Letztes Gebet am Comer See - Clara Bernardi - E-Book
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Letztes Gebet am Comer See E-Book

Clara Bernardi

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Beschreibung

Ein lauer Sommerabend am Comer See: Der Duft von Zypressen und Oleander liegt in der Luft, man genießt das ein oder andere Glas Vino zum Risotto al formaggio. Den Höhepunkt des Abends bildet eine Aufführung der am See gastierenden Puppenspielertruppe. Das Stück, das die Spieler zum Besten geben, ist allerdings äußerst merkwürdig: Es handelt von einem Mönch, dem im Streit um einen Pfirsichbaum der Kopf abgeschlagen wird. Am nächsten Tag wird ganz in der Nähe, in der Abtei von Piona, ein toter Ordensbruder gefunden, offensichtlich ermordet: Dem Geistlichen wurde der Kopf abgetrennt. Die Mordwaffe, ein Beil, liegt halb verdeckt im Garten des Klosters unter einem Pfirsichbaum. Warum musste der unbescholtene Mönch einen so grausamen Tod sterben? Und was haben die Puppenspieler mit all dem zu tun? Giulia Cesare und ihr neugieriger Freund Brutus begeben sich unter den aufmerksamen Augen der ortsansässigen Comaschi auf Spurensuche, und ihre Ermittlungen führen sie ein weiteres Mal in die dunkle Vergangenheit Italiens.

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Seitenzahl: 440

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ein lauer Sommerabend am Comer See:

Der Duft von Zypressen und Oleander liegt in der Luft, man genießt das ein oder andere Glas Vino zum Risotto al formaggio. Den Höhepunkt des Abends bildet eine Aufführung der am See gastierenden Puppenspielertruppe. Das Stück, das die Spieler zum Besten geben, ist allerdings äußerst merkwürdig: Es handelt von einem Mönch, dem im Streit um einen Pfirsichbaum der Kopf abgeschlagen wird. Am nächsten Tag wird ganz in der Nähe, in der Abtei von Piona, ein toter Ordensbruder gefunden, offensichtlich ermordet: Dem Geistlichen wurde der Kopf abgetrennt. Die Mordwaffe, ein Beil, liegt halb verdeckt im Garten des Klosters unter einem Pfirsichbaum. Warum musste der unbescholtene Mönch einen so grausamen Tod sterben? Und was haben die Puppenspieler mit all dem zu tun? Giulia Cesare und ihr neugieriger Freund Brutus begeben sich unter den aufmerksamen Augen der ortsansässigen Comaschi auf Spurensuche, und ihre Ermittlungen führen sie ein weiteres Mal in die dunkle Vergangenheit Italiens.

© Peter Hansen

Clara Bernardi ist das Pseudonym der Autorin Julia Bruns, die bereits zahlreiche Regionalkrimis veröffentlichte. Julia Bruns studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie. Nach ihrer Promotion arbeitete sie viele Jahre als Redenschreiberin. Mit ›Requiem am Comer See‹ erschien 2019 der erste Band der Comer-See-Krimireihe bei DuMont, gefolgt von ›Letzte Klappe am Comer See‹ (2020) und ›Schwarze Brillanten am Comer See‹ (2021).

Clara Bernardi

LETZTES GEBETAM COMER SEE

Ein Fall für Giulia Cesare

Kriminalroman

Von Clara Bernardi sind bei DuMont außerdem erschienen:

Requiem am Comer See

Letzte Klappe am Comer See

Schwarze Brillanten am Comer See

eBook 2022

© 2022 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Maria Schmidt

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © heyengel / Alamy Stock Foto

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8236-6

PERSONAL

GIULIA CESARE

Commissario und stolze Comaschi, der die Prioritäten zwischen ihrem Heimatdorf und der Polizeiarbeit öfter mal verrutschen

BRUTUS GRAZIOLI

Giulias bester Freund und ein akribischer Postbote, der mehr Angst vor Hunden als vor Kriminellen hat

JACOPO PAVESE

Ein liebender Ehemann, der hervorragend kocht und Giulia fast keinen Wunsch abschlagen kann

MARIA CESARE

Giulias temperamentvolle argentinische Mutter, mit flinken Fingern, wenn es um das Eigentum anderer Leute geht

PIERGIUSEPPE CESARE

Der Vater, der schon sein halbes Leben auf die große Schauspielkarriere wartet und ungefragt gut gemeinte Ratschläge zur Polizeiarbeit gibt

TIZIANA DE ANGELIS

Eigensinnige Bestatterin und Freundin, die über alle am See etwas sagen kann, aber es meistens nicht tut

ELENA

Giulias taffe Assistentin, die ihrer Commissario öfters aus der Patsche hilft und sich ab und zu mit Jacopo verbündet

CHIARA ELISA ZORZI

Leiterin der Kriminalpolizei, die trotz ihres jungen Alters und der rot geschminkten Lippen einen guten Job macht und dennoch permanent mit Giulia aneinandergerät

PROFESSORE ANDREA FONTANA

Charmanter Rechtsmediziner aus Mailand, der extrem eigenwillige Untersuchungsmethoden praktiziert und den See mehr liebt als seiner Ehe guttut

CARMELO RISO

Leiter der Kriminaltechnik, der seine Zunge nicht im Zaum halten kann und an einem Tatort nur selten gesehen wird

PATER DONATO OGLIARI

Der Mönch, der nach den Geheimnissen seiner Familie sucht und den Tod findet

ROMUALDO PIERANTOGNETTI

Ein zwielichtiger Puppenspieler, der den Menschen einen schonungslosen Spiegel vorhält, aber selbst nicht hineinblicken würde

ALFREDO BOTTI

Der Puppenschnitzer, der sich seiner Familientradition um jeden Preis verpflichtet sieht und sich damit am Ende alles vergibt

ABT BENEDETTO DER ABTEI VON PIONA

Ein ehrenhafter, kluger Mann, bei dem Geheimnisse gut aufgehoben sind und der ein wenig zu oft die Augen vor der Welt verschließt

GIANMARCO ANDREA MARAFINI

Ein Gestrandeter, dessen Leben anders verlaufen wäre, wenn er Pater Donato nicht getroffen hätte

ARMANDO

Bienenfreund und leichtgläubiger Anhänger der Puppenspieler, dem die Enttäuschung nicht erspart bleibt

FIORA OGLIARI

Die liebende Schwester, die ein großes Opfer bringen musste und trotzdem verzeihen kann

COTOLETTO

1»Schlag ihm den Kopf ab!«

»Das geht zu weit.«

»Worauf wartest du? Schlag ihm den Kopf ab. Das ist die einzige Sprache, die diese Kerle verstehen.«

»Er ist ein Mönch.«

»Na und? Du willst seine Pfirsiche, also schlag ihm den Kopf ab.«

»Das ist keine Lösung.«

»Oh doch! Der Weg zum Pfirsichbaum ist frei. Ganz einfach. Die süßen Früchte sind zum Greifen nah.«

»Die anderen bewachen ihn.«

»Das ist doch keine Hürde.«

»Dann müsste ich allen den Kopf abschlagen!«

»Wo ist das Problem?«

»Man löst seine Probleme nicht mit Gewalt.«

Höhnisches Lachen. »Weiß das die Kirche auch?«

»Ich bitte dich!«

»Um was? Um die Wahrheit? Die kannst du haben. Fast die gesamten zweitausend Jahre ihrer Geschichte haben diese Leute im Namen ihres Gottes Kriege angezettelt, gemordet, geraubt, verraten. Reicht dir das?« Ein verächtliches Schnaufen. »Dann weg mit deinen Skrupeln!«

»Ich habe Angst. Ich habe noch nie einem Mann den Kopf abgehauen.«

»Nein, du verdrehst ihnen ihre Köpfe ja nur auf schamlose Weise.«

Ein tiefes Seufzen.

»Ihr Menschen seid alle feige, vor allem wenn ihr Politiker seid. Gib mir die Axt! Los, mach schon!«

Piergiuseppe, der dicht neben Giulia saß, senkte die Lider, als ob er das, was nun drohte, nicht mit ansehen wollte. Überhaupt schien das gesamte Publikum die Spannung kaum aushalten zu können. Gebannt starrten alle auf die drei Handpuppen, die sich wie von Geisterhand auf der kleinen Bühne des Holzwägelchens bewegten und sich in der letzten knappen Stunde einen rasanten Schlagabtausch über Gott und die Welt geliefert hatten, der nun offenkundig in einem Mord an einem Mönch gipfeln sollte. Giulia fand die Vorstellung des Teatro dei Burattini zuweilen ein wenig zu drastisch, aber die Leute am Lago liebten die Puppenspieler, die jedes Jahr mit ihrem mobilen Puppentheater über die Dörfer am See zogen und ihre Geschichten erzählten.

