Unter Freunden stirbt man nicht - Noa Yedlin - E-Book
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Unter Freunden stirbt man nicht E-Book

Noa Yedlin

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Beschreibung

Was zählt ein ganzes Leben, wenn es nicht mit einem Nobelpreis gekürt wird? Noch acht Tage bis zur Nobelpreisverleihung – die Freunde des charmanten und doch teils arroganten Wirtschaftsprofessors Avishay sind aufgeregt, denn er ist nominiert. Und Avishay selbst? Seine beste Freundin und heimliche Affäre Zohara findet ihn knapp eine Woche vor der Preisverleihung seelenruhig auf dem Bett liegend – er ist tot. Sofort tritt der Rest der tatkräftigen Freundesgruppe auf den Plan. Sie beschließen, sein Ableben zu vertuschen, da dummerweise nur Lebende den Nobelpreis erhalten können. Ihr gemeinsames Vorhaben bringt gut gehütete Geheimnisse ans Tageslicht, genau wie unerfüllte Wünsche, ungesagte Wahrheiten und verdrängte Gefühle. Auf einem Weg voller absurder Situationen – von einem Radfahrer, der einen Toten überfährt, bis zu einer Reinigungskraft, die stillschweigend einen Toten wegräumt – arbeiten sie sich Tag für Tag Richtung Preisverleihung.

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Seitenzahl: 515

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

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ÜBER DIE AUTORIN

Noa Yedlin ist eine israelische Schriftstellerin und Trägerin des Sapir-Preises. Ihre Werke werden regelmäßig verfilmt, im deutschsprachigen Raum zuletzt ihr Roman Unter Freunden stirbt man nicht unter demselben Titel (RTL+). Ihr von der Kritik gefeierter Roman Leute wie wir wurde in Israel ein Bestseller.

Über das Buch

Nur noch wenige Tage bis zur Verkündung des Nobelpreises für Wirtschaft. Die Freunde des charmanten und doch etwas arroganten Professors Avischai sind aufgeregt, denn ihr Freund – so munkelt man – ist einer der Nominierten. Wäre da nicht die unglückliche Tatsache, dass Avischai ausgerechnet jetzt unerwartet stirbt, allein in seiner Wohnung, ganz ohne Vorwarnung. Als seine Freunde ihn dort finden, hecken sie einen Plan aus: Sie müssen unbedingt verhindern, dass die Öffentlichkeit Wind davon bekommt. Denn mit dem Nobelpreis verhält es sich so: Stirbt man vor der Verkündung des Stockholmer Komitees, wars das – Nobelpreis ade.

Während die Freunde nichts unversucht lassen und sich dabei in die unmöglichsten, halsbrecherischsten Situationen bringen, kommen lang gehütete Geheimnisse, vertuschte Ängste, nagende Selbstzweifel zutage. Was haben sie alle, mit über sechzig, in ihrem Leben erreicht? Welche Taten vollbracht, welche Opfer gebracht? Was zählt ein ganzes Leben, wenn es nicht mit einem Nobelpreis gekürt wird? Unschätzbar viel, wie sich herausstellt, vor allem, wenn man es mit Freunden teilt.

NOA YEDLIN

UNTER FREUNDEN STIRBT MAN NICHT

ROMAN

Aus dem Hebräischen von Helene Seidler

Für Doron

»Der Kaufmann des Todes ist tot.«

Eine französische Zeitung 1888 in einem voreiligen Nachruf auf Alfred Nobel, der erst im Jahr 1896 tatsächlich verstarb.

Mittwoch

SOHARA

Auf den Wettseiten im Internet stehen die Chancen 8:1

Eins

1

Suche dir niemals einen Beruf aus, der vom Geschmack der Jugend abhängt. Musik, Klamotten, Schönheit, Essen. Nicht, dass die Jugend keinen Geschmack hätte, manche der jungen Leute haben sogar einen sehr guten Geschmack. Aber mit sechzig möchtest du darüber nicht mehr nachdenken, du möchtest die Existenz dieser Art Mensch am liebsten vergessen.

Sie war auf dem Weg zu Avischai, als ihr der Rat ihres Vaters wieder einfiel. Sie hatte sich mit ihrem besten Freund zu einer Konsultation verabredet, obwohl sie in Wahrheit gar keine wollte, sie wollte einfach nur mit ihm reden. Doch eine so simple Interaktion war zwischen ihr und Avischai ausgeschlossen. Auch nach zwanzig Jahren, oder sogar schon etwas mehr, erwartete er von ihr, jedem ihrer Treffen ein Thema zu geben. Entweder musste sie sich den zweiten Teil von Der Mann ohne Eigenschaften ausleihen oder sich die letzte Episode von Breaking Bad anschauen, etwas fragen, etwas von ihm lernen, etwas richtigstellen, ihm etwas vorbeibringen. Blieb ihr Treffen ohne solchen praktischen Nutzen für sie, dann bedeutete das, dass sie miteinander schliefen. Nur Avischai hatte das Recht, den vorher vereinbarten Zweck gegen diesen anderen auszutauschen, die Begegnung herabzuziehen. Obwohl sie sich jedes Mal schwor, das nächste Mal Nein zu sagen, wenn auch nur als Zeichen der Selbstachtung, gab sie letzten Endes doch immer wieder nach.

