläubig, während er zwischen den beiden weit geöffneten Flügelfenstern der Balkontür stand und auf den See hinausblickte. »Es ist alles eine Frage des Stiles, egal ob man tot oder lebendig ist. Aber so etwas in diesem Hause, das ist unwürdig. Wir sind schließlich in einer Senior Suite des Grandhotels Villa Serbelloni. Abgesehen davon, dass der Hügel, auf dem dieses herrliche Anwesen erbaut wurde, mehr als geschichtsträchtig ist. Ich meine, Plinius der Jüngere, das ist ja nicht einfach irgendwer. Also, selbst wenn seine Villa Tragedia angeblich nicht genau hier gestanden hat, was noch zu beweisen wäre, ist dieser Ort quasi heilig.« Seine Stimme war mit jedem Wort lauter geworden. Fontana drehte sich zu einem der Fensterflügel und strich sich durch sein grau meliertes dunkles Haar, das immer akkurat frisiert war. Dabei begutachtete er sich im Spiegelbild der Fensterscheiben, richtete schließlich den leicht aufgestellten Kragen seines weißen Oberhemdes und drehte sich langsam zu Giulia herum. Ein laues Lüftchen kam vom See herein und wehte eine fette Wolke von Fontanas Aftershave zu Giulia herüber.
Giulia schaute an sich herunter. Sandalen, Jeans und T-Shirt, alles wie immer und garantiert diesem Ort nicht angemessen. Aber so etwas hatte sie noch nie interessiert.
Fontana bemerkte ihren Blick, und seine Mundwinkel zuckten leicht. »Wenn du dich wie eine Dame kleiden würdest, wäre ich erschrocken«, sagte er mit einem Augenzwinkern. »Möglicherweise würde ich dich auf der Straße dann nicht mal mehr erkennen.«
Giulia stieg auf die Frotzelei des Professore ein. »Sie kommt also noch«, konterte sie schnell mit einem breiten Schmunzeln im Gesicht. Sie kannte den Professore, der in Mailand ein rechtsmedizinisches Institut leitete, lange genug, um zu wissen, warum er heute so gut gelaunt, ja geradezu gelöst war. Fontana war in Italien einer der angesehensten Fachleute auf seinem Gebiet und hatte Giulia bei ihrer Arbeit schon so manches Mal den ausschlaggebenden Hinweis gegeben, aber man musste mit ihm umzugehen wissen. Und über seine Schwäche für einen gewissen Frauentyp hinwegsehen: Der war in der Regel jung, um nicht zu sagen blutjung, und mit einem IQ ausgestattet, der im Vergleich zu den fraulichen Rundungen bemerkenswert wenig ausgeprägt war. Was der ausgesprochen kluge und elegante Fontana an dieser Art Frauen fand, hatte Giulia noch nie begriffen, aber sie nahm diese Marotte hin, nicht zuletzt, weil sie wusste, dass Fontanas Spürnase in der Aussicht auf ein Schäferstündchen zu wahren Höchstleistungen auflief, was ihr im Gegensatz zu den anderen Commissarios der Questura nichts ausmachte. Wenn sie den Professore also brauchte, beorderte sie ihn an den See. Und Fontana kam immer wieder gern. In Begleitung. Giulia profitierte von den unkontrollierbaren Leidenschaften des Professore, denn nicht zuletzt aufgrund der attraktiven Lage ihres Ermittlungsgebietes wurde sie schneller und zuvorkommender als die Kollegen bedient, die ihrer Arbeit in der Stadt oder in den fernab gelegenen Bergdörfern nachgehen mussten. Sie hatte quasi die Leichen in Premiumkulisse, und eine davon hing gerade direkt vor ihr und trug nichts weiter als schwarze Boxershorts. Die wiederum passten jedoch hervorragend zu der gleichfarbigen Seidenkrawatte, mit der sich der Bedauernswerte an der Kleiderstange des Schrankes erhängt hatte.