»O Giulia«, seufzte ihr Vater Piergiuseppe leise und voller ehrlicher Bestürzung, »hoffentlich kann Tavà den Bruder noch retten.« Nervös rieb er sich mit beiden Handflächen über die Oberschenkel. Im Augenwinkel konnte Giulia seine Zungenspitze sehen, die zwischen seinen Lippen hervorguckte und ihn wie einen kleinen Jungen aussehen ließ.

Giulia hatte keine Ahnung, wer oder was Tavà war. Sie sah ein grünes Plüschkrokodil, eine blonde, schicke Dame im engen Kleid und eben einen Mönch, der sich wimmernd hinter seinen erhobenen Händen versteckte. Die Köpfe der Puppen waren aus Holz, aber ihre Gesichter wirkten durch die mit einem feinen Pinselstrich aufgetragenen kräftigen Farben sehr lebendig. Ihre großen ovalen Augen jedenfalls schauten fast schon neugierig in die Welt, und so einige Male hätte man den Eindruck gewinnen können, dass sie einen mit ihrem Blick verfolgten.

»Kopf ab oder nicht?«, wandte sich das Krokodil mit tiefer Stimme ans Publikum.

Giulia schmunzelte innerlich, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser alte Trick, mit dem man jedes Kind begeistern konnte, auch in einem Theaterstück für Erwachsene funktionierte. Doch sie sollte eines Besseren belehrt werden.

»Runter damit, Cotoletto!«, forderte ein adrett gekleideter Mann lautstark, der nur zwei Bänke neben ihr saß, woraufhin ihn seine Frau am Oberarm berührte und ihn ein wenig zu zügeln versuchte, obwohl sie mit einer entschiedenen Kopfbewegung kundtat, dass sie das Gleiche dachte.

»Du wagst es nicht, einen Mann Gottes zu richten«, mischte sich ein anderer ein.

»Ha!«, schrie ein Dritter auf. »Die haben es doch nicht anders verdient, diese arroganten Mistkerle.«

»Genau, aber Beeilung! Cotoletto darf das nicht mitbekommen«, schrie ein Nächster.

»Cotoletto will sich immer beweisen, aber nur wenn seine Drachenfrau nicht dabei ist. Dann darf er nämlich nicht«, raunte Piergiuseppe Giulia zu. Bei dem Krokodil handelte es sich also um einen Drachen, und dem widerfuhr das gleiche Schicksal wie ihrem Vater, dachte Giulia amüsiert. Der ansonsten so zurückhaltende Piergiuseppe jedenfalls schien heute ungewohnt aufgekratzt zu sein. Seitdem er und Giulia hier in Colico, einer kleinen Gemeinde an der nordöstlichen Seite des Sees, angekommen waren, summte er vor sich hin, versuchte sich an dem ein oder anderen flotten Spruch und trug ein Lächeln auf seinen Lippen, das nicht einmal verflogen war, als ihm die Dame am Einlass die Seniorenermäßigung verweigerte. Piergiuseppe, der verkappte Schauspieler, der nichts auf der Welt so sehr liebte wie das Theater und den Film, war in seinem Element. Und seine Frau Maria war weit weg.

Die Stimmung unter den Leuten kochte hoch. Jeder hatte etwas kundzutun. Giulia staunte nicht schlecht, als sich sogar Piergiuseppe in das Geschehen einmischte.

»Tavà soll kommen«, brüllte er aus Leibeskräften und hob dabei seinen Hintern ein wenig von der Bank, sodass er die vor ihm Sitzenden überragte. »Er soll entscheiden.«

Auf Piergiuseppes Einwurf reagierte der Drache mit einem ebenso inbrünstigen wie fiesen Lachen.

»Jetzt lachst du noch«, mischte sich jemand aus den hinteren Reihen ein. »Aber warte bloß, bis Cotoletto dich erwischt. Und Tavà kriegt dich sowieso.«

Giulia stutzte. Die Stimme kannte sie. Sie drehte sich um und versuchte, in dem diffusen Licht den Mann auszumachen, der diese Drohung ausgesprochen hatte. Da saß er. Brutus Grazioli, der Postbote von Abbadia Lariana und ihr ältester und engster Freund. Aber wieso hatte Brutus kein Wort darüber verloren, dass er auch hier sein würde? Dann hätte er doch Piergiuseppe begleiten können. Sie jedenfalls hätte auch eine andere Beschäftigung für ihren freien Samstagvormittag gehabt, als in dieser zugigen Grotte bei einem mörderischen Plüschdrachen zu sitzen. Sie hatte nichts gegen ein wenig gemeinsame Zeit mit Piergiuseppe, vor allem wenn ihre anstrengende Mutter Maria nicht zugegen war, aber es musste nicht ausgerechnet dann sein, wenn Jacopo, ihr Mann, nur ihr zuliebe in der Kirche St.Antonio gerade damit beschäftigt war, das Gestühl zu leimen. Er tat das nicht aus freien Stücken, also nicht so, wie man es jemandem unterstellen würde, der sich für die Gemeinschaft engagierte. Nein, eigentlich beruhten diese Dienste allein auf seiner Liebe zu Giulia, die in ihrem Heimatort Abbadia Lariana so etwas wie eine kleine Berühmtheit war, vor allem was ihre Gutmütigkeit anging. Ihr trugen die Leute so manche Bitte an, die abzuschlagen sie niemals übers Herz brachte, sogar in den Fällen, in denen sie überhaupt nicht in der Lage war zu helfen. Immer dann – und das betraf zum überwiegenden Teil den in dieser Angelegenheit ziemlich freimütigen Prete und seine marode Kirche – musste Jacopo ran. Nicht dass ihm irgendwer dabei zur Hand gehen musste, nein, keineswegs, Jacopo brauchte lediglich jemanden, der ihm den geschwätzigen Prete Filipo vom Leib hielt, wenn er denn heute noch mit seiner Arbeit fertig werden wollte. Giulia reckte den Hals. Nichts erwähnt zu haben, sah Brutus überhaupt nicht ähnlich, zumal er sowohl bei Giulia als auch bei ihren Eltern tagtäglich ein und aus ging, ja quasi zur Familie gehörte und entsprechend alle nahezu lückenlos über alles Wichtige und Unwichtige aus seinem Leben auf dem Laufenden hielt. Der Grund für seine Schweigsamkeit war schnell ausgemacht. Er saß neben ihm und hieß Elena Pellegrini, Mitarbeiterin der Kriminalpolizei der Questura in Lecco und Giulias Assistentin.

Giulia wusste nicht, was sie davon halten sollte. Elena und Brutus hatten sich während ihres letzten Mordfalls zufällig bei ihr zu Hause kennengelernt. Brutus war sofort Feuer und Flamme für die taffe junge Frau gewesen, seine typische schwärmerische Begeisterung, die bei ihm etwas zu häufig vorkam, aber bislang leider nie zu einem Ergebnis geführt hatte. Und Elena? Sie hatte den mindestens um zwanzig Jahre älteren Brutus amüsant gefunden, was er ohne Frage war, wenn man ihn nicht allzu ernst nahm. Aber dass es so weit ging, dass sich Elena für Brutus freiwillig in die ihr so verhasste Provinz begeben hatte, um sich ein altmodisches, eindeutig analoges Puppenspiel anzusehen, konnte Giulia kaum fassen. Das war definitiv eine Seite ihrer Mitarbeiterin, die sie noch nicht kannte. Sollte Brutus tatsächlich der Grund sein, dann würde sich Giulia bei ihm für all die Neckereien und den liebevollen Spott, den sie ihm, solange sie befreundet waren (immerhin mehr als vierzig Jahre), in puncto Frauen angedeihen gelassen hatte, entschuldigen. Und sie würde sich für ihn freuen. Für Elena natürlich auch. Das frenetische Kreischen der Leute holte Giulia aus ihren Gedanken und lenkte ihre Aufmerksamkeit unversehens wieder zurück auf das Stück. Zwei neue Puppen waren aufgetaucht. Eine davon, ein Hund mit weit aufgerissenem Maul und riesigen Zähnen, jagte einen Mann, der dem berühmten Schauspieler George Clooney, der seit einigen Jahren am Lago lebte, wie aus dem Gesicht geschnitten war, wobei der arme Kerl das wilde Tier in einem fort mit geworfenen Pfirsichen abzulenken versuchte. Das Publikum amüsierte sich darüber köstlich. Die Leute klatschten, jubelten und stießen einander an, als wollten sie sich gegenseitig zu noch mehr Begeisterungsstürmen animieren. Dann passierte etwas, mit dem wohl niemand gerechnet hatte. Der Drache Cotoletto tauchte wie aus dem Nichts wieder auf. In der Hand hielt er eine Axt, die er in Windeseile auf den ebenfalls zurückgekehrten Mönch niedergehen ließ. Dann geschah alles gleichzeitig: der Aufschrei des Mönches, das aufspritzende Blut, das nach Giulias Dafürhalten die Konsistenz von Tomatensoße hatte, und das Verschwinden der beiden Puppen. Das grelle Licht der Scheinwerfer, die bis zu diesem Zeitpunkt auf das Geschehen gerichtet waren, erlosch. Das Publikum verstummte. Noch bevor irgendjemand realisieren konnte, was gerade passiert war, ging ein einzelner Spot an, in dessen Lichtkegel eine Puppe stand, die bisher noch nicht zu sehen gewesen war. Es handelte sich um einen Mann, der eine dunkelblaue Schiebermütze mit rotem Applikationsband nebst passendem Mantel und weiß-blau gestreiftem Ringelpullover trug und damit an einen Seeschiffer vom Lario aus längst vergangener Zeit erinnerte.