Der Steuerberater, bei dem sie morgens gewesen war, hatte ihr einen perfekten Grund für ein Treffen mit Avischai geliefert, als er ihr vorrechnete, dass sie für das Aufnehmen einer Hypothek nicht genug verdiente, tatsächlich sogar ganz allgemein nicht genug verdiente. Besonders in den letzten drei, vier Jahren, was angesichts des Internets und all dieser Webseiten (www.SchreibenSie IhreFamiliengeschichteselbst.com) eigentlich nicht weiter verwunderlich war. Überhaupt widmeten sich immer mehr Leute der Auftragsschreiberei, und zwar zu Spottpreisen; sie unterboten Sohara (Biografien auf Bestellung für Familien und Institutionen) nicht nur ungerührt, sie machten sich obendrein über ihre Qualitätsansprüche lustig.

Zwar hatte sie auf ihren Vater gehört, musste sich nun aber mit ihren achtundsechzig Jahren immer noch auf die Jungen einlassen, auf Enkelkinder, die stets jemanden finden konnten, der die Geschichte ihres Patriarchen günstiger aufbereitete. Trotzdem, dachte Sohara zunächst zufrieden, später jedoch eher besorgt, war ihre Freude, endlich wieder einen triftigen Grund für ein Treffen mit Avischai zu haben, größer als die Furcht vor der eventuell drohenden Altersarmut.

Soharas Freundin Nili behauptete, bei ihr entscheide sich das Schicksal einer Beziehung gleich nach dem ersten Beischlaf, wenn beider Rücken aufs Laken sinken und sie ruhig nebeneinanderliegen. Ich kann dir das nicht erklären, sagte Nili, ich weiß einfach, ob der Mann länger bleiben wird oder nicht, und zwar nach diesem ersten Koitus. Aber mit Sex hat das nichts zu tun, verstehst du? Womit zum Teufel hat es dann zu tun?, erkundigte sich Sohara, und Nili sagte: Das hat etwas mit den Machtverhältnissen zu tun, mit dem, was die Männer brauchen und was ich ihnen gebe. Das muss nicht einmal unbedingt das sein, was sie wollen, ihr Gefühl sagt ihnen, ich besäße genau das, was sie brauchen. Damit kann ich überhaupt nichts anfangen, erwiderte Sohara, und Nili meinte: Lass gut sein, wirklich, lass gut sein, aber wenn du das nächste Mal wieder eine Affäre anfängst, dann versuch mal, irgendetwas anders zu machen als sonst, und wenn es auch nur eine winzige Kleinigkeit ist.

Sohara war inzwischen klug genug, nicht zu fragen, mit wem sie denn überhaupt eine neue Beziehung anfangen sollte. Gelegentlich empfahl Nili ihr ansprechende Männer, nicht nur Ärzte aus dem Kollegenkreis, aber wenn das geschah, kam es mit einer Auflage daher: Sohara hatte vor einigen Jahren in einem Anfall geistiger Schwäche ein Abkommen mit Nili getroffen. Weißt du was, Sohara, hatte die Freundin gesagt, komm, wir machen einen Deal, man will doch immer die ganze Wahrheit wissen, das, was einem normalerweise vorenthalten wird? Wenn ich dir jemanden vorstelle, dann werde ich dir hinterher alles, was er über dich gesagt hat, offen erzählen. So können wir dein Problem vielleicht ergründen, und du lernst etwas für die Zukunft daraus. Sohara hatte sich für die Idee begeistert, sehr sogar, unter anderem auch, um die darin enthaltene Kränkung zu überspielen. Nili nahm von vornherein an, dass der Mann, dessen Identität noch nicht einmal feststand, Sohara ablehnen würde. Außerdem war es ja nur so eine Idee, der sie einfach nicht widerstehen konnte. Wer möchte denn nicht die Wahrheit erfahren, theoretisch zumindest, also prinzipiell? Ein gänzlich unerfüllbarer Wunsch, denn ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass man seine Freunde vor der Realität schützt. Sie mögen uns bitten, ja, anflehen, ihnen die ungeschminkte Wahrheit zu sagen, aber die behalten wir natürlich fürsorglich für uns und würden sie ihnen nie im Leben zumuten.

