Schwarze Brillanten am Comer See - Clara Bernardi - E-Book
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Schwarze Brillanten am Comer See E-Book

Clara Bernardi

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Beschreibung

Menaggio am Comer See: Ockerfarbene Palazzi, enge Gassen und eine üppig bepflanzte Uferpromenade, die sich entlang der pastellfarbenen Häuserfassaden windet – die perfekte Postkartenidylle. Doch die Idylle wird zum Tatort. Leopoldo Campetti, erster Kellner im Ristorante di Paolo, einem der beliebtesten und angesagtesten Restaurants im Ort, schwimmt tot im Lago, angebunden an ein Motorboot. Der Rechtsmediziner stellt Tod durch Ertrinken fest − und findet im Magen des Opfers siebzehn wertvolle Brillanten. Anhand der Goldfassung und des Schliffes lässt sich feststellen, dass die Steine aus den 1930er-Jahren stammen müssen, und bald wird klar: Sie gehören zu einer verschwundenen Kette von Clara Petacci. Die langjährige Geliebte Benito Mussolinis wurde gemeinsam mit dem Duce im April 1945 am Comer See von Partisanen gefangen genommen und schließlich ermordet. Wie ist der mittellose Kellner an die kostbaren, verschollen geglaubten Steine gekommen? Und musste er wegen der Brillanten sterben? Giulia Cesare ermittelt gemeinsam mit ihrem Freund, dem Postboten Brutus, und ihre gefährliche Spurensuche führt sie tief in die dunkle Vergangenheit Italiens.

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Seitenzahl: 516

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Menaggio am Comer See: ockerfarbene Palazzi, enge Gassen und eine üppig bepflanzte Uferpromenade, die sich entlang der pastellfarbenen Häuserfassaden windet – die perfekte Postkartenidylle. Doch die Idylle wird zum Tatort. Leopoldo Campetti, erster Kellner im Ristorante di Paolo, einem der beliebtesten und angesagtesten Restaurants im Ort, schwimmt tot im Lago, angebunden an ein Motorboot. Der Rechtsmediziner stellt Tod durch Ertrinken fest – und findet im Magen des Opfers siebzehn wertvolle Brillanten. Anhand der Goldfassung und des Schliffes lässt sich feststellen, dass die Steine aus den 1930er-Jahren stammen müssen, und bald wird klar: Sie gehören zu einer verschwundenen Kette von Clara Petacci. Die langjährige Geliebte Benito Mussolinis wurde gemeinsam mit dem Duce im April 1945 am Comer See von Partisanen gefangen genommen und schließlich ermordet. Wie ist der mittellose Kellner an die kostbaren, verschollen geglaubten Steine gekommen? Und musste er wegen der Brillanten sterben? Giulia Cesare ermittelt gemeinsam mit ihrem Freund, dem Postboten Brutus, und ihre gefährliche Spurensuche führt sie tief in die dunkle Vergangenheit Italiens.

© Peter Hansen

Clara Bernardi ist das Pseudonym der Autorin Julia Bruns, die bereits einige Regionalkrimis veröffentlichte. Julia Bruns studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie. Nach ihrer Promotion arbeitete sie viele Jahre als Redenschreiberin und in der Öffentlichkeitsarbeit. Bei DuMont sind bisher ›Requiem am Comer See‹ (2019) und ›Letzte Klappe am Comer See‹ (2020) erschienen.

www.clara-bernardi.de

Clara Bernardi

SCHWARZE BRILLANTENAM COMER SEE

Ein Fall für Giulia Cesare

Kriminalroman

Von Clara Bernardi sind bei DuMont außerdem erschienen:

Requiem am Comer See

Letzte Klappe am Comer See

eBook 2021

© 2021 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog Dr.Michael Wenzel (www.editio-dialog.com)

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln unter Verwendung eines Fotos von © mauritius images / Bruno Kickner

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-7095-0

www.dumont-buchverlag.de

PERSONAL

GIULIA CESARE

Commissario und stolze Comasci, der die Prioritäten zwischen ihrem Heimatdorf und der Polizeiarbeit öfter mal verrutschen

BRUTUS GRAZIOLI

Giulias bester Freund und akribischer Postbote, der mehr Angst vor Hunden als vor Kriminellen hat

JACOPO PAWESE

Ein liebender Ehemann, der hervorragend kocht und Giulia fast keinen Wunsch abschlagen kann

MARIA CESARE

Giulias temperamentvolle, argentinische Mutter, mit flinken Fingern, wenn es um das Eigentum anderer Leute geht

PIERGIUSEPPE CESARE

Der Vater, der sein halbes Leben auf die große Schauspielkarriere wartet und ungefragt gut gemeinte Ratschläge zur Polizeiarbeit gibt

TIZIANA DE ANGELIS

Eigensinnige Bestatterin und Freundin, die über alle am See etwas sagen kann, aber es meistens nicht tut

ELENA

Giulias taffe Assistentin, die ihrer Commissario öfters aus der Patsche hilft und sich ab und zu mit Jacopo verbündet

CHIARA ELISA ZORZI

Leiterin der Kriminalpolizei, die trotz ihres jungen Alters und der rot geschminkten Lippen einen guten Job macht und dennoch permanent mit Giulia aneinandergerät

PROFESSORE ANDREA FONTANA

Charmanter Rechtsmediziner aus Mailand, der extrem eigenwillige Untersuchungsmethoden praktiziert und den See mehr liebt als seiner Ehe guttut

CARMELO RISO

Leiter der Kriminaltechnik, der seine Zunge nicht im Zaum halten kann und an einem Tatort nur selten gesehen wird

LEOPOLDO CAMPETTI

Ein fleißiger Mann, der seine einzige Chance ergreifen wollte und dabei nur verlieren konnte

DIE GESCHWISTER CAMPETTI

(Anna, Milo und Sebastiano) Die schweigende Familie, die gut daran getan hätte, ihr Geheimnis auch weiterhin für sich zu behalten

LUCIO BERTERA

Ein stolzer Comasci, der die Vergangenheit nicht abschütteln kann und dem die große Liebe mehr bedeutet als alles andere auf der Welt

FAUSTINO BERTERA

Der Sohn, der so anders sein will als sein Vater und der trotzdem nicht aus seiner Haut kann

LEW ARTJOM GROMOW

Das Genie, dessen eigene Ängste ihn immer wieder einholen

KUNO ALWIN WYSS

1Der Sarg war aus schwerem Eichenholz, eine bemerkenswerte Handarbeit, die die Maserung des Holzes und die fast schon samtige Oberfläche hervorragend zur Geltung brachte. Er hatte die Form einer Truhe, deren Deckel am Fußende scheinbar von zwei gedrechselten Säulen getragen wurde, und er war deutlich breiter als die gängigen Modelle. Im Gegensatz zu der feinen Tischlerarbeit wirkten die schwarzen Eisenbeschläge, vor allem die seitlich angebrachten gedrehten Stangengriffe, wie dem Übermut eines Künstlers entsprungen, der sein Werk scheinbar gedankenlos verpfuscht hatte. Der Sargdeckel war zweigeteilt, wobei durch das aufgeklappte Kopfteil der Blick auf die Stoffbespannung und die Bordüre des Kissens frei wurde, deren ungewöhnliche Farbgebung – es handelte sich um weiß-blau-rote Streifen – unangenehm deplatziert wirkte. Insgesamt schienen der Verstorbene oder dessen Angehörige in jeder Hinsicht einen außergewöhnlichen Geschmack zu haben, denn der Katafalk war durch Weinkisten der erlesensten italienischen Sorten ersetzt worden. Ansonsten bestand der Raum nur aus kahlen Wänden, auf deren Kalkputz sich von den Dutzenden dicht an dicht aufgereihten meterhohen Kerzen schon Rußflecken gebildet hatten. Überall darum herum standen Vasen mit üppigen Orchideensträußen, bei denen sich nicht nur irgendjemand die Mühe gemacht hatte, sie farblich zu sortieren, sondern die Arrangements auch nach einer aufsteigenden Farbskala zu positionieren. Allein die Plätze für die Gelb- und Orangetöne waren leer. Diese Blütenrispen lagen auf dem Boden, abgeknickt und breit getreten. Von irgendwoher drang ein leises Wimmern, das sich in einem Schnäuzen entlud, um dann wieder in seiner Monotonie fortzufahren.

