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Eine faszinierende Zeitreise auf den Spuren berühmter Schriftstellerinnen Regine Ahrem lädt ein zu einer faszinierenden Zeitreise auf den Spuren von sieben außergewöhnlichen Frauen: Vicki Baum, Marieluise Fleißer, Mascha Kaléko, Irmgard Keun, Erika Mann, Ruth Landshoff und Gabriele Tergit. In einer spannenden Collage entfaltet sie die Lebensgeschichten der Autorinnen und erzählt von ihrer künstlerischen Entwicklung ab 1926 bis zur »Machtergreifung« 1933, die ihren Karrieren ein jähes Ende setzt. Chronologisch und kaleidoskopisch werden die Wege der Schriftstellerinnen nachgezeichnet, die sich mitunter berühren und immer wieder kreuzen. Alle sieben gehören zu den »Neuen Frauen«, die in den 1920er-Jahren die öffentliche Bühne im Sturm erobern – sie sorgen für Theaterskandale, werden Bestsellerautorinnen und It-Girls einer ganzen Generation. Nicht nur für Vicki Baum werden es die interessantesten und fruchtbarsten Jahre ihres Lebens. Ein wilder Reigen – sprühend vor weiblicher Schaffenskraft und Energie, inspirierend und atmosphärisch dicht erzählt. ✶ Auf den Spuren großer Schriftstellerinnen: Vicki Baum, Marieluise Fleißer, Mascha Kaléko, Irmgard Keun, Ruth Landshoff, Erika Mann und Gabriele Tergit
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Seitenzahl: 362
Veröffentlichungsjahr: 2025
Regine Ahrem
Aufbruch der Frauen
1926 – 1933
Für meine drei kleinen großen starken Frauen der Zukunft –Charlotte, Johanna und Paula
Mit dem Ersten Weltkrieg und den Turbulenzen der Nachkriegszeit gerieten die Traditionen des Wilhelminischen Reiches in einen gewaltigen Strudel, der alle bis dahin als sakrosankt geltenden Wert- und Moralvorstellungen hinwegfegte. Das war insbesondere für die Frauen der Fall, die mit der Einführung des Frauenwahlrechts 1918 endlich auch formal den Männern gleichgestellt waren. Der Weg war frei für die Neue Frau, die sich im Deutschland der Zwanzigerjahre mit Macht den öffentlichen Raum eroberte. Schon äußerlich gab es einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit. Da rückten Frauen nach, die ihre Haare abschnitten, die Röcke kurz trugen, in langen Hosen daherkamen oder sich gleich ganz auszogen. Es waren Frauen, die einen Beruf ausübten, rauchten, Auto fuhren, Sport trieben und sich auch sonst zu einer ungeahnten inneren und äußeren Freiheit emanzipierten.
Alle in dem Buch behandelten Schriftstellerinnen sind – jede auf ihre eigene Weise – Neue Frauen. Und jede hat auf ihre Weise durch ihr Werk oder ihre Person das traditionelle Bild der Frau in der Gesellschaft überschrieben. Einige von ihnen wurden Bestsellerautorinnen, andere verursachten Theaterskandale, wieder andere waren allein durch ihr Leben Skandal genug.
Eine kurze Spanne Zeit war diesen Frauen gegeben, bevor sie jäh in der inneren oder äußeren Emigration verstummten. Als Vicki Baum am 1. September 1926 ihre Stelle beim Ullstein Verlag antrat, begannen für sie »die glücklichsten, interessantesten und fruchtbarsten Jahre meines Lebens«. Ganz ähnlich äußerte sich Gabriele Tergit, als sie von den »sieben fetten Jahre einer Generation, 1926–1933« sprach. Und Mascha Kaléko schließlich nannte sie »die paar leuchtenden Jahre vor der großen Verdunklung«. Auch Marieluise Fleißer, Ruth Landshoff, Irmgard Keun und Erika Mann hatten diese kurze Spanne Zeit, in der sie aufbrachen und zum Zenit ihres künstlerischen Schaffens aufstiegen.
Von dem Licht dieser wenigen Jahre erzählt dieses Buch.
Ruth – Berlin
Es ist nasskalt an diesem 14. Januar 1926 in Berlin. Vor den Türen des Nelson-Theaters am Kurfürstendamm drängt sich die Menge. Heute Abend findet hier die Premiere der Revue Nègre statt, mit der schwarzen Tänzerin Josephine Baker. Sie ist der Inbegriff der amerikanischen Unterhaltungswelle, die seit einiger Zeit über den Großen Teich auch nach Deutschland geschwappt ist. Shows und Revuen und vor allem die »Girls« der Tanztruppen sind zum Leitbild der Alltagskultur geworden. Josephine Baker jedenfalls eilt bereits ein sagenhafter Ruf voraus. Den Herbst über ist sie in den Folies Bergère in Paris aufgetreten und hat dort dem verblüfften Publikum neben viel Nacktheit auch einen ganz neuen Tanz präsentiert, den Charleston.
In der ersten Reihe des Nelson-Theaters sitzt an diesem Abend eine junge Frau im Smoking, die mit ihren kurzen schwarzen Haaren wie ein bildhübscher Junge aussieht. Es ist die 22-jährige Ruth Landshoff, die seit einiger Zeit mit dem Impresario der Show, Karl Vollmoeller, liiert ist. Während die Spannung im Saal steigt, nimmt Vollmoeller Ruths Hand und schaut sie voller Stolz an. Er hat Josephine Baker vor zwei Jahren in New York entdeckt und ihr daraufhin die Engagements in Paris und Berlin vermittelt. Als der Vorhang am Ende der Show fällt, ertönt donnernder Applaus. Das Publikum tobt. Auch Ruth hat etwas Vergleichbares in ihrem Leben noch nicht gesehen.
Anschließend fährt sie mit großer Entourage zu der Premierenfeier, die in Vollmoellers Berliner Stadtwohnung am Pariser Platz vis-a-vis vom Brandenburger Tor stattfindet. Die kulturelle Crème de la Crème ist anwesend und feiert die Sensation aus Amerika. Zu vorgerückter Stunde dann legt jemand Platten auf dem Grammofon auf, mit der neuen Musik, die erst seit Kurzem den Sprung über den Atlantik geschafft hat: Jazz. Bei den ersten Takten finden sich Ruth und Josephine wie von selbst. Und tanzen vor aller Augen den neuen Tanz dazu: Charleston. Sie tanzen bis in die frühen Morgenstunden hinein, beklatscht und gefeiert von den faszinierten Premierengästen, die bald selbst anfangen, ein paar Schritte zu probieren.
Als sie im Morgengrauen zwar müde, aber hingerissen nach Hause fahren, begegnen ihnen bereits die Zeitungsjungen mit den Morgenausgaben der Berliner Illustrirten Zeitung und der Morgenpost. Die berichten voller Enthusiasmus über die Show am vergangenen Abend. Und was den Tanz angeht: Das Virus ist längst übergesprungen. Josephine Bakers Auftritt löst in Deutschland eine regelrechte Charleston-Hysterie aus.
Erika – München
Erika Mann muss durchatmen. Zur Ruhe kommen. Und ein bisschen das heillose Liebeschaos sortieren, in dem sie sich gerade befindet. Und das sie – trotz allem – auch genießt.