»Ich muss ihn nicht mal untersuchen, um zu wissen, dass dies kein Freitod war«, sagte Fontana und ignorierte dabei ihre Neckerei geflissentlich. Die beiden kabbelten sich zwar gern, waren aber auf ihre eigene Art herzlich miteinander, wobei Giulia, bis auf die Frauengeschichten, kaum etwas Privates über den Professore wusste. Nonchalant tänzelte er zu der Leiche herüber, begutachtete mit selbstsicherer Kennermiene den antiken Schrank, in dem der Tote hing, und kam zu dem Schluss, dass man sich in so edlem Holz nicht selbst richtete. »Für die Suite legt man gut und gern tausend Euro pro Nacht hin.«
Giulia schaute erst auf Fontana, dann auf den toten Mann und zog schließlich skeptisch die rechte Augenbraue nach oben. »Was willst du mir sagen? Spuck es aus, aber halt mir keinen Vortrag über Antiquitäten und Hotelzimmerpreise, zumal das mehr als dünne Argumente sind.« Fontanas Überheblichkeit empfand sie so zeitig am frühen Morgen als anstrengend. Die Kollegen hatten sie nach einer kurzen Nacht aus dem Bett geklingelt, und sie hatte kaum genügend Zeit für einen schnellen Espresso gehabt. »Das Zimmer ist ordentlich, also keine Hinweise auf einen Kampf oder so, seine Sachen hängen akkurat über dem Kleiderständer, Handy, Sonnenbrille, Geldbörse, Schlüssel, alles nebeneinander auf dem Sideboard da drüben abgelegt. Also für mich sieht das verdammt nach Suizid aus. Und wenn man es sich leisten kann …«
Fontana trat dicht an den Schrank heran und weitete seine Nasenflügel. »Ich rieche den Mord«, sagte er.
Giulia wunderte sich schon lange nicht mehr über die ungewöhnlichen Untersuchungsmethoden des Professore. Sie war nur froh, dass er den Verblichenen nicht anleckte oder zu ihm in den Schrank kroch, um seine Perspektive zu überprüfen. Fontana war ein Profi, aber wenn es Menschen gab, die es beim reinen Gedanken an Leichen und rechtsmedizinische Untersuchungen schauderte, dann wollte sie nicht wissen, was diese Leute denken würden, wenn sie den Professore beobachteten. Er übertrieb es mitunter bei seiner Suche nach der Wahrheit und scheute dabei vor nichts zurück. Einmal war sie Zeugin gewesen, wie er die Konsistenz eines Mozzarella in dem unverdauten Mageninhalt eines Ermordeten untersucht hatte, und bis heute konnte sie nicht hundertprozentig sagen, ob er den Käse dazu nicht sogar probiert hatte, zuzutrauen war es ihm jedenfalls. Denn Fontana musste immer gewinnen. In diesem Fall gegen einen verschlagenen Pizzabäcker aus Limonta, auf der Westseite des Sees, bei dem sie sich alle absolut sicher waren, dass nur er der Mörder seines schärfsten Konkurrenten gewesen sein konnte. Doch leider hatten die Beweise gefehlt. Bis der Professore auf den Mozzarella-Test gekommen war. Der Pizzabäcker hatte nämlich ein besonderes Alleinstellungsmerkmal, und das war der Mozzarella di Bufalo Campana seines Schwagers aus Kampanien. Den bekamen, und damit warb er, die Kunden nur bei ihm. Dass man ihm so ein gemeinsames Abendessen mit dem Mordopfer, welches er konsequent abgestritten hatte, mühelos nachweisen konnte, war sein Pech und Fontanas Glück gewesen.
»Der Schweißgeruch ist penetrant«, fuhr Fontana gelassen fort, nahm ein weißes Stofftaschentuch aus seiner Tasche, hob den linken Arm des Mannes und fuhr einmal damit an dessen Achselhöhle entlang. Dann roch er daran und hielt es schließlich Giulia entgegen. »Angstschweiß, ganz eindeutig.« Er zwinkerte.
»Unsinn. Auch ein Selbstmord kann einem Menschen Stress bereiten und ihn zum Schwitzen bringen«, widersprach Giulia. »Und bitte versuche mir nicht weiszumachen, dass du die Art des Schweißes am Geruch erkennst. Fontana, Fontana.« Giulia legte den Kopf schräg und versuchte sich in einem vorwurfsvollen Gesichtsausdruck. Sie mochte es nicht, wenn der Professore, der sie eigentlich sehr schätzte, sie zum Narren hielt. Diesen Unsinn konnte er gerne bei seinen jungen Dingern zum Besten geben. Aus Giulias Sicht sollten die jungen Frauen heutzutage mit ihren Sugardaddys deutlich kritischer umgehen.
»Gut, gut, zurück zu unserem Freund hier«, entgegnete Fontana ohne die kleinste Emotion in der Stimme. Er strich über die Arme des Mannes, drückte in die Leichenflecke und umfasste schließlich das Kinn des Toten, um dessen Kopf nach oben zu drücken. Als dadurch die halblangen dünnen Haare des Mannes zurückfielen und den Blick auf das Gesicht freigaben, stieß er einen Begeisterungsruf aus.
»Was ist? Was hast du?«, fragte Giulia, die Fontana nur aus den Augenwinkeln sah und damit begonnen hatte, die persönlichen Gegenstände des Mannes genauer unter die Lupe zu nehmen.