Giulia stand im Türrahmen, die Klinke der nur wenige Zentimeter geöffneten Tür in der Hand, und betrachtete einigermaßen perplex das vor ihr Liegende. Sie hatte eigentlich nur eine Gelegenheit zum Händewaschen gesucht, denn sosehr sie die in Knoblauchöl geschwenkten Riesenscampi liebte, sie hatte gleich nach deren Verzehr das Gefühl, ihre klebrigen Finger reinigen zu müssen. Sie war noch nie zuvor im Ristorante di Paolo gewesen, obwohl sie nahezu alle Lokalitäten in Menaggio kannte, aber das di Paolo war ein echter Geheimtipp. Allein aufgrund der ersten beiden Gänge, die man ihnen bisher serviert hatte, verstand sie nur allzu gut, warum ihr Vater Piergiuseppe mit Vehemenz darauf bestanden hatte, seinen Geburtstag hier zu feiern. Einzig an der Beschilderung und damit an der Frage, wie die Gäste in diesem Durcheinander an Türen die Toiletten finden sollten, musste Paolo noch arbeiten. Giulia wollte sich gerade wieder vorsichtig zurückziehen, als das Weinen von einer Salve an derben Flüchen abgelöst wurde. Wer immer da einen gewissen diavolo nero verfluchte, musste eine Frau sein. Natürlich wäre es ein Akt der Höflichkeit gewesen, jetzt die Tür zu schließen und unbemerkt zu verschwinden, aber es war Giulias angeborene Neugier, die sie regelrecht dazu zwang, einfach stehen zu bleiben. Die Wut dieser Frau, die die Einzige zu sein schien, die hier Totenwache hielt, steigerte sich in Worte wie »verdammter Hurensohn« und »arroganter Dreckskerl«. Dann wurde das Klappern von Absätzen laut, und wenig später tauchte eine Dame in Giulias Sichtfeld auf, die, noch ehe Giulia des Ganzen richtig gewahr wurde, das Sargkissen und die Matratze nahm und beides wutentbrannt an die gegenüberliegende Wand schleuderte. Damit nicht genug, umfasste sie den Sargdeckel mit zwei Händen und ließ ihn mit Wucht auf das Unterteil knallen. Schlussendlich verdeutlichte ihr ausgestreckter Mittelfinger, was sie von dem Ganzen hielt. Fast hätte Giulia laut losgeprustet, denn der Irrwitz war kaum auszuhalten. Noch dazu bot das Schauspiel eine willkommene Abwechslung zum dem nervtötenden Abend, den sie bislang hier verbracht hatte und der lediglich durch das Essen aufgewertet wurde. Aber auch wenn sie eines ihrer Laster, das Beobachten anderer Leute, zum Beruf gemacht hatte, wollte sie nicht unbedingt dabei ertappt werden. Mit Peinlichkeiten dieser Art konnte Giulia schlecht umgehen. Abgesehen davon war der Tod eines Menschen nichts, worüber man sich lustig machen sollte. Sie biss sich also auf die Unterlippe und wartete, was passierte. Die junge Frau stand einfach nur da. Ihre sich schnell hebende und senkende Brust verriet, wie sehr sie in Rage war. Schließlich flog der Deckel des Sarges auf. Dann ging alles so schnell, dass Giulia kaum begriff, was sich da vor ihren Augen abspielte. Die Frau holte aus und ließ ihre angespannte Faust in das Innere knallen, einmal, zweimal. Das war selbst für eine hartgesottene Commissario der Questura in Lecco zu viel. Giulia schnappte nach Luft und wollte gerade einschreiten, als zwei weitere Schläge niedergingen. Erstaunlicherweise konnte man die Boxhiebe nicht nur sehen, sondern auch hören. Die Faust prallte nicht auf einen Menschen, ein brechendes Nasenbein hörte sich anders an. Die Wucht traf auf Holz. Aber das hieß … Giulia staunte nicht schlecht. Der Sarg musste leer sein. Im gleichen Moment, in dem sie das realisierte, drehte sich die junge Frau um und schickte sich an zu gehen. Giulia sah ihr direkt ins wutverzerrte Gesicht. Es war Alice De Angelis, die Enkelin von Giulias alter Bestatterfreundin Tiziana, die da offenkundig ein veritables Problem mit »dem schwarzen Teufel« hatte. Die Frage war nur: Wo befand sich dessen Leiche?

***

»Commissario.« Neben Giulias leerem Stuhl stand ein älterer Herr, der sich in übertriebener Geste verneigte. Er war nicht sonderlich groß, dafür aber von kräftiger Statur, deren Form aufgrund seiner extrem breiten Schultern an ein »V« erinnerte. Obwohl er das siebzigste Lebensjahr längst überschritten haben musste, wirkte die Haut in seinem markanten Gesicht so straff wie die eines halb so alten Mannes. Allerdings schien er dafür, der eingeschränkten Mimik nach zu urteilen, ein wenig nachgeholfen zu haben. Sein intensiv gebräunter Teint, der an einigen Stellen unschöne Pigmentflecken erkennen ließ, unterstrich diesen Eindruck noch. Im auffälligen Gegensatz zu dieser künstlich herbeigeführten Verjüngung standen die silbernen Strähnchen, die sich wie ein Netz durch seine drahtigen Locken zogen und in den vollständig ergrauten Koteletten, die bis in die Mitte seiner Wangen reichten, zusammenliefen. Das weiße Leinenhemd, das er trug, wirkte fast schon schlicht, allerdings hatte er die bis zum Brustbein hinunterreichenden Knöpfe ignoriert, wodurch neben einer üppigen Körperbehaarung auch eine fette Goldkette mit passendem Anker-Amulett zum Vorschein kam. »Die berühmteste Commissario am Lago«, flötete er übertrieben laut und mit einer erstaunlichen Bassstimme, sodass einige der Leute an den umliegenden Tischen ihre Gespräche unterbrachen und sich neugierig zu ihnen umdrehten. »Es ist mir eine Ehre, Sie zu meinen Gästen zählen zu dürfen.« Er neigte den Kopf, legte seine linke Hand auf seine Brust und zog mit der rechten Giulias Stuhl zurück, damit sie Platz nehmen konnte.

Giulia, die Wichtigtuerei nicht ausstehen konnte, blieb demonstrativ neben ihrem Stuhl stehen. Nichtsdestotrotz nickte sie dem Profilneurotiker freundlich zu. Nur weil Menschen zu Verhaltensweisen neigten, mit denen sie nichts anfangen konnte, musste sie ja nicht gleich unhöflich werden, erst recht nicht, wenn ihrem Vater das hier wichtig war. Abgesehen davon hielt sie es für angebracht, dem Herrn auf Augenhöhe zu kondolieren. Das eine wie das andere gebot schon der Anstand, wenngleich Giulias Neugierde zugegebenermaßen ebenfalls eine nicht unwesentliche Triebkraft dafür darstellte. Doch diese sollte zu ihrer Enttäuschung nicht befriedigt werden.

»Das ist mein Freund Lucio, der Inhaber dieses ausgezeichneten Restaurants«, erklärte ihr Vater Piergiuseppe mit ausladenden Armbewegungen und bewunderndem Blick hinauf zu dem neben ihm stehenden Mann. »Wir kennen uns schon unser halbes Leben. Sein Vater, der alte Paolo, hat uns immer den Hintern versohlt, wenn wir Eier aus der Küche gestohlen und sie heimlich unten am See ausgetrunken haben.« Piergiuseppe kicherte albern. Der Wein hatte bereits dazu geführt, dass seine Wangen dunkelrot leuchteten und seine Stimme eine für einen alten Mann unangenehm schrillen Klang bekommen hatte. Noch dazu schien er die Laustärke, in der er sprach, nicht mehr richtig einschätzen zu können, zumindest waren alle anderen Gäste auch an diesen Teil der Unterhaltung sehr gut angebunden. Der sonst eher zurückhaltende Piergiuseppe schien heute alles an Temperament aufzufahren, was in ihm schlummerte, und er wirkte überaus glücklich dabei. »Das ist meine einzige Tochter, Giulia, und es gibt keinen Banditen, den sie nicht schnappt. Schon als Kind war sie schlauer als alle anderen bei uns auf dem Berg, kein Wunder, dass die in der Questura von Lecco sie unbedingt haben wollten, eine Cesare im Polizeidienst …« Piergiuseppe schnalzte stolz mit der Zunge. Er nahm sein Glas und hielt es in die Höhe. »Lasst uns auf meine Giulia trinken«, rief er voller Inbrunst. Kaum dass er den Toast ausgesprochen hatte, kam einer der Kellner herbeigeeilt, um dem Mann namens Lucio ebenfalls ein Glas zu reichen und es sodann aus der auf dem Tisch stehenden Flasche Rotwein zu befüllen. Umgehend erwiderte Lucio den Trinkspruch und versuchte dabei, Piergiuseppe noch zu übertreffen, indem er die Hacken zusammenschlug und ausrief: »Auf Giulia! Auf eine gute Zukunft für unser geliebtes Italien!«

Am Tisch blieb das Echo darauf eher verhalten. Nur Brutus Grazioli, Giulias ältester Freund, erhob sich und pflichtete den beiden pathetischen alten Männern eilig bei, während er Giulia voller Stolz anblickte, um es darauf den Alten gleichzutun und sein Glas in einem Zug zu leeren.

Giulia bedachte ihn dafür mit einer hochgezogenen Augenbraue, worauf er sich mit schuldbewusster Miene wieder auf seinen Stuhl sinken ließ.

»Piergiuseppe und der Alkohol, das passt so gut zusammen wie eine Fliege und ein Honigstreifen«, entrüstete sich Maria, Giulias Mutter, mit gerümpfter Nase. »Und was das hier alles kostet … Lucio Bertera war schon immer ein Gauner. Mein dummguter Mann wird bei seinem angeblichen Freund eher mehr auf den Tisch legen als weniger. Meine Pizzoccheri wären allemal besser gewesen. Und Wein haben wir auch noch genug.« Maria gab sich nicht einmal Mühe, ihre Stimme zu senken. Stattdessen funkelte sie Lucio aus schmalen Augen an, die keinen Zweifel daran ließen, dass sie ihn beleidigen wollte. Maria Cesare war keine Frau, die mit ihrer Meinung hinterm Berg hielt, und bevor der gutmütige, ein wenig lebensfremde Piergiuseppe dagegenhalten konnte, wenn er es überhaupt jemals versuchte, waren alle Messen gesungen.

»Man wird nicht alle Tage fünfundsiebzig, nicht wahr, Piergiuseppe, mein alter Kampfgefährte«, polterte Lucio und klopfte Giulias Vater anerkennend auf die Schulter. »Da kann man schon mal etwas anderes als Hausmannskost vertragen, auch wenn deine Gattin sicherlich keine Mühen gescheut hätte, die Zutaten bei euren Nachbarn auf dem Berg zusammenzutragen.« Er zwinkerte Maria boshaft zu.