Aber mit Nili war das anders. Nur Nili brachte es fertig zu fragen: Du willst doch sicher wissen, was er gesagt hat, nicht wahr? Das hilft dir doch weiter, oder? Was hätte Sohara darauf antworten sollen? Die Wahrheit lag ja bereits wie Gift in Geschenkverpackung zwischen dem Salzstreuer und dem Süßstoff auf dem Bistrotisch. Dann musste Sohara sich Folgendes anhören: Ich weiß nicht recht. Oder: Sie ist nett und interessant und sieht übrigens auch recht gut aus, aber irgendwie hat es nicht gefunkt, ich weiß auch nicht. »Ich weiß auch nicht« kam sehr oft vor, »es passt nicht so richtig« ebenfalls. Nili trug diese Aussagen in leichtem Plauderton vor, denn sie hielt sie für ermutigend. Sie waren ja eigentlich nicht kränkend, bei Sohara aber lösten die vagen Bemerkungen eine Qual aus, wie sie bitterer nicht sein konnte. Sie war eben niemals »genau das«, das wusste sie schon längst. Eine bessere Erklärung gab es nicht, sie schien immer irgendwie danebenzuliegen. Eines Tages fragte sie: Was mache ich denn deiner Ansicht nach falsch, Nili, und was erhoffst du dir davon? Etwa dass einer sagt, Sohara sollte Deodorant benutzen, sie riecht unter den Achseln. Woraufhin Nili in lautes Lachen ausbrach.

Mehr als um alles andere beneidete Sohara ihre Freundin Nili um deren Normalität. Keinesfalls aber um diesen Höhlenmenschen, mit dem sie seit einer Weile zusammen war. Sohara fand bärtige Männer unattraktiv, sie gehörten ihrer Meinung nach einer nicht paarfähigen Parallelspezies mit höchst zweifelhafter Romantik an. Sie hätte sich nicht gewundert, von Nili zu erfahren, dass der Typ anstelle des Penis ein Horn trug. Nein, Nili hatte die Passagen von Verliebtheit, Paarung, Hochzeit und Scheidung, Kindern und Enkelkindern hinter sich gebracht, so wie es sich im Alter von sechzig plus gehörte, und nachdem sie nun ihre Fähigkeit zur Normalität bewiesen hatte, durfte sie sich das Ausgefallene erlauben. Sohara selbst hingegen strebte mit achtundsechzig immer noch vehement der ersten Liebe entgegen, die sich doch eigentlich spätestens bis zum sechzehnten Lebensjahr hätte einstellen sollen, und wenn nicht mit sechzehn, dann vielleicht mit sechsundzwanzig, später erschien ihr auch sechsunddreißig durchaus noch akzeptabel.

Vor ungefähr fünfzehn Jahren, als die Freunde sich eines Abends bei Varda und Amos versammelt hatten, trat Sohara auf der Suche nach der Katze arglos ins Zimmer von Hagar, der abwesenden Tochter des Hauses. Dort lag auf dem Regal neben allerlei Gebrauchsgegenständen ganz unverhohlen eine angefangene Schachtel Antibabypillen, als wäre sie Teil des normalen Lebens, und gerade deswegen stand Sohara einen Augenblick still und dachte, die Tochter von Amos ist siebzehn und hat die Liebe schon entdeckt. Die Tochter von Amos. Und dabei hätte doch Sohara selbst auch eine Tochter haben müssen, der sie verzeihen konnte, dass sie die Mutter auf diesem Gebiet eingeholt hatte.

Nicht, dass sie besonderes Interesse daran gehabt hätte, jemanden kennenzulernen. Sie musste nicht unbedingt irgendeinem Unbekannten im Café gegenübersitzen und sich einen hindernisreichen Weg in seine Seele bahnen. Sie wollte Avischai. Sie waren doch in gewisser Hinsicht ohnehin schon ein Paar, allerbeste Freunde, die dann und wann miteinander ins Bett gingen. Von den meisten Paaren in ihrem Bekanntenkreis ließ sich nicht einmal das sagen. Avischai müsste nur endlich begreifen, was nicht zu begreifen eigentlich unmöglich war.

Die Kluft zwischen ihr und der Liebe, zwischen ihr und dem Glück, zwischen ihr und dem Leben, wie es gelebt werden sollte, schien winzig zu sein, nur ein Kopfnicken, und alle Brüche wären gekittet. Aber im Strom der Zeit zerbröckelten die Ufer; die beiden entfernten sich voneinander. Wieder und wieder trat nicht ein, was hätte eintreten sollen. Die verflossenen Jahre nagten an Soharas Seele, an ihrem Begehren, sogar ein wenig an ihrer Liebe, die aber beim kleinsten Zeichen aufzuflackern bereit war. Inzwischen hatte diese Liebe allerdings ein wenig beiseiterücken müssen, damit Sohara überhaupt weiterleben konnte und nicht völlig aus der Bahn geriet.