»Tavà«, entfuhr es einigen Gästen fast schon ehrfürchtig. Giulia vermutete, dass auch Brutus unter ihnen war, aber sie wandte sich nicht noch einmal um, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Ein Privatleben zu haben, war sein gutes Recht, und es lag ihr nichts daran, sich unaufgefordert einzumischen. Noch dazu schien das, was vor ihr geschah, spannender zu werden, und Piergiuseppe griff mit seiner feuchten Hand nach ihrer und drückte sie sanft.

»Da seht ihr Menschen, was passiert, wenn ihr euch leichtfertig ablenken lasst«, sprach Tavà in strengem, aber gleichzeitig freundlichem Tonfall zum Auditorium. »Hinter dem scheinbar Harmlosen verbirgt sich mehr, als ihr auf den ersten Blick sehen könnt. Schaut genau hin, bleibt wachsam, für euch und für die anderen. Denn nur so machen wir die Welt zu einem besseren Ort!«

Er verschwand von der Bühne. Der Spot ging aus.

Nach einer kurzen nachdenklichen Pause wollte das Klatschen kaum ein Ende nehmen. Sogar als die normale Beleuchtung schon wieder angeschaltet war, feierten die Leute noch ihre beiden Puppenspieler, die sich nun mit den hölzernen Protagonisten des Vormittages vor dem Bühnenwagen aufgestellt hatten und sich freundlich für die entgegengebrachte Begeisterung bedankten.

»Möchtest du etwas trinken, bevor wir gehen?«, fragte Giulia ihren Vater, als sie aufstand. Sie wäre eigentlich lieber umgehend aufgebrochen, aber sie wollte nicht unhöflich sein.

»Wein!«, schoss es aus Piergiuseppe heraus. »Der muss hier ganz hervorragend sein, sodass man ihn sich nicht entgehen lassen sollte.« Piergiuseppe senkte angesichts der frühen Tageszeit ein wenig genierlich den Kopf und fügte leiser an: »Wenn ich schon mal da bin.«

Giulia sollte auch das recht sein. Sie gönnte ihrem Vater dieses kleine Vergnügen, und wenn Maria Piergiuseppes Alkoholfahne bemerkte und ihr übliches Gezeter anstimmte, würde sie schon in der Kirche bei Jacopo sein. Sie machte sich auf zu dem Mann, der hinter einem kleinen, selbst gebauten Tresen aus alten Bahnschwellen stand und neben Wein auch noch aufgeschnittenen Käse und Oliven anbot.

»Sie sind nicht von hier«, konstatierte er mit lang gezogenen Konsonanten und brummender Stimme, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatte. Dabei beäugte er sie mit unverhohlener Neugier. »Ich erkenne Fremde sofort, zumal die Leutchen, die zu unseren Puppenspielern kommen, ein eigener Menschenschlag sind.« Er kniff auf unschöne Art seine ohnehin schon schmalen und mit dicken Brauen überwucherten Augen zusammen und heftete seinen Blick auf Giulia. »Sie passen nicht dazu.«

»Wenn ich trotzdem zwei Wein und etwas Käse bekommen kann, ist mir das gleich«, entgegnete Giulia gelassen.

»Mhm. Ich weiß nicht«, gab er abwartend zurück, wobei er ein leeres Glas in seiner Hand hin- und herwiegte und sie dabei mit nach hinten gelegtem Kopf auffallend musterte.

»Wann ist denn eine Entscheidung Ihrerseits zu erwarten?«, fragte Giulia noch immer entspannt. »Ich würde gern zum Abendessen wieder zu Hause sein, dem heutigen.« Giulia kannte den zuweilen seltsamen Humor der Leute vom See nur zu gut, und sie wusste, dass diesem am besten mit einer ebensolchen Unverfrorenheit zu begegnen war.

Er reagierte nicht. Stattdessen bewegte er seinen Mund, als würde er an etwas äußerst Hartem kauen. Nachdem seine Kiefer irgendwann zum Stillstand gekommen waren, fragte er: »Finanzbehörde?«

»Questura Lecco, Commissario«, entgegnete Giulia trocken und ohne dabei seinem Blick auszuweichen.

Millimeter für Millimeter verabschiedete sich die Grimmigkeit aus seinem Gesicht, bis sie einem beinahe herzlichen Lächeln gewichen war. »Wenn das so ist«, freute er sich, machte eine einladende Handbewegung und entkorkte eiligst eine Flasche Wein.

»Das wird sich zeigen, wenn ich den Wein probiert habe«, konterte Giulia und zwinkerte ihm zu.

Sein polterndes Lachen hallte durch die kleine Grotte.

Kein schlechter Witz, sondern eine kleine unversteuerte Nebeneinnahme, dachte Giulia bei sich. Sie registrierte das mit der gleichen Leidenschaft, mit der sie allmorgendlich den Wetterbericht im Radio verfolgte. Für ihre Leute vom See würde sie immer ein Auge zudrücken, noch dazu bei einer derartigen Lappalie, die nicht einmal in ihren Zuständigkeitsbereich fiel. Offenkundig war der Bursche von etwas schlichterem Gemüt, hatte aber womöglich das Glück, dass seiner Familie eine der ansprechenderen Naturgrotten, die es hier in der Umgebung von Colico des Öfteren gab, gehörte, was, wenn man es schlau genug anstellte, so einiges an Einnahmen brachte. Jedenfalls kamen die kleinen, eher unspektakulären Felsenhöhlen bei den Einheimischen sowie den Touristen gut an. Einige von ihnen beherbergten kleine Lädchen, in denen typische Produkte vom See angeboten wurden, und andere wiederum dienten, wie diese hier, als rustikale Tavernen. Die überwiegende Zahl jedoch, also all jene, die verkehrstechnisch nicht gut zu erreichen waren, wurden, wie schon hunderte Jahre zuvor, als Keller und Lagerräume genutzt.

»Armando, gib mir zwei Wein, schnell.«

Giulia musste sich nicht umdrehen, um zu sehen, wer da neben ihr stand, nervös über die Schulter zurückblickte und mit sich überschlagender Stimme Getränke orderte. Brutus Grazioli hatte es nicht nur besonders eilig, er wollte auch unbedingt alles richtig machen.

»Ich habe sie schon gesehen«, entgegnete Armando mit einem anerkennenden Nicken. »Nicht schlecht für einen Postmann.« Er beugte sich zu Brutus herüber. »Und dass du sie mit zu den Puppenspielern genommen hast, war ein echt cleverer Schachzug.« Er fasste sich an sein rechtes Auge und schob das untere Augenlid in Richtung Wange. »Das hat sie umgehauen. Da kann keine widerstehen. Das ist Romantik pur. Nicht wahr?«

Giulia musste sich auf die Zähne beißen, um nicht laut zu lachen.

»Hast du getrunken, Armando?«, entgegnete Brutus, und Giulia kannte ihn gut genug, um allein an der Art, wie er das sagte, seine Zweifel zu bemerken.

»Der Wein ist prima«, entgegnete Armando, während er mit einer Flasche hantierte. »Und ich kenne mich aus mit den Frauen«, konstatierte er weiter und schob Brutus die beiden Weingläser über den Tisch zu, die er gerade für ihn gefüllt hatte. »Wie läuft es sonst so unten bei euch?«

»Gut, Armando, gut«, antwortete Brutus hektisch. »Viel zu tun. Du weißt doch, die neuen Bestimmungen. Ich …« Er griff nach dem Wein und trat unruhig von einem Bein auf das andere.