Giulia ärgerte sich, dass offenbar jeder am See über Marias sogenannte »schlechte Angewohnheit« Bescheid wusste. Dabei war das, was ihre Mutter als bloße Marotte abtat, aus Giulias Sicht nicht weniger als eine kriminelle Handlung. Eine andere Umschreibung konnte sie für Diebstahl beim besten Willen nicht finden, auch wenn Maria darauf bestand, dass es hauptsächlich Mundraub war, stibitzte sie in größerem Stil und keineswegs nur für den Eigengebrauch. Giulia hatte ihrer Mutter schon so einige Male ins Gewissen geredet, doch die war immun gegenüber Rechtschaffenheit. Ob es sich dabei um eine genetische Prädisposition handelte, wie Piergiuseppe immer mit dem Hinweis auf die kriminelle Energie in Marias argentinischer Familie, die sich den gesamten Lebensunterhalt durch Diebstahl verdiente, entschuldigend behauptete, war Giulia dabei vollkommen schnurz. Es ging einfach nicht an, dass sie am See Verbrecher jagte, während ihre Mutter den Nachbarn die Eier klaute.

An dem braven Piergiuseppe wiederum gingen die kleinen Gehässigkeiten seiner Tischgesellschaft komplett vorbei. Mit dem Selbstbewusstsein eines Mannes, der seinen besten und einzigen Anzug trug, lehnte er in seinem Stuhl, nickte anderen Gästen, den Kellnern und schließlich den um ihn versammelten Seinen wohlwollend zu und lächelte zufrieden.

Brutus schaute unsicher zu Maria hinüber. »Auf der Torte steht aber dreiundsiebzig und auf den Luftballons, die ich ihm mitgebracht habe, auch«, flüsterte er.

Maria winkte mürrisch ab. »Lucio war schon immer ein Depp. Rechnen konnte der noch nie. Wenn sein Vater ihm nicht den Laden hier vermacht hätte, würde er heute in Lecco vor dem Campanile di San Nicolò stehen und Schirme an Touristen verscherbeln.«

Unbeeindruckt von Marias Schandmaul und seinem offenkundigen Fauxpas fuhr Lucio fort. »Ein berühmter Schauspieler wie Piergiuseppe Cesare muss nicht auf den Cent gucken«, schmeichelte er. Dabei ließ er von Giulias Stuhl ab, tänzelte um Piergiuseppe herum und schnippte nach dem Kellner, der eilig herbeigelaufen kam und die Gläser der Runde neu befüllte. »Die nächste Flasche geht aufs Haus«, verkündete er gönnerhaft.

»Davon kriegt Piergiuseppe nicht mehr viel mit«, murmelte Maria bissig. An Brutus gewandt sagte sie: »Was wir nicht schaffen, packen wir ein. Der Kerl da füllt meinen Mann schon vor dem Hauptgang ab, damit er sich die Portion spart, die wir dann trotzdem bezahlen müssen.«

Brutus nickte gehorsam. »Hat Piergiuseppe bei dem Liszt-Film eine Gage bekommen?«, fragte er an Giulia gewandt, die sich wieder zu den anderen an den Tisch gesetzt hatte. »Dann hätte ich doch auch etwas bekommen müssen.« Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Unglaube und gekränkter Eitelkeit.

Giulia schüttelte nur den Kopf. Sie wollte vor den Augen und Ohren von Signor Lucio nicht auch noch die erfolglose Schauspielerkarriere ihres Vaters erörtern. Das hätte Piergiuseppe zweifelsohne gekränkt und wäre dem Familienfest, das er sich gewünscht hatte, abträglich gewesen. Die Familie, das waren Maria und Piergiuseppe, ihre Eltern, ihr bester Freund Brutus und ihr Mann Jacopo. Letzterer hatte die ganze Zeit schweigend dabeigesessen. Mehr brauchte es nicht, denn Giulia konnte ihm auch so ansehen, dass er sich köstlich amüsierte, während ihre Geduld massiv auf die Probe gestellt wurde. Jacopo bemerkte ihren zerknirschten Blick und bedeutete ihr mit dem ausgestreckten Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand, dass sie nur noch zwei Gänge zu überstehen hatte. Dabei zwinkerte er ihr liebevoll zu. »Die Zukunft Italiens liegt auf deinen hübschen Schultern«, hauchte er mit unterdrücktem Lachen. »Aber du schaffst das schon. Wer, wenn nicht du? Die Unterstützung dieser beiden alten Krieger hier hast du zumindest. Ob sie sich im nüchternen Zustand noch daran erinnern können, wage ich allerdings zu bezweifeln.« Jacopo biss sich auf die Unterlippe, während er ein Stück des vor ihm stehenden Weißbrotes brach und fast schon behutsam das auf seinem Teller verbliebene Öl der Vorspeise auftunkte.

Giulia warf ihm einen verliebten Blick zu, um ihm gleichzeitig unter dem Tisch einen unsanften Fußtritt zu verpassen. »Was ich noch weniger leiden kann als Familienfeiern sind vorlaute Ehemänner«, zischte sie.

»Ich habe schon auf die harten Bandagen meiner Commissario gewartet«, feixte er und prostete ihr vergnügt zu. »Schade, dass du uns alle fahren musst und diesen vorzüglichen Tropfen nicht trinken darfst.« Er trank genüsslich von seinem Wein.

Im gleichen Moment ergoss sich Lucio schwärmerisch über die bevorstehende Hauptspeise. Erstaunlicherweise zeigte er dabei keinerlei Anzeichen des Alkohols. »Jetzt steht euch der Höhepunkt dieses vorzüglichen Mahles bevor«, beschwor er die Geburtstagsrunde förmlich und streckte dabei das Kinn nach oben, als könnte das nicht nur ihn, sondern auch sein gesamtes Lokal größer machen. »Grünbarbe, gebacken in einer Basilikum-Spinat-Brotkruste.« Er blickte effektheischend in die Runde. »Nirgendwo sonst bekommt ihr das Fleisch dieses Fisches so zart und schmackhaft wie bei uns. Die Liaison mit der Frische des Basilikums und dem ein wenig erdigen Geschmack des Spinats unterstreicht diese Komposition einmal mehr.« Lucio schloss die Augen, formte seine Lippen zu einem Kussmund und bewegte sie dabei wie ein Weinverkoster, der seinen Gaumen mit einem edlen Tropfen beglückt. »Dieses Gericht ist eine absolute Premiere, die neueste Kreation unseres Starkoches, und ihr gehört zu den Glücklichen, die es als Erste probieren dürfen.«

»Barbe?« Maria verzog das Gesicht. »Da hat man doch nichts als Gräten im Mund. Jeder weiß, dass dieser Fisch nur aus Knochen besteht.« Sie griff nach dem auf dem Tisch liegenden Menüplan und überflog die Zeilen. »Was das wieder kostet … Und dann nur Gerippe.«

»Ich mag keinen Spinat«, erklärte Brutus vorwurfsvoll. »Kann ich vielleicht ein paar Tomaten dazu haben, Auberginen gehen auch, aber ohne Haut. Ich mag keine Haut.« Er nippte an seinem Wasserglas und schaute Lucio mit den großen, runden Augen eines Kindes an, das seinen Teller nicht leer essen will.

Lucio Bertera war offenkundig ein Profi seines Faches, denn er lächelte unentwegt. Dabei klopfte er Piergiuseppe immer wieder auf dessen schmächtigen Rücken. »Eine großartige Familie darfst du dein Eigen nennen, mein Lieber. Ganz großartige Leute.«

Giulia fragte sich, wie weit dieser Lucio wohl gehen würde, um seine Gäste zufriedenzustellen. Heutzutage war die Konkurrenz groß, vor allem hier in Menaggio, einem der meistbesuchten Orte am See. Das Ristorante di Paolo gehörte nicht zu den an jeder Ecke befindlichen Touristenschuppen, die auf das schnelle Geld eines Nimmerwiedersehen-Publikums aus waren. Das Lokal hatte nach allem, was Giulia mitbekommen hatte, Tradition, und das bedeutete, Lucio musste vor allem die zahlungskräftigen Einheimischen bei Laune halten. In den Küstenorten verbreiteten sich die Neuigkeiten, vor allem die schlechten, so schnell, wie sich die Windverhältnisse auf dem See änderten, und Lucia hatte keine Wahl: Wollte er im Spiel bleiben, dann musste er strengstens auf die Qualität seines Angebotes achten. Dazu gehörte zweifelsohne der hervorragende Service, der das Süßholz des Gastgebers mit einschloss. Dass Piergiuseppes Freund allerdings nicht einmal bei einem Todesfall in der Familie den Laden dichtmachte, verwunderte doch sehr. Die Totenwache im eigenen Haus war auch heute noch ein Ritual, das von den meisten Italienern äußerst ernst genommen wurde, und sie dauerte üblicherweise nicht länger als vierundzwanzig Stunden an. Diese Zeit brauchte es nach Giulias Dafürhalten auch, um von einem geliebten Menschen gebührend Abschied zu nehmen. Dass dies bei laufendem Restaurantbetrieb möglich war, bezweifelte sie. Vielleicht war das alles aber auch schon lange geschehen, denn wo sonst sollte die Leiche abgeblieben sein? Dann stellte sich nur noch die Frage, warum der Sarg übrig geblieben war? Dass man den für das nächste Mal aufheben konnte, war Giulia neu. Und wieso randalierte die Bestatterin an ihrem eigenen Werk? Was immer hier vor sich ging, normal mutete das alles nicht an, nicht einmal für einen Comasci, wobei den Bewohnern des Comer See schon so einige Extravaganzen zuzutrauen waren.

»Hervorragend!«, rief Jacopo begeistert, was der talentierte Hobbykoch in Erwartung der Grünbarbe zweifelsohne ehrlich meinte. »Das Rezept werde ich mir merken. Ist es denn möglich, dass Ihr Koch einmal an unseren Tisch kommt. Ich würde ihn gern kennenlernen und ihm ein Kompliment für seine Kunst aussprechen.«

Lucio kniff die Lippen zusammen und schüttelte hektisch den Kopf. Von seiner heiteren Ausgelassenheit war nichts mehr geblieben. Stattdessen schien er förmlich zu verkrampfen und das nervöse Umherwandern seiner Augen verriet das Unbehagen, das ihm Jacopos Idee bereitete.