Wenn er gerade mal keine Freundin hatte, liebte sie Avischai mehr; als er aus dem Ausland zurückgekehrt war, hatte sie sich erneut in ihn verliebt; als er auf die Vierzig zuging, verstärkte ihre Liebe sich und nahm dann wieder ab, als Sohara einsehen musste, dass sie niemals Kinder haben würde. Zwischendurch hatte sie sich auch in andere Männer verliebt, das war ein drängendes, belebendes Gefühl gewesen, aber wenn diese Affären endeten, sank sie in die alte Halb-Beziehung zurück wie in eine mit Trost gefüllte Badewanne.

2

Oft fragte Sohara sich, wie wohl Nili, Jehuda und Amos reagieren würden, sollten sie je erfahren, dass sie und Avischai, der allen gemeinsame allerbeste Freund von ihnen allen, ab und zu miteinander ins Bett gingen. Jehuda wusste nicht einmal, dass sie überhaupt mit jemandem schlief, ebenso wenig Amos, obwohl der in gewisser Weise daran schuld war.

Sie und Amos hatten sich in Jerusalem bei der linken Studentengruppe »Kompass« kennengelernt. Sie studierte Anglistik und Geschichte, er natürlich Volkswirtschaft. Gemeinsam entdeckten sie, dass sie trotz allem Respekt immer auf etwas anderes Lust hatten als auf die sozialistische Revolution. Sie befürchtete, er könne einer jener Männer sein, die sie nicht wollte, die sie aber vehement wollten. Solche gab es, doch bei Amos war sie sich nicht hundertprozentig sicher, und so ging sie mit ihm ins Bett, um den Zweifel auszuschließen.

Nach dem Akt wusste sie, dass sie ihn wollte, doch von Amos ging nun leider ein feiner Hauch der Unlust aus. Um einer Demütigung vorzubeugen, passte Sohara sich geschmeidig den geänderten Umständen an – ein Verhaltensmuster, das sich in jenen Tagen einzuschleifen begann. Seitdem hatte sie jede Erinnerung an die damaligen Gefühle ausgerottet und sie in den Kammern ihres Herzens neben unzähligen anderen aufkeimenden Regungen begraben. Amos wurde anstelle dessen zu ihrem besten Freund und ging dazu über, sie zu ermutigen: Du findest ganz bestimmt jemanden, auf jeden Fall, du wirst es sehen, Sohara, ohne jede Frage. Sie ließ sich von seinen Ermunterungen tragen, obwohl die Logik von ihr das Gegenteil verlangte, sie stand sich immer mehr selbst im Weg. Aber ich finde niemanden, sieh doch selbst, Amos, das ist eine unbestreitbare Tatsache – damit zwang sie ihn, die Ermunterungsdosis zu erhöhen.

3

Warum weihte sie die anderen nicht ein? Wenn sie nachts über ihre Beziehung zu Avischai nachdachte, über Dinge, die in der Luft hingen, manche bereits vergangen, manche lediglich in ihrer Fantasie, führte sie sich die Gründe auf: Sie wollte das feine Geflecht der fünffachen Freundschaft nicht gefährden, niemanden mit diesem zwanzigjährigen Geheimnis verletzten, niemand sollte sich hintergangen fühlen. Sie wollte ihr gutes Verhältnis zu Amos nicht zerstören, der ihr treuherzig so vieles anvertraute, wie sehr er beispielsweise darauf brannte, es Avischai gleichzutun und ebenfalls für den Nobelpreis nominiert zu werden, wenn der gewusst hätte, dass sie manchmal nackt neben Avischai lag … Und wie könnte sie es wagen, Jehudas kindlichen Glauben, Avischai würde ihm alles auf der Welt erzählen, zu erschüttern? Außerdem befürchtete sie, falsche Erwartungen zu wecken. Am Ende würden die Freunde noch denken, es liege im Bereich des Möglichen, dass Sohara und Avischai zusammenzögen, man würde darauf drängen, ja, es mit einem halben Lächeln einfordern. Dabei war das doch wohl völlig ausgeschlossen, oder?

Wurde es dunkel, verdunkelten Soharas sonst hellwache Sinne sich ebenfalls: Was hatte dieses allnächtliche Spiel wohl zu bedeuten? Die diversen Antworten deklamierte sie, obwohl niemand ihnen lauschte, wohl formuliert vor sich hin und versuchte auf diese Weise, ihr im Schutz der Dunkelheit ausuferndes Bewusstsein einzudämmen. Als glaubte sie, wenn sie die Antworten nur oft genug mit innerer Überzeugung wiederholte, würde sie am Ende selbst daran glauben. Erst einmal die Zuhörer überzeugen und dann sich selbst.