»Das ist Umberto Farini«, sagte Fontana hochachtungsvoll. »Das ist jetzt aber wirklich schade.« Er hielt noch immer den Kopf des Toten und schaute unverwandt in dessen bleiches Gesicht. »Hattest du nicht gesagt, es handelte sich um einen Signore Messinis oder so?«
»Die Dame am Empfang hat mir den Namen genannt, ja«, erwiderte Giulia zögerlich. »Farini, sagst du?« Sie überlegte, wo sie den Namen schon einmal gehört hatte. Es war ihr gerade eingefallen, als Fontana weiterredete.
»Er ist das größte Schauspieltalent, das Italien derzeit zu bieten hat. Ein aufgehender Star quasi.« Fontana nickte andächtig und schaute Giulia vorwurfsvoll an. »Commissario, nun bitte ich dich aber. Du müsstest bei so einer Leiche vor Freude ausflippen. Wenn du den Fall zügig aufklärst, wird das deiner Karriere nicht schaden. Du wärst in ganz Italiens Munde, du, die taughe Commissario vom Comer See …«
Giulia zuckte nur mit den Schultern. Sie würde keine Unterschiede in ihrer Arbeit machen, ob hier Adriano Celentano vor ihr hing, dessen Satiresendung RockPolitik sie gern gemocht hatte, oder ein Landstreicher aus Lierna. Sie prüfte schließlich die Dokumente des Toten und vergewisserte sich, dass der Professore mit der Identität des Mannes tatsächlich recht hatte. Dann trat sie einen Schritt nach vorn, wobei sie darauf achtete, Fontana nicht in die Quere zu kommen, und betrachtete den Toten eingehend.
»Farini wurde von Sorrentino entdeckt. Paolo Sorrentino?« Als Giulia nicht reagierte, winkte er ab und fuhr fort. »Er hatte eine unbedeutende Nebenrolle in La Grande Bellezza, aber irgendwie war der Film sein Durchbruch, na ja, wer mit Sorrentino arbeiten darf …« Es folgte ein strafender Blick zu Giulia hinüber. Farinis Kopf ruhte noch immer in seiner Hand.
»Filme sind nicht so mein Ding«, sagte sie schlicht.
»Bildungslücke«, kommentierte Fontana. »Farini hatte seine erste große Rolle in Loro, dem Berlusconi-Film.« Fontana lächelte. »Eine herrliche Satire, nun ja, anders kann man unserem Silvio auch nicht begegnen. Die Deutschen haben das Machwerk komplett zerrissen. Na ja, mit zu viel nackter Haut können die Teutonen nun mal nichts anfangen.« Fontana schüttelte den Kopf. »Aber allein schon das tot umgefallene Schaf in Berlusconis Villa gleich in der ersten Szene …« Fontana lachte schallend. »Dieser Humor, nicht einmal ein Schaf hält diesen Kerl aus.«
»Lass das bloß nicht Riso hören«, antwortete Giulia amüsiert. Carmelo Riso, der Leiter der Kriminaltechnik, war, soweit Giulia wusste, der letzte und einzig verbliebene Fan des einstigen italienischen Ministerpräsidenten, und er ging damit allen Kollegen in der Questura gehörig auf den Wecker.
Fontana legte sanft das Haupt des Toten ab. »Du weißt, dass ich am liebsten gar nicht mit dem Sizilianer rede«, sagte er mit gerümpfter Nase.
Giulia verdrehte die Augen. »Er kommt in einer Stunde. Dann bist du lange beim zweiten Frühstück mit deiner Flamme.« Giulia wusste sehr gut, dass Fontana und Riso, sollten sie einander begegnen, wie zwei Kampfhähne aufeinander losgehen würden. Da der Rechtsmediziner und der Chefkriminaltechniker eine ausgewachsene Feindschaft miteinander pflegten, machte das die Arbeit am Tatort nicht gerade leichter und erforderte vom ermittelnden Commissario jede Menge Feingefühl. Worauf die Antipathie der Männer beruhte, hatte Giulia bislang jedoch nicht herausbekommen können. Dass sie aber im Zusammenhang mit Tilda Riso, der schwedischen Frau des Kriminaltechnikers, stand, darin war sie sich absolut sicher. Die beiden mussten nun drei oder vier Jahre verheiratet sein, und just seit dieser Zeit herrschte Krieg.
Fontana nickte zufrieden. »Bei den Deutschen ist der Film nicht so gut gelaufen. Das lag meines Erachtens aber nicht an Farini, erst recht nicht an Sorrentino. Unsere Nachbarn kommen zwar gern in die italienische Sonne, aber der Blick in die italienische Seele braucht schon mehr. Pizza, Pasta und Chianti sind nun einmal genug, zumindest für die meisten.«