»Man hört ja so einiges über Ihren berühmten Russen. Er hat einen Stern erkocht, nicht wahr? Es wäre mir eine große Ehre, ein paar Tipps von einem so bedeutenden Mann zu erhalten.« Jacopo überging die Abwehrhaltung Lucios in seiner gewohnt unbekümmerten Art.

Lucio wand sich, man konnte ihm ansehen, dass er nach Worten rang. »Lew ist … Er ist menschenscheu wie die meisten Künstler. Und sein Italienisch ist noch schlecht und … Er spricht nur gebrochen … er schämt sich, verstehen Sie.« Signor Lucios Kopf wackelte hin und her. »Eine Diva, Lew ist eine Diva, und ich möchte ihn nicht unnötig verärgern. Das schadet uns allen, glauben Sie mir.« Er faltete die Hände, als würde die Geste dem Gesagten mehr Glaubwürdigkeit verleihen.

Jacopo nahm das ohne Einwände hin. Aber selbst wenn er welche gehabt hätte, wäre das für Lucio unerheblich gewesen, denn der hatte Jacopo schon den Rücken zugedreht, um mit Piergiuseppe eine Unterhaltung über die aktuelle politische Lage zu beginnen. Giulia fand Lucio Verhalten seltsam, aber es fügte sich in das Bild, das sie ohnehin schon von diesem unsympathischen Mann hatte. Noch dazu wusste sie, dass ihr Vater keinen Schimmer von Politik hatte. Doch er war Schauspieler genug, um einen interessierten Blick zur Schau zu stellen und diesen hin und wieder durch die Wiederholung eines Halbsatzes seines Gegenübers zu unterstreichen.

Giulia nutzte diesen Moment und beugte sich über den Tisch zu Jacopo, aber noch bevor sie etwas sagen konnte, kam ihr Mann ihr zuvor. »Ich habe einen Artikel über diesen Gromow gelesen. Da stand, dass er speziell ist. Aber gleich so …« Jacopo verdrehte die Augen. »Normalerweise kommt der Koch doch einmal an den Tisch seiner Gäste und wechselt ein paar Worte mit ihnen, noch dazu, wo dein Vater und dieser Lucio so dicke Freunde sind.« Jacopo unterstrich den letzten Halbsatz mit seinem ineinander verhakten Zeige- und Mittelfinger. Dazu grinste er schelmisch.

»Vielleicht ist er tot«, murmelte Giulia in Gedanken.

Jacopo zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. »Generell schätze ich deinen Humor ja, aber heute weist er derbe Aussetzer auf«, entgegnete er.

Giulia sah ihn an, ohne eine Miene zu verziehen. »Wenn du zur Toilette gehst, nimm die erste Tür rechts«, murmelte sie. Die Sache mit dem Sarg beschäftigte sie noch immer, und sie war gespannt, was ihr Mann dazu sagen würde.

Jacopo, dem die abrupten Themenwechsel innerhalb einer Unterhaltung mit seiner Angetrauten nicht neu waren, antwortete: »Kein Bedarf, schon gar nicht, wenn gleich der Hauptgang kommt. Du weißt, wie schnell ein Fisch erkaltet.«

»Geh, bitte«, wiederholte Giulia nachdrücklich. »Du musst dir das ansehen.«

Jacopo musterte seine Frau prüfend. Giulia konnte ihm seine Gedanken geradezu von der Stirn ablesen. Ihr Mann wusste sehr wohl, dass sie nicht ein schönes Gemälde oder eine antike Statur entdeckt hatte, obwohl das Restaurant durchaus so aussah, als hätte es Derartiges zu bieten. Im Gegensatz zu ihm würde Giulia solcherlei Kunstschätze nicht zwangsläufig auffallen, wenn sie nicht gerade darüber stolperte. Offensichtlich unschlüssig und ein wenig angefressen, denn Jacopo hasste die Unhöflichkeit und die Missachtung, die seines Erachtens darin lag, wenn jemand kurz vor dem Essen den Tisch verließ, griff er zu seinem Glas. In der Zwischenzeit verstummte die Unterhaltung zwischen ihrem Vater und dem Restaurantbesitzer kurzzeitig, und Giulia sah aus dem Augenwinkel, wie Lucio erneut den Kellner herbeizitierte und ihm etwas zuflüsterte, worauf der sich mit schnellen Schritten wieder entfernte.

Jacopo trank einen Schluck, stellte das Glas zurück an seinen Platz und erhob sich betont langsam, ohne dabei seine Frau aus den Augen zu lassen.

»Signor, die Grünbarbe ist auf dem Weg«, flötete Lucio und machte einen Ausfallschritt, mit dem er sich dem gut zwei Köpfe größeren und rund zwanzig Jahre jüngeren Jacopo fast schon ein wenig aggressiv in den Weg stellte.

Der hob beschwichtigend die Hände. »Zwei Minuten, sagte er mit einem Lächeln, das den Blick auf seine schönen weißen Zahnreihen freigab. Im gleichen Augenblick hatte er Lucio schon elegant umrundet und war verschwunden.

Zwei Kellner kamen mit eiligen Schritten herbeigelaufen. Die Barbe wurde serviert.

Lucio machte ein paar unwirsche Handbewegungen, und Giulia konnte deutlich sehen, dass diese nichts mit dem verletzten Stolz eines Restaurantbesitzers, dessen Coup nicht gebührend beachtet wurde, zu tun hatten. Dafür schielte er zu häufig in die Richtung, in die Jacopo gegangen war.

Das Essen sah nicht nur vorzüglich aus, es duftete auch entsprechend. Giulia, die zwar nicht einmal ansatzweise kochen konnte, dafür aber einen hervorragenden Sinn für gute Küche hatte, wusste sofort, dass Signor Lucio nicht zu viel versprochen hatte. Sie suchte seinen Blick, um ihm Anerkennung zu zollen, aber er bemerkte davon nichts, so sehr schien er die Rückkehr von Jacopo herbeizusehnen. Als der schließlich am Ende des Gastraumes auftauchte, huschte ein nervöses Lächeln über Lucios Gesicht, und er hastete ihm entgegen, als handelte es sich um einen alten Freund, den er sehnsüchtig erwartet hatte. In Signor Lucios Umklammerung wurde der ein wenig verdutzt dreinblickende Jacopo wieder zurück an den Tisch geführt.

»Die Barbe«, jauchzte Lucio nach ihrer Rückkehr, als kündigte er auf der Bühne der Mailänder Scala den größten Tenor aller Zeiten an. Es folgte ein frenetisches Klatschen, in das das Personal des Restaurants fast schon übermütig einstimmte.

Piergiuseppe, der sich über diese Aufmerksamkeit sichtlich freute, bedachte alle Gäste mit einer huldvollen Geste, bevor er nach seinem Besteck griff und sich den Fisch schmecken ließ.

»Verschluck dich bloß nicht an den Gräten«, zischte Maria unwirsch, wobei Giulia nicht sagen konnte, ob die Übellaunigkeit ihrer Mutter nur mit der bevorstehenden satten Rechnung oder auch mit dem mangelndem Interesse an ihrer Person zu tun hatte.

»Und?«, fragte sie in Richtung Jacopo, der unter leichtem Anheben seines Tellers hochkonzentriert seine Portion begutachtete.

»Der Koch muss ein wahrer Künstler sein«, entgegnete er, setzte den Teller ab, als handelte es sich um ein rohes Ei, griff nach seiner Gabel und schob ein wenig Spinat auf die Zinken, um sogleich andächtig zu probieren.

»Das meine ich nicht«, entgegnete Giulia. »Hast du ihn gesehen?«

»Gesehen?«, fragte Jacopo verwundert. »Wen?«

»Den Sarg ohne Leiche«, flüsterte sie leicht ungeduldig.

»Pipistrelli, bitte.« Jacopo war offenbar nicht gewillt, sich das exquisite Menü verderben zu lassen. »Heute keine Toten, außer, sie haben Gräten.«

»Die Tür«, schnaufte Giulia mit Nachdruck.

Doch Jacopo hatte nur Augen für seinen Teller. »Wenn du die neben der Damentoilette meinst, die war verschlossen«, sagte er beiläufig, als ginge ihn das alles nichts weiter an.

Giulia lehnte sich verblüfft zurück. Schweigend schaute sie in die Runde. Dabei streifte ihr Blick auch Lucio Bertera. Er gab sich nicht einmal Mühe, die zufriedene Genugtuung, die in seinem Gesicht stand, zu verbergen.

2Wasserleichen waren nicht schön. Nun mag das sicherlich in irgendeiner Weise für jeden toten Menschen zutreffen, vor allem für die, auf die Commissario Giulia Cesare bei ihrer Arbeit stieß, aber diesen hier hatte es besonders übel erwischt. Ohne Frage war der hagere Mann mit den zu großen Ohren und den wulstigen Lippen, den die Carabinieri vor etwa einer halben Stunde aus dem See gefischt hatten, auch in lebendigem Zustand kein Augenschmaus gewesen, aber der Aufenthalt im Wasser in Verbindung mit der brütenden Hitze, die seit einigen Tagen am Lario herrschte, hatten dem Körper mächtig zugesetzt. Seine Kleidung, eine schwarze Hose mit weißem Oberhemd, hing in einzelnen Fetzen an ihm herunter. Die freiliegenden Hautstellen waren mit Kratzern und Schürfwunden übersät, wobei seine nackten Füße die stärksten Blessuren davongetragen hatten. Einzig sein blasses Gesicht sah verhältnismäßig unversehrt aus, wenn man von der Nasenspitze absah, die sich nicht mehr an der dafür vorgesehenen Stelle, sondern vermutlich im Bauch irgendeines Fisches befand.