Denn, ja, sie liebt Klaus über alles. Er ist die große, immer gültige Konstante ihres Lebens. Von klein auf sind die Geschwister – gerade einmal ein Jahr auseinander – auf innigste, ja symbiotische Weise miteinander verbunden. Ohne den anderen und ohne die andere geht nichts. Aber 1923 ist zu dem »Zwillingsgespann«, als das sie sich gerne ausgeben, auch noch Pamela gekommen, die Tochter des berühmten Dramatikers Frank Wedekind. Seine frivolen Bänkellieder kennen die Geschwister auswendig und zitieren sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Die drei Teenager werden bald unzertrennlich. So sehr, dass sich Klaus und Pamela im Sommer 1924 gar verloben. Eine Spielerei? Eine Provokation? Ein Bluff? Sicherlich von allem etwas, denn Klaus lebt zu diesem Zeitpunkt seine Homosexualität bereits offen aus. Und Erika ist ihrerseits leidenschaftlich in Pamela verliebt. Zu dieser pikanten Dreierkonstellation stößt 1925 noch der Schauspieler Gustaf Gründgens hinzu. Damit ist das Kleeblatt der fluiden Geschlechterbeziehungen komplett. Denn Gustaf Gründgens ist zwar ebenfalls homosexuell, bekennt sich aber nicht dazu und umwirbt Erika heftig. Alle sind gegenseitig fasziniert voneinander. Klaus bewundert den Star der Hamburger Kammerspiele, der »vor Talent glitzerte und sprühte, der charmante, einfallsreiche, gefallsüchtige Gustaf«. Umgekehrt ist Gründgens hingerissen von dem fast sieben Jahre jüngeren Mann, nennt ihn den »Schilderer der neuen Jugend«, der vielleicht »berufen ist, ihr Wegweiser zu werden«. Auch Erika ist von dem gut aussehenden Gründgens mit dem »aasigen Lächeln« angezogen.
Gustaf Gründgens ist im Sommer 1925 auf die beiden Geschwister zugegangen und hat ihnen vorgeschlagen, Klaus’ erstes Theaterstück Anja und Esther auf die Bühne der Hamburger Kammerspiele zu bringen. Das Drama beschreibt das Lebensgefühl einer »Lost Generation«, ihren Hass auf die Eltern, ihren Überdruss dem Leben gegenüber. Es ist eine Generation, die alle Ideale verloren hat und sich gleichzeitig doch so sehr danach sehnt. Das alles wird verhandelt anhand der Geschichte von vier jungen Menschen und dem komplizierten erotischen Verhältnis, das sie verbindet, wobei die lesbische Liebe der zwei titelgebenden Figuren im Mittelpunkt steht.
Der Clou war, dass die vier Figuren von niemand Geringerem als dem Kleeblatt selbst gespielt wurden, also von Erika, Pamela, Klaus und Gustaf. Gustaf übernahm zudem die Regie. Schon allein die Darstellung homoerotischer Liebe an sich war ein Tabubruch. Wenn die Theaterfiguren dann auch noch unverkennbar die Wesenszüge der Schauspielerinnen und Schauspieler trugen und Homosexualität bei den Akteuren selbst vermutet werden konnte, machte dies den Skandal perfekt.
Die Premiere am 22. Oktober 1925 in Hamburg endete in einem Tumult. Das Publikum tobte, vereinzelt aus Begeisterung, zuallermeist allerdings aus Abscheu. Danach begaben sich die vier auf eine Tournee durch die Provinz, wo sie nicht minder heftig angefeindet wurden. Der ganze Skandal kam den Geschwistern und ihren beiden Mitstreitern indes nicht ungelegen, sie genossen geradezu die Publicity, die sie mit ihrem »Coup« auslösten. Genderfluid, androgyn, sexuell nicht zuzuordnen – die Attacke gegen die wohlgeordnete Welt der Väter war scharf kalkuliert. Gerade weil es ihr großer Name war, unter dem zumindest Erika, Klaus und Pamela segelten. In diesem Sinne hatte das Kleeblatt es geschafft.
Zu Beginn des Jahres 1926 sind sie in aller Munde und auf den Titelblättern der Illustrierten präsent. So kehrt Erika im Januar nach der kräftezehrenden, geradezu tumultuösen Tournee erst einmal in die elterliche Villa in der Poschingerstraße 1 in München zurück, um sich von den Aufregungen der letzten Wochen zu erholen.
Irmgard – Köln
Im Januar wird für den Rhein der höchste Wasserstand seit dem Jahr 1784 gemeldet. Große Teile der Kölner Altstadt sind überflutet. Gebannt starrt die 20-jährige Irmgard Keun auf die Wassermassen, die sich durch die schmalen Gassen wälzen. Auch sie kann das Stadttheater in der Glockengasse mit der daran angeschlossenen Schauspielschule nicht erreichen, ohne nasse Füße zu bekommen. Seit letztem September ist Irmgard endlich Elevin der Kölner Schauspielschule.
Lange hat sie auf die Erlaubnis ihres Vaters warten müssen. Als sie 1921 nach der 10. Klasse die Schule verließ, schien sie planlos und unambitioniert. Was tun? Sie ließ sich treiben, besuchte ein Pensionat, begann eine Hauswirtschaftslehre und fing schließlich an, in der Firma des Vaters als Stenotypistin zu arbeiten. Von außen betrachtet eine typische Frauenexistenz der Weimarer Republik. Sie lernte Maschine schreiben, Diktate aufnehmen, stenografieren. Und sammelte dabei acht Stunden täglich genügend Erfahrungen, um später die Eintönigkeit dieses Büroalltags bei ihrer ersten Romanheldin, der Stenotypistin Gilgi, authentisch zu beschreiben. 1925 konnte Irmgard sich dann endlich von der Existenz als Bürofräulein verabschieden. Schon seit Längerem hatte sie den Wunsch, auf die Schauspielschule zu gehen, und bekam nun endlich vom Vater die Erlaubnis dafür.
Die junge Schauspielschülerin ist auffallend. Aber es ist nicht so sehr das Talent, das ins Auge sticht, sondern ihre Persönlichkeit. Viel leichter als die Darstellung anderer Charaktere fällt Irmgard die Selbstdarstellung. Ihre Intelligenz, ihr Witz, ihr Charme öffnen ihr alle Herzen und Türen. Es ist eine aufregende Mischung. »Das blühendste Blondinengesicht eint sich mit dem Verstand eines jüdischen Essayisten«, sagt einer ihrer Verehrer später. Diese Mischung erklärt möglicherweise die große Anziehung, die Irmgard auf andere Menschen ausübt. Wenn sie mit ihren Freundinnen von der Schauspielschule abends ausgeht, ist immer sie es, um die sich die jungen Männer scharen. Nicht um Sibylle, die doch viel mehr dem Schönheitsideal der Zeit entspricht.
Und dann ist da noch etwas anderes, das auffällt. Eine große innere Freiheit, eine geradezu unbezähmbare Unabhängigkeit des Geistes. Irmgard hasst jede Art von Zwang, will sich nicht anpassen, nicht in vorgegebenen Bahnen denken. Das war schon von Anfang an so. Von den Eltern ließ sie sich nichts sagen, und in der Schule galt sie als schwieriges, aufsässiges Kind, ohne jegliche Disziplin. Die Leistungen dort waren nicht mehr als mittelmäßig. »Pädagogen und Polizisten waren stets meine natürlichen Feinde«, konstatiert sie später nüchtern.