»Schon gut.« Armando lachte so sehr, dass sein wuchtiger Körper zu beben anfing. »Geh schon, nicht dass sie dir noch ein anderer wegschnappt. Ich wäre nicht abgeneigt.« Er schaute an Brutus vorbei und schnalzte mit der Zunge, was nur bedeuten konnte, dass Elena nicht weit von ihnen stand und wartete. »Zumal sie ja auf Männer von der Post zu stehen scheint, das propere Weib.«

Brutus nickte dankbar, drehte sich um, setzte zum Gehen an und wäre beinahe in Giulia hineingelaufen. »Giuli«, kreischte er vor Schreck und bemühte sich dabei, die Gläser, die durch seine abrupte Rückwärtsbewegung bedrohlich ins Wanken gekommen waren, in seinen Händen so auszubalancieren, dass sich deren Inhalt nicht über seine Freundin ergoss. »Was …?« Er lief vom Hals hinauf bis zum Haaransatz, der bei ihm irgendwo in der Mitte des Kopfes begann, dunkelrot an. »Du?«

»Giulia, schau mal, wen ich hier getroffen habe«, tönte fast im gleichen Moment die laute Stimme ihres Vaters zu ihnen herüber. Giulia sah an den Leuten, die hinter ihr anstanden, vorbei auf Piergiuseppe. Der stand neben Elena, zeigte immer wieder fröhlich auf sie, als hätte er die Entdeckung des Jahres gemacht, und nickte dazu. »Die kleine Elena aus Lecco ist auch hier, und sie mag Handpuppen.«

Giulia brauchte nicht viel Menschenkenntnis, um an der Miene ihrer Assistentin deren begrenzte Begeisterung abzulesen. Woher ihr Vater Elena kennen sollte, fiel ihr so spontan auch nicht ein, und was um alles in der Welt trieb ihn dazu, sie beim Vornamen zu nennen und diesem auch noch das Adjektiv »klein« voranzustellen? Sie kannte Elena gut genug, um zu wissen, dass sie zumindest das Letztere maßlos störte, gerade dann, wenn es aus dem Mund eines alten Mannes kam. Elena war Anfang dreißig, stand mit beiden Beinen im Leben und war die beste Assistentin, die sie jemals gehabt hatte. Noch dazu kämpfte sie, was Giulia ein wenig anstrengend fand, in diversen politischen Gruppen gegen alles, was sie für ungerecht erachtete, vor allem die latent anhaltende Diskriminierung der Frauen.

Brutus, der Piergiuseppes Rufen natürlich auch vernommen hatte, drehte sich mit einer zackigen Bewegung ebenfalls zu ihm um. »Piergiuseppe ist auch da«, hauchte er entsetzt, und Giulia konnte sehen, wie er seine Augen ängstlich über die Umstehenden wandern ließ.

»Maria ist zu Hause«, antwortete sie abgeklärt. »Die Maronenernte bei den Nachbarn, du weißt schon.«

Brutus entspannte sich sichtbar. »Mhm.« Seine Blicke wanderten zwischen Giulia und Elena hin und her, und er schien nicht so recht zu wissen, was er tun sollte.

»So!«, sagte Armando, was für Giulia das Signal war, dass er nun endlich auch ihre Bestellung bearbeitet hatte. »Für Giuli, die Commissario.« Er zwinkerte Giulia ein wenig zu aufdringlich zu, was diese als bloße Selbstüberschätzung in Verbindung mit etwas zu viel Wein abtat. Während sie bezahlte, nutzte Brutus die Gelegenheit, um zu Elena zurückzukehren. Doch zu ihrem Erstaunen hatte er das zweite Glas Wein nicht seiner Begleitung, sondern Piergiuseppe gegeben, dem er jetzt verhalten zuprostete. Jacopo hätte sich über dieses schofelige Verhalten wieder echauffiert, dachte sie. Und es hätte ihn ebenso wiederholt dazu veranlasst, Giulia darauf hinzuweisen, dass ihr bester Freund auf diese Weise niemals eine Frau abbekommen und deswegen auf alle Ewigkeit ihr Anhängsel bleiben würde. Dann blieb nur zu hoffen, dass Elena darüber hinwegsehen konnte.

»Ciao, Elena«, sagte sie, als sie bei den dreien angekommen war, und reichte Elena eines der Gläser. »Schön, dich zu sehen.«

Elena verzog den Mund zu einem gequälten Grinsen, wobei Giulia nicht einschätzen konnte, ob das ihrem unverhofften Zusammentreffen oder dem Anlass galt. »Hi, Commissario.«

»Ich verstehe nicht, warum Tavà nicht eher gekommen ist«, beschwerte sich Piergiuseppe bei Brutus. »Er hätte den Mönch retten können.«

»Er muss den Menschen aber auch manchmal eine Lektion erteilen«, widersprach Brutus. »Wer weiß, was der Mönch Schlimmes getan hat?«

Elena schaute Giulia verständnislos an. »Die meinen das ernst, oder?«, flüsterte sie sichtbar konsterniert.

»Ich befürchte, ja«, entgegnete Giulia und stieß mit ihrem Glas sanft gegen das von Elena. Dann trank sie zwei Schlucke. Piergiuseppe hatte recht. Der Wein war ganz hervorragend.

»Aber das sind nur Puppen, oder?« Elena schaute wie zur Versicherung zu der kleinen Bühne hinüber, vor der die Puppenspieler ihre Sachen zusammenpackten.

»Wer kann das schon wissen?«, scherzte Giulia, die sich fragte, wie Brutus es angestellt hatte, Elena hierher zu locken. Dass die beiden regelmäßig miteinander ausgingen, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, zumindest hatte sie davon noch nichts mitbekommen.

»Was kann man denn wohl einem Mann Gottes zur Last legen?«, raunzte Piergiuseppe Brutus an. »Nein, nein, so etwas gehört sich nicht. Das wäre eine bessere Botschaft an die Menschen gewesen. Dann hätte man lieber die Frau Bürgermeisterin umbringen sollen. Die sah sowieso aus, als wäre sie mit allen Wassern gewaschen. Schon allein der kurze Rock …« Er rümpfte die Nase.

Elena entglitten die Gesichtszüge, und man konnte deutlich sehen, dass sie sich nur aus Rücksicht auf Giulia nicht einmischte.

»Cotoletto hat immer einen guten Grund. Er macht nichts einfach so«, erklärte Brutus, und beinahe konnte man den Eindruck gewinnen, er wäre ein wenig beleidigt, nur weil Piergiuseppe nicht seiner Meinung war. »James Bond bringt schließlich auch Leute um, nämlich die Bösen.«

Piergiuseppe hob die Brauen. »Ein Mönch ist ein Mönch. Dem hat man kein Haar zu krümmen. Wo kommen wir denn da hin? Heiliges Italien! Was ist das denn für eine Welt, in der das Böse über das Gute siegt? Tavà hätte das niemals zulassen dürfen. Und Cotoletto ist ein hinterhältiger Bösewicht. Wenn die Bürgermeisterin mit ihm gemeinsame Sache macht, dann taugt sie auch nichts. Basta.« Piergiuseppe trank seinen Wein in einem Zug, drückte Giulia wutschnaubend sein leeres Glas in die Hand und ließ sie ohne ein weiteres Wort stehen.

2Der Kopf lag zwischen den Mangoldblättern. Er wirkte erstaunlich groß, was wohl eine Täuschung war, die darauf zurückgeführt werden konnte, dass man normalerweise ein menschliches Haupt immer im Verhältnis zu seinem Körper zu sehen bekam und damit die Proportionen eindeutiger zuordnen konnte. Seine Haut strahlte förmlich im Schein der Halogenlampe, weiß, stumpf und großporig mit einer kleinen Narbe an der linken Schläfe. Im starken Kontrast dazu standen die auffälligen blauschwarzen Augenringe, die sich über die nicht weniger voluminösen Tränensäcke zogen und dem menschlichen Antlitz, das dieses einzelne Körperteil erstaunlicherweise noch immer besaß, etwas Krankes und Schwaches verliehen. Der Mann, dessen Kopf wie weggeworfen im Gemüsebeet lag, musste um die sechzig Jahre alt sein. Und er war nicht im Mangold gestorben. Der in direkter Nähe fehlende Körper und das nicht vorhandene Blut sprachen dafür. Noch dazu hatte er auffällige Blessuren an seinem linken Ohr und mit feiner Erde überzogene Haare, die eher darauf schließen ließen, dass er anderweitig zwischen die dicken Stängel der Pflanze geraten war.

Giulia senkte die Taschenlampe in Richtung Boden. »Wo liegt sein Körper?«, fragte sie nahezu tonlos. Der Adressat dieser Frage war nicht näher als unbedingt notwendig herangetreten, weshalb sie aufgrund der Dunkelheit nur seine schemenhaften Umrisse ausmachen konnte. Es handelte sich um den Abt Benedetto der Abtei von Piona, der die Leiche gefunden hatte und mitten in der Nacht persönlich nach Abbadia Lariana gefahren war, um Giulia zu Hilfe zu holen.