Wirklich ausschlaggebend war allerdings nur das eine: Avischai wollte die intime Beziehung zu ihr geheim halten. Aus Gründen, die sie sich gemeinsam vordeklamiert hatten, er als erster und sie mit der Verzögerung einer zehntel Sekunde, wie sie es gelernt hatte und auch bei anderen anwandte: Wie lustig, dass du nicht willst, denn ich will auch nicht. Sohara aber wusste, dass keiner dieser Gründe der Wahrheit entsprach. Avischai wollte es eben unbedingt für sich behalten, das war alles.

So, wie sie wusste, dass sie selbst die vierzigjährige Freundschaft auf der Stelle verraten und auf das Vertrauen, das Amos ihr entgegenbrachte, pfeifen würde, freudlos zwar, aber laut, wenn nur endlich alle von der seit zwanzig Jahren laufenden Geschichte zwischen Avischai und ihr erführen und also erführen, dass Sohara normal war, zu zwei Dritteln jedenfalls, so wusste sie auch, dass Avischai das Geheimnis jederzeit hätte lüften können, wenn er es gewollt hätte, aber er wollte es nun einmal nicht.

Warum wollte er es nicht? Sohara gab sich Mühe, nicht daran zu denken, was ihr zwar nicht völlig gelang, doch zogen sich diese stets ergebnislosen Grübeleien allmählich von allein zurück und erwachten im Dunkeln nur dann wieder, wenn ihr Verhältnis zu Avischai für längere oder kürzere Zeit auf Eis lag und sie die Muße hatte, Avischais Freundinnen aus den vergangenen zwanzig Jahren Revue passieren zu lassen.

Die meisten sahen recht gut aus, aber das störte Sohara nicht besonders; es waren eher die weniger Schönen, die offenbar über verborgene Qualitäten verfügten, die sie beunruhigten. Avischai verriet nicht, woher er sie kannte; über so etwas sprach er niemals, und die Freunde, im stillen Einverständnis, dass Männer wie Avischai überall und stets Frauen kennenlernten, erkundigten sich nicht danach. Diese Gefährtinnen tauchten so unvermittelt auf wie ein Schlagloch auf der Straße.

Einige dieser Gefährtinnen hatten Sprösslinge, und obwohl es chronologisch kaum möglich war, schienen diese Kinder auch damals unabhängig und reif genug gewesen zu sein, um die Mütter klaglos ihren Affären zu überlassen. Vielleicht waren die kindlichen Ansprüche aber nur niemals bis zu Avischai vorgedrungen und hatten deswegen auch Sohara nicht erreicht.

Avischai brachte Kindern einfach kein Interesse entgegen. Drei seiner vier engsten Freunde, Nili, Jehuda und Amos hatten Kinder, und inzwischen auch schon Enkel. Avischai sah sie aufwachsen, heiraten, selber Eltern werden, alles aus nächster Nähe, in einigen Fällen nur ein paar Schritte entfernt. Mit ihren Eltern traf er sich oft, meistens in deren Häusern zum Abendessen, achtete jedoch darauf, den Kleinen nur bei Geburtstagsfeiern zu begegnen. Sohara wunderte sich oft, wie nonchalant er auf diesen Partys durch den Raum segelte und Geschrei, süße Stimmchen, Geistesblitzchen, schmerzhaftes Hinfallen und untröstliche Weinkrämpfe zu ignorieren verstand. Es schien, als wollte er den Nachwuchs seiner Freunde nicht weiter zur Kenntnis nehmen, nachdem der Bund mit ihnen erst einmal geschlossen war.

4

War Avischai wieder einmal in eine Affäre verstrickt, dann übte Sohara sich in Geduld, weil ihr nichts anderes übrig blieb. Im Laufe der Zeit lernte sie das Spiel zu spielen, wusste geschmeidig zu reagieren: Ja, auch bei mir läuft gerade etwas. Manchmal kam sie ihm sogar zuvor und erzählte von bestimmten Versuchungen. Wenn ihr nichts einfiel, dann bediente sie sich der Geschichten ihrer Kunden. In solchen Momenten beneidete sie ihren Vater um seine rege Fantasie, obwohl sie niemals Schriftstellerin hatte werden wollen, ganz im Gegenteil, sie betonte bei jeder Gelegenheit, dass sie keine Schriftstellerin sei, das Schreiben von Biografien und Memoiren habe mit Schriftstellerei so wenig zu tun wie beispielsweise das Einschätzen von Immobilien, obwohl sie sich im Stillen eingestand, dass dieser Vergleich hinkte.

5

Sie nahm sich vor, gegen acht, halb neun losfahren. Sollte sie von unterwegs Eis mitbringen? Ihr war das Eisessen eigentlich verboten, wegen des Zuckers, aber Avischai mochte ohnehin nur Sorbet, und das stellte für sie keine große Versuchung dar.