Bei einem Spaziergang im Kölner Stadtwald ist die Neunjährige zum ersten Mal mit den Ordnungshütern in Konflikt geraten. Als ein Wärter ihren kleinen Bruder mit einem Schlag auf den Kopf vom Klettern auf einen Baum abhielt, sagte sie ihm empört ins Gesicht: »Das werden Sie büßen.«
Dafür bekam sie ebenfalls eine Ohrfeige. Worauf das Mädchen nur entgegnete: »Das werden Sie noch mehr büßen.«
Mit dem kleinen Bruder an der Hand ging sie daraufhin zu der nächstgelegenen Polizeidienststelle und gab eine Anzeige auf. In dem darauffolgenden Prozess wurde der Parkwärter verurteilt und entlassen. Und der Richter attestierte: »Dieses Mädchen ist von einer nicht zu widerlegenden Glaubwürdigkeit.«
Marieluise – Ingolstadt
Wie in einem Spinnennetz hockt die 24-jährige Marieluise Fleißer in dem Geviert der mittelalterlichen Stadtmauern, die das elterliche Wohnhaus in der Kupferstraße 18 umgeben. Sie hört die Glocken von neun Kirchen und kämpft mit ihren Depressionen. Sie ist zurückgeworfen auf einen ernüchternden Alltag, in dem sie tagsüber im Haushalt hilft und auf ihre vier jüngeren Geschwister aufpasst. Zum Schreiben kommt sie nur noch am Abend. Dabei hat ihr doch von früh an eine nicht verstummende Stimme gesagt, dass sie schreiben müsse und nichts anderes als das.
Deshalb hat sie Ingolstadt, die denkbar engste Provinz, 1920 verlassen und sich in München im Fach Theaterwissenschaft eingeschrieben – eine höchst ungewöhnliche Berufsentscheidung für die Tochter eines Eisenwarenhändlers aus Ingolstadt zu dieser Zeit. Der Vater aber gestattete es und unterstützte die schon in der Schule auffällig begabte Tochter auch finanziell. Das so ganz andere Münchner Fluidum nahm sie sofort gefangen. Schnell warf sie die Hüllen ihrer kleinbürgerlichen Erziehung und klösterlichen Schulbildung ab und lief als »echte Schwabingerin« in einer viel zu großen Männerregenjacke durch die Gegend. Die Leute drehten sich nach ihr um, weil sie so gar nicht wie ein junges Mädchen in diesem Alter aussah.
Im Winter 1922 machte Marieluise dann im Münchner Fasching eine Bekanntschaft, die für ihr ganzes weiteres Leben bestimmend werden sollte. Auf einem Kostümfest stürzte sich der Schriftsteller Bruno Frank auf sie und trug sie rittlings auf den Schultern wie eine Trophäe durch den Saal. Dann steuerte er auf Lion Feuchtwanger zu und verkündete lauthals: »Lion, hier stell ich dir die Frau vor mit dem schönsten Busen Europas.«
Der ließ sich das nicht zweimal sagen und hob Marieluise zu sich herunter. Doch es ging nicht so frivol weiter. Marieluise vertraute dem berühmten Schriftsteller noch am selben Abend an, dass sie schreibe und an eine mögliche Zukunft auf diesem Gebiet denke. Feuchtwanger forderte sie auf, ihm alles zu zeigen, und schon am nächsten Tag brachte sie ihm ein paar ihrer Gedichte und den Anfang eines Theaterstücks vorbei. Von da an war Feuchtwanger ihr Mentor.
Doch dann zog dieser, wie viele andere, im Sommer 1925 nach Berlin, in die angesagteste Stadt in Deutschland, wenn nicht sogar in ganz Europa. Marieluise aber blieb, ihrer Künstlerfreunde beraubt, in München alleine zurück. Ihr Studium hatte sie längst abgebrochen. Und der Vater versagte ihr nun auch seine finanzielle Unterstützung. Alle Versuche, auf eigenen Füßen zu stehen, scheiterten. Es blieb Marieluise nichts anderes übrig, als im August 1925 nach Ingolstadt zurückzukehren. Der Rückfall in die Enge einer Welt, der sie sich längst entflohen glaubte, ist ein schwerer Schlag für sie. Sie ist verzweifelt.
Ihr Mentor in Berlin aber hat sie nicht vergessen. Am 26. Januar 1926 kommt ein Brief von Lion Feuchtwanger, der sie ermahnt, durchzuhalten und die Zähne zusammenzubeißen. Und er verspricht ihr, sich bei Rowohlt und Kiepenheuer für sie einzusetzen.
Vicki – Mannheim
Immer noch ist es kalt und nass in dieser vierten Januarwoche. Vicki Baum ist in einem schlechten Zustand. Mannheim, ihr gegenwärtiges Zuhause, droht sie zu ersticken. Ihre repräsentativen Pflichten als »Frau Generalmusikdirektor« langweilen sie. Sie fühlt sich in eine stehen gebliebene Vergangenheit zurückversetzt, in eine alte behäbige, bourgeoise Welt, der sie mit ihrem Weggang von Wien längst entronnen zu sein glaubte. Die sogenannte gute Gesellschaft, von der sie hier umgeben ist, ist ihr ein Graus. Viel schwerer aber wiegt der Umstand, dass ihre Ehe in einer tiefen Krise steckt.
Am Abend zuvor hat es zwischen ihr und Richard Lert einen heftigen Streit gegeben. Angesichts der neuesten Affäre ihres Mannes ging Vickis Eifersucht wieder einmal mit ihr durch. Sie überschüttete Richard mit Vorwürfen. Daraufhin antwortete er ihr, dass sein Leben ja ohnehin nur noch aus »Kompromissen, Kompromissen, Kompromissen« bestünde und er am liebsten sowieso alles hinwerfen würde. Allein aus Rücksicht auf sie und die Kinder würde er an diesem Leben festhalten. In mühsam beherrschtem Zorn stand sie auf und sagte: »Wegen mir musst du nie wieder Kompromisse schließen.« Dann stürmte sie aus dem Zimmer.
Die außerehelichen Eskapaden ihres Mannes sind die eine Hälfte der Wahrheit. Die andere aber ist: Vicki hat seit einigen Monaten selbst einen Geliebten. Sie hat den Naturwissenschaftler bei den Vorarbeiten zu ihrem neuen Roman in einem Labor der Firma Dorr in Wiesbaden kennengelernt. Im vergangenen Dezember ist er jedoch mit seiner Ehefrau in die Hauptstadt übergesiedelt, als Direktor der Berliner Niederlassung.
Unruhig tigert Vicki durch die düstere, für ihren Geschmack viel zu barock eingerichtete große Wohnung in der vornehmen Mannheimer Oststadt. Sie kommt ihr vor wie eine Gruft. Richard ist – wo sonst? – im Opernhaus, und ihre Kinder Peter und Wolfgang sind mit der Kinderfrau an der frischen Luft.
»Kompromisse, Kompromisse, Kompromisse«, die Worte hallen noch in ihr nach. Es gibt nur einen Ausweg aus dieser Situation, eine Konsequenz. Vollkommene ökonomische Unabhängigkeit. Und eine räumliche Trennung. Vicki überlegt. In der Hinterhand hat sie ja immerhin noch die 5.000 Reichsmark, die sie bei dem renommierten Kurzgeschichtenwettbewerb der Kölnischen Zeitung für ihre Novelle Der Weg bekommen hatte. Mit der in wenigen Tagen zusammengeschriebenen Erzählung hatte sie im Herbst 1924 tatsächlich den ersten Preis bekommen. Und kein Geringerer als Thomas Mann war einer der drei Preisrichter gewesen.