»Ich weiß es nicht«, entgegnete er mit sanfter Stimme, die keinerlei Aufregung erkennen ließ. »Ich habe es vorgezogen, nicht danach zu suchen.« Er schwieg einen Moment. »Ich wüsste es zu schätzen, wenn Sie das tun.«

Giulia nickte schweigend, ohne dabei zu bemerken, dass ihr Gegenüber es nicht sehen konnte.

»Herr, allmächtiger Gott …, ich bitte dich durch das kostbare Blut …« Er seufzte schwer und murmelte vor sich hin, nur unterbrochen von gelegentlichem Schnäuzen. »Jesus, erbarme dich unser Jesus, befreie die Seelen aus dem Fegefeuer …«

Das Schlagen der Kirchturmuhr verschluckte die letzten Worte. Die Glocke hallte zweimal in die Nacht. Giulia schaute hinauf in den sternenklaren Himmel. Die Sonne ließ noch ein wenig auf sich warten, aber wenn sie am Himmel stand, würde hier oben nichts mehr sein, wie es gestern noch gewesen war.

»Herr im Himmel …«, hob er erneut an.

»Filipo, bitte«, sagte der Abt streng. »Nicht jetzt. Alles hat seine Zeit.«

Das Murmeln verstummte umgehend. Prete Filipo, der Priester aus Giulias Gemeinde und in dieser Angelegenheit quasi der Mittelsmann, hatte es sich nicht nehmen lassen, den Abt und Giulia zu begleiten, aber wie so oft überwog seine Angst am Ende seine Neugier, und er hatte es vorgezogen, am Eingang zum Klostergarten zurückzubleiben und die Dinge aus der Ferne zu verfolgen. Giulia war das ganz recht, denn Filipo neigte ein wenig zur Schwätzerei, auch sein dünnes Nervenkostüm war einer solchen Barbarbei eindeutig nicht gewachsen.

»Wissen Sie, wer der Mann ist?«, fragte Giulia, ohne sich von der Stelle zu bewegen.

»Man kann es trotz seines Zustandes noch sehr gut sehen«, gab der Abt zurück. »Es handelt sich um Pater Donato, den Zweitjüngsten unserer Gemeinschaft.« Die Wehmut, die im letzten Teil des Satzes mitschwang, war unüberhörbar.

Obwohl der Abt bemüht leise sprach, verdeutlichten der schrille Aufschrei und das Wimmern von Prete Filipo, dass er die Worte vernommen hatte. Die Tatsache, dass es ein Mann Gottes war, den man gerichtet hatte, schien ihn an den Rand eines Nervenzusammenbruches zu führen.

»Ein Mönch«, murmelte Giulia von einem leichten Entsetzen erfasst.

Prete Filipo entfuhr ein erneuter Klagelaut, wobei er sich umgehend wieder unter Kontrolle zu haben schien. Zumindest war ab diesem Moment nur noch sein hastiges Luftholen vernehmbar.

Der Abt antwortete nicht. Stattdessen wandte er sich an den Prete. »Filipo, wärst du bitte so gut, mir meine Jacke zu holen? Um diese Zeit ist es hier oben bei uns doch unangenehm frisch. Auch du selbst solltest dir etwas überwerfen. Die Brise, die der Lago heraufbringt, ist nicht zu unterschätzen.«

Giulia, die ein kurzärmeliges T-Shirt trug und keinerlei Frösteln verspürte, verstand, dass der Abt es für angemessener hielt, den Prete nicht in alles einzuweihen. Filipos schwere Schritte über den Kiesweg ließen Giulia zufrieden ausatmen. »Wie war sein richtiger Name?«, fragte sie den Abt.

»Er war Augusto Ogliari«, entgegnete er leise. »Donato ist ein ungewöhnlicher Name für einen Mönch, aber der Pater war auch ein ungewöhnlicher Mann«, fügte er noch an.

»Was bedeutet das?«, fragte Giulia nach.

Der Abt wirkte abwesend. »Was meinen Sie bitte?«

»Sie sagten, Pater Donato war ein ungewöhnlicher Mann«, wiederholte Giulia.

»Ja, das war er«, antwortete der Abt. »Er war ein Mann von einem Schlag, wie man ihn heutzutage nur noch selten findet.«

Giulia beschloss, später noch einmal darauf zurückzukommen. »Wieso waren Sie um diese späte Stunde hier draußen?«, wollte sie wissen.

»Ich bin ein Mensch, der mit wenig Schlaf auskommt. In Nächten wie diesen zieht es mich hier hinaus. Es ist eine ganz besondere Erfahrung, ein anderer Weg zu Gottes Schöpfung. Den Augen bleiben die Dinge verborgen, aber den Ohren und vor allem der Nase eröffnet sich eine ganz neue, wunderbare Welt. Den intensiven Duft dessen aufzunehmen, was Gott uns tagtäglich schenkt, ist etwas Unvergleichliches«, schwärmte er.

»Mhm. Ich verstehe. Aber so ganz ohne Licht …«, sagte Giulia. Sie schaute sich unschlüssig um. Das Kloster stand auf der Spitze der kleinen Halbinsel Olgiasca, umgeben von dichtem Wald und Obstbäumen. Die Anlage war von einer beachtlichen Größe. Sie war alt und verwinkelt, und es gab diverse Wirtschaftsgebäude. Nachts war das hier nicht gerade ein Ort, an dem man spazieren gehen wollte. Nicht einmal die Lichter des nächsten Hauses waren zu erkennen. Bis dorthin, also nach Colico, durften es gut und gern fünf Kilometer sein.

»Ich lebe seit über sechzig Jahren hier. Dann findet man, ohne zu sehen«, erwiderte der Abt.

Aber nicht mitten in der Nacht einen abgeschlagenen menschlichen Kopf zwischen fettem Mangold, dachte Giulia bei sich und wollte den Abt gerade danach fragen, als er ihr zuvorkam.

»Er lag vor meinen Füßen, also …« Er stockte. »Ich bin, na ja, die Spitze meines Schuhs muss ihn touchiert haben. Zunächst habe ich gedacht, einer der Mönche hätte einen Korb auf dem Weg vergessen, aber als ich mich danach bückte, wusste ich, dass es nicht so war. Bedauerlicherweise. Ich hätte meine Brüder lieber am heutigen Morgen zu mehr Sorgsamkeit gemahnt.« Er sagte dies mit so viel Fürsorge, dass Giulia nicht an seinen Worten zweifeln konnte.

»Wann haben Sie den Pater das letzte Mal gesehen?«, wollte sie wissen.

»Wir versammeln uns samstags immer zu einem Abendgebet«, erklärte er. »Das begehen wir um einundzwanzig Uhr im Chiostro.« Er schaute Giulia prüfend an und redete dann zügig weiter. »Es ist ungewöhnlich, den Sonntag mit einem gemeinsamen Gebet im Kreuzgang einzuleiten. Das ist mir bewusst. Aber mein Vorgänger, Abt Luciano, sowie auch dessen Vorgänger«, er hielt versonnen inne, »und wiederum der davor haben es bereits so gehalten. Der Kreuzgang ist das Herzstück unseres Klosters und ein überaus spiritueller Ort.«

»Und was war danach?«, wollte Giulia wissen. Sie wusste nicht, wo man für gewöhnlich betete oder wie ansonsten der Tagesablauf in einem Kloster aussah, und ehrlicherweise hatte sie sich als Ungläubige noch niemals Gedanken darüber gemacht. Die Abtei von Piona hingegen war ihr ein Begriff. Die kannte jedes Kind am See, nicht zuletzt weil man ihre dicken, felsigen Mauern weithin sehen konnte. Zudem wurden die Mönche für ihren Kräuterlikör und auch diverse andere Genussmittel an dieser Seite des Larios überaus geschätzt.

»Für gewöhnlich ziehen wir uns für die Nacht zurück. Ich gehe davon aus, dass es Pater Donato ebenfalls so gehalten hat. Ich habe ihn jedenfalls nicht noch einmal gesehen«, antwortete der Abt. »In einem Kloster gibt es Regeln. Das ist wichtig für die Gemeinschaft und um sich auf das Wesentliche, die Verbindung zu Gott, konzentrieren zu können.

»Was könnte der Pater hier so spät gewollt haben?«, fragte Giulia.

»Seine Bienenkörbe stehen hier. Pater Donato war Imker. Er wird noch einmal nach seinen Völkern geschaut haben«, antwortete der Abt.