»Der Kerl ist da einfach so zwischen den Booten herumgeschwommen«, sagte einer der Carabinieri und zeigte mit dem Finger vage in eine Richtung. Die Uniform des jungen Kollegen, den Giulia noch nicht kannte, wobei sie das nicht von vielen Carabinieri am See sagen konnte, war bis auf das Hemd tropfnass. Offenkundig hatte er sich diesem sowie sinnvollerweise auch seiner Mütze und der Bandoliera, seiner Munitionstasche, vor dem Sprung in den Lario entledigt und alles, damit die Form gewahrt blieb, beim Eintreffen der Kriminalpolizei wieder übergezogen. Giulia gefielen die Disziplin und der Respekt vor der Aufgabe, trotzdem tat ihr der Mann, unter dem sich mittlerweile eine breite Pfütze gebildet hatte, ein wenig leid. Eine kurze Abkühlung mochte bei diesen Temperaturen zwar angenehm sein, aber wenn einem das Wasser von der Hose in die Schnürstiefel tropfte, um dann bei jeder Bewegung darin hin und her zu schwappen, musste sich das ziemlich ungemütlich anfühlen. »Ich habe die Parktickets kontrolliert und zufällig da hinuntergeschaut. Erst habe ich gedacht, jemand hätte seine Jacke oder einen Rucksack verloren, aber beim näheren Hinsehen …« Er zuckte mit den Schultern, und sein Gesichtsausdruck verriet, dass ihm diese Entdeckung gehörig den Feierabend vermasselt hatte.

»Commissario Cesare.« Ein zweiter Carabiniere, dessen Uniform nur vereinzelt Wasserflecken aufwies, trat hinter die mobile Sichtschutzwand und nickte Giulia mit ernster Miene zu, vermied es aber angestrengt, ihr in die Augen zu sehen. Sie erkannte den Burschen an seiner langen, dünnen Nase und den eng stehenden Augen, die seiner Mutter Daria wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Die Frau betrieb einen kleinen Blumenladen in Menaggio und hatte Giulia vor ein paar Jahren um Unterstützung für ihren Sohn gebeten. Der schüchterne Junge drohte durch falsche Freunde auf die schiefe Bahn zu geraten, und nach Meinung seiner Mutter konnte man das Unglück nur abwenden, indem er in den Polizeidienst ging. Offenkundig hatte das geklappt. Giulia freute sich darüber und beschloss, wieder einmal bei Daria vorbeizuschauen. Der Carabiniere hielt in jeder Hand eine Tasse mit dampfendem Espresso, von der er sogleich eine seinem Kollegen entgegenstreckte, und Giulia konnte riechen, dass es da jemand mit dem Grappa gut gemeint hatte. Der andere zuckte nicht, sondern senkte nur leicht den Blick und schien auf Giulias Reaktion zu warten.

»Den haben Sie sich verdient, auch für die Überstunden«, sagte sie und nickte den beiden aufmunternd zu. Giulia wusste, dass die Tagesschicht der Kollegen lange beendet war, und so oder so war die Bergung einer Wasserleiche etwas, worauf jeder Mensch einen ordentlichen Schnaps gebrauchen konnte.

Die beiden lächelten dankbar. »Möchten Sie auch einen, Commissario?«, fragte Darias Sohn vorsichtig, wobei er erst auf Giulia und dann ein wenig verstohlen auf den neben der Leiche knienden Professore Andrea Fontana, den Rechtsmediziner aus Mailand, schaute. Giulia wiegelte ab, während der Professore nicht einmal mitbekam, dass er angesprochen wurde. Bei einer Leichenschau verlangte Fontana sich alles ab, und ein Caffè Corretto wäre das Letzte gewesen, was ihn hätte ablenken können.

Ohne ein Wort schob der Professore den Hemdkragen des Toten oder das, was davon übrig war, beiseite und betrachtete interessiert dessen Hals. Giulia war lange genug im Geschäft, um zu wissen, was die Neugier des Professore geweckt hatte. Die tiefen, dunkelroten Strangulationsmale wären selbst einem Laien sofort ins Auge gesprungen.

»Sie sind vom hiesigen Kommando«, sagte Giulia und sprach das Naheliegende aus. Die Carabinieri jedenfalls rührten sich nicht und beobachteten unverhohlen jede Bewegung des Professore. Offenkundig war es das erste Mal, dass die beiden Männer einer Leichenschau beiwohnten, oder es waren die unorthodoxen Methoden Fontanas, die ihr Interesse bannten. Allerdings hielt sich Fontana bis jetzt erstaunlicherweise mit allem, was einen unvorbereiteten Zaungast verschrecken könnte, zurück. Dass er den Toten einmal wie ein Hund von oben bis unten abgeschnüffelt hatte, war nichts gegen das sonstige Anlecken, Durchkauen, Probieren und Kneten. »Kennen Sie den Mann?«, fragte Giulia etwas lauter, um die Aufmerksamkeit der Herren auf sich zu lenken. Nachdem der Tote keine Papiere bei sich gehabt hatte, musste Giulia wohl oder übel über die Tippel-Tappel-Tour an seine Identität gelangen. Das stellte sich in diesem Fall leichter heraus als gedacht.

Denn der durchnässte Carabiniere ergriff umgehend das Wort, was seinem Kollegen, Darias Sohn, offenbar nichts ausmachte. Im Gegenteil. Er schien froh zu sein, dass ihm jemand das Sprechen, was, seiner Zurückhaltung nach zu urteilen, nicht zu seinen vordergründigen Leidenschaften zählte, abnahm. »Leopoldo Campetti«, entgegnete er mit gedämpfter Stimme. »Der erste Kellner im Ristorante di Paolo.« Er hob den rechten Daumen und deutete damit hinter sich in Richtung des Lokals, das keine zweihundert Meter entfernt lag und das Giulia seit Sonntag ebenfalls ein Begriff war. Sie schaute über seine Schulter hinweg, als könnte ihr das von außen wie ausgestorben wirkende Haus Antworten auf die Fragen geben, die sich gerade in ihrem Kopf auftürmten.

»Die haben durchgängig geöffnet«, erklärte er weiter, um gleich darauf anzufügen: »Und den besten Espresso in Menaggio.« Darias Sohn schwieg zu alledem beharrlich, wobei sein Gesicht Zustimmung ausdrückte.

Giulia schaute auf die leeren Tassen in den Händen der Polizisten. »Sie sind öfter dort«, schlussfolgerte sie. »Wann haben Sie Signor Campetti das letzte Mal gesehen?«

»Am Freitag«, beeilte er sich zu antworten. »Am Wochenende hatten wir keinen Dienst.« Ein nach Bestätigung suchender Blick zu seinem Kollegen folgte. Der nickte zögerlich, woraufhin der Mann weiterredete. »Gestern hat es irgendwie nicht gepasst. Wir standen den ganzen Tag mit dem Laser an der Via IV Novembre, da kann man nicht einfach zur Mittagspause abhauen.« Er lächelte verschmitzt. »Außerdem hatte ich noch einen wichtigen privaten Termin. Und Bruno, also Signor Sala«, er schaute wieder zu seinem Kollegen, »war nicht nach Dienstende allein dort. Oder?« Er blickte seinen Kollegen fragend an.

Daria Sala, so heißt die Blumenfrau, dachte Giulia. Die ganze Zeit hatte sie überlegt, war aber nicht darauf gekommen. Daria verkaufte die schönsten Rosen am See. Abgesehen davon vermittelte Bruno nicht den Eindruck, dass er abends allein in die Kneipe ging, geschweige denn am wilden Partyleben in Menaggio teilnahm, sollte es ein solches überhaupt geben. Dass der Polizeidienst einen Menschen derart verändern konnte, erstaunte Giulia, aber Daria würde wohl mit dem braven Jungen, den sie jetzt hatte, mehr als zufrieden sein.

Wie erwartet verneinte Bruno. Dann schwieg er eine Weile und schien dabei zu überlegen, ob er noch etwas zu sagen hatte. »Aber meine Schwester«, murmelte er irgendwann mit monotoner Stimme und so schleppend, dass man hätte meinen können, er wollte diese Information nur widerwillig preisgeben. »Sie hat erzählt, dass Leopoldo am Montag nicht zur Arbeit erschienen ist.«

»Seine Schwester ist Aufwaschfrau bei Paolo«, erläuterte der durchnässte Beamte.

»Ist das denn ungewöhnlich für Signor Campetti?«, fragte Giulia.

Der Carabiniere blies die Wangen auf und zuckte mit den Schultern. »Er hat mir hin und wieder einen Kaffee gemacht, aber dass ich ihn näher kannte, kann ich nicht behaupten. Ich habe mich auch erst vor einem halben Jahr von Sondrio hierher versetzen lassen …« Er überlegte kurz. »Aber Bruno ist aus Menaggio.«

Bruno tat, als wäre er nicht gemeint.

Der Carabinieri ließ sich nicht beirren. Offenkundig kannte er die Eigenheiten seines Partners gut genug. »Seine Schwester natürlich auch. Die kann Ihnen dazu sicherlich mehr sagen.« Er knuffte den neben ihm stehenden Sala mit dem Ellbogen in die Seite. »Nicht wahr, Bruno?«

Giulia wartete einen Augenblick, aber Sala blieb stumm. Nach allem, was sie gerade erfahren hatte, würde sie die Mitarbeiter des Restaurants, allen voran den Inhaber, Signor Lucio, nach Campetti befragen müssen. Es bestand also derzeit keine Notwenigkeit, bei Bruno Sala nachzuhaken. Das Wissen, dass es hier irgendetwas geben musste, was ihm missfiel, genügte momentan. »Haben Sie sonst noch etwas im Zusammenhang mit der Leiche gefunden, ein Seil, seine Schuhe, irgendetwas?«, fragte Giulia, wobei ihr forschender Blick noch immer auf Bruno Sala lag, dem das sichtbar nicht behagte.