In ihrem E-Mail-Eingang fand sie eine Nachricht des Wohnungsmaklers: Hier noch zwei Wohnungen. Achtung, die zweite (Erdgeschoss in der Brandeisstraße) hat einen Obstgarten. Bei Interesse bitte melden. Sie googelte die Brandeisstraße. Schade, ziemlich in der Nähe. Sie war doch nicht seit sieben Jahren auf der Suche, um am Ende in derselben Gegend zu landen.

Sie lebte in ihrer Wohnung wie auf Abruf, betrachtete ihre Jahre dort als Vorstufe, als Vorbereitung auf etwas anderes, wie jemand, dem der Besitz einer defekten Bleibe aufgedrängt worden ist, dem ein Wunsch erfüllt wurde, bevor er zu Ende gesprochen war. Doch als sie endlich konkrete Schritte unternahm, sich woandershin zu retten, geschah etwas Überraschendes: Aus der vermeintlich wohlhabenden Sohara wurde innerhalb von einer knappen Woche eine arme Frau. Jahrelang wohnte sie nun schon in der renovierten Wohnung ihrer Eltern im Turm von Kiryat Ono und schaute in der Gewissheit über Eigentum und Besitz beruhigt in die Zukunft. Doch dann hatte sie die Immobilienseiten im Netz studiert und anschließend Makler konsultiert, die ihr praktisch zur Begrüßung eiskalt versicherten: Natürlich gibt es auch für Ihr Budget noch eine Menge Angebote auf dem Markt …

Sohara musste einsehen, dass sie eine Frau ohne Vermögen war. Außer dieser einen Wohnung besaß sie nichts. Sie würde im Alter nicht nach Paris oder London ziehen können, vielleicht reichte ihr Budget nicht einmal für Tel Aviv. Diversen Maklern folgend schleppte sie sich zwischen Einzimmerwohnungen in akzeptablen und Dreizimmerwohnungen in nicht mehr akzeptablen Gegenden umher. In einer solchen Wohnung werde ich meine Gäste bewirten und auch sterben müssen, dachte Sohara dann, von hier aus geht es nicht mehr weiter.

Sohara begann sich zu fühlen wie eine, die sich einschränken muss, so nannte sie es vorläufig, denn richtig arm war sie ja nicht. Eher Mittelstand, mit einem Minus auf dem Bankkonto, von der Art Leute, von denen man in letzter Zeit immer öfter hörte, Leute ohne größeren Besitz, die es sich in einer netten Arbeit und in einer netten Wohnung gemütlich gemacht hatten, solange ein gütiges Schicksal es zuließ, bis dann ein Zufall ihnen ihre relative Armut vor Augen führte.

Sie suchte also weiter, und zwar nur in Tel Aviv, als müsste sie, wenn sie die Suche aufgäbe, zu viele andere Dinge ebenfalls aufgeben. Sie gehörte jetzt zu dem Menschentyp, der die Stadt brauchte, um sein Anderssein zu schützen wie Transgender-Leute oder Gott weiß wer, die in einem Vorort einfach nicht klarkommen. Sie erwartete, eines Tages eine Wohnung und das Glück zu finden. Oberflächlich gesehen verachtete sie die Wohnungsmakler zwar, doch tief in ihrem Inneren glaubte sie ihnen jedes Wort.

Sie wischte durch die Fotos der Wohnung. Der Wohnraum war länglich, genau so, wie sie es nicht mochte. Sie stellte sich vor, dort mit Avischai zu sitzen und starken türkischen Kaffee zu trinken. Dann ließ sie Avischai weg, doch allein sah sie sich dort erst recht nicht.

Zwei

1

Sie stieg zwei Stockwerke hoch und klopfte an die Tür, Avischai mochte es nicht, wenn man klingelte. Bevor sie noch einmal klopfte, ließ sie eine Weile verstreichen und wartete dann mit dem dritten Anklopfen wieder geraume Zeit. Sollte sie vielleicht doch klingeln? Plötzlich packte sie die Wut. Sie stand hier schwitzend mit der schweren Handtasche und einer Halb-Kilo-Packung Sorbet, die sie waagerecht zu balancieren versuchte, damit sie nicht zu tropfen begann. Und Avischai öffnete einfach nicht, obwohl sie für neun verabredet waren, und jetzt war es schon fast Viertel nach, er saß vermutlich im Arbeitszimmer vor dem Rechner, obwohl er wusste, dass sie kommen würde und obwohl er sie darum gebeten hatte zu klopfen und nicht zu klingeln. Da hätte er sich doch eigentlich im Wohnzimmer aufhalten oder zumindest auf die Tür achten müssen. Dennoch zögerte sie, als hätte sie die Klingel heimlich selbst anbringen lassen, wenngleich der verdammte Knopf vor ihrer Nase ausschließlich für diesen Zweck gedacht war. Zum Teufel mit Avischais Vorbehalten, gestresst wie ein Techniker, der den Auftrag mit der Bemerkung, es sei niemand zu Hause gewesen, möglichst schnell abhaken will, drückte sie die Klingel. Ein langes wütendes Läuten erschallte.