»Nachts?«

Der Abt schien ihre Skepsis herauszuhören. »Donato war ein sehr feinsinniger, weiser Mensch mit großer Sorgfalt für die Dinge, die ihm anvertraut waren«, erklärte er. »Wir hatten es in letzter Zeit hin und wieder mit Vandalismus zu tun, verirrte Menschen, die ihren Zorn an wehrlosen Geschöpfen auslassen müssen. Donato hat auf diese Weise vier Bienenvölker verloren. Womöglich hatte er etwas gehört und wollte nachsehen …«

»Allein …?« Giulia konnte das kaum glauben, so leichtsinnig erschien ihr ein solches Verhalten.

»Niemand von uns ist jemals allein«, entgegnete der Abt.

Giulia ließ die Antwort so stehen. »Wissen Sie, wer Ihnen etwas Böses wollte?«, fragte sie weiter.

»Wer kann das schon von seinen Feinden genau sagen«, gab der Abt zurück, und Giulia war es, als ob ein feines Schmunzeln in seiner Stimme lag. »Ein paar zufällig vorbeikommende Rowdys, eine arme Seele, die sich von Gott ungerecht behandelt fühlt, ein neidischer, unzufriedener Mensch … Ich weiß es schlichtweg nicht. Und am Ende spielt es auch keine Rolle. Wir richten nicht. Wir schließen denjenigen in unsere Gebete ein.«

Giulia konnte das nicht so großzügig abtun wie der Abt. Immerhin war es möglich, dass eine dieser verirrten Seelen einen Menschen kaltblütig ermordet hatte. »Heißt es bei Ihnen nicht: ›Du sollst nicht töten‹?«, fragte sie.

»So ist es«, gab er zurück. »Aber die Menschen sind fehlbar, ein Opfer ihrer selbst. Darf man sie deshalb bis in alle Ewigkeit verdammen? Wer immer das dem Pater angetan hat, hat eine schlimme Sünde begangen, aber sie kann ihm vergeben werden.«

Giulia hatte für seine Glaubenshaltung volles Verständnis. Ihretwegen konnte der Abt alles und jeden mit seiner schier grenzenlosen Menschenliebe freisprechen, aber sie befolgte die weltlichen Regeln, und die besagten, dass sie denjenigen finden und seiner gerechten Strafe zuführen musste. »Was ist außer dem Angriff auf die Bienen noch passiert?«, fragte sie.

»Ein paar zertrümmerte Blumentöpfe, gestohlenes Gemüse, ein eingeschlagenes Fenster, die verschwundenen Tageseinnahmen unseres Klosterladens …« Er schwieg so abrupt, dass es schon verräterisch war. Giulia jedenfalls hätte schwören können, dass es da noch mehr gab, was der Abt ihr allerdings tunlichst verheimlichen wollte. Trotzdem klang das, was er da gerade aufgezählt hatte, in seiner Gesamtheit nicht gerade nach einer Lappalie und schon überhaupt nicht nach Zufall. Zu einer gezielten Nachfrage kam sie jedoch jetzt nicht mehr.

»Verehrter Abt.« Prete Filipo war zurück, und an seinem schweren Atem konnte man hören, dass er sich ziemlich beeilt haben musste. »Ich hätte dann eine Jacke«, japste er, wobei er offenbar wieder nicht weiter als bis zur Pforte gegangen war und nun darauf wartete, dass der Abt ihm entgegenkam.

»Wir sollten gehen«, sagte Giulia leise. Es wurde Zeit, die Kollegen zu informieren. Noch dazu war der Klostergarten unter den Bedingungen nicht gerade der beste Ort, um das Gespräch mit dem Abt fortzuführen.

»Wir kommen, Filipo«, bestätigte der Abt laut. Er rührte sich jedoch nicht. »Commissario Cesare, es ist wichtig, diese Sache mit äußerster Diskretion zu behandeln«, sagte er mit Nachdruck, aber gedämpfter Stimme. »Prete Filipo hat mir zugesichert, dass Sie dahin gehend sein absolutes Vertrauen genießen. Unsere Abtei hat einen herausragenden Ruf hier in der Region, man orientiert sich an uns, auch in diesen Zeiten. Zudem will ich meine Brüder keinesfalls verunsichern. Wir sind ein Ort der Zuflucht und Sicherheit, des Geborgenseins. Das Bild lässt sich nur schwer aufrechterhalten, wenn dieses schreckliche Verbrechen die Runde macht.«

Giulia wusste, dass sich dies leider kaum vermeiden ließ. »Ich verstehe«, sagte sie nur. Während sie dem Abt und sich den Weg hinaus aus dem Garten leuchtete, dachte sie an das Puppenspiel, das sie am heutigen Vormittag gesehen hatte. Die Worte des Drachen Cotoletto hallten noch in ihren Ohren. Nun war der Kopf des Mönches ab. An einen Zufall wollte sie dabei jedoch nicht so recht glauben.

***

Der mittlere Teil des Klostergartens, dort, wo der Abt den Kopf seines Mitbruders gefunden hatte, war von kalt-weißen LED-Scheinwerfern ausgeleuchtet. Zwischen den Buchsbaumhecken, die die Beetbereiche fein säuberlich voneinander trennten und damit dem Garten eine beruhigende Systematik und Gleichförmigkeit verliehen, hantierten drei vollständig in weiße Plastikanzüge gehüllte Kriminaltechniker herum. Unweit von ihnen kniete Professore Andrea Fontana, der Rechtsmediziner aus Mailand, im Gemüsebeet und begutachtete in seinem üblichen schier grenzenlosen Langmut den Kopf der Leiche. Neben ihm hockte eine junge Frau, die Giulia gänzlich unbekannt war, die ihm jedoch augenscheinlich überaus beflissen zur Hand ging. Obwohl kein einziges Wort bei alldem fiel und die Abläufe ohne jegliche Eile oder Aufregung erfolgten, ging von dieser Szenerie eine erstaunliche Unruhe aus, ja sogar etwas schauderhaft Irrsinniges. Womöglich waren es das diffuse Licht, das um sie herum herrschte, die Einsamkeit des Ortes und die über ihnen kreisenden Falken, die wie zur Anklage unaufhörlich kreischten. Für Giulia fühlte es sich an, als wäre dieses Refugium mit grausamer Härte in der Realität angekommen, ebenso bedroht und verwundbar wie alles andere außerhalb dieser Mauern auch. Dem hatte nicht einmal die prächtige Kirche St.Nicola, deren kräftiges Geläut seit Jahrhunderten über den See schallte und die von hier oben scheinbar über das gesamte Ostufer wachte, etwas entgegenzusetzen. Wie zum Trotz vermeldeten ihre Glocken die fünfte Stunde. Aber das würde an dem, was hier in der vergangenen Nacht geschehen sein musste, niemals mehr etwas ändern können.

Giulia ging an den Kriminaltechnikern vorbei und nickte ihnen kurz zu. Sie verkniff sich die Frage, wo deren Chef Carmelo Riso abgeblieben war. Seit er vor einer halben Stunde aus dem Auto gestiegen war und sie mit leidlichem Elan begrüßt hatte, war er irgendwo auf dem Gelände verschwunden, aber Giulia machte sich keine Illusionen, dass dies irgendetwas mit seiner Arbeit zu tun haben könnte. Riso schaute sich die Gegend an, zählte Sternschnuppen oder saß im Zweifelsfall sogar auf der Toilette, Hauptsache, er konnte der lästigen Aufgabe der Leitung der Kriminaltechnik entgehen.

»Wie sieht es aus, Professore?«, fragte sie, noch bevor sie ganz auf dessen Höhe angekommen war.

»Die Sonne wird bald aufgehen«, verkündete er voller Enthusiasmus und mit einem flüchtigen Blick zum Himmel. »Die Spätsommer haben hier am See eine unvergleichlich schöne Romantik. Findest du nicht, Giuli?«

»Meinst du jetzt gerade im Augenblick?«, fragte Giulia, während der Professore den Kopf des toten Mönches aufhob, um ihn sorgsam auf einer direkt neben ihm ausgebreiteten Folie wieder abzulegen.

Die Begleitung des Professore, die aus der Nähe betrachtet wohl eher noch ein junges Mädchen als eine Frau war, freute sich sichtlich über Giulias Bemerkung. Mit einer schnellen Bewegung stand sie auf und streckte Giulia die behandschuhte Hand entgegen. »Sonia Vanni. Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen. Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Signora Cesare«, sagte sie, und Giulia glaubte, einen venezianischen Dialekt herauszuhören.

»Der Handschuh, Sonia, denk an den Handschuh«, mahnte der Professore, ohne von seinem Tun abzulassen.

Sonia zog ihre Hand zurück, lächelte genant, streifte sich zügig den Handschuh ab und versuchte es noch einmal. »Sonia Vanni.«

Giulia erwiderte ihren Gruß und lächelte freundlich.