»Nein, nichts. Ich bin aber auch nicht getaucht«, erklärte der durchnässte Carabiniere pflichtschuldig. Ihn schien das Verhalten seines Kollegen nicht zu irritieren, zumindest ließ er sich nichts anmerken. »Das Hafenbecken ist nicht sonderlich tief. Das könnte man zumindest versuchen.«

Giulia pflichtete ihm bei, bat die Männer die Absperrung auszuweiten, damit Gaffer ferngehalten wurden, und drehte ab. Sie ging die wenigen Meter die steinerne Uferkante entlang, bis sie zu der schräg in den See hineinführenden Rampe kam, die in einem auf der Wasseroberfläche schwimmenden Bootssteg mündete. Die gummierte Oberfläche des Steges war noch nicht vollständig getrocknet, sodass man sehen konnte, wo die Kollegen den Toten aus dem Wasser gezogen hatten. Giulia ging bis zu dieser Stelle. »Zwischen der Zara und der Nofretete, richtig?«, rief sie den Männern zu.

Beide nickten synchron.

Giulia notierte sich die Namen und die Nummern der Boote und versah dabei Zara und Nofretete mit einem fetten Kreuz. Möglicherweise hatte der Leichnam nicht zufällig zwischen diesen beiden Schiffen geklemmt. Dann schaute sie sich um. Die kleine Marina von Menaggio war bis auf einen schmalen seitlichen Zugang zum See von einer mehrere Meter hohen Brandungsmauer eingefasst und grenzte landeinwärts an die Uferpromenade, die sich in Richtung der Piazza Giuseppe Garibaldi öffnete. Die Kulisse des Platzes bildeten, ganz typisch für die Architektur am See, zwei- bis dreistöckige Häuser, deren in Ocker-, Gelb- oder Terrakottatönen getünchte Fassaden sich kontrastvoll vom Wasser abhoben. Vor den Gebäuden flackerten bunte Markisen und Sonnenschirme im Wind. Darunter reihte sich die Außenbestuhlung diverser Cafés und Restaurants so dicht aneinander, dass die Lokale nur anhand der zwischen ihnen aufgestellten Pflanzenkübel, die allerlei Blühendes, aber auch die ein oder andere üppige Fächerpalme zu bieten hatten, zu unterscheiden waren. Alles in allem schien die Häuserzeile nur dafür gemacht zu sein, den Besuchern das schönste Gesicht Menaggios zu präsentieren. In der Marina lagen nicht mehr als ein Dutzend Motorboote, keine großen Kähne, sondern eher solche von der Sorte, mit der die Hotels ihre Gäste über den See schipperten oder ein paar schnelle Erledigungen machten. Einige der Schiffe konnten sicherlich auch gemietet werden, einfache Zwei- bis Viersitzer, für die man keinen Führerschein brauchte, deren vierzig PS aber einen angenehmen Fahrtwind aufkommen ließen. Nicht zu unterschätzen die gänzlich andere Perspektive auf den See und die Ufergemeinden, die man nur durch einen Bootstrip einnehmen konnte und die aus Giulias Sicht das einzig wahre Gesicht ihres Lario offenbarte. Nirgendwo sonst bot sich einem ein so majestätischer Blick auf die sich rund um den See erhebenden Berge, deren Waldhänge am frühen Morgen eine klare, fast schon bedrohliche Dunkelheit verströmten und die mit der zunehmenden Hitze des Tages zu silbrig grauem Flimmern verschwommen. Trotz aller Herrschaftlichkeit der Massive, die den Lario seit Jahrtausenden fest umschlossen und den an seinen Rändern oder in den Berghängen angesiedelten Menschen mitunter das Gefühl gaben, dass sie nur Geduldete einer extremen Naturgewalt waren, lag über dem See eine erstaunliche Friedfertigkeit, ja fast schon Lieblichkeit, der man sich nur schwer entziehen konnte.

Jetzt um die späte Nachmittagsstunde wirkte alles jedoch ziemlich verschlafen. Die Julisonne stand noch so hoch oben am Himmel, dass niemand Lust zu verspüren schien, sein schattiges Plätzchen zu verlassen. Die Boote waren verwaist und teilweise mit Planen bedeckt. Nur ein paar Meter weiter tummelten sich ein paar Touristen vor dem Häuschen des Taxibootstandes und warteten auf die Ankunft ihres Skippers. Soweit Giulia das von hier unten einschätzen konnte, war die Marina von der Promenade zwar einsehbar, aber so eng wie die Boote nebeneinander vertäut waren, musste ein dazwischen schwimmender Leichnam nicht zwangsläufig auffallen. Womöglich hatte der ein oder andere sogar etwas bemerkt, den Toten aber, wie anfänglich der Kollege, als Strandgut abgetan. Die zweifellos beste Sicht auf die Bootsanlegestelle hatte man vom Parkplatz aus. Giulia würde die Kollegen bitten, die Besitzer der parkenden Autos festzustellen und zu befragen. Mit schnellen Schritten, die das fliegende Bauwerk unter ihren Füßen sanft hin und her wackeln ließen, kehrte sie zu den Männern zurück. Die Carabinieri, die gerade das letzte Absperrband an einem der Laternenmasten verknotet hatten, brauchten keine lange Erklärung. Offenkundig froh darüber, etwas tun zu können, schickten sie sich an, die Autokennzeichen aufzunehmen.

»Polizeitaucher, oha, das ganz große Kino. Da will es die Signora Commissario heute aber wirklich wissen.« Der Professore schnalzte unangenehm mit der Zunge. »Na ja, das letzte Stündchen dieses Mannes hat irgendwo auf dem See geschlagen, hier am Ufer jedenfalls ganz sicher nicht«, brummte er, wobei er mit seinem rechten Zeigefinger in der Mundhöhle des toten Mannes umherfuhr. »Und wenn du nicht Crash-Eis organisieren willst, sollten die Bestatter langsam hier eintreffen. Die Frage nach dem irren Kriminaltechniker verkneife ich mir. Wie üblich wird er kommen, wenn du den Mord aufgeklärt hast.« Giulia glaubte eine ungewohnte Gereiztheit in Fontanas Tonfall mitschwingen zu hören, die offenbar nur teilweise mit seiner Aversion gegen Carmelo Riso, den Leiter der Kriminaltechnik, zu tun hatte. Denn auch sonst machte er einen ziemlich unwirschen Eindruck. Seine Bewegungen waren bei Weitem nicht von der souveränen Ausgeglichenheit und Geschmeidigkeit, die er normalerweise an den Tag legte. Fontana wirkte unkonzentriert, ja fast ein bisschen fahrig, was so ganz und gar nicht zu dem versierten, selbstsicheren Mann passte, den Giulia kannte. Noch dazu ließ auch sein Äußeres zu wünschen übrig. Seine Haare glänzten fettig, und das weiße Oberhemd, dessen Bügelfalten es normalerweise mit Messerklingen aufnehmen konnten, schien schon seit einigen Tagen im Gebrauch zu sein, auch der Geruch, der von ihm ausging, unterstrich diese Vermutung. Kurzum, Professore Fontana war nicht er selbst, und für diese Erkenntnis brauchte es keine hervorragend ausgebildete Commissario mit drei Jahrzehnten Berufserfahrung. Giulia musterte ihren alten Mitstreiter ungeniert. Fontana und sie kannten sich seit ihrer Anfangszeit in der Questura, und auch wenn sie sich über die berufliche Verbindungen hinaus nicht nähergekommen waren, also die durchaus gängigen privaten Abendessen mit den Ehepartnern oder die Tratscherei am Kaffeeautomaten niemals stattgefunden hatten, verband sie ein enges, vertrauensvolles Verhältnis. Es war nicht so, dass Giulia sich mit Fontana nicht auch jenseits der Arbeit ein freundschaftliches Verhältnis hätte vorstellen können. Sie und Jacopo hatten das Ehepaar Fontana mehrfach zum Essen nach Hause eingeladen. Daraus war allerdings nie etwas geworden. Denn der Professore hatte die Einladung mit dem Hinweis auf seine schwierige Partnerin ausgeschlagen. Ob Signora Fontana außergewöhnlich schwierig war, hatte Giulia nie herausbekommen, aber womöglich war es auch nur eine Ausrede Fontanas, der nicht wollte, dass seine Frau auf eine Arbeitskollegin traf, die etwas wusste, was die Signora definitiv nicht erfahren sollte. Ihre berufliche Zusammenarbeit jedenfalls hatten Fontanas Absagen nicht beeinträchtigt. Beide konnten sich nahezu blind aufeinander verlassen, und jeder gönnte dem anderen seine kleinen Eitelkeiten, ja kitzelte sie sogar zuweilen noch hervor, soweit es der Aufklärung des Verbrechens diente.

»Man hat ihm ein Seil um den Hals gelegt und ihn hinter einem fahrenden Boot hergezogen?«, fragte Giulia, die sich den Zustand der Leiche nicht anders erklären konnte. »Oder er wurde erst erdrosselt und dann durch den See gezerrt, um die Leiche loszuwerden.« Sie überlegte kurz. »Aber das ergibt eigentlich keinen Sinn.«

Fontana entfernte ein paar Algenreste aus den Zähnen des Toten und sortierte diese behutsam in ein kleines Plastikgefäß, aber nicht ohne sie vorher Giulia unter die Nase zu halten. Das schien seine Antwort zu sein. Jedenfalls sprach er nicht, sondern presste, sogar noch während er die Probe in seinem Koffer verstaute, angestrengt die Lippen zusammen, als bräuchte dieser Vorgang seine vollste Konzentration. In der Tat ließ sich das nicht so leicht bewerkstelligen, denn das Döschen hatte sich mit irgendetwas anderem im Koffer Befindlichen verkeilt, sodass er wutschnaubend alles ausräumen und erneut einsortieren musste. Dabei machte er einen komplett chaotischen und gehetzten Eindruck.