Von der anderen Seite kein Laut. Sie presste ihr Ohr an die Tür. Wären die Räume von Musik erfüllt, würde sie ihm vergeben, aber sie hörte nichts. Vielleicht ist er tot, dachte sie plötzlich, aber das war natürlich lächerlich, sie war nicht wie jene Frauen, die sich lieber vorstellten, ihr Liebhaber wäre gestorben, als sich einzugestehen, dass er ihrer überdrüssig war.

Die Szene war wie für ein TV-Drama gemacht: Gleich würde sie den Schlüssel aus der Tasche ziehen, den sie, um allen Missverständnissen vorzubeugen, auf der Parallelschiene der Freundschaft gemeinsam mit Jehuda und in Anwesenheit der anderen entgegengenommen hatte. Sie hatte diesen Schlüssel noch niemals benutzt. Worauf konnte jemand, der, nachdem er geklopft und geklopft, vergeblich Avischai, Avischai gerufen hatte und dann in die fremde Wohnung trat, schon stoßen, wenn nicht auf den toten Avischai? Würde sie ihn erhängt im Badezimmer finden? Nein, das war unvorstellbar. Vielleicht blutüberströmt auf dem Bett? Für einen Augenblick spielte sie mit der Vorstellung, Amos hätte Avischai zehn Tage vor der Bekanntgabe des Nobelkomitees ermordet, um nicht miterleben zu müssen, wie der Freund den begehrten Preis heimtrug. Amos hätte eher Avischai ermordet, anstatt sich selbst umzubringen.

Wie sonst kann jemand daheim zu Tode kommen? Beim Geschlechtsverkehr, natürlich mit einer jüngeren Frau. Und die war schon abgehauen, hatte die Tür hinter sich ins Schloss gezogen, und Sohara würde ihn nun mit einem seltsamen Gesichtsausdruck und vielleicht einer Resterektion im Bett vorfinden … Oder war das einfach nur TV-Klamauk? Aber Avischai schlief doch mit keiner anderen, zumindest nicht ausgerechnet dann, wenn Sohara sich angekündigt hatte. Dieser Satz machte sie traurig, warum war er nicht in der Mitte zu Ende?

Gebeugt ließ sie sich auf eine Treppenstufe sinken. Vor dem nächsten Anklopfen würde sie sich aufrichten und eine fröhliche Miene aufsetzen. Vorsichtig hob sie den Styropordeckel von der Sorbet-Packung und drückte den Zeigefinger in die weiße Abdeckung, er sank viel zu tief ein. Sie wählte Avischais Nummer und hörte sein Telefon drinnen in der Wohnung klingeln. Wahrscheinlich stand er unter der Dusche, fühlte sich Sohara gegenüber so ungezwungen, als wäre sie Teil seines Haushalts. Wieder durchflutete sie die Wut, sie schien jetzt aus der Tiefe zu kommen, aber das mochte an ihrer gebeugten Haltung liegen. Sie stand auf, stellte das Sorbet auf den Treppenabsatz und suchte nach Avischais Schlüssel, es musste der grüne sein, da war sie sicher. Vorsichtshalber klingelte sie noch einmal, wartete ein oder zwei Sekunden und schloss auf.

2

In der Wohnung war es still. Heller Parkettfußboden, weiße nach Maß angefertigte Metallregale. Nur der hereindringende Straßenlärm verband den eminenten Wirtschaftswissenschaftler mit der Levante, als wollte er ihn am vollständigen Abheben hindern.

Avischai, rief sie und ging direkt aufs geräumige Badezimmer zu, doch schon als sie die Schlafzimmertür passierte, sah sie ihn. Er lag mit halb geöffneten Augen und nacktem Oberkörper rücklings auf dem Bett, in Hosen, die man nicht zum Schlafen trägt. Sie dachte kurz daran, jemanden zu rufen, der ihr beistehen könnte, vielleicht die Nachbarn, aber was wussten die schon von Avischai und ihr, sie würden diesen Augenblick nur verderben. Ihr Herz klopfte so schnell, als beobachtete sie ein großes Ereignis aus der Nähe.

Sie erfasste sofort, dass er tot war; sie brauchte ihn nicht zu schütteln: Avischai, Avischai, nun steh doch auf! Er war tot, wirklich tot, Avischai war gestorben. Ein tröstlicher Blitz zuckte in Lichtgeschwindigkeit durch ihr Gehirn – Avischai hatte ihr nicht deshalb nicht geöffnet, weil er ihren Besuch geringschätzte –, bevor ein Haufen hitziger Gedanken in ihr Bewusstsein einbrach und aus allen Richtungen über sie herfiel. Sie würde jemand anderen finden, nein, es war zu spät, für Nili war es nicht zu spät gewesen, aber sie war nicht Nili, nichts würde sich ändern, vielleicht aber doch, jetzt könnte sie es endlich allen erzählen, wer würde diese Wohnung erben, schändlicher Gedanke, er hatte doch eine Schwester, Ruthi, natürlich, als hätte sie das vergessen.