»Und jetzt nimmst du dir bitte ein neues Paar, oder wie meinst du, kriegst du den Handschuh wieder angezogen, ohne zu riskieren, dass deine eigene DNA daran haftet?«, maßregelte Fontana sie erneut.

Sonia schien das an Gängelei grenzende Verhalten nicht zu beirren. Sie lächelte dankbar. »Onkel Andrea bringt mir alles bei. Ich möchte einmal sein Institut übernehmen«, verkündete sie mit einer erstaunlichen Naivität.

»Na, na, na«, mischte sich Fontana ein. »Ich bin in der Blüte meiner Jahre.« Er schaltete die Lampe ein, die an einem schmalen Stirnband, das er um seinen Kopf trug, festgemacht war, und beugte sich tief über den Kopf des Mönches. Dann befühlte er die ausgefranste Haut dessen, was vom Hals noch am Schädel zurückgeblieben war. Schließlich nahm er eine Pinzette und zupfte diverse Knochensplitter von dem herausragenden Wirbelsäulenstummel. »Mhm. Na ja«, murmelte er. »Sonia, bitte geh zum Wagen, und hol mir eine Lupe, die größere aus der braunen Tasche«, bat er, ohne sich von seinem Untersuchungsgegenstand abzuwenden. Nachdem das Mädchen davongeeilt war, wandte er sich zu Giulia um. »Schön sauber abgetrennt, unterhalb des zweiten Halswirbels, siehst du.« Er zeigte mit dem Finger auf das, was er meinte. »Atlas und Axis sind unversehrt.«

»Du brauchst keine Lupe, Fontana«, entgegnete Giulia, die den alten Schlawiner lange genug kannte, um sich nicht täuschen zu lassen. »Deine Taschen stehen alle hier.«

»Ach, Giuli«, seufzte er. »Sonia ist ein liebes Kind, die Tochter meiner Schwägerin. Sie ist auch nicht frei von Talent, aber ob ich der richtige Lehrmeister für sie bin?« Er sortierte die Splitter in ein kleines Plastikgefäß. »Ich bin ein Einzelgänger, das weißt du, zumindest, was meine Arbeit betrifft. Die Toten reden doch schon genug, da kann ich mich nicht auch noch mit den Lebenden beschäftigen, schon gar nicht während meiner Arbeitszeit.« Er zwinkerte Giulia zweideutig zu.

»Signora Fontana hat sie dir als Aufpasserin mitgeschickt«, schlussfolgerte Giulia und konnte ihre Schadenfreude nicht verbergen. Solange sie den Professore kannte, hatte er unzählige Affären gehabt, vorwiegend mit sehr jungen Frauen, meist außerhalb seines Standes und weit ab von seinen intellektuellen Fähigkeiten. Fontana, ein eleganter und erfolgreicher Mitfünfziger, schien das für sein Selbstbewusstsein zu brauchen. Manchmal hatte sie in dieser langen Zeit den Eindruck gewonnen, dass diese Eskapaden sein Lebenselixier waren. Und nun sollte damit Schluss sein. Aus Sicht der Signora konnte Giulia das nur gutheißen, aber ob Fontana dazu fähig war, bezweifelte sie.

»Exakt. Ich habe seit zwei Wochen eine neunzehnjährige Gouvernante«, entgegnete Fontana beiläufig. »Und sie ist, wie die Signora festgelegt hat, meine letzte Chance. Und das passiert ausgerechnet mir.« Der Gedanke schien ihn zu belustigen.

»Respekt«, konterte Giulia und dachte an ihre letzte Begegnung mit dem Professore vor ein paar Wochen. Er war nicht mehr er selbst gewesen, ungepflegt, mürrisch und auf eine unangenehme Art verdrießlich. Obwohl er damals kein Wort über seine privaten Probleme verloren hatte, was er ohnehin grundsätzlich nie tat, hatte sich Giulia schon denken können, dass die Signora dahintersteckte. Irgendwann wurde es sogar eine noch so tolerante Frau schlichtweg leid, zumal man, und das wusste Giulia aus eigener Erfahrung, mit zunehmendem Alter immer weniger dazu bereit war, Kompromisse einzugehen. Dass dies insbesondere für die Treue des eigenen Ehemannes galt, war anzunehmen.

»Höre ich da Ironie?«, fragte Fontana, wobei er Pater Donato sanft durch die ergrauten lockigen Haare fuhr und schließlich seine Nase tief darin vergrub. Er schnüffelte so intensiv daran, wie man es zuweilen bei einem wunderbar frisch duftenden Stück Wäsche tat.

»Keineswegs«, antwortete Giulia, als wäre das, was der Professore da gerade tat, das Normalste der Welt.

»Erstaunlich«, murmelte Fontana, dessen Nase immer noch im Haarschopf des Toten verharrte. »Wirklich außergewöhnlich interessant.«

»Fontana, mach es nicht so spannend«, entgegnete Giulia.

»Da ist keine Tasche, Onkel Andrea«, sagte Sonia, die sichtlich enttäuscht zurückgekehrt war und den Eindruck machte, als würde sie an sich zweifeln und nicht an ihrem Mentor.

Fontana überhörte das geflissentlich. Irgendetwas beschäftigte ihn. Das konnte Giulia ihm ansehen, obwohl die Hälfte seines Gesichtes noch immer von den Locken des Paters verdeckt war.

Sonia hingegen schien mit den absonderlichen Marotten ihres Onkels noch nicht so intensiv vertraut zu sein. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenem Mund an und schien nicht einordnen zu können, was sie da sah.

Giulia räusperte sich. Als sie Sonias Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, zwinkerte sie dem Mädchen verschwörerisch zu.

Sonia quittierte das mit einem verkniffenen Lächeln.

»Fontana?«, fragte Giulia noch einmal.

»Johannisbeeren. Schwarze Johannisbeeren«, antwortete er. »Nur sie haben diesen unverkennbar intensiven Geruch.«

»Du meinst, er hat vor seinem Tod noch welche geerntet?«, hakte Giulia nach.

»Was er gemacht hat, weiß ich nicht, aber er riecht nach Johannisbeeren, und das sehr stark«, entgegnete Fontana. »Hier gibt es unter Garantie welche. Mönche bauen alles an, vor allem Dinge, aus denen man einen schmackhaften Likör machen kann. Meinetwegen auch Haarwasser.« Endlich hob er wieder seinen Kopf und schaute Giulia selbstzufrieden ins Gesicht. »Und eine feine Note kalter Rauch, würde ich sagen. Womöglich hat der Pater heimlich hinter den Beerensträuchern geraucht.« Fontanas Übermut war heute wieder kaum auszuhalten, und Giulia hätte wetten können, dass da irgendetwas im Busch war. Ganz sicher jedoch war das nichts, was Sonia mitbekommen durfte. »Und übrigens: Der Mann hatte ein veritables Problem mit seinen Nieren. Wenn irgendwann der Rest von ihm noch auftauchen sollte, kann ich dir das beweisen. Die Augenringe nebst Tränensäcken jedenfalls sprechen schon mal dafür«, dozierte Fontana weiter.

»So etwas siehst du?«, fragte Sonia voller Begeisterung dazwischen. »Wow!«

»Oh ja!«, triumphierte Fontana, der den Blick immer noch auf Giulia gerichtet hatte. »Das ist allerdings keine Kunst. Jeder gute Mediziner kann vom Äußeren seiner Patienten auf diverse Krankheitsbilder schließen. Die Natur sendet sehr eindeutige Signale. Man muss sie nur zu lesen wissen.«

Giulias Reaktion fiel jetzt deutlich verhaltener aus. »Aha«, entgegnete sie ein wenig zu spitz. Sie schätzte Fontana über alle Maßen, aber seine Akribie auch bei Dingen, die ganz offensichtlich nichts mit dem Mord zu tun hatten, ging ihr gehörig auf die Nerven, vor allem weil sie diese Nacht noch nicht eine Stunde geschlafen hatte und, da es langsam hell wurde, heute wohl auch nicht mehr dazu kommen würde.

»Meine liebe Commissario«, hob der Professore an. »Ich kann nur mit den Dingen arbeiten, die mir zur Verfügung stehen. Wenn der Einfaltspinsel da drüben«, er deutete mit einer seitwärtsgerichteten Kopfbewegung zu den Kriminaltechnikern, »seine Arbeit machen und mir den Körper des Mannes bringen würde, sähe das ein wenig anders aus.«

»Reg dich nicht auf. Du kennst ihn«, beschwichtigte ihn Giulia.

»Ein schwerer Missstand meines Lebens«, entgegnete Fontana betont angewidert.