»Was willst du mir sagen, Professore?«, fragte Giulia und schien ihn damit ein wenig erschrocken zu haben, zumindest ließ er umgehend von seinem Tun ab und schaute sie an, als wüsste er nicht, was er eigentlich hier zu suchen hatte.

»Giuli, ach so, ja«, haspelte er und fuhr sich dabei hektisch durch die vom Schweiß verklebten Haare auf seiner Stirn. »Man ist mit ihm Wasserski gefahren, ohne ihm Ski unterzuschnallen. Mit etwas Glück kann ich dir anhand der in den Algen verbliebenen Bakterien sagen, welche Route der Mörder über den See genommen hat, also zumindest grob.« Fontana atmete schwer und begann erneut, in seiner Tasche zu kramen.

Giulia musterte ihn besorgt. »Ist alles in Ordnung? Soll ich dir ein Glas Wasser holen?«, fragte sie. Fontana war gertenschlank und für einen Mann, der auf die sechzig zuging, erstaunlich gut trainiert. Nach allem, was Giulia wusste, achtete er in jeder Hinsicht auf sich, was sicherlich auch mit seiner Leidenschaft für deutlich jüngere Frauen zu tun hatte. Wie alles im Leben hatten sogar die vermeintlich schlechten Angewohnheiten einen positiven Nebeneffekt, und wenn es sich nur um ein etwas zu stark schwingendes Testosteron handelte. Heute allerdings hatte er so ganz und gar nichts von einem Gigolo, im Gegenteil, er sah aus, als wäre er zum ersten Mal in seinem Leben zu einem Marathon angetreten und könnte dabei nicht einmal die erste Etappe im Schritttempo schaffen.

Fontana hörte ihr nicht zu. »Die Belastung mit Bakterien und Keimen ist im Süden des Sees viel zu hoch.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Badesee, der als Klärwerk herhalten muss, bella Italia.« Fontana seufzte tief und Giulia war sich sicher, dass dies nichts mit seinem ökologischen Gewissen zu tun hatte.

»Wie lange muss ein Mensch auf diese Art durch den See gezogen werden?«, fragte sie.

Fontana streckte den Kopf und schaute sie aus müden Augen an. »Bis er stirbt? Schwer zu sagen. Beim normalen Ertrinken reichen vier bis fünf Minuten bis zum Herz-Kreislauf-Stillstand.« Er richtete sich auf, drückte die Knie durch und betrachtete die Leiche vor seinen Füßen. »Hier allerdings kommt es auf die Größe des Gefährts an und auf dessen Geschwindigkeit selbstverständlich. Die Heckwelle bei einem kleinen Sportboot mit ordentlich PS«, er drehte sich zu den Booten in der Marina um, »ist nicht zu unterschätzen.« Dann verdeutlichte er ihr mit seinen Händen, wie tief das Heck bei hoher Geschwindigkeit in das Wasser tauchte und welche Wellenkraft dadurch ausgelöst wurde. »Die Energie, die hier freigesetzt wird, ist enorm. Da haben schon kleine Kähne mitunter heftige Probleme, wenn sie in die Heckwelle hineingeraten. Für einen Menschen, der hintendran hängt … Mhm.« Es folgte ein nachdenklicher Blick auf den Toten. »Um sicherzugehen, würde ich mindestens eine halbe Stunde mit wechselnder Geschwindigkeit über den See brausen. Am Anfang mit ordentlich Dampf, damit mein Opfer an Kraft verliert. Er wird zwar noch ein paarmal nach Luft geschnappt haben, aber irgendwann … Finito.« Fontana zuckte mit den Schultern. »Wenn das Wasser erst von allen Seiten kommt, hat man keine Chance. Sollte der Bursche zäh sein, geht man vom Gas und lässt ihn im See untergehen.« Der Professore hob das Kinn und umfasste seinen Hals. »Früher hat man die Sklaven auf den Galeeren auf diese Weise bestraft. Allerdings glaube ich mich erinnern zu können, dass die an den Händen gefesselt waren.« Er zuckte mit den Schultern. »Das Ergebnis ist das gleiche. Nur dass wir im See keine Haie haben.«

»Jemanden an seinem Hals an ein Boot anzubinden, ist eine ziemlich sichere Methode«, bemerkte Giulia. »Und eine skrupellose.«

Fontana bestätigte das. »Dem, der das Boot gefahren hat, ging es ganz gewiss nicht um eine Abkühlung. Na ja, geh davon aus, dass er zügig unterwegs war und eine Weile herumgekurvt ist, sonst wäre der Mann nicht so lädiert. Selbst Wasser, Schilf und Treibholz brauchen eine gewisse Zeit, um einen Körper so zuzurichten. Seine Schuhe wird er dabei ebenfalls eingebüßt haben. Dass der Mörder sie ihm vorher ausgezogen hat, halte ich für unwahrscheinlich.« Er rieb sich die Hände. »Alles Weitere, wenn ich ihn auf meinen Tisch habe. Ich fahre gleich zurück nach Mailand und mache mich ans Werk. Sobald ich ihn aufgemacht habe, kann ich dir auch mit Sicherheit sagen, ob er wirklich im See ertrunken ist oder vor diesem Spektakel schon tot war. Die Beule an seiner Schläfe ist nicht von schlechten Eltern. Wenn er sich die nicht auf dem See geholt hat, dann würde ich auf einen anständigen Schlag tippen. Wird man an dieser Stelle getroffen, gehen einem erst einmal die Lichter aus. Damit ließe sich dann auch die Aktion mit dem Boot erklären. Ein so großer Mann hätte sich doch gewehrt, wenn man ihn als Fischköder einsetzen will. Denkst du nicht?« Fontana zog sich die Latexhandschuhe von den Händen und fing an, seine Sachen zusammenzupacken. Dabei sah er aus, als stünde er sich selbst im Weg. Jedenfalls schien er jeden Handgriff mehrfach vorzunehmen und dabei im Gegensatz zu sonst nicht die geringste Eile zu verspüren.

»Ja, ja, da magst du recht haben. Aber der Aufwand hätte sich nicht gelohnt, wenn er schon tot gewesen wäre. Es sei denn, jemand wollte seinen kranken Hass ausleben und sogar noch die Leiche demütigen.« Giulia biss sich auf die Unterlippe.

»Es ist immer alles denkbar, das weißt du doch, Commissario«, entgegnete Fontana mit einem freundschaftlichen Blinzeln. »Ich muss dann nach Mailand.«

»Du kommst an den See und hast nichts mehr vor?« Giulia gelang es nicht, ihr Erstaunen zu verbergen. Jedes Verbrechen am Lario, für dessen Aufklärung sie die Hilfe des Professore benötigt hatte, war bisher immer für ihn mit mindestens einem Schäferstündchen einhergegangen. Weit ab von Mailand und seiner Frau konnte er die jungen Dinger, die er jedes Mal im Schlepptau gehabt hatte, ungestört ausführen. Abgesehen davon bot der Comer See mit seinen mondänen Hotels und schicken Restaurants eine gehörige Portion Romantik und Eleganz, die ein Mann wie Fontana, selbst wenn er sich nur in oberflächige Abenteuer stürzte, zu schätzen wusste.

Fontana überging ihre Anspielung.

»Professore, du gefällst mir heute gar nicht. Kann ich irgendetwas für dich tun?« Giulia ließ sich von seiner Verschlossenheit nicht abschrecken.

»Ich bin etwas im Stress, Giuli, entschuldige bitte«, entgegnete er, machte dabei aber nicht den Eindruck, als würde das sein Tempo beschleunigen. »Meine Lieblingscomissario wartet auf die Ergebnisse meiner Untersuchung. Ich darf sie nicht enttäuschen.« Er zwinkerte Giulia verwegen zu und wirkte kurzzeitig wie der Mann, den Giulia kannte.

»Ich will dich nicht aufhalten«, gab sie mit einem milden Lächeln zurück. »Sag mir aber bitte noch, was du über den Todeszeitpunkt denkst.«

Fontana hielt kurz inne. »Dem Zustand der Haut nach zu urteilen, mh … gut und gern vierundzwanzig Stunden.« Er schaute auf die goldene Rolex an seinem Handgelenk. Die Sonne spiegelte sich darauf, und die Lichtstrahlen blendeten Giulia, sodass sie kurz die Augen schloss. »Das Wasser, die Hitze, momentan kann ich dir das nicht genauer sagen.« Er schnappte sich seinen Koffer und marschierte ohne einen Abschiedsgruß davon. Giulia sah noch, wie er in sein Cabrio stieg und vom Parkplatz fuhr. Genau in dem Moment tauchte der Bus der Kriminaltechniker auf. Fontana hatte ihn offenbar auch gesehen, denn er beschleunigte unangemessen, wobei er fast eine junge Frau mit Kinderwagen touchierte. Die quittierte diesen Schockmoment mit lautem Schimpfen und unschönen Gesten, was Fontana jedoch nicht zu bemerken schien. In viel zu hohem Tempo raste er davon.