Und Vicki überlegt weiter: Eigentlich ist ihre Ehe ja auf Grundlage der strikten Übereinkunft geschlossen worden, dass keiner dem anderen beruflich im Wege stehen solle. Allerdings hat Richard Vicki gleich bei der Heirat abverlangt, niemals unter ihm oder einem anderen Dirigenten Harfe zu spielen. Ihres Berufes als Harfenistin zu diesem Zeitpunkt längst überdrüssig, war diese Forderung kein Problem für sie. Mit Hingabe unterstützte sie stattdessen in den ersten Ehejahren die Karriereschritte ihres Mannes als Dirigent und Hofkapellmeister. Sie hielt ihm den Rücken frei und tat auch sonst alles, um zu verhindern, dass man – wie sie es nannte – »Gulasch aus ihm macht«. Die Tatsache allerdings, dass sich Vicki einem neuen Beruf, nämlich der Schreiberei, zuwandte, wurde von Richard mit großer Ignoranz quittiert. Jahrelang hat er sie als Schriftstellerin überhaupt nicht wahrgenommen. Womit sie ihre Abende verbrachte, interessierte ihn nicht besonders, und erst als es unausweichlich war, hat er einmal einen Blick in ihre Bücher geworfen.
Vor ein paar Wochen hat Vicki ihren Roman Feme an Ullstein geschickt. Und ihr neuer Roman Stud. chem. Helene Willfüer liegt bereits in der Schublade. Doch anstatt weiter an ihrer Karriere als halbwegs erfolgreiche Schriftstellerin zu arbeiten, setzt sie sich lieber an ihren Schreibtisch und bewirbt sich bei Ullstein um eine feste Anstellung. Als mögliche Tätigkeitsfelder schweben ihr Modezeichnerin oder Sekretärin oder Musikkritikerin oder auch Ratgeberin auf der Frauenseite vor. Von dem Brief sagt sie ihrem Ehemann nichts. Ein paar Tage später kommt die Antwort: »Ullstein sehr interessiert! Erwarten Sie baldmöglichst zur Besprechung! Natürlich auf unsere Kosten! Herzlichst!«
Vicki legt das Telegramm zur Seite. Die Sache ist entschieden. Sie wird nach Berlin gehen. »Vielleicht nur für einige Zeit, vielleicht für immer«, wie sie einem Freund gesteht.
Gabriele – Berlin
Am 25. Januar hält der Physiker Albert Einstein im Audimax der Friedrich-Wilhelms-Universität einen Vortrag über die von ihm entwickelte sogenannte Relativitätstheorie. Vor ein paar Jahren hat Einstein den Nobelpreis für Physik erhalten, aber eben nicht für seine Theorie, die in weiten Kreisen der Wissenschaft immer noch umstritten ist. Die 31-jährige Gabriele Tergit hingegen, die auch zu den Besucherinnen der Veranstaltung gehört, ist fasziniert – auch wenn sie kaum etwas versteht. Denn von Berufs wegen ist sie seit einem Jahr Gerichtsreporterin für das Berliner Tageblatt. Angefangen hat es damit, dass sie in den großen Saal des Kriminalgerichts Moabit geschlichen war und das Geschehen atemlos verfolgt hatte – ohne allerdings mitzuschreiben, weil sie nicht auffallen wollte. Danach schickte sie ihre Berichte mit den im Kopf behaltenen Dialogen zunächst an den Börsen-Courier. Sie wurden sofort gedruckt. Aber da es nun einmal – mit Gabrieles Worten – »eine große Sache war«, zum Berliner Tageblatt zu gehören, schickte sie ihre Berichte ein paar Monate später auch dorthin, und zwar an den Chefredakteur Theodor Wolff persönlich. Tatsächlich lud dieser sie zum Bewerbungsgespräch in den Verlag ein.
Voller Ehrfurcht stand sie vor dem berühmten Mann. Wolff war im Berliner Zeitungswesen eine Institution, er war ein großer Demokrat und Liberaler. Er bekämpfte zeitlebens politische Extremisten, weil er, wie er sich ausdrückte, weder den rechten noch den linken Fuß eines Diktators auf seinem Nacken spüren wollte. Sein Charme war so überwältigend, dass sie – so Gabriele später – die Hässlichkeit seines Gesichts und seiner Gestalt völlig vergaß. Wolff war angetan von ihren Artikeln und bot ihr 400 Reichsmark im Monat an. Sie hatte sich fest vorgenommen, über Geld nicht zu reden. Also schwieg sie.
Wolff sagte: »Das Mädchen sitzt im Sessel, sieht aus und gibt mir das Gefühl, dass ich sie ausnutze. Also 500 Mark?«
»Ja, natürlich!«, sagte Gabriele hastig.
500 Mark für neun Gerichtsberichte im Monat! Verbunden mit der Aussicht, zusätzliche Artikel noch extra honoriert zu bekommen! Gabriele war selig. Das Berliner Tageblatt erscheint zwölfmal die Woche mit einer Auflage von bis zu 300.000 Exemplaren. Eine riesige Leserschaft also. Unterzeichnet werden die Artikel mit dem Namen, den sie bereits während ihres Geschichtsstudiums in Heidelberg erfunden hat. Da saß sie mit einem Freund im Schlosspark und überlegte, unter welchem Namen sie in Zukunft veröffentlichen sollte.
»Dein richtiger Name Elise Hirschmann geht jedenfalls gar nicht«, sagte der Freund.
Gabriele stimmte ihm zu, sein Vorschlag indes, sich von nun an »Veilchen« zu nennen, wurde abgelehnt. Ihr Blick fiel auf das Parkgitter vor ihr. Git-ter! Wie wäre es, wenn man das Ganze umdreht? Ter-git. Tergit! Der Freund beglückwünschte sie. Und dabei blieb es. Den Vornamen Gabriele hatte sie sich schon in ihrer Schulzeit zugelegt.
Ruth – Berlin
Am 13. Februar gegen ein Uhr nachts bekommt Harry Graf Kessler einen Anruf von Max Reinhardt.