»Was hast du?«, fragte sie, um das leidliche Thema Carmelo Riso zu beenden. Immer wenn die beiden Männer aufeinandertrafen, gab es eine Zänkerei wie zwischen zwei greisen Weibern an einem Waschplatz. Giulia, die lediglich an der schnellen Lösung ihres Falls interessiert war, sah sich jedes Mal einem Vabanquespiel ausgesetzt, was sie nicht nur lähmte, sondern ihr auch tierisch auf die Nerven fiel. Aber Fontana war nun einmal der Beste seines Faches, zumindest in Norditalien, und Riso stammte aus Sizilien, zu allem Überfluss auch noch aus dem Nachbardorf des Questore. Welche Wahl blieb ihr also?

»Unser Opfer weist keinerlei Kopfverletzungen auf, woraus ich schließen würde, dass man ihn nicht vorher k.o. geschlagen hat. Ob es dennoch einen Kampf gab und wann der Todeszeitpunkt war, kann ich dir jedoch noch nicht sagen. Dazu brauche ich …« Er wiederholte die Kopfbewegung von eben. »Schlimm genug, dass man mit solchen Leuten arbeiten muss.« Er rümpfte die Nase. »Die Todesursache ist offensichtlich. Ich tippe auf ein Beil oder eher eine Axt. Der Schlag hat gesessen. Vermutlich brauchte es keinen zweiten. Zumindest würde ich das bei der geraden Knochenkante nicht annehmen. Unser Mörder sollte also ein Mann oder eine russische Hammerwerferin sein, was vermutlich fast auf das Gleiche herauskommt.«

Sonia kicherte.

»Neben einem Toten wird nicht gelacht!«, meckerte der Professore übertrieben pikiert.

Sonia unterband es umgehend und wirkte mit ihrem betont ernsten Gesichtsausdruck noch kindlicher, als sie ohnehin schon daherkam. Giulia fragte sich, wie die Signora darauf kommen konnte, dass sich ein alter Fuchs wie Fontana von so einem jungen Ding im Zaum halten ließe? Und vor allem: Wie sollte das vonstattengehen? Sonia konnte ihn wohl kaum rund um die Uhr im Auge haben. Aber jeder hatte da sicher seine ganz eigene Strategie.

»Der Mörder jedenfalls stand hinter dem Pater. Das erklärt die Kraft des Schlages, inklusive seines sofortigen Erfolges. Da gab es keinen Kehlkopf, der die Wucht hätte bremsen können«, redete Fontana weiter. »Dann hätte er auch nicht auf direktem Weg den dritten Halswirbel erreicht. So ein Kinn hemmt ungemein, musst du wissen.«

»Er könnte dem Pater hier im Dunkeln aufgelauert haben«, überlegte Giulia.

Fontana schaute sich demonstrativ um. »Wie groß ist das Überraschungsmoment, wenn jemand über Kies läuft, vor allem in der Stille der Nacht?«, fragte er betont gelassen.

»Wenn eine Axt von hinten auf dich zufliegt, spielt das keine Rolle, vorausgesetzt natürlich, der Täter war flink auf den Beinen«, erwiderte Giulia.

»Da hast du auch wieder recht«, entgegnete Fontana.

»Ach nein, igitt, also wirklich!« Der angeekelte Ausruf Risos beendete die Unterhaltung.

Der Professore stöhnte genervt auf.

»Er hat etwas gefunden«, schlussfolgerte Giulia. »Wo bist du, Carmelo?«, rief sie in die Dunkelheit.

»Das könnte jemand wie er nicht einmal sagen, wenn man ihm die GPS-Daten auf die Hand tätowiert hätte«, zischte Fontana boshaft.

»Ich weiß nicht, warum ausgerechnet mir das immer passiert«, hörte man Riso schimpfen. »So eine Schweinerei aber auch. Die neuen Schuhe. Die kann ich wegwerfen, am besten noch bevor Tilda sie sieht. Kein normaler Mensch arbeitet nachts, noch dazu im Dunkeln. Das kann ja nichts geben.« Er konnte sich überhaupt nicht beruhigen, was es Giulia leichter machte, ihn zwischen den dichten Gewächsen zu finden, denn sie folgte einfach seiner Stimme. Ein Mitarbeiter Risos begleitete sie unaufgefordert, mit einer Lampe und dem Fotoapparat ausgerüstet.

Riso stand zwischen dichten Johannisbeerbüschen und war schwer damit beschäftigt, seine Füße im Wechsel vom Boden anzuheben und zu betrachten. Dass er sich dabei keinen Zentimeter vor- oder zurückbewegt hatte, war an den Abdrücken seiner Schuhe in der vom Blut rot gefärbten Erde unschwer zu erkennen. Die sich direkt vor ihm ergießende Lache war zwar teilweise im trockenen Boden versickert, aber durch die Kühle der Nacht und die Feuchtigkeit des Sees war noch genug übrig geblieben, um zweifelsfrei auf den Tatort schließen zu können. Der Körper des Paters musste also irgendwo hier sein. Giulia legte die Hand auf den Arm des Kollegen, der neben ihr stand und mit dem Strahler pflichtschuldigst auf seinen Chef zielte, und führte den Lichtkegel zunächst ein wenig nach rechts und dann nach links, um das Ganze anschließend in einem etwas größeren Radius zu wiederholen.

»Da!«, rief der Kriminaltechniker. »Unter den Zucchini.« Er stellte die Lampe ab, richtete sie sorgfältig aus, umkreiste umsichtig die Blutlache und hob eines der großen Blätter an.

Sie hatten Pater Donatos Körper gefunden.

»Ich gehe nach Hause«, maulte Riso. »So eine Sauerei.« Er streckte seine Arme nach Giulia aus, hielt sich an ihr fest und machte einen lang gezogenen Ausfallschritt, um seiner Misere in Richtung Kies zu entkommen. »Da will man einmal ein paar Beeren naschen. Das Abendessen ist Stunden her, und für das Frühstück ist es zu früh. Ich kann nicht arbeiten, wenn ich unterzuckert bin!« Schließlich stapfte er bockig wie ein kleiner Junge davon.

Weder Giulia noch der Kollege von den Kriminaltechnikern reagierten auf den typischen divenhaften Riso-Abgang. Es hätte ohnehin nichts genützt, und meistens waren sie ohne Carmelo sogar besser aufgestellt.

Der Professore jedenfalls ließ nicht lange auf sich warten. Aber ein lang gezogenes »Mhm« war alles, was er herausbrachte.

»Sag es, Fontana«, bat Giulia in nöligem Ton. »Sag es einfach.«

»Schwarze Johannisbeeren«, entgegnete der Professore in einem zufriedenen Singsang. »Auf die Möglichkeit, dass er darin gestorben ist, hätte ich auch allein kommen können. Ich würde meinen, der Kopf hat während seines Falls zumindest die Büsche anständig touchiert.«

»Und Riso hat es herausgefunden«, provozierte ihn Giulia.

Der Professore hob beide Brauen, erwiderte aber nichts, sondern schaute nachdenklich hinter sich zu dem Platz, an dem der Kopf des Paters lag. Dann betrachtete er wieder den Fundort des Körpers. Das wiederholte er mehrfach hintereinander, bevor er etwas sagte. »Die Wucht des Hiebes kann nicht so groß gewesen sein, dass der Kopf gut und gern zehn Meter weit geflogen ist. Es sind doch zehn Meter, Commissario, oder?«

Giulia hätte sogar noch zwei Meter draufgelegt. Sie nickte.

»So ein Kopf ist ja kein Basketball, also nicht, solange er fest mit dem Rumpf verbunden ist«, redete der Professore weiter. »Die Kraft entlädt sich in der Durchtrennung der Halswirbelsäule. Das muss man an sich erst mal schaffen. Ich hätte die Entfernung verstanden, wenn wir auf extrem abschüssigem Gelände wären. Da kann so ein Kopf schon mal ein paar Meter wegrollen. Aber hier …? Nichts rollt einen Hang hinauf. Ausgeschlossen. Der Tod trat zwischen den Beeren ein, und der Kopf liegt im Mangold. Mhm. Schmeckt das eigentlich zusammen?«

»Ich frage Jacopo, wenn ich ihn das nächste Mal sehe«, entgegnete Giulia lax, um dann umgehend umzuschwenken. »Der Täter hat den Kopf mitgenommen …«, überlegte sie.

»Und hat es sich dann anders überlegt und ihn im Gemüsebeet fallen gelassen«, ergänzte der Professore.

»Er könnte überrascht worden sein und musste schnell fliehen«, sagte Giulia. Sie hielt inne. »Aber selbst bei all dem Adrenalin, das ein Mord ausschütten kann: Wie wahrscheinlich ist es, sich nach einem Kopf zu bücken und ihn mitzunehmen? Was will man vor allem mit einem Kopf?«