***

Das Mädchen war einfach auf der Straße zusammengebrochen. Sie mochte kaum sechzehn Jahre alt sein; ihre Shorts sowie das quietschbunte Spaghettiträger-Top offenbarten so dünne Gliedmaßen, dass man annehmen konnte, ein krankhaftes Essverhalten wäre der Grund für diesen Ohnmachtsanfall gewesen. Dagegen sprach jedoch das Waffeleis, das sie sich in der Gelateria an der Ecke geholt haben musste und das ihr bei dem Sturz aus der Hand gefallen war. Die einstmals appetitliche Schokokugel lag auf den Pflastersteinen, wo sie in Windeseile in der Sonne schmolz. Der bewusstlose Teenager hatte die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich gezogen, die durch die Absperrungen und die zahlreichen in Schutzanzügen umherlaufenden Polizisten ohnehin schon mit etwas Schrecklichem gerechnet hatten. Jetzt spielte sich nur wenige Meter von dem toten Kellner entfernt das ab, was die beiden ortsansässigen Carabinieri die ganze Zeit so angestrengt zu vermeiden versucht hatten. Um das junge Mädchen hatte sich eine Menschentraube gebildet, deren aufgeregtes Lamentieren weitere Schaulustige anlockte. Als Giulia das Durcheinander bemerkte, hatte sich schon eine kleine Autoschlange gebildet. Durch lautes Hupen taten die Fahrer ihren Unmut über die unerwartete Verstopfung der schmalen Promenadenstraße kund. Giulia stand zunehmend nervös mit Carmelo Riso, dem Chef der Kriminaltechniker, unten auf dem Steg der Marina und versuchte, ihm zum wiederholten Male klarzumachen, was sie sich von einem Tauchgang eines seiner Mitarbeiter erhoffte. Da Extraaufträge bei Riso stets mit unschönen Diskussionen verbunden waren und der temperamentvolle Sizilianer dazu neigte, laut zu werden, war es zwischen den beiden ein wenig hitzig geworden. Schlussendlich hatte Giulia Riso davon überzeugt, dass das Seil, welches um den Hals des Opfers befestigt gewesen war und ihn womöglich umgebracht hatte, ein zwingendes Beweismittel in diesem Mordfall war. Warum der überdrehte Riso immer und für alles eine Extraerklärung brauchte, obwohl man doch meinen sollte, dass er irgendwann einmal seinen Beruf erlernt hatte und die nicht wenigen Jahren der Praxis auch nicht spurlos an ihm vorbeigegangen sein konnten, hinterfragte Giulia schon lange nicht mehr. Der Questore der Questura in Lecco war ebenfalls Sizilianer, und nach allem, was die Leute redeten, stammte er sogar aus dem Nachbardorf der Familie Riso. Damit erübrigte sich jede weitere Mutmaßung. Während Riso seine Leute instruierte, verließ Giulia den Steg in Richtung Promenade. Nebenbei hielt sie Ausschau nach der Bestatterin Tiziana De Angelis, die eigentlich längst hier sein sollte, um den Leichnam von Leopoldo Campetti nach Mailand zu chauffieren. Dass der Professore vor seinen Untersuchungsobjekten im Institut eintraf, hatte es, soweit Giulia sich erinnern konnte, noch nie gegeben. Unzufrieden darüber, dass Tizianas klappriger Bus noch immer nicht zu sehen war, spähte sie hinüber zur Sichtschutzfolie neben der der Carabiniere Bruno Position bezogen hatte, um Schaulustige abzuwehren. Wieder gelang es ihm, ihrem Blick konsequent auszuweichen. Sein Kollege, der eigentlich angeboten hatte, mit Risos Team die Marina abzutauchen, befand sich inmitten des Pulks aufgeregter Leute und gab sein Bestes, um sie zu beruhigen, während eine Frau neben dem wieder zu sich gekommenen Mädchen kniete und ihm aus einer Plastikflasche Wasser einflößte. Giulia hörte die abstrusen Spekulationen, in denen sich die Leute ergingen schon von Weitem, ein Großaufgebot der Kriminalpolizei und ein bewusstloser Teenager waren nun einmal nichts, was Menaggio jeden Tag geboten bekam. Sie wollte die Meute gerade zur Besonnenheit anhalten, als Reifen quietschten und ein Auto auf dem gegenüberliegenden Fußweg zum Stehen kam. Ob es mit dem Schreck zu tun hatte oder tatsächlich ein paar Fußgänger durch den Wagen in Gefahr gewesen waren, ließ sich nicht genau sagen, in jedem Fall wurden die beiden jungen Männer, die mit Schwung die Türen aufstießen und aus dem halb durchgerosteten Fiat Punto sprangen, lautstark beschimpft. Unbeirrt davon waren die ein wenig grobschlächtig wirkenden Kerle in nur wenigen Sätzen bei dem Mädchen angelangt, nicht ohne einige der Umstehenden rücksichtslos zur Seite zu schubsen, was erneut für Furor sorgte. Ehe irgendjemand reagieren konnte, hatte der Größere von beiden das Mädchen auf dem Arm, um sie wenig später nicht gerade zimperlich und unter Mithilfe des zweiten Mannes ins Wageninnere zu verfrachten. Das Zuschlagen der Autotüren und das Aufheulen des Motors waren eins, und im nächsten Moment war der Wagen in einer der kleinen Seitengassen verschwunden. Giulia sah zu dem Carabiniere, der bereits sein Mobiltelefon gezückt hatte und seinen Kollegen das Autokennzeichen durchgab. Sie wartete, bis er das Gespräch beendet hatte.

»Ich hätte meine Waffe gezogen oder zumindest den Taser, aber das ging alles viel zu schnell«, sagte er entschuldigend, und Giulia konnte ihm ansehen, dass er noch nicht allzu oft nach beidem hatte greifen müssen, was für einen Carabiniere auf dem Lande wenig ungewöhnlich war.

Sie hob die Augenbrauen und dachte an ihre Dienstwaffe, die zu Hause in ihrem Schlafzimmer lag. Giulia hatte noch nie großen Wert darauf gelegt und sie nach ihrer Ernennung zur Commissario auch nur mitgenommen, weil sie geglaubt hatte, die Dienstvorschriften müssten zwingend eingehalten werden. Wie alles im Leben hatte sich über die Zeit auch dieser anfängliche Idealismus der Realität gebeugt, zumal Giulia, was den Gebrauch einer Waffe anging, ohnehin irgendwie anders gepolt war. Selbstverständlich konnte sie damit umgehen, was die regelmäßigen Schießtests zweifelsfrei nachwiesen, doch sie wollte es nicht. Möglicherweise war dies für ihren Job eine etwas ungewöhnliche Herangehensweise, aber bis heute hatte sie die Verbohrtheit, mit der sie diese Dinge sah, nicht in Gefahr gebracht. Die Dörfer rund um den Comer See waren nun einmal nicht Mailand oder Lecco, wo Giulias Eigenart ihr zum Verhängnis hätte werden können. Hier draußen am Lario tickten die Uhren anders, und selbst wenn sie sich das nur einredete, hatte sie bisher genügend Glück gehabt, nicht eines Besseren belehrt worden zu sein.

»Ich meine ja nur«, murmelte der Carabiniere unsicher. »Dafür haben wir die Dinger ja. Nicht, dass Sie …«

»Denke ich nicht«, fiel ihm Giulia ins Wort. »Dann wäre es sinnvoller gewesen, sie hätten die Gaffer mit Ihrem Elektroschocker niedergestreckt, damit sie uns endlich in Ruhe unsere Arbeit machen lassen.« Sie lachte herzlich auf, worauf der Kollege nur die Mundwinkel verzog, da ihn offenkundig ein weiterer sorgenvoller Gedanke beschäftigte.

»Und wenn sie die Kleine entführt haben?«, wandte er ein und klang dabei selbst wenig überzeugt.

»Seinem Entführer die Arme um den Hals zu schlingen, als klammerte man sich an eine Rettungsboje auf hoher See, und ihm liebevoll den Kopf auf die Brust zu legen, das wäre schon sehr ungewöhnlich. Finden Sie nicht?« Giulia war das zutrauliche Verhalten des Mädchens sofort aufgefallen, was sie dazu veranlasst hatte, nicht einzugreifen.

Der junge Carabiniere schaute sie mit großen Augen an. »Davon habe ich nichts bemerkt.« Verlegen senkte er den Kopf. Ein Moment verstrich, dann sagte er: »Jetzt weiß ich, warum die Comasci so einen Heidenrespekt vor Ihnen haben. Sie würden es sogar mitbekommen, wenn hinter Ihrem Rücken einer Oma das Portemonnaie geklaut wird.« Er begegnete ihrem Blick und schmunzelte.

»Selbstverständlich, nur mit telepathischer Kfz-Halterfeststellung tue ich mich schwer.« Sie grinste.

Der junge Kollege lief knallrot an. »Entschuldigung Commissario. Adolfo Campetti, Via Luigi Cantoni 2«, antwortete er.

Giulia nickte zufrieden. »Gut gemacht.«

Man konnte dem jungen Carabinieri ansehen, dass ihn schon wieder etwas anderes umtrieb. »Womöglich war das seine Tochter«, bemerkte er eilig. »Das Alter könnte passen.« Er schob seine Mütze ein wenig nach hinten und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Leopoldo Campetti war zwar ein Mensch, dessen Alter man schlecht schätzen kann, aber fünfundvierzig Lenze, mehr hätte ich bei dem nicht getippt.« Pause. »Nur … woher weiß sie das mit ihm so schnell?«

Giulia schaute zu den Fassaden der Häuser hinüber. Die meisten Fensterläden waren noch geschlossen, doch das musste nicht zwangsläufig bedeuten, dass man von da oben nicht mitbekam, was sich unten auf der Straße abspielte. Dass Leopoldo Campetti tot aus dem See geborgen worden war, hatte die Runde in Menaggio gemacht, und es würde mit dem Teufel zugehen, wenn das arme arglose Mädchen davon nicht in der Gelateria erfahren hatte. Giulia wollte gerade etwas erwidern, als ein dröhnender Auspuff das Bestattungsunternehmen De Angelis und Söhne ankündigte. »Na endlich«, flüsterte sie und ging dem Auto entgegen, das auf dem letzten Zentimeter vor einem der Poller zum Stehen kam.

***