»Haben Sie nicht Lust, noch bei Karl Vollmoeller vorbeizukommen? Miss Baker ist da, und wir haben noch ein paar fabelhafte Dinge vor.«
Kessler gibt der Versuchung nach und lässt sich noch in der Nacht von seiner Villa im Grunewald zu Vollmoellers Stadtresidenz an den Pariser Platz fahren. Harry Graf Kessler ist eine Institution in der Weimarer Republik – sorgfältig, in Tausenden von Tagebucheinträgen protokolliert er das gesellschaftliche und politische Leben in Berlin, in Deutschland und Europa. So notiert er fein säuberlich, dass er im Hause Vollmoellers eine Art Harem vorgefunden habe: Mehrere nackte Mädchen liegen oder tänzeln zwischen vier oder fünf Herren im Smoking, dazwischen Ruth Landshoff, ebenfalls in einem Smoking, und Josephine Baker, nur mit einem rosa Mullschurz bekleidet. Sie gibt an diesem Abend mit »äußerster Groteskkunst und Stilreinheit« eine private Tanzvorstellung. Kessler ist von ihrer Darbietung so inspiriert, dass er noch in derselben Nacht beschließt, eine choreografische Pantomime für sie zu schreiben – nach Motiven des Hohen Liedes Salomon. »Ich denke mir die Baker als Sulamith und die Landshoff als ihr junger Liebhaber. Oder von mir aus auch als König Salomon. Die Musik vielleicht von Richard Strauss.«
Karl Vollmoeller und Max Reinhardt sind von der Idee begeistert, Letzterer stellt ihm sofort eine Aufführung am Deutschen Theater in Aussicht. So lädt Kessler die Runde für den 24. Februar zu sich nach Hause ein, um die Details zu besprechen. Wieder erscheint Ruth in einem Herrenoutfit, das Kessler geradezu verzückt: »Fräulein Landshoff im Smoking sehr hübsch, wie ein Junge aussehend, was sie noch durch eine Hornbrille unterstrich und aufgeschminkte Andeutung schwarzen Bartflaums.« Zwei Tage später findet sich Kessler nachts wieder bei Vollmoeller ein. Die angekündigte Privatvorführung mit Miss Baker fällt allerdings aus. Stattdessen sitzt die Tänzerin – sichtlich schlecht gelaunt – auf dem Diwan und isst eine Bockwurst nach der anderen. Auch Ruth langweilt sich. Sie ist müde, will ins Bett. Genau fünf Jahre ist es her, dass sie, im Februar 1921, ihre erste Nacht in Vollmoellers Stadtpalais und Bett verbracht hat. Es war nach dem berühmten Reimann-Ball in den Festsälen des Zoologischen Gartens. Den Annäherungsversuch des 26 Jahre Älteren wies sie zwar zunächst zurück, aber sie blieb dennoch in dieser Nacht bei ihm. Der noch minderjährigen Ruth eröffnete Vollmoeller neue Welten. Er ist eine schillernde Berühmtheit, erfolgreich als Unternehmer, Flugzeugkonstrukteur, Archäologe, Rennfahrer, Impresario, Dichter, Schriftsteller, Übersetzer und Stumm- und Tonfilmpionier. »Ich liebte es, ihm zuzuhören. Ich war fasziniert von allem, was er sagte: Italien, Autos, Flugzeuge; Dichtung, Archäologie, Paris und Stefan George«, so Ruth später.
Erika – München
Die beiden Dachzimmer in der Mann-Villa stehen für die Geschwister Erika und Klaus immer als Refugium bereit. Dorthin kehren sie zurück, wenn sie nicht auf Reisen sind oder – im Falle Erikas – kein Theaterengagement haben. 1913/14 hat sich Thomas Mann die – im Familienjargon »Poschi« genannte – hochherrschaftliche Villa über drei Etagen im Herzogpark erbauen lassen. Die rasch wachsende Kinderschar brauchte Platz, und Thomas Manns anhaltender Erfolg als Schriftsteller machte es möglich. Zu jenen Zeiten war die Gegend am rechten Isarufer – außer ein paar anderen vornehmen Villen – noch ein wildes und einsames Idyll. Die Kinder wuchsen hier weitgehend frei und fern von jeglicher elterlichen Kontrolle auf. Gemeinsam mit ihren Freunden – der sogenannten Herzogparkbande – machten sie die Gegend unsicher und spielten mit Streichen und Clownerien den gefürchteten Bürgerschreck. Und Erika war die Anführerin des wilden Rudels. In diese Zeit datieren auch ihre schauspielerischen Anfänge zurück. Denn irgendwann lebte die Bande ihre musischen Instinkte im »Laienbund deutscher Mimiker« aus. Dies war eine durchaus ernst zu nehmende Schauspieltruppe, die mit unkonventionellen Klassikerinszenierungen brillierte. Gespielt wurde in den Villen der Eltern, Nachbarn und Freunde. Bei dieser Gelegenheit wurde Erikas Talent für die Bühne entdeckt. Man war allgemein begeistert und sagte ihr eine große Zukunft voraus. »Damals erfand ich das Theater für mich als Beruf«, schreibt sie später.
Ruth – Berlin
Karl Vollmoeller war jedoch nicht die einzige schicksalhafte Begegnung für Ruth an jenem Abend auf dem berühmten Reimann-Ball 1921. Ein paar Stunden zuvor hatte sie dort auch Francesco von Mendelssohn kennengelernt, einen Nachfahren des berühmten Philosophen Moses Mendelssohn und Sohn des bereits 1917 verstorbenen Bankiers Robert von Mendelssohn. Selbst für Ruths Verhältnisse ist der 19-jährige Francesco unermesslich reich. Er bewohnt mit seiner Schwester Eleonora ein hochherrschaftliches Palais im Grunewald.
Die ersten Worte, als Francesco Ruth sah, lauteten: »Du bist schön.«
Und Ruth konnte nicht anders, als ihm das Kompliment zurückzugeben. Dann tanzten sie miteinander.
»Von dieser Nacht an war Francesco ein Teil meines Lebens. Jeder erkannte sofort, dass wir zueinander gehörten. Wir mussten niemandem sagen, dass wir uns liebten. Es war völlig offensichtlich. Es war leicht. Es gab nie Streitigkeiten, Meinungsverschiedenheiten. Wir dachten gleich. Wir mochten dieselben Dinge. In meinem ganzen Leben gab es nie wieder eine solche Beziehung, wie Cesco und ich sie hatten.«
Der schwule Francesco und der Lebemann Vollmoeller werden in den nächsten zwei Jahrzehnten Ruths enge Gefährten bleiben. Mit dem einen verbindet sie eine narzisstische Liebe, und über die Beziehung zu Vollmoeller resümiert sie später: »Eine Zeit lang war ich seine überaus Geliebte, eine Zeit lang sein Sohn, ich wurde sein Freund und am Ende, so viele Jahre später, in denen sich die Welt so oft verändert hatte«, seine Mentorin und schließlich seine Mutter.
Vor den Augen der Welt aber sah in den frühen Zwanzigerjahren alles danach aus, dass Ruth Francesco heiraten würde. Vor allem Ruths Mutter wiegte sich in diesem Glauben. Der Ehemann ihrer Schwester hingegen – Ruths Onkel Sami – sah die Sache realistischer.
Onkel Sami war niemand anderer als der berühmte Verleger Samuel Fischer, der die großen Autoren der zeitgenössischen Literatur verlegte. Zusammen mit seiner Ehefrau Hedwig bewohnte er eine hochherrschaftliche Villa in der Erdener Straße 8 in Grunewald mit Tennisplatz und zahlreichem Dienstpersonal. Für die Kinder gab es weitläufige Spielzimmer und einen riesigen Garten mit Spielplatz und Turngeräten. Von klein auf verbrachte Ruth die Sonntage im Hause des berühmten Onkels. Manchmal gesellen sich die erwachsenen Gäste zum Spielen dazu. Thomas Mann empfanden die Kinder als »ausgesprochen pompös«, Hugo von Hofmannsthal als elegant und Gerhart Hauptmann als sehr lustig, weil er die Kinder dauernd zum Lachen brachte. Wohingegen sie Alfred Kerr und Lovis Corinth langweilig fanden, und dass Max Liebermann berlinern durfte, machte sie neidisch. Denn die Kinder durften es nicht. »Wir wurden früh an Berühmtheit gewöhnt. Berühmtsein war einfach eine Eigenschaft, wie nett sein oder klug, und eine Tatsache, die nichts an unserem Benehmen änderte.« Zeitlebens wird Ruth deswegen keine Berührungsängste haben und auf das Selbstverständlichste mit den Berühmtheiten ihrer Zeit verkehren.
Onkel Sami also machte sich keinerlei Illusionen über eine etwaige Hochzeit mit Francesco. Ihm war klar, welcher Natur das Verhältnis seiner Nichte zu Francesco, aber eben vor allem zu Karl Vollmoeller war. Deshalb wurde Ruth in die Villa in Grunewald zu einer Aussprache bestellt. Es gab nur Tee und keine Sachertorte, wie sonst üblich. Außerdem war ihre Mutter anwesend, was zusätzlich unangenehm war. Ruth wurde nahegelegt, das Verhältnis mit dem um so vieles älteren Lebemann umgehend zu lösen, da – so Samuel Fischer – »mit einer Heirat ja wohl nicht zu rechnen ist«.
Die Nichte antwortete schüchtern: »Ich finde heiraten altmodisch, vor allem in meinem Alter.«
Der sonst so gutmütige Onkel kochte vor Wut. Aber Ruth legte noch nach: »Außerdem hat er mich gefragt und ich habe Nein gesagt.«
Ein Eklat war unabwendbar. Unter Gebrüll wurde Ruth des Hauses verwiesen, während ihre Mutter dem allen ratlos zusehen musste. Draußen vor dem Haus saß Vollmoeller in seinem weißen Austro-Daimler und nahm sie in Empfang. Sie sagte nur: »Verzeih, dass ich dich warten ließ.«
Über den Rausschmiss verlor sie kein Wort. Dabei wusste Onkel Sami noch längst nicht alles: Denn Ruth hatte auch ihr Hingezogensein zu Frauen entdeckt. Hinzu kam, dass Ruth begonnen hatte, Vollmoeller andere Frauen zuzuführen. In Ruths Kreisen waren alle bürgerlichen Moralvorstellungen schon längst auf den Kopf gestellt.
Mascha – Berlin
Die 19-jährige Mascha Engel sitzt im berühmten Romanischen Café, das – direkt neben der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gelegen – einer der schillerndsten Treffpunkte der Stadt ist. In dem »Bassin für Nichtschwimmer« genannten Hauptraum treffen sich neben Normalsterblichen die Schriftsteller, Maler, Schauspieler, Journalisten und Kritiker der Stadt. Und alles, was sonst noch als schick gilt und dazugehört. Oder dazugehören möchte. Es ist ein ständiges Sehen und Gesehenwerden. Und im Zweifelsfall auch Übersehen und Übersehenwerden. Denn wie es Intimitäten und Freundschaften gibt, so gibt es auch Feindschaften und Frontverläufe, die sich durchaus jederzeit auch ändern können. Im kleineren Nebenraum mit nur 20 Tischen befindet sich das sogenannte Bassin für Schwimmer, in dem die angesagtesten Künstler und Intellektuellen der Zeit residieren: Alfred Döblin, Gottfried Benn, Otto Dix, George Grosz, Erich Maria Remarque, Franz Werfel, Stefan Zweig. Die Ambition, einmal zu jenen »Schwimmern« zu gehören, treibt viele in dem Café um. Manchmal dauert es Monate, manchmal Jahre, um dorthin zu gelangen. Und manchem gelingt es nie. Irmgard Keun lässt ihre Romanfigur Doris später in Das kunstseidene Mädchen sagen: »Das Romanische Café ist der Wartesaal der Talente. Es gibt Leute, die hier Tag für Tag aufs Talent warten. Sie beherrschen, wenn nichts sonst, so doch die Kunst des Wartens in verblüffendem Maße.«
Und auch Mascha, die natürlich an einem der »Nichtschwimmer«-Tische sitzt, wartet. Worauf, kann sie selbst noch gar nicht so recht sagen. Unwiderstehlich und sooft es geht, zieht es sie nach Büroschluss an diesen illustren Ort am anderen Ende der Stadt. Hier treffen sich die Menschen, die sie interessieren, hier weht der Geist, den sie in ihrem bisherigen Leben vermisst hat.
Denn geboren wurde sie 1907 in West-Galizien, dem Zentrum des armen Ostjudentums in Europa. Eine Herkunft, die sie zeitlebens als Makel empfand und verleugnete. Auch Joseph Roth kennt dieses Gefühl: »Aus Galizien stammte man nicht, ohne das Naserümpfen sämtlicher Westeuropäer zu riskieren.« Überhaupt neigte Mascha ein Leben lang dazu, ihre persönlichen Spuren zu verwischen. Alles, was sie von sich preisgeben wollte, findet man in ihren Gedichten.
Aus Furcht vor Pogromen verließ die Familie ihre Heimat und bezog nach mehreren Stationen eine Wohnung im Scheunenviertel, dem Armenhaus Berlins. Obwohl die junge Mascha überaus begabt war, musste sie nach der Mittleren Reife die Schule verlassen. Sie begann eine Bürolehre im Arbeiter-Fürsorgeamt der jüdischen Organisationen Deutschlands in der Auguststraße, nahe der Synagoge in der Oranienburger Straße. Außerdem besuchte sie als Gasthörerin Vorlesungen über Philosophie und Psychologie an der Universität und schrieb ihre ersten eigenen Gedichte. Und irgendwann fasste sie sich ein Herz und besuchte zum ersten Mal jenen magischen Ort im Westen der Stadt, den sie bislang nur vom Hörensagen kannte: das Romanische Café.
Seitdem sitzt Mascha still an ihrem kleinen runden Marmortisch und folgt mit ihren Blicken dem Geschehen. Einer der Kellner, genannt »der rote Richard« – so viel weiß sie schon –, geht über eine schön geschwungene Treppe hinauf zur Galerie, wo sich die Schachspieler treffen. Sie verbringen ihre oftmals stundenlangen Duelle manchmal mit dem Genuss nur einer einzigen Tasse Kaffee. So etwas kann aber durchaus auch an einem der Tische im unteren Raum passieren. Das führt – wenn etwa ein Gast von mittags bis nachts um drei nur einen einzigen Kaffee konsumiert – zu einem sogenannten Ausweis. Der Geschäftsführer legt dann diskret ein gedrucktes Kärtchen neben die Tasse, auf dem zu lesen steht: »Sie werden gebeten, unser Etablissement nach Bezahlung Ihrer Zeche zu verlassen und nicht wieder zu betreten. Bei Nichtbeachtung dieser Aufforderung würden Sie mit Maßnahmen wegen Hausfriedensbruch zu rechnen haben.« Natürlich würde Mascha so etwas nie passieren. Dazu ist ihr der Aufenthalt hier viel zu kostbar. Sorgfältig spart sie sich das Geld für einen Kaffee und ein Stück Kuchen von ihrem Wochensalär ab. Und verlässt auch nach einem angemessenen Zeitraum ihren Platz.
Als sie vor dem Café steht, ist es schon dunkel. Aber die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche leuchtet. Und vom im Jahr zuvor eröffneten Gloria-Palast schräg gegenüber strahlt die Leuchtschrift für den neuesten Film aus Hollywood herüber: Goldrausch von Charlie Chaplin. Einen Moment steht sie mit hellwachen Augen still und saugt alles, was sie sieht, in sich ein. Die Leuchtreklamen, die glitzernden Kaffeehausterrassen, die grell geschminkten »Damen« auf dem Tauentzien. Dann springt sie in die U-Bahn, um sich wieder quer durch die Stadt zurück ins Scheunenviertel bringen zu lassen, wo sie mit ihren Eltern und ihren drei jüngeren Geschwistern in einer dunklen Mietskaserne in der Grenadierstraße 17 wohnt.
Marieluise – Ingolstadt
Am 18. März trifft ein Telegramm mit folgendem Wortlaut in der Kupferstraße in Ingolstadt ein: »Elften April Uraufführung von ›Fußwaschung‹ Brief folgt Moriz Seeler Berlin Regensburger Straße 24.« Moriz Seeler ist Spiritus Rector der Jungen Bühne, die nach folgendem Rezept arbeitet: Wechselnde Schauspielerinnen und Schauspieler der ersten Kategorie spielen an wechselnden Orten in einmaligen Sonntagsmatineen neue Stücke von meist unbekannten Autoren. Der Clou: Alle Theaterkritiker der Stadt sind zugegen und verschaffen den Stücken eine enorme Öffentlichkeit. So werden oftmals Entdeckungen daraus. Auch der Baal von Bertolt Brecht hatte dort seine skandalumwitterte Premiere.
Lion Feuchtwanger hat Marieluise bei ihrem ersten Besuch in München, als sie ihm ihr Geschriebenes zeigte, auch »von diesem Brecht« gesprochen. Und ihr seine Balladen in die Hand gedrückt. An ihn, so war sein guter Rat, sollte sie sich halten. Sie las die Balladen und auch sonst alles, was sie von diesem Brecht kriegen konnte. Und schaute die Stücke, die auf der Bühne der Kammerspiele aufgeführt wurden. Schließlich kam es auch zu einer von Marieluise lang ersehnten persönlichen Begegnung. Feuchtwanger hatte Brecht von ihr zu lesen gegeben, und Brecht bestellte sie daraufhin in seine Wohnung: »Und als er sich die Zeit genommen hatte für mich und ich die herrlichen Jochbogen sah in dem mageren Gesicht und wie seine Augen über die Menschen spazierten, da weiß ich schon, von diesem Dichter komme ich nicht los, der hat was für mich, der gräbt mich um, an dem komme ich in meinem Leben nicht vorbei.« Es war die Ankunft des Messias in ihrem Dasein. Von da an fand sie ihren eigenen Stil. Sie arbeitete an einem Stück, das Die Fußwaschung heißen sollte, und schrieb mehrere Erzählungen gleichzeitig. Das Studium brach sie auf Brechts Ratschlag hin ab. Zwar hätte sie gern den Doktor gemacht, aber Brecht sagte bloß: »Was hast du vom Doktor? Schreiben kannst du auch so. Bleib du nur bei mir und du hast auch schon deinen Weg.« Als dann auch Brecht 1924 von München nach Berlin zog, feierte er dort rasch einen Erfolg nach dem anderen. Aber er vergaß Marieluise nicht. Denn als ebenjener Moriz Seeler von der Jungen Bühne den Spielplan aufstellte, sagte Brecht kategorisch: »Das nächste Stück wird ein Stück der Fleißerin.«
Er nutzte hier schon die spezielle Anrede, die er ein Leben lang ihr gegenüber beibehalten sollte. Und er machte wahr, was er ihr in München versprochen hatte: »Bleib du nur bei mir und du hast auch schon deinen Weg.«
Dem Telegramm Seelers folgt wenig später ein Brief, in dem dieser wortreich dafür plädiert, das Stück umzubenennen. »Der Titel ›Die Fußwaschung‹ wollte uns allen nicht so recht gefallen. Wir haben eine viel ingeniösere Idee gehabt, die überall enorm gezündet hat und mit der Sie hoffentlich auch einverstanden sind: Fegefeuer in Ingolstadt. Ich habe das Stück in der Presse schon unter diesem Titel angekündigt, ich hoffe sehr, dass Sie ihn mir autorisieren.«
Marieluise fällt fast vom Stuhl, aber sie autorisiert. Nicht ahnend, dass diese Einverständniserklärung noch schicksalshaft für sie werden wird. Der Brief von Seeler ist über weite Strecken eine einzige Hymne, die mit der Aufforderung endet, unbedingt zur Premiere nach Berlin zu kommen. Die äußerst schüchterne und, was Öffentlichkeit angeht, völlig unbedarfte Autorin weiß nicht, was sie anziehen soll. Worauf Seeler antwortet: »Machen Sie sich nur keine Sorgen wegen Ihrer Kleidung. Das ist uns wirklich nicht so wichtig!« Auch Feuchtwanger gegenüber gesteht sie ihre Unsicherheit. Der ermutigt sie: »Der innere Wert einer Aufführung an einer so weithin sichtbaren Stelle und in so ausgezeichneter Besetzung kann, was literarisches Renommee anlangt, gar nicht hoch genug geschätzt werden.« Und er gibt ihr obendrein noch ein paar Verhaltensregeln mit auf den Weg: »Äußere möglichst wenig zur Aufführung. Wenn du Proben sehen solltest, finde alles ausgezeichnet. Sag höchstens, man solle etwas Tempo nehmen und möglichst viel streichen.«
Vicki – Berlin
Es ist Mitte März. Mit klopfendem Herzen steigt Vicki aus dem U-Bahn-Schacht hinauf ins Tageslicht. Sie befindet sich mitten im berühmten Berliner Zeitungsviertel, das sich zwischen Leipziger Straße im Norden, Wilhelmstraße im Westen, Belle-Alliance-Platz (heute Mehringplatz) im Süden und Lindenstraße im Osten erstreckt. Es ist ein brodelnder Hexenkessel, die Meinungszentrale des ganzen Reichs, die über 500 Verlage und Druckereien und dem Zeitungswesen assoziierte Betriebe beherbergt. Dreimal am Tag können die Berliner eine aktuelle Zeitung lesen. Es erscheinen 45 Morgenzeitungen, 14 Abendzeitungen und zwei Mittagszeitungen.
Im Herzen von allem: die drei Zeitungsgiganten Mosse, Ullstein und Scherl. Während die jüdischen Unternehmen Mosse und Ullstein liberal-demokratisch ausgerichtet sind, hat der Scherl-Verlag von Anfang an eine nationalkonservative Prägung. Seit der Übernahme durch Alfred Hugenberg im Jahr 1916 wird der Verlag im Verlauf der Zwanzigerjahre immer mehr zu einem Sprachrohr der nationalistischen und antidemokratischen Kräfte, die den Nationalsozialisten schließlich den Weg ebnen werden.
Vicki geht die paar Schritte hinüber zum Ullsteinhaus in der Kochstraße 23. Der Verlag ist in den letzten Jahren zum größten Zeitungs- und Buchverlag Europas aufgestiegen und besetzt inzwischen ein ganzes Karree innerhalb des Viertels. Die Mappe mit den Probe-Modezeichnungen hält sie fest in der Hand. Sie meldet sich am Empfang, von wo man sie in den dritten Stock schickt. Allein schon der Anblick des fortwährend sich bewegenden Paternosters jagt ihr Angst ein. So zieht sie es vor, die Treppe zu nehmen. Oben angekommen, wird sie von Hermann Ullstein, dem Miteigner und Leiter der Werbeagentur, in Empfang genommen und in ein großes Büro geleitet, in dem gleich mehrere Ullstein-Größen in tiefen schwarzen Ledersesseln auf sie warten, darunter auch der berühmte Kurt Korff, Chefredakteur der Ullstein-Blätter Berliner Illustrirte Zeitung und Die Dame.
»Was um alles in der Welt hat Sie auf die Idee gebracht, sich bei uns als Modezeichnerin anzubieten?«, donnert einer der Herren im schwarzen Ledersessel.
»Wir haben Ihren Roman Feme gelesen und werden ihn bei Ullstein veröffentlichen. Davor aber wird er ab Ende April in der Berliner Illustrirten als Fortsetzungsroman erscheinen.«
»Oh«, sagt Vicki nur, die normalerweise um kein Wort verlegen ist, und schiebt ihre mitgebrachte Zeichenmappe – möglichst diskret – unter ihren Sitz. Dann wendet sich das Gespräch in eine Richtung, die Vicki in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet hätte. Man habe – so Ullstein höchstpersönlich – großes Interesse daran, Vicki als Autorin gänzlich an das Haus zu binden. Ihre drei vorangegangenen Bücher waren ordentliche Erfolge, und mit ihrem neuen Roman könne sie mit Sicherheit daran anknüpfen. Ja, mehr noch, man sehe in ihr das Potenzial, in den nächsten Jahren zur erfolgreichsten Autorin Deutschlands zu avancieren.
Kurt Korff erhebt nun seinerseits die Stimme: »Es ist bei uns gängige Verlagspraxis, unsere Autoren an uns zu binden, indem wir ihnen eine Position als Redakteur anbieten. Sie würden für die unterschiedlichsten Ullstein-Blätter arbeiten und so vielleicht ein Gespür dafür entwickeln, was die verschiedenen Zielgruppen interessiert. Und umgekehrt würde Ihr Name einem großen Leserkreis bekannt werden. Könnten Sie sich eine solche Anstellung vorstellen?«
Als Vicki sich vorsichtig nach dem Gehalt für diese außerordentlich vielversprechend klingende Stelle erkundigt, sagt einer der Männer: »Es tut uns leid, aber mehr als 800 Mark können wir Ihnen im Moment nicht anbieten!« 800 Mark! Das übersteigt all ihre in dieser Hinsicht gehegten Erwartungen.
»Sie können aber mit Leichtigkeit das Doppelte erzielen«, geht Korff hastig dazwischen, »denn wenn wir Ihre zukünftigen Romane vorher als Fortsetzungsromane in der Berliner Illustrirten Zeitung veröffentlichen, zahlen wir für jede veröffentliche Zeile zusätzlich noch unseren Höchstsatz.«
Als Vicki wenig später wieder auf der viel befahrenen Kochstraße steht, ahnt sie schon, was später zur Gewissheit wird: Die kommenden Jahre werden »die glücklichsten, interessantesten und fruchtbarsten Jahre meines Lebens werden. Berlin 1926 bis 1931. Ullsteinhaus. Dritter Stock.«
Gabriele – Berlin
Nördlich der Kochstraße liegt die Schützenstraße, in der der Mosse-Verlag angesiedelt ist. Schon von Weitem kann man das von Erich Mendelssohn und Richard Neutra 1921–23 im Stil der Neuen Sachlichkeit umgebaute Haus sehen. Wie ein gigantischer Schiffsbug scheint sich das Eckhaus in die Straße hineinzuschieben. Zwischen den schweren Gründerzeitbauten, die das Haus umgeben, leuchtet die atemberaubende Fassade wie das Symbol einer neuen Zeit – die von Aufklärung und Freiheit und Liberalität erzählt. Das entspricht dem Geist, der auch im Inneren des Hauses herrscht. Denn das renommierte liberale Berliner Tageblatt ist das Flaggschiff des Verlags. Und Gabriele Tergit ist eine seiner vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. »Meine Zeit beim Berliner Tageblatt vom 1. Januar 1925–1933, das waren auch für mich die sieben fetten Jahre einer Generation«, schreibt Gabriele später – wobei sie es hier mit den Zahlen nicht so genau nimmt. Inzwischen ist sie auch Mitarbeiterin der neu geschaffenen Wochenbeilage in Heftform – Berliner Stadtblatt genannt. Zusammen mit ihrem hochgeschätzten Kollegen Walter Kiaulehn – sein journalistisches Kürzel ist Lehnau – wird Gabriele, unter Leitung von Rudolf Olden, in Zukunft dafür verantwortlich sein. Die Dreierbande bekommt ein eigenes Büro und ist auch so völlig eigenständig. Man ist engagiert, kann miteinander reden, unterstützt sich. Auch in nicht ganz so journalistischen Belangen. Mit Olden zum Beispiel und den Frauen ist es stets kompliziert. Gabriele muss für ihn ans Telefon gehen und sagen, dass sie nicht weiß, ob er da ist. Dann leise fragen: »Sind Sie da?«
Einmal sagt sie: »Ihre Frau ist am Telefon!«
Worauf er entgegnet: »Wer? Die Erste? Oder die Richtige?«
Ansonsten ist Olden ein wunderbarer Redakteur. Er liest die Manuskripte, »strich, stellte zusammen, hob einen Gedanken aus der Wirrnis des dunkel Gefühlten in die Klarheit einer lichtvollen Prosa und so wurde aus unseren Artikeln erst ein guter Kiaulehn, ein guter Tergit«.
Neben ihren Gerichtsreportagen kann Gabriele in der neuen Zeitschrift eine eigene, Berliner Existenzen genannte Kolumne veröffentlichen, die mit Sympathie und Kenntnis das Milieu der sogenannten kleinen Leute ins Auge fasst. Es ist das Milieu, das Gabriele von frühester Kindheit an kennt. In einer Arbeitergegend im Berliner Osten, nahe der Jannowitzbrücke, ist sie 1894 geboren. Sie erinnert sich, wie sie es geliebt hat, mit den Kindern von der Straße Murmeln oder Himmel und Hölle zu spielen. Natürlich waren die Toiletten auf dem Hof oder auf dem Treppenabsatz, und manchmal hatten zehn Mietparteien nur einen Wasserhahn, der auf dem Korridor zu finden war. Sie kannte die Wohnungen, in denen fünf Menschen in einem Zimmer schliefen und tagsüber vielleicht dann noch ein Schlafbursche campierte. Der Vater kam danach schnell zu Geld, als sie 14 war, zog die Familie in eine Villa im Westen der Stadt. Doch die Welt ihrer Kindheit bleibt Gabriele vertraut. Sie fühlt sich darin nie anders oder fremd.
Ruth – Berlin
Im Frühling 1926 steht Ruth mit der Kabarett-Revue Hetärengespräche auf der Bühne. Sie macht darin hauptsächlich das, was sie am besten kann: Sie tanzt Charleston. Zwar ist das Ganze prominent besetzt, und außerdem stammt die Musik von Friedrich Hollaender, der wenig später auch die Musik zum Blauen Engel schreiben wird. Doch bei der Kritik fällt das Stück als »Perversitäten-Show« durch, und Ruth bleibt gänzlich unerwähnt. Dergleichen ist sie inzwischen gewöhnt. Kleine Rollen, mittelmäßige Auftritte, schlechte oder gar keine Kritiken. Kein Wunder, dass Ruth ihre Bühnenkarriere in letzter Zeit nur noch sporadisch und ohne großen Enthusiasmus verfolgt. Dabei hat alles so vielversprechend angefangen.
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