Sie ging zum Bett. Sie hatte bereits Tote gesehen, ihren Vater, ihre Mutter und noch andere, das war jetzt unwichtig, sie hatte von ihnen Abschied genommen, wie es sich gehörte, aber sie war noch nie mit einem Toten allein gewesen. Woher sollte sie wissen, ob er wirklich tot war. Sie starrte ihn aus unnatürlicher Nähe an, Lebende würden eine solche Nähe nicht dulden. Seine Haut war weder grün noch grau, was stand sonst noch in Büchern, ein wenig zu blass vielleicht, mehr nicht. Trotzdem wusste sie genau, dass er tot war. Er lag dort wie niedergeworfen und von einer besonders starken Schwerkraft unter dem Boden angezogen, wie jemand, der sich nie mehr erheben würde, nicht einmal um zu protestieren, ganz egal, gegen welche seiner vielen Regeln sie jetzt gerade verstieß.

Als hätte sie Angst vor einem Kälteschlag oder befürchtete, den Toten doch noch aufzuwecken, setzte sie sich behutsam aufs Bett und berührte seine Schulter mit dem Zeigefinger; da sie überhaupt nichts spürte, legte sie ihm die ganze Hand auf die Brust. Sie hatte noch niemals Körpertemperaturen einschätzen müssen und entschied nach einer prüfenden Weile, dass er lauwarm war. Mit dem Fingernagel kratzte sie ein wenig an der ins Graue spielenden Haut. Er protestierte nicht, und sie ließ es sein.

Sie müsste einen Krankenwagen rufen, das war es doch, was man in solchen Fällen tat. Der würde den Leichnam mitnehmen und irgendwie zum Friedhof schaffen. 101 oder 102, das brachte sie immer durcheinander. Was sollte sie sagen? Hier liegt ein Toter, ich glaube, er hatte einen Herzinfarkt. Bitte kommen Sie sofort. Sie sprach die Worte vor sich hin, um zu prüfen, wie sie sich anhörten. Würde man ihr glauben? Warum denn nicht?

Sie stellte sich einen dicklichen Sanitäter und eine Helferin mit Pferdeschwanz vor, die beiden würden sie bestimmt für die Witwe halten. Sprächen sie Sohara ihr Beileid aus oder bliebe sie unbeachtet? Die Wohnung würde sich mit Trubel füllen, das ganze Gebäude in Aufruhr geraten, ein Krankenwagen vor dem Eingang, eine Tragbahre im Treppenhaus, Jehuda, Nili und Amos würden eintreffen, auch Ruthi müsste verständigt werden.

Nur noch einen Moment, noch fünf Minuten. Sie ließ einen Finger über seine Wange gleiten, aber das war unangenehm. Automatisch stand sie auf und ging ins Badezimmer, um sich vorher noch rasch zu erleichtern, aber als sie neben der Toilette stand, fehlte ihr dazu plötzlich die Kraft.

Sie schlenderte ins Arbeitszimmer und schaltete das Licht ein. Der schwarze Bildschirm des Computers wirkte wie tot. Als sie die Maus berührte, leuchtete der Desktop grün auf, er war fast leer, aber das war jetzt alles zu viel für sie. Sie löschte das Licht und ging in die Küche, wo sie ziellos ein, zwei Schränke öffnete und sich dann an den Esstisch setzte. Wie oft hatte sie davon geträumt, Avischais Leben einmal von innen zu erkunden; einmal in seiner Wohnung allein zu sein, erschien ihr als Zeichen absoluter Intimität. Schade, dass Avischai sterben musste, damit dieser Wunsch sich erfüllte. Nur über meine Leiche – das war nun wörtlich eingetreten. Du möchtest meine Freundin werden? Nur über meine Leiche. Es tat weh.

Sie atmete tief durch, um diese Vorstellung zu vertreiben. Doch als sie ausatmen wollte, hielt die Lunge die Luft zurück, und ihr schossen Tränen aus den Augen. Überrascht schielte sie auf ihre Wangen herab. Das Weinen hatte ihr schon eine ganze Weile unbemerkt schwer auf der Brust gelegen: Avischai war nicht mehr, Avischai war tot, jetzt würde sich vieles ändern.

Donnerstag

Jehuda

Auf den Wettseiten im Internet stehen die Chancen 8:1

Drei

1

Rauchen, rauchen, rauchen, rauchen. Rauchen, du lieber Gott, rauchen. Einen Augenblick lang war er versucht zu beichten, jetzt auf der Stelle alles zu gestehen, die Wohltat einer Zigarette würde die Schmach glatt aufwiegen. Bis seine