Leute wie wir - Noa Yedlin - E-Book

Leute wie wir E-Book

Noa Yedlin

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Beschreibung

Als Osnat mit ihrem Mann Dror und ihren beiden Töchtern umzieht, ist sie überglücklich: endlich ein eigenes Haus, und in höchstens zehn Jahren ist dies das neue Trendviertel von Tel Aviv. Doch mit den Umzugskartons packt Osnat auch erste Zweifel aus. Wieso gibt der Alte von nebenan die Kuchenplatte nicht zurück? Was macht diese andere Familie eigentlich mit all den Kampfhunden? Und arbeitet Dror wirklich in seinem Zimmer, oder tut er nur so? Osnat muss sich entscheiden, ob es bloß eine neue Alarmanlage braucht oder gleich ein neues Leben.

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Seitenzahl: 444

Veröffentlichungsjahr: 2021

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INHALT

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ÜBER DIE AUTORIN

Noa Yedlin ist eine israelische Schriftstellerin und Trägerin des Sapir-Preises. Ihre Werke werden regelmäßig verfilmt, zuletzt ihr Roman Stockholm, der 2021 als Unter Freunden stirbt man nicht ausgestrahlt wird. Ihr neuester, von der Kritik gefeierter Roman Leute wie wir wurde in Israel ein Bestseller.

ÜBER DAS BUCH

Als Osnat mit ihrem Mann Dror und ihren beiden Töchtern umzieht, ist sie überglücklich: endlich ein eigenes Haus, und in höchstens zehn Jahren ist dies das neue Trendviertel. Doch mit den Umzugskartons packt Osnat auch erste Zweifel aus. Wieso gibt der grimmige Alte von nebenan die Kuchenplatte nicht zurück? Was macht diese andere Familie eigentlich mit all den Kampfhunden? Und arbeitet Dror wirklich in seinem Zimmer, oder tut er nur so? Osnat muss sich entscheiden, ob es bloß eine neue Alarmanlage braucht oder gleich ein neues Leben.

 

Ich verabscheue Leute, die Hunde halten. Das sind Feiglinge, die nicht genug Schneid haben, selbst zu beißen.

August Strindberg

ENDEAUGUST

I

1.

Wenige Tage nach dem Umzug kam ihr der Gedanke zum ersten Mal: Er guckt sich das nicht nur an, weil er muss, weil das Teil seiner Arbeit ist. Er genießt es. Sie hätte es wissen müssen.

Sie rief ihn, er solle ihr doch bitte helfen, irgendetwas anzubringen. Weil er damit dann länger beschäftigt war, ging sie ins Wohnzimmer. Im ersten Moment bemerkte sie sie gar nicht: Der Computer in der provisorischen Arbeitsecke war auf stumm gestellt, und die Vagina, die in Großeinstellung den Bildschirm ausfüllte, schien ihr aus der Entfernung zunächst etwas ganz anderes zu sein, vielleicht ein Bildschirmschoner mit Tropenmotiv. Aber als sie erneut am Monitor vorbeikam, sah sie sie plötzlich ganz: Eine nackte Frau, eine Pornodarstellerin, die lautlos vor sich hin stöhnte.

Sie hatte so was schon mal gesehen, natürlich, hatte sich das irgendwann mal angeschaut, bei Gelegenheit, immerhin war sie eine Frau von einundvierzig Jahren. Und es war jetzt sein Job, die Arbeit ihres Mannes: sich Pornos anzusehen, oder vielmehr »eine Schnittstelle zu entwickeln, die jungen Internetusern den Zugang zu Livestreams mit sexuellen Inhalten verwehrt, mittels einer hoch entwickelten, bildgestützten Erkennung pornografischer Komponenten«, wie es in der Broschüre für Investoren hieß. Aber in der Wohnung in der Rosenbaumstraße hatte er das in seinem Arbeitszimmer gemacht, verborgen vor den Augen der Mädchen. Und wenn er das Zimmer verließ, und sei es nur für einen kurzen Moment, hatte er den Laptop vorsichtshalber immer zugeklappt. War sie hereingekommen, wenn er arbeitete, war stets auch sein langer Körper in ihrem Blickfeld gewesen, wie ein Fortsatz des Laptops. Und sein unverstellter, vertrauter Blick hatte das Treiben auf dem Bildschirm neutralisiert.

Hier aber stand das Arbeitszimmer noch voller Umzugskartons, und das neue Haus hatte den Boden der alten Gewohnheiten ins Wanken gebracht. Schon ließ Dror seine Frauen im Stich, war nachlässig. Mit einem Mal wusste sie nicht, ob es die Pornodarstellerinnen waren, die er einfach ihrem Schicksal überließ wie ein trotteliger Zuhälter, oder doch eher sie, sie und die Mädchen.

Die Frau im Film wälzte sich auf den Bauch. Osnat schloss die Augen und öffnete sie wieder unter einiger Anstrengung: Diese Frauen sind Opfer einer ausbeuterischen und chauvinistischen Industrie. Weder die Frau hat dabei Spaß noch der Mann, den man nun auch sah, schlank und groß gewachsen. Das Paar auf dem Bildschirm kam jetzt zum Ende, Dror war nicht in Sicht, und vor dem Hintergrund des noch fremden Hauses schien der Film wie losgelöst im Raum zu schweben, ohne Bezug, bloß zwei Menschen, die Sex hatten. Und Dror turnte das nicht an? Von wegen. Auch sie war kurz davor, erregt zu werden, gegen ihren Willen.

Ein weiterer Mann erschien im Bild. Osnat wollte auf Escape drücken, hatte aber Angst, damit etwas zu verraten. Was genau, wusste sie nicht. Vielleicht, dass es ihr nicht egal war. So wurde es einem doch immer in Filmen geraten: Geh klug vor und sag erst mal nichts, du hast jetzt alle Karten in der Hand. Sammle noch mehr Informationen, oder so ähnlich. Aber was für Informationen genau sollte sie sammeln? Und was, könnte man fragen, hatte sie überhaupt entdeckt?

Es nervte sie, dass vielleicht doch alle seine Freunde recht gehabt hatten. Mit ihren abgeschmackten Witzchen, den immer gleichen Kommentaren, Alter, du hast alles richtig gemacht, guckst den ganzen Tag Pornos und kriegst auch noch Geld dafür, worauf Dror stets mit einem Lächeln, aber ohne Witz – Witz und gleichberechtigter Sex vertrugen sich nicht – zu antworten pflegte, erstens gucke ich überhaupt nicht den ganzen Tag Pornos, ich extrahiere lediglich images, um das Programm damit zu füttern, bis es versteht, was es filtern soll, und zweitens, glaubt mir, wenn ihr über diese Industrie wüsstet, was ich weiß, um dann den Satz mit drei imaginären Pünktchen zu beenden. Woraufhin die meisten verstummten und sagten, klar, schon klar, und andere sich ein »na ja, trotzdem« nicht verkneifen konnten. Und Osnat fügte dann immer hinzu, er bekomme gar kein Geld dafür. Was Dror wiederum mit einem »im Moment noch nicht« kommentierte.

Frauen hingegen – so die Unterteilung, peinlich in ihrer altmodischen Eindeutigkeit – schalteten in der Regel automatisch auf Bewunderung. Das ist ja eine super Sache, und längst überfällig, ihre Tochter ist soundsoalt und ihr Sohn soundsoalt, und es gibt wirklich nichts, worüber sie sich zurzeit mehr sorgen. Ob man die App denn schon runterladen kann? Und Dror erwiderte, das ist keine App, sondern eine Browsererweiterung, und nein, noch nicht, worauf alle sagten, schick mir sofort den Link, wenn es geht, ich bin deine erste Kundin. Osnat aber bedachten sie mit neidischen Blicken, so jedenfalls kam es ihr vor, oder auch mit anerkennenden, dass sie solch einen Partner – nicht Mann – hatte, der sein Leben dem Schutz von Kindern widmete.

Auch Osnat war in solchen Momenten ein bisschen neidisch auf sich selbst, denn alles, was sie sich insgeheim dachten, traf ja zu: Er war sensibel, und er war verständig, sie teilten sich alle Lasten des Elterndaseins und des Haushalts, ja im Grunde genommen machte er sogar mehr als sie, vor allem in letzter Zeit, und erwies sich als rücksichtsvoll und umsichtig im Bett, wenn sie denn mal Sex hatten. Er war der Mann, der eine Schnittstelle entwickelte, die jungen Internetusern den Zugang zu Livestreams mit sexuellen Inhalten verwehren sollte. Ein besonderes, einmaliges Exemplar, ein Mann, wie er sein sollte.

Dennoch schaut die Frau auf dem Bildschirm sie jetzt an, als wollte sie sagen, dein Mann ist wie alle anderen. Und schließt sogleich wieder die Augen, als habe man sie zur Ordnung gerufen, drückt den Rücken durch und stöhnt vermutlich laut, bevor sie die Augen nochmals kurz öffnet, ein Wimpernschlag der Nichtgeilheit, der Schicksalsverbundenheit.

SEPTEMBER

II

1.

Am Tag nach dem Umzug war sie bereits wieder zurück in ihrem Job in der Geschäftsleitung von Food Deal. Dror, den sie umgeben von Umzugskartonbarrikaden und der Nachhut der Handwerker zurückließ, hatte ihr vorwurfsvoll nachgesehen.

Aber sie hatte keine andere Wahl gehabt. Das heißt, hatte sie schon: Sie hätte auch zu Hause bleiben und gemeinsam mit ihm Kartons auspacken können. Vielleicht hätte sie es tun sollen. Ihn im Blick behalten in diesen Tagen, den ersten, in denen alles entschieden wurde. Formbare, konturlose Tage, in denen man einen Menschen nicht allein lassen durfte, denn dann fiel das Los gern auf die falsche Seite. Und ganz sicher bei Dror, der von Anfang an der ganzen Idee skeptisch gegenübergestanden war. Sie hätte bei ihm bleiben müssen, ihn an der Hand mit zum Minimarkt nehmen sollen, mit ihm aus dem Fenster schauen und ihm erklären müssen, was er sah, auch wenn sie es selbst nicht wusste.

Aber sie hatte keine Lust. Verspürte den Drang, mal nichts zu tun, hatte außerdem das Gefühl, das stünde ihr zu, nach dem endlos langen Sommer des Renovierens, Kistenpackens und der Kinderbetreuung in den großen Ferien. Also hatte sie sich selbst und Dror vertraut, dass es funktionieren würde, vielleicht so, wie man Menschen vertraute, dass sie am Ende ihr Baby lieben würden. Denn weder sie noch Dror konnten jetzt noch zurück. Sie hatten das Haus gekauft. Hatten ein Haus in Drei-Fünf gekauft. Oder wie Dror gestern Abend gesagt hatte, in einem Anflug guter Laune: Im fucking Drei-Fünf-Viertel. Verstehst du?

2.

In der Schule und im Kindergarten lief alles wie immer, Dror hatte ihr schon auf WhatsApp geschrieben, aber sie hatte sich ohnehin keine Sorgen gemacht. Sie hatten entschieden, Hamutal weiter in ihrer Schule und Hannah im alten Kindergarten zu lassen. Michal, von Michal und Jorge, das Paar, das sie hier im Viertel eingeführt hatte, hatte gemeint, sie machten einen Fehler. Dass die Mädchen niemals Anschluss finden würden, wenn sie weiterhin jeden Tag zwanzig Minuten pro Strecke führen, eine halbe Stunde mit Staus und allem, und wenn die Mädchen keinen Anschluss fänden, würden auch Osnat und Dror keinen finden. Jorge fragte, was denn angeschlossen werden sollte, und Michal erwiderte irgendwas auf Spanisch.

Mal davon abgesehen, dass die Schule hier einen Wahnsinnsschwenk hingelegt habe, dank der neuen, jungen Direktorin, die die Stadtverwaltung richtig auf Trab halte und Etatmittel lockermache, wie keine Schule im Norden von Tel Aviv sie habe, sei hier wirklich nichts mehr so wie früher, mit Vergewaltigungsecke und so, ich weiß ja nicht, was du so alles gehört hast. Osnat fragte, Vergewaltigungsecke? Und Michal sagte, aber du verstehst schon, wenn es irgendwo in der Schule eine Ecke gibt, die Vergewaltigungsecke heißt, bedeutet das noch lange nicht, dass dort wirklich jemand vergewaltigt wird, oder? Niemand gehe in die Vergewaltigungsecke, um dort ein bisschen zu vergewaltigen, und Osnat fragte, aber warum heißt es dann Vergewaltigungsecke? Und Michal sagte, ich sag doch, es heißt schon nicht mehr Vergewaltigungsecke, außerdem bezweifle ich, dass man das überhaupt je gesagt hat, das ist bloß eine von diesen üblichen Horrorgeschichten, die Leute erzählen, um vor sich selbst zu rechtfertigen, warum sie ihre Kinder nicht in eine normale staatliche Schule in städtischer Trägerschaft gleich um die Ecke schicken, anstatt Unsummen für allen möglichen anthroposophischen Unsinn auszugeben oder was weiß ich, für dreitausendfünfhundert Schekel im Monat, nur damit ihre lieben Kleinen um Gottes willen nicht mit Kindern zusammen lernen, deren Eltern nicht so gebildet sind wie sie oder nicht so viel verdienen wie sie oder nicht dieselbe Hautfarbe haben. Damit sie sich bloß nicht versehentlich anstecken, verstehst du? Nicht, dass du deinen königlichen Spross morgens in die Schule schickst und nachmittags ein kleines Analphabetenkind zurückbekommst.

In der einen Ecke des Raums knurrte ein Labrador. Michal hatte die beiden Gäste bei ihrer Ankunft gewarnt, ihn zu streicheln. Er tut keiner Seele was zuleide, hatte sie gleich darauf beschwichtigt, vielleicht, weil Osnat zurückgeschreckt war, denn Michals Ton war entschieden resolut gewesen, er tut sich nur einfach schrecklich schwer mit Fremden, und Fremde – jetzt lachte sie ein bisschen, grinste –, das sind alle, außer uns.

Der Hund schlief auf einem schönen Teppich, einem wunderschönen, wenn man ehrlich war, wenn auch voller Hundehaare und Sabber. Aber alles in diesem Haus war schön, alles, was Osnats Augen zu erhaschen vermochten, als hätten diese Leute nichts zu verbergen. Selbst die Spielsachen und das gewisse Chaos, das die Kinder dem Haus aufzwangen, konnten ihm nichts anhaben, im Gegenteil. Osnat malte sich aus, wie sie in diesem Wohnzimmer mit den Kindern tobten, mit ihnen tanzten, bestimmt, sich auf dem Teppich niederließen, ohne je ein Anzeichen von Überdruss an den Tag zu legen. So sah offenbar die Liebe von Eltern aus, die Geduld hatten. Geduld und einen guten Geschmack, zwei Dinge, die ihr fehlten.

Aber Osnat war überhaupt nicht neidisch, diesmal nicht: Diese Menschen mussten ja außergewöhnlich sein, denn nur ihretwegen waren sie in dieses Viertel gezogen. Michal und Jorge waren der Beweis, den sie im Garten gefunden und vorsichtig in eine Klarsichthülle gepackt hatten, den sie präsentierten, einander und auch ihren Eltern, den Freunden, immer mehr junge Familien ziehen dahin, immer mehr, ist ja klar, es gibt keine andere Option, bei den absurden Preisen überall, in zehn Jahren ist das Viertel das neue Neve Tzedek. In fünfzehn, maximal. Es ist schließlich nur eine Viertelstunde vom Rothschild Boulevard weg. Na gut, zwanzig Minuten.

Kennt ihr das Stecknadel-Theater? Einige kannten es, die meisten nicht, ein winzig kleines Theater, aber mit irrem Anspruch, die spielen hauptsächlich in Museen, nein, nein, nur für Kinder, ganz ohne Musik, ohne Trara, so einfühlsame Stücke, Der Spatz? In der Haaretz hatte was darüber gestanden. Nein? Egal, die haben jede Menge Preise bekommen. Und das Paar, das das Theater gegründet hat, die wohnen dort. Mit ihren Kindern. Und manchmal fügte sie noch hinzu, ein Paar absolut wie wir, obwohl das nicht unbedingt stimmte. Die einzige Aufführung etwa, zu der Hamutal je bereit gewesen war zu gehen, war das Festigal, und Osnat hatte keine Kraft für Diskussionen gehabt, sollte sie doch zu dieser durchkommerzialisierten Kindergesangsshow gehen. Und wenn schon.

Sie fragte, besteht denn nicht die Chance, dass die Stadt hier noch eine Schule aufmacht? Immerhin werden doch noch mehr … Sie zögerte, fuhr aber schließlich fort, Familien aus dem Stadtzentrum oder dem Norden herziehen, und die müssen irgendeine Lösung finden, worauf Michal sagte, es gibt schon eine staatliche Schule direkt vor der Haustür, melde du deine Kinder dort an, dann werden alle Familien aus dem Zentrum und dem Norden nachziehen, und bitte sehr, schon hast du eine Topschule. Oder wozu willst du eine eigene Schule? Für Kinder nicht von ausländischen Arbeitskräften? Für Kinder aus reichen Familien? Und Osnat sagte, wieso reich, wer ist schon reich. Wer hier herzieht, ist nicht reich. Doch Michal sagte, das ist alles relativ, und Osnat wusste, sie hatte recht und dass sie trotzdem ihre Töchter nicht dort anmelden würde.

Was sie dennoch tat, war, Hamutal zum Kunstturnen zu schicken, im Kultur- und Jugendzentrum gleich um die Ecke. Das schon. Im bisherigen Turnverein hatte die Kursleiterin Hamutal gegenüber Bemerkungen über ihr Gewicht gemacht, du musst weniger Kohlenhydrate zu dir nehmen, hatte sie gesagt, einfach so, es einem elfjährigen Mädchen an den Kopf geworfen, als hätte die Welt in den letzten dreißig Jahren stillgestanden. Natürlich hatte Osnat umgehend um ein Gespräch mit dieser Julia ersucht, der Kursleiterin. Sie können einem Mädchen so etwas nicht sagen, und Julia fragte, warum nicht? Osnat blaffte, darum nicht, weil das total verletzend ist, weil das ein ganz heikles Thema ist, denn sie ist sich ihres Körpers ohnehin schrecklich bewusst, und Julia sagte, na und, also lieber warten, bis sie fünfzehn ist und noch dreißig Kilo mehr wiegt? Osnat war erschüttert, aber auch fasziniert von dieser unmöglichen Ehrlichkeit, und sie sagte, ich will, dass sie weiterturnt und nicht damit aufhört, weil sie sich solche Bemerkungen anhören muss, und Julia sagte, ich will auch, dass sie weitermacht, weshalb ich möchte, dass sie Diät hält, damit sie die Übungen weiterhin schafft, und auch, damit ich ein passendes Kostüm für sie habe, denn ich kann ihr keins von den älteren Mädchen geben, weil sie nicht groß genug ist, und Osnat hatte diese Frau angeschaut, die nur wenig jünger war als sie selbst und vielleicht eigene Kinder hatte, und sie hatte gedacht, wenn Julias Kinder dick wären, würde sie wissen, was zu tun ist.

Eigentlich wollte Osnat, dass Hamutal das Kunstturnen endlich aufgäbe, für das sie sich seit der zweiten Klasse begeistert hatte, von allen Nachmittagskursen ausgerechnet diesen, von allen Mädchen ausgerechnet sie. Aber Hamutal wollte nicht damit aufhören, sie liebte es, und Osnat wusste nicht, ob sie gern dabei war, obwohl Bemerkungen fielen, und sie einfach darüber hinwegging, ihnen keine Beachtung schenkte, wie ein starkes Mädchen es ja tun sollte, oder ob im Gegenteil jedes Wort in sie hineinfloss und ihre Gedanken düngte.

Sie hatte versucht, mit ihr darüber zu reden, ihr zu sagen, Menschen kämen in allen möglichen Ausführungen daher, aber ausgerechnet in diesen Momenten hatte Hamutal das kleine Mädchen abgestreift, das sie zumeist war, hatte ihre Mutter mit einer Ernsthaftigkeit abgewiesen, die Osnat verstörte, einer Ungehaltenheit, als wollte sie sagen, ich bin elf, ich weiß sehr wohl, dass Menschen nicht in allen möglichen Ausführungen daherkommen, genauso wie ich weiß, dass es keine Feen gibt.

Insgeheim hoffte Osnat, im neuen Viertel würde der Turnverein weniger gut sein, weniger anspruchsvoll, und dass Hamutal dort auch niemanden kennenlernen und einfach von alleine würde aufhören wollen. Auf jeden Fall sah sie dem ersten Training sorgenvoll entgegen. Hatte Dror gebeten, er solle sie über WhatsApp auf dem Laufenden halten, nach Möglichkeit schon während der Stunde, und falls nicht, dann gleich danach, aber er hatte sich nicht gemeldet.

3.

Als sie in die Straße einbog, sah sie Dror und die Mädchen vor dem Haus auf der Fahrbahn stehen. Sie rollte mit dem Wagen langsam heran und hielt an der grauen, unmarkierten Bürgersteigkante. Jetzt sah sie, dass Dror mit jemandem redete. Das alles wirkte unnatürlich auf sie, sogar ihre eigene Familie: eine Vorzeigefamilie, minus die Mutter. Abermals bereute sie, Dror heute alleine im Haus gelassen zu haben. Sie traute ihm nicht und traute diesem Viertel nicht.

Sie stieg aus, umarmte kurz die Mädchen, die nicht reagierten, denn Hamutal spielte mit ihrem Telefon und Hannah mit dem Tablet. Dror drehte sich halb zu ihr um, nur um sich zu vergewissern, dass sie es war. Und hier kann sie parken?, fragte er in einem Ton, den Osnat noch nicht einordnen konnte, und der Mann sagte, sie kann parken, wo sie Lust hat, nur nicht auf meinem Parkplatz.

Jetzt erkannte sie ihn: Das war der Nachbar aus dem Haus neben ihnen, Israel Venezia, sie hatten noch gelacht, das wäre ein guter Name für eine Billigflugagentur. Er war ungefähr sechzig, vielleicht auch etwas jünger, hager und schmächtig. Während der Renovierungsarbeiten hatten sie ihn gebeten, auf sein Grundstück zu dürfen, der Klempner hatte gefragt, wollte sehen, wo sich die Abwasserrohre verbanden. Sie hatten sich nett und freundlich vorgestellt, wir haben das Haus nebenan gekauft und renovieren gerade, wie Sie bestimmt mitbekommen haben, wir hoffen natürlich, der Lärm hält sich in Grenzen, wenn es irgendein Problem gibt, sagen Sie uns Bescheid, leierte sie ihren Text herunter. Aber Israel hatte keinerlei positive Regung gezeigt, weder angesichts der neuen Nachbarn noch angesichts der Tatsache, dass sie im Sommer einziehen würden. Er stand in der Tür und bat sie nicht herein. Fragte, haben Sie das Haus von den Kablis gekauft? Und Dror sagte, ja, ja, plötzlich munter, als hätten sie ein gemeinsames Hobby gefunden, und Israel fragte, aber warum muss der Klempner auf mein Grundstück?

Dror sagte, er will sehen, wo die Abwasserrohre verbunden sind, und Israel sagte, was soll das heißen, wo die verbunden sind, die sind mit der Kanalisation verbunden, weshalb muss er mir dazu ins Haus, und Dror sagte, nicht ins Haus, nur aufs Grundstück, an den Zaun auf Höhe unserer Seite, von uns aus kommt er da nicht ran. Israel schwieg einen Moment und sagte schließlich, dann soll er kommen, ich bin immer zu Hause.

Danach waren sie zurück in die Wohnung in der Rosenbaum. Dror hatte nichts gesagt, aber sie wusste, was er dachte: Das ist kein Ort, wo man hinziehen sollte. Er hatte recht gehabt und sie sich getäuscht. In Rechovot öffneten die Nachbarn einem die Tür, ließen den Klempner rein, wenn es sein musste, und freuten sich, wenn Leute wie sie dorthin zogen. In Rechovot gab es hervorragende Schulen, und seine Schwester und seine Eltern wohnten gleich um die Ecke. Und sie hätten das Geld gehabt dafür, genauer gesagt, hätten sie natürlich nicht, sie hätten einen Kredit aufnehmen müssen, genauso wie für das hier. Aber wenn sie nach Rechovot gezogen wären, hätten seine Eltern bestimmt mehr Geld lockergemacht.

Sie sagte, okay, was erwarten wir? Für ihn sind wir die geleckten Schnösel aus dem Norden, die sich in seiner Gegend breitmachen, und Dror sagte, klar, die Frage ist nur, ob wir irgendwohin ziehen wollen, wo wir die geleckten Schnösel aus dem Norden sind, die sich breitmachen. Ob wir irgendwo wohnen wollen, wo uns alle hassen, und Osnat sagte, niemand hasst uns, er kennt uns ja noch nicht mal. Aber du erwartest von ihm, dass er überglücklich ist, weil wir neben ihm einziehen, ja dass wir überhaupt in dieses Viertel ziehen, ich kenne dich, denn wir sind ja so bezaubernde, kultivierte Menschen und treiben bestimmt auch die Immobilienpreise in die Höhe, denn bald werden alle dorthin ziehen, und Dror sagte, ich erwarte gar nichts in der Art, ich erwarte nur, dass wir ein normales Zuhause bekommen und dass Hannah und Hamutal dort eine schöne Kindheit haben, das ist alles.

Als sie am nächsten Tag mit dem Klempner angerückt waren, war Israel nicht zu Hause gewesen. Dror sagte, vielleicht macht er einfach nicht auf, und Osnat sagte, du übertreibst. Erst zehn Tage später war es ihnen schließlich gelungen, Zugang zu seinem Grundstück zu erhalten. Was sie achthundert Schekel plus Mehrwertsteuer gekostet hatte, für die zweimalige, umsonst erfolgte Anreise des Klempners, aber Osnat beschwor Dror, kein Wort darüber zu verlieren, denn Israel hat nicht ein Mal was gesagt wegen der Renovierung. Und er ist uns gegenüber zu gar nichts verpflichtet. Das ist von jetzt an und fürs ganze Leben unser Nachbar, und wir wollen es uns nicht gleich zu Anfang mit ihm verderben.

Jetzt stand Israel neben dem Wagen ihres Vaters, den sie sich für ein paar Tage ausgeliehen hatten, wegen all der Besorgungen für den Umzug. Das Grau der Bordsteinkante, an der das Auto geparkt war, bedeutete, dass es dort kein Halteverbot gab. Überleg doch mal, hatte sie zu Dror gesagt, als sie noch unschlüssig gewesen waren, und auch später immer mal wieder, als hätte das Ringen um eine Entscheidung nie aufgehört und sei stärker noch als das Tabu, wieder davon anzufangen, immer freie Parkplätze, Kilometer über Kilometer nur Grau.

Dror sagte, aber das ist nicht Ihr Parkplatz, der gehört allen, und Israel senkte leicht den Kopf und neigte das Ohr zur Schulter, wie jemand, der nicht glauben wollte, was er da hörte, sagte – wobei er mit dem Finger in der Luft das Stück Straße einzäunte, auf dem der Opel Astra parkte –, das ist mein Parkplatz, seit dreißig Jahren parke ich hier, also nehmen Sie Ihr Auto und stellen es woandershin, und Osnat berührte Dror am Arm und sagte, okay, das war uns nicht bewusst, wir sind ja gestern erst eingezogen, doch Israel zeigte sich unbeeindruckt, und Osnat fragte sich plötzlich, ob sie sich nicht am meisten über diese Gleichgültigkeit empörte, diese Weigerung, Verständnis zu zeigen, und Dror sagte, Verzeihung, der Bordstein hier, der ist grau, wobei er mit der Hand auf die endlosen, nicht genutzten grauen Weiten wies, die sie umgaben und die sich bestimmt über die Diskussion wunderten, das ist öffentlicher Parkraum für alle Bewohner der Straße, so ist das Gesetz, hier gibt es keine Privatparkplätze, nur weil jemand schon immer hier geparkt hat, ich würde mich auch freuen, wenn das Stückchen Grau vor meiner Haustür immer frei wäre, aber was soll ich machen, ist es nicht frei, parke ich einen halben Meter weiter.

Israel sagte, wenn Sie hier parken, parke ich Sie zu, und wandte sich zu seinem Haus um, und Dror schrie ihm nach, ich ruf die Polizei, die werden Sie abschleppen, von wegen, Sie parken mich zu, und Israel blickte für einen Moment zurück und war im nächsten im Haus verschwunden.

III

1.

Sie saß draußen und wartete, dass Hamutal vom Kunstturnen käme. Das Kultur- und Jugendzentrum war frisch renoviert und viel schöner als das in der Ba’alej-Melacha-Straße, als versuchte jemand, etwas zu verbergen, und nur ein riesiger, massiger Süßigkeitenautomat gab den Haken an der Sache preis, präsentierte sein verlockendes Angebot wie ein Stinkefinger. Sie war gleich alarmiert: Was sollte sie sagen, wenn Hamutal etwas daraus haben wollte? Sie näherte sich der Glasscheibe, die nur mit Mühe die ganze verführerische Buntheit zurückhielt, sie schützte vor Ameisen und Kindern ohne Geld. Sie sah sich um, wie am Geldautomaten, dass niemand ihre Geheimzahl ausspionierte, überschlug, ob noch Zeit blieb, sich schnell etwas zu gönnen. Aber was für ein Vorbild wäre sie für Hamutal?

Gestern Abend hatte Dror versucht, mit ihr zu reden. Im Fernsehen lief gerade ein Werbespot für Survivor, und Hamutal blickte auf von irgendwas, in das sie nur halb vertieft war, während ihre andere Hälfte weiter still dagegen protestierte, dass man ihr nicht erlaubte, das Smartphone mit in ihr Zimmer zu nehmen, denn Drors Regeln besagten, mit dem Handy wird nur im Wohnzimmer und unter Aufsicht online gegangen. Er sagte zu Hamutal, was hältst du von den Frauen, und Hamutal sagte, was halte ich, und Osnat sagte, könntest du dir ein bisschen Mühe geben, vielleicht? Ganze Sätze, hm? Was soll das sein, was halte ich, aber Dror bedeutete ihr mit den Augen, lass gut sein. Er sagte, was meinst du, sind die deiner Meinung nach schön oder nicht, sind sie interessant, und Hamutal schaute zum Fernseher, die Frauen hingen jetzt an einem riesigen Floß, senkrecht zum Wasser, wandten sich mit dem Rücken zur Kamera, als warteten sie auf ein Erschießungskommando. Hamutal sagte, sehr schön, und Dror fragte, was, was ist schön an ihnen, und Hamutal sagte, alles. Osnat wusste, so soll man es machen, das stand in allen Foren, und so wurde es einem bei allen Vorträgen erklärt, mit ihnen wie nebenbei darüber reden, apropos, über schön und nicht schön, darüber, was der Körper ist, darüber, eine Frau zu sein, ein Mädchen, und wenn es sich ergäbe, dass es der Vater war, der es anspreche, das sei sehr empfehlenswert, aber dennoch klang es für sie mehr wie ein Übergriff und nicht wie ein natürliches Vater-Tochter-Gespräch, stimmt doch, dass sie schön sind, sag, dass sie schön sind, und jetzt sag auch, warum.

Hamutal fragte, findest du denn nicht, dass sie schön sind? Und Dror sagte, ich denke, sie sehen nett aus, aber ich kenne sie ja nicht, und es fällt mir schwer, jemanden zu mögen, den ich nicht kenne, und Hamutal sagte, aber du hast nicht gefragt, ob ich sie mag, du hast gefragt, ob sie schön sind, und Osnat dachte, oh, jetzt wirds spannend, und Dror sagte, da hast du recht. Also, okay, ob ich denke, dass sie schön sind? Einige finde ich schöner und andere weniger, wie bei allen Menschen auf der Welt, jeder Mensch hat schöne und weniger schöne Dinge an sich, nimm mal Mama, guck mal, was für schöne Haare sie hat, und Hamutal warf einen schnellen Blick zu ihrer Mutter, wie um sich zu vergewissern, dass ihre Erinnerung sie nicht trog und das schlicht Unsinn war, und Dror sagte, ich hab einfach festgestellt, wenn man jemanden liebt, seinen Charakter, dann liebt man auch sein Aussehen, das geht oft Hand in Hand, und Hamutal sagte, sie ist schön, mit Betonung auf »sie«, und Dror richtete den Blick wieder zum Fernseher, wo anstelle der Survivor-Kandidatinnen jetzt eine Frau mit Schwanenhals zu bewundern war, der ein dunkelhäutiger Mann winzige Parfümtröpfchen vom Hals leckte. Dror resignierte offenbar, und Osnat sagte, ja, die ist schön, finde ich auch. Und zu Dror sagte sie, it’s okay, we don’t have to pretend that there are no beautiful people in the world, otherwise she will never believe what you are saying, und Dror ließ ihre Worte sacken und sagte schließlich, ja, die sieht nett aus, er aber auch, und Hamutal sagte, igitt, und Dror sagte, warum igitt, was ist hier igitt, und Hamutal sagte, er ist schwarz.

Osnat holte eine Fünfschekelmünze aus der Tasche und kaufte ein Twist, riss es auf und verschlang es mit drei Bissen. Schaute sich um, aber niemand nahm Notiz von ihr, also ließ sie sich wieder auf die Bank sinken und wartete weiter. Musterte die Mütter auf dem Vorplatz. Mütter in allen Größen, allen Formen, Menschen kamen in allen möglichen Ausführungen daher, aber keine von ihnen glich den Müttern in der Ba’alej-Melacha, die immer ätherisch über so profanen Dingen wie Jugendzentrum und Nachmittagsbetreuung geschwebt waren, manchmal mit einem Baby im Arm, ihr aber immer wie diese Schwangerschaftsporträts in Schwarz-Weiß vorgekommen waren, die manche sich ins Schlafzimmer hängten, jedoch nicht wie echte Frauen. Auf jeden Fall nicht wie hier, wo auch die kleinsten Babys Raum einnahmen, viel Raum, Kinderwagen und Taschen und ältere Geschwister, die sich lautstark langweilten, und keine Mutter, die so tat, als hätte sie mehr Geduld, als sie wirklich hatte.

Die schwere Hallentür öffnete sich, und Hamutal kam herausgestürzt. Sie fragte, kann ich noch mit zu Tevel? Und Osnat fragte, zu wem? Wohin? Aber hinter Hamutal tauchte jetzt plötzlich tatsächlich ein Mädchen auf, und Osnat fragte, turnt ihr zusammen? Tevel nickte, und Hamutal fragte, darf ich, Mama? Und Osnat sagte, ich weiß nicht, wir müssen erst ihre Mama fragen, wo wohnt ihr denn? Und Tevel sagte, die ist bestimmt einverstanden, Moment, und lief zu einer groß gewachsenen, kräftigen Frau, die ein Kleinkind auf dem Arm hielt. Tevel sagte etwas zu ihr, worauf die Frau zu Osnat hinüberkam. Sie fragte, bist du die Mama von Hamutal? Und Osnat sagte, dann bist du die Mama von Tevel, und die Frau sagte, Shani, freut mich, und streckte ihr ungelenk die Hand hin, ehe sie damit wieder das Gewicht des Kleinkinds stützte. Osnat sagte, Osnat. Shani sagte, Tevel hat mir schon erzählt, sie hat eine neue Freundin, und Osnat sagte, toll, das freut mich total, wir sind gerade erst hergezogen, und Shani fragte, von wo? Und Osnat sagte, Stadtzentrum, plus minus, in der Nähe vom London Ministore, und Shani sagte, wow, Wahnsinn, wann seid ihr umgezogen? Aber Tevel fragte, kann sie mitkommen, Mama? Und Shani fragte, ist das in Ordnung, wenn sie noch mit zu uns kommt? Osnat sagte, wenn das für euch in Ordnung ist, und Shani sagte, sicher ist das in Ordnung, hier, ruf mich kurz an, damit wir die Nummern haben, und dann kommst du sie abholen, wann es dir passt. Osnat tippte die Nummer ein, die Shani ihr diktierte, und dann sah sie, wie ihre Tochter zusammen mit Tevel und dem Kleinkind entschwand, als wäre sie ein weiteres Kind von Shani, die Hamutal über den Kopf strich und sagte, ich hoffe, du hast keine Angst vor Hunden.

2.

Sie verließ das Kultur- und Jugendzentrum mit leeren Händen. Wie immer, wenn sie unverhofft in den Genuss freier Zeit kam, empfand sie die Versuchung, etwas Verbotenes zu tun. Sie versuchte, die Erinnerung an ihre letzte Auslandsreise zu verdrängen, eine Tagung zu Usererfahrungen in irgendeinem Kaff bei Rom, insgesamt fünf Nächte. Und dennoch hatte sie in der fünften Nacht, als sie auf ihrem Hotelzimmer in einem Minimarkt erstandenes fettiges Knabberzeug verspeiste und das Palmöl mit Zwiebelgeschmack wie zum Zeichen ihrer Schande an ihren Fingern klebte, während sie bis fast zwei Uhr morgens drei oder vier Folgen von Project Runway hintereinander guckte, plötzlich das Gefühl gehabt, zu weit gegangen zu sein, den Bogen deutlich überspannt zu haben, noch so eine Nacht, und sie wäre geliefert, denn dann würde sie nicht mehr zurückkönnen. Würde in ein schwarzes Loch abdriften, an einen Ort, an dem sich Leute, die schon nichts mehr kümmerte, einfach gehen ließen, so eine Art kleine Privathölle oder Paradies für schwache, fahnenflüchtige Mütter. Sie hatte Dror anrufen wollen, aber es war schon zu spät. Also holte sie ihr Flugticket heraus und studierte es ausgiebig wie die Bibel, als wollte sie sich reumütig bekehren lassen.

Dror hatte Abendessen gemacht, und Hannah guckte im Wohnzimmer Operation Autsch. Er hatte gute Laune, das sah sie gleich an seinen Bewegungen, hörte es an der Art, wie er »Schalom« sagte. Er drehte sich zu ihr um, sagte, was ist los, wo ist Hamutal, und Osnat sagte, sie ist noch mit zu einer Freundin, und Dror fragte, zu wem, und Osnat sagte, zu Tevel, eine neue Freundin vom Turnen. Er stutzte. Die hier wohnt? Und Osnat sagte, ja, sie wohnen hier, zwei Straßen weiter, und Dror fragte, was denn, ist sie Jüdin? Also, Israelin? Und Osnat sagte, ich hab doch gesagt, Tevel, und Dror sagte, was weiß ich, vielleicht ist das auch irgendwas auf Nigerianisch, und Osnat sagte, sie ist hundert Prozent jüdisch. Und sie ist ganz allein zu ihr gegangen?, fragte Dror.

Was hättest du denn gewollt? Dass ich mitgehe? Und Dror sagte, ich weiß nicht, wir kennen das Mädchen doch gar nicht, kennen die Eltern nicht, oder weißt du, wer die Eltern sind? Ich hab ihre Mutter beim Turnen getroffen, sagte Osnat, und sie wirkte sehr nett, worauf Dror fragte, dann bist du beruhigt, und Osnat sagte, ganz und gar, und Dror sagte, gut.

Sie sagte, und, wie wars? Bist du schon so weit, es mir zu erzählen? Doch Dror schnitt noch einen Moment lang weiter das Gemüse und sagte dann, ich möchte nicht, dass sie zu Leuten, die wir nicht kennen, mit nach Hause geht, und Osnat sagte, du möchtest nicht, dass sie zu Leuten, die wir in diesem Viertel nicht kennen, mit nach Hause geht, und Dror sagte, weil wir in diesem Viertel eben niemanden kennen, und Osnat sagte, ich erinnere mich nicht, dass du ein Problem damit gehabt hättest, dass sie zu Leuten, die wir nicht kennen, mitgeht, und sofort fügte sie hinzu, in der Rosenbaum, sie ist tausendmal zu Freundinnen mitgegangen, die wir vorher noch nie gesehen hatten, direkt von der Schule, und Dror sagte, das waren Mädchen aus ihrer Klasse, das ist nicht dasselbe, und Osnat fragte, was genau ändert es, wenn ein Mädchen in ihrer Klasse ist? Heißt das, dass die Eltern normal sind? Also die hier ist mit ihr im Turnverein, und Dror sagte, das heißt, dass es eine Adresse gibt, dass wir wissen, wer die Leute sind, dass es irgendeine … Jetzt trat Osnat zu ihm und meinte, auf die Arbeitsplatte gestützt, Dordo, du musst dich wirklich entspannen, das geht so nicht, wir sind hierher gezogen, lass ihr den Spaß, lass sie Freundinnen kennenlernen, vertrau ihr, dass sie weiß, wie sie klarkommt, sie ist nicht auf den Kopf gefallen. Er fragte, und wo geht sie zur Schule, diese Tevel, hier in der Nähe? Und sie sagte, ich weiß es nicht. Ich werd fragen, wenn ich sie abhole.

Sie wartete noch einen Moment. Er bereitete weiter das Essen zu, mit dem Rücken zu ihr gewandt. Das kleine Strafmaß. Sie sagte, und? Und er sagte, sie haben das ganze Material genommen, wir werden sehen, und sie fragte, und was meinst du? Weiß nicht, sagte er, die Präsentation funktioniert immer, das lässt sich schwer einschätzen danach, und Osnat sagte, aber du wirkst ganz euphorisch, als ob es gut gelaufen wäre, und er sagte, nur so, sie haben mir einen Job angeboten, und das hat mich amüsiert, das macht Spaß, Nein zu sagen, und Osnat fragte, was, was denn für ein Job? Und Dror sagte, als Programmierer, wahrscheinlich, und Osnat fragte, was, in Vollzeit? Und Dror sagte, zu Einzelheiten sind wir gar nicht gekommen, und Osnat sagte, warum, hättest es dir doch einfach mal anhören können, und Dror sagte, was, soll ich jetzt etwa in Vollzeit für irgendeine Lernsoftwarefirma in Kiryat Arye arbeiten? Worauf Osnat nur mit Mühe ein »Ja« verschluckte.

Fünfundsechzig Prozent aller Kinder bis zur sechsten Klasse sind heute pornografischen Inhalten ausgesetzt, ja, ja, das weiß sie, weiß sie sehr gut. Sie war es, die Dror mit zu dem Vortrag geschleppt hatte, mit dem alles angefangen hatte. Aber dort waren bestimmt einhundert Eltern gewesen, und keinem von ihnen wäre in den Sinn gekommen, deswegen seinen Job aufzugeben. Nur Dror hatte diese Idee, die er schon auf dem Nachhauseweg zu entwickeln begann: etwas, das Eltern benachrichtigen würde, in dem Augenblick, in dem ihre Kinder auf einer solchen Seite landeten, und gleichzeitig die Kinder ablenkte, ihnen was Alternatives zeigte, irgendwas mit Tieren oder Ballons, zum Beispiel, keine Ahnung, was. Darüber müsse er noch nachdenken. Und Osnat hatte gesagt, wenn du überlegst, ihnen Ballons zu zeigen, musst du noch ganz schön viel nachdenken.

Dann aber hatte er schnell herausgefunden, dass es bereits jede Menge solcher Programme gab und der Markt dafür vollkommen übersättigt war. Außerdem war klassische Pornografie, wenn man das so sagen konnte, ein altes, kaum noch wirklich bedrohliches Problem. Das kommende Unheil lauerte in den sogenannten Livestreams, den Übertragungen in Echtzeit, die sich nicht stoppen ließen, von Mädchen in BH und Slip, die Liedchen sangen, bis hin zu realen, genau in diesem Moment stattfindenden Vergewaltigungen.

Dror war schockiert, sie sah es ihm an. Die Zufriedenheit, mit der er sich an die Sache gemacht hatte, war wie weggeblasen, die Selbstgewissheit des Retters vollkommen erloschen. Stattdessen wurde er von Grauen übermannt. Nicht unbedingt angesichts der wirklich schrecklichen Sachen, die trotz allem weit weg wirkten, quasi in Amerika. Sondern wegen des offensichtlich weit Verbreiteten, Normalen: Seine Welt füllte sich auf einen Schlag mit blutjungen, fast nackten Mädchen; mit teilweise expliziten, vielleicht auch nur eingebildeten Angeboten zu Praktiken, die er sich kaum vorstellen konnte; mit Spielen, die ununterbrochen am Bildschirm kratzten und drohten, sich daraus zu ergießen.

Er reduzierte bei InVein erst auf eine halbe Stelle und verließ die Firma am Ende ganz, auch weil er ohnehin weggewollt hatte. Denn inzwischen hatte er begonnen, an einer neuen Idee zu arbeiten: einem Programm, das »pornografische Komponenten« identifizieren sollte, sprich: Titten und Ärsche, Schwänze und Muschis, und den Stream automatisch in dem Moment abbrach, wenn etwas davon auftauchte. Zu Osnat hatte er gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, er würde private Beratung anbieten, Auftragsjobs machen, aber seitdem waren drei Jahre vergangen, und er hatte nicht einen solchen Job angenommen. Stattdessen war er stundenlang auf Pornoseiten unterwegs, sammelte »Muster«, unzählige »Muster« in allen Größen, Formen und Farben und schaufelte sie in das Programm wie in eine Grube, die niemals voll wurde.

Er konzipierte Kontrollgruppen, ermittelte Nutzungs- und Sehgewohnheiten. Doch die Kinder blieben in aller Regel unerschütterlich: Mädchen mit dick überschminkten Milchgesichtern, die mit koitalen Bewegungen tanzten, zu Kinderliedern, die von Obszönitäten, Beleidigungen und Hass entstellt waren – alles kam ihnen normal vor. Offenbar waren diese Kinder aus einem besonderen Material gemacht, waren vollkommen immun. Wie alternde, verdorbene Kerle, die mit einer »normalen« Frau schon nichts mehr anfangen können, weil sie sich so sehr an Pornos gewöhnt haben. Genau so, nur eben schon mit elf, nichts beeindruckt sie, nur wissen sie einfach noch nicht, was sie beeindrucken könnte. Aber Osnat wusste bereits, was Kinder in der sechsten Klasse wissen, wusste es durch Hamutals Blick, der abweisend war wie der eines selbstbewussten Menschen mit Behinderung, der weder Hilfe noch Gefallen braucht. Vielleicht deshalb war sie im Grunde genommen nicht schockiert: weil sie schon vor Langem erschrocken war und sich inzwischen daran gewöhnt hatte.

Sie wusste, sie sollte stolz auf Dror sein, war es aber nicht, nicht besonders. Die Gefahren in seiner Welt wurden mehr und mehr, nahmen ständig zu. Aber in ihrer nicht, mitnichten, egal, wie viele junge Mädchen aus Raanana, aus Rishon und Beer Tuvya er ihr zum Beweis präsentierte, die versuchten, sie in seine Welt zu locken. Sie hatte weiterhin Angst, Hamutal und Hannah könnten durch einen Autounfall sterben oder an Krebs, eine klassische, unmoderne Angst. Drors Angst dagegen absorbierte sie mit einer Geduld, die Mühe machte, und das in wachsendem Maße, bis sie ihr zuweilen wie Wut vorkam.

3.

In der Zwischenzeit machte ihr etwas ganz anderes zu schaffen. Je mehr Dror in dieser Sache versank, desto mehr verstärkte sich bei Osnat das Gefühl, ihr Sex sei minderwertig. Dass er nicht genügte. Dabei hatten sie Sex, der absolut in Ordnung war. Aber ringsum regte sich etwas, Frauen taten Dinge, in Pornos, auf Facebook, in Für die Frau, bei Ynet. Möglich war weibliches Ejakulieren, möglich war, drei Stunden ununterbrochen zu kommen, möglich waren sechs verschiedene Formen von Orgasmen, und das nicht nur gemäß einer Studie der University of Michigan. Man konnte mehr anstreben, ja musste es. Zufrieden sein hieß phlegmatisch sein, hieß sich versündigen, hieß gleichgültig sein für die Möglichkeit, Erfüllung zu finden.

Jetzt, da ihr Vater mit Ofra verheiratet war, erst recht. Denn was machten die dort wohl, bei all diesen Workshops für intuitives Schreiben auf Zypern oder ihren Psychodrama-Wochenenden, wenn nicht pausenlos vögeln? Die vögelten da, wie auf Zypern und bei Psychodrama-Wochenenden nun mal gevögelt wurde, ohne Rücksicht auf Verluste. War es zu viel verlangt, dass wenigstens ihr Vater und seine Frau lustlos vögelten wie normale Menschen auch? Wenn ihre Mutter noch leben würde, sähe das Ganze anders aus, hätten sie nach fünfzig Ehejahren bestimmt nicht mehr so viel Spaß miteinander. Aber das war ein Gedanke, den sie dann doch lieber wieder fallen ließ, das versäumte Sexleben ihrer verstorbenen Mutter.

Sie sprach auch mit Dror darüber, vielleicht, um jedes Körnchen Wahrheit zu entkräften, das sich in diesem Gefühlswust verbergen mochte. An etwas, das ausgesprochen wurde, konnte man nicht mehr ersticken. Er sagte, willst du drei Stunden am Stück kommen? Und Osnat sagte, nein. Das heißt … nicht unbedingt, und Dror sagte, also doch, und Osnat sagte, ich weiß nicht. Liebst du mich? Und Dror sagte, ich bin krank nach dir.

4.

Am Haus war keine Nummer, und Osnat marschierte zurück zu dem davor und machte dann wieder kehrt. Aber als sie sich dem Hoftor näherte und angestrengt in Richtung Haustür schaute, brach mit einem Mal ohrenbetäubendes, aggressives Hundegebell los, plötzlich und unerwartet wie ein Schuss. Sie schreckte zurück und sah durch die Ritzen des Bambus, wie sich die Hunde mit den Vorderpfoten am Zaun abstützten und einfach nicht aufhörten zu bellen.

Die Stimme einer Frau drang zu ihr durch: Aus! Aus! Und im nächsten Augenblick öffnete sich das Tor. Shani lächelte sie an, das Kleinkind auf dem Arm und mit ihrem imposanten Körper die Hunde zurückdrängend, Ruhe jetzt! Aus! Sitz! Keine Angst, meinte sie zu ihr, die tun nichts, und Osnat trat vorsichtig ein, gab sich alle Mühe, angesichts dieses Rudels großer, hässlicher Hunde nicht gleich wieder Reißaus zu nehmen, die an ihrer Hose schnüffelten und sich mit der Schnauze zwischen ihre Beine drängten. Shani versuchte, sie von ihr wegzuhalten, aus! Aus!, und Osnat tastete sich mit kleinen Schritten auf dem gepflasterten Weg voran, streichelte die Hunde flüchtig, um vorzutäuschen, dass sie keine Angst hatte.

Endlich war sie im Haus angelangt. Draußen vor der Tür ging das wütende Gebell weiter. So viele Hunde, sagte sie, und Shani sagte, ja, Leute sind das nicht gewohnt, magst du? Osnat hatte Mühe, den Satz zu entschlüsseln, das Bellen der Hunde klang ihr noch in den Ohren, und plötzlich war sie nicht mehr sicher, ob sie hier heile rauskäme, ob ich Hunde mag?, fragte sie, worauf Shani nicht antwortete, und Osnat sagte, sehr, wir hatten auch einen, als ich klein war, und Shani wies auf einen Stuhl, und Osnat setzte sich. Und jetzt habt ihr keinen?, fragte Shani, und Osnat sagte, nein, fast bedauernd oder entschuldigend, und Shani sagte, holt euch doch einen, was denn, gibt nichts Schöneres, und Osnat sagte, gut möglich demnächst, wir sind ja gerade erst umgezogen, und Shani sagte, kannst mich jederzeit um Rat fragen, ich bin Expertin, und Osnat sagte, ja, das sehe ich.

Shani fragte, Kaffee? Und Osnat sagte, ja gern. Danke. Sie schaute sich um: An der Wand standen große Säcke mit Hundefutter und daneben Futter- und Trinknäpfe übereinandergestapelt wie im Laden. Auf dem Fußboden lagen zerfetzte Stricke, ein Springseil mit abgebissenem Griff und noch ein paar undefinierbare Gegenstände. Aber Hunde waren nicht da, nicht im Haus. Trotzdem blieb ihr Körper angespannt, bereit für den nächsten Angriff.

Wo war Hamutal? Sie schämte sich, dass ihr diese Frage erst jetzt in den Sinn kam, als hätte der Schrecken jeden anderen Instinkt verschluckt. Sicher in Tevels Zimmer, antwortete sie sich selbst, setzte sich aber dennoch auf ihrem Stuhl auf und kämpfte gegen den Impuls an, möglichst gleichmütig in Richtung Küche zu rufen, wo stecken denn die Mädels, damit nicht am Ende ein Fitzelchen Besorgtheit mit herausrutschte.

Ein übergewichtiger, groß gewachsener Mann kam ins Wohnzimmer, massiv, sagte man heute vielleicht. Schalom, meinte er, und Osnat erwiderte, Schalom, ich bin die Mama von Hamutal, wobei sie in Richtung Hausinneres deutete, hoffte, er würde vielleicht bestätigen, ah, ja. Er fragte, habt ihr das Haus von Kablis gekauft? Und Osnat sagte, ebenfalls erleichtert, ja – Kablis war die Losung, sie musste das in Erinnerung behalten –, wir sind erst vor ein paar Tagen eingezogen, und der Mann sagte laut, haben sich Venezia eingehandelt, und Osnat verstand abermals nicht, was man ihr sagen wollte, zum zweiten Mal an diesem Tag oder vielleicht gar zum dritten, was sollte das jetzt bedeuten, haben sich Venezia eingehandelt?

Shani kam mit einem Becher Kaffee und einer Eineinhalbliterflasche Cola zurück ins Wohnzimmer. Ach was, sie haben ja nichts mit ihm zu tun, was stresst du sie, und der Mann sagte, ein Mensch, der keine Hunde mag, hast du so was schon mal gehört? Und Osnat sagte, vielleicht ist er ein Katzenmensch, und der Mann sagte, er ist überhaupt kein Mensch, das ist das Problem bei ihm, und Shani sagte, er ist ein Mensch, ist er, warum auch nicht, dass jemand ein Mensch ist, heißt noch lange nicht, dass er ein Mensch ist, wobei sie Osnat einen Ist-es-nicht-so-Blick zuwarf. Osnat sagte, wenn ich richtig verstehe, mögt ihr ihn nicht, und Shani sagte, nicht wirklich, nein. Er macht uns Probleme mit den Hunden.

In Shanis Händen tauchten jetzt wie aus dem Nichts zwei Tüten Klik auf, in der einen Klik-Schokobiskuits und in der anderen Klik-Schokokissen, hatten sich vielleicht hinter der Cola versteckt. Shani sagte, sie haben auch Reisnudeln und Schnitzel gegessen, die ganze Frau eine einzige, große Entschuldigung, und Osnat war mehr als peinlich berührt, wie sah sie ihr das an, Unsinn, sagte sie, wieso denn, sollen sie doch nach Herzenslust essen, und der Mann sagte, vertrau ihnen einfach.

Jetzt, da beide neben dem Esstisch standen, sah Osnat plötzlich, wie sehr sie sich ähnelten: zwei Gnome, die aufgrund einer genetischen Störung in die Höhe geschossen waren und jetzt aussahen wie zwei hünenhafte Gnome. Wie zwei Teddybären, die für einen besonderen Zweck hergestellt worden waren, aber nicht für Kinder.

Er steckte sich eine Zigarette an und ließ sich vor dem Fernseher nieder, in dem ein Film auf Englisch lief. Auf dem Fußboden im Wohnzimmer saß das Kleinkind, doch Osnat hatte gar nicht mitgekriegt, wie es aus den Armen seiner Mutter dorthin gelangt war.

Osnat fragte, wieso, was für Probleme macht er euch denn? Und Shani sagte, er ruft beim Veterinäramt an, bei der Polizei, macht uns jede Menge Scherereien, und Osnat fragte, was, er ruft beim Veterinäramt an und dann? Was hat er denen denn zu sagen? Und Shani sagte, gar nichts, was sollte er schon zu sagen haben? Du hast die Hunde ja gesehen, sind das Hunde, die irgendjemandem was tun könnten? Soll das ein Hund sein, der ein Kind beißt, sags mir, und Osnat fragte, sie würden wirklich niemals beißen? Entschuldigung, wenn ich ein bisschen hysterisch bin, Hamutal ist Hunde einfach nicht so gewohnt, und dann noch große, weißt du, und Shani sagte, das sind Schmusehunde, sie könnte sie auch am Schwanz ziehen, und die würden nichts tun, und Osnat sagte, gut, sie müsse sich wohl keine Sorgen machen, und Shani sagte, sei unbesorgt. Sie kommen sowieso gar nicht ins Haus. Kurz gesagt, das wird ihm nichts nützen, und Osnat fragte, wem? Na, Israel, sagte Shani, das bringt ihm nichts, Tatsache ist, wir haben die Hunde noch, es sind jetzt sogar noch mehr, und niemand wird die Hunde von hier wegbringen. Tja … und Shani reckte den Hals in die Höhe, als wollte sie sagen, nichts zu machen.

Osnat fragte, warum setzt du dich nicht? Trinke nur ich was? Und Shani sagte, Sekunde, ich bring das hier schnell zu den Mädels, und Osnat verfolgte, wie sie sich durch den Flur entfernte und die beiden Klik-Tüten jeden ihrer Schritte wie Pompons optisch untermalten.

IV

1.

Ein Blick in den Spiegel: Sie sah furchtbar aus. War so beschäftigt damit gewesen, das Haus für diesen Besuch herzurichten, es wie die richtige Antwort aussehen zu lassen, wie ein gutes Zuhause, ein Zuhause in Rechovot, dass sie sich überhaupt nicht darum gekümmert hatte, einigermaßen normal auszusehen. Aber nicht einmal wenn sie Zeit gehabt hätte, hätte sie das gerettet. Keine Zeit der Welt hätte ihr geholfen.

Hannah öffnete die Badezimmertür. Osnat sagte, schläfst du noch nicht? Wieso schläfst du nicht? Und Hannah sagte, ich will dich was fragen. Osnat fragte, was Dringendes? Dringend ist, wenn jemand sich verbrannt hat. Hat sich jemand verbrannt? Und Hannah sagte, Mensch, Mama, lass mich kurz ausreden, und Osnat sagte, also?, und Hannah fragte, weißt du, bei welcher Ader man nicht weiterleben kann, wenn die reißt? Und Osnat sagte, Hannah, also wirklich, was hab ich gesagt? Du musst schlafen, und Hannah sagte, sag nur, welche Ader, und Osnat sagte, die Hauptschlagader, und Hannah sagte, nein, die Oberschenkelartiere! Und Osnat verbesserte, die Oberschenkelarterie, und Hannah wiederholte, die Oberschenkelarterie, das haben Papa und ich in Operation Autsch gesehen.

Sofort befielen sie schreckliche Schuldgefühle. Hannah, sie war so ein liebes Mädchen, und sie selbst immer so ungeduldig. Schön wärs, wenn alle Kinder auf der Welt nur dieses eine läppische Problem hätten, süchtig nach Operation Autsch und der Sendung von Rafi Carasso zu sein. Und schön auch für alle Eltern. Dabei war sie nicht mal Hypochonderin, Hannah: ein kerngesundes, freundliches und sportliches Kind, vielleicht ein bisschen wählerisch, was Essen anging, aber überhaupt nicht dramatisch, das wie einen Buckel dieses obsessive Interesse für Krankheiten und den menschlichen Körper mit sich herumschleppte und zu Pipi Urin sagte. Bestimmt zweitausend Mal hatte sie sich schon alle Folgen von Operation Autsch angeguckt, mit diesen Zwillingsbrüdern, britischen Ärzten, die sich selbst Sonden einführten, und sogar Osnat wusste inzwischen, wohl oder übel, was man machte, wenn etwas in der Luftröhre stecken blieb (der Fall mit Jennifer) und wie man einen Hundebiss behandelte, bis Hannah eines Tages zufällig die Sendung von Professor Rafi Carasso gehört hatte, aus irgendeinem Grund lief ausgerechnet das im Radio, wahrscheinlich nach einem Sendersuchlauf, der hängen geblieben war. Hannah hatte ihr Glück damals nicht fassen können, neue, frische Fälle, jede Woche und noch dazu auf Hebräisch, nicht mehr Jennifer, Marc und Robert, die zum eine millionsten Mal in Bristol und Manchester unters Messer kamen, aber Dror und Osnat hatten erst nicht eingewilligt, alles hat eine Grenze, ein sechsjähriges Mädchen muss nicht jede Woche zweistündige Gespräche hören über die richtige Dosierung des Schlafmittels Bondormin oder die Nebenwirkungen des Blutdrucksenkers Cardiloc, aber Hannah flehte, und plötzlich hatte Dror, ohne sie zu fragen oder sich mit ihr abzusprechen, gesagt, einfach so, im Wohnzimmer, weißt du was? Für jedes neue Gericht, das du probierst, darfst du eine Folge von Rafi Carasso hören, und Osnat hatte zu ihm gemeint, are you out of your mind? Und Dror fragte, what? Why not? Und Osnat sagte, you can’t make deals over food, it’s a very bad message, und Dror sagte, it’s not a deal, you’re the one that is making a big deal out of it, und Osnat hatte zu Hannah gesagt, Papa und ich reden darüber und sagen dir dann Bescheid, in Ordnung? Aber natürlich hatten sie nicht darüber geredet, und Hannah hatte einfach angefangen, sich die Sendung von Rafi Carasso anzuhören, ohne jemals irgendetwas Neues zu probieren.

Dror erschien in der Tür. Er sagte, dein Vater und Ofra sind da.

2.

Aber als sie herunterkam, stellte sich heraus, dass nicht nur ihr Vater und Ofra gekommen waren, sondern auch Gilad, Ofras erwachsener Sohn. Es sah aus, als stütze sich sein Bart auf dem Treppengeländer ab.

Sogleich bereute sie, übereilt nach unten gekommen zu sein. Sie würde später zwar wieder für ein paar Minuten ins Bad verschwinden können, aber der erste Eindruck ließ sich kaum wettmachen. Zumal sie ihn wirklich schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sie versuchte sich zu entsinnen, wie sie aussah, schaute an sich herunter, ihre Bluse, orange, Gott bewahre.

Ofra gab ihr ein freundschaftliches Küsschen, entschuldigend, während Gilad geduldig wartete. Sie sagte, Gilad wollte unbedingt das Haus sehen, er war gerade zufällig bei uns, und Osnat sagte, welcome, welcome, das war das Einzige, was aus ihrem Mund kam. Sie küsste ihn auf die Wange und er sie. Er sagte, ich bleib auch nicht lange, mich hat bloß irre interessiert, das hier zu sehen, und Osnat sagte, dann bist du in zehn Minuten wieder verschwunden, in Ordnung? Und ihr Vater sagte, Osnat! Was soll das? Doch Ofra sagte, sie macht nur Spaß, Chagai, du kennst sie doch, oder kennst du etwa deine Tochter nicht? Und Gilad sagte, abgemacht.

Wieder fragte sie sich, ob es tatsächlich passiert war, Gilad benahm sich immer, als wenn nicht. Jetzt wirkten sie wie die Repräsentanten zweier vollkommen verschiedener Welten – sie mit ihren Kindern, dem Haus und dem Schutzraum im Keller, er mit seinem Leben in Jaffa, mit all den Seminaren auf Arabisch und den Workshops –, dass zweifelhaft erschien, ob sie sich überhaupt hatten paaren können, ob ihre Fortpflanzungsorgane überhaupt kompatibel gewesen waren.

Sie gaben sich begeistert von dem Haus, vor allem von dem, was sie aus dem Obergeschoss gemacht hatten. Sie zeigte ihnen das En-suite-Bad im Elternschlafzimmer und das Spielzimmer. Ihr Vater sagte, das ist aber mal reichlich Platz, was? Enkel könnt ihr auch noch unterbringen, und Osnat sagte, warum nicht gleich Urenkel, Papa, und ihr Vater sagte, Amen und noch mal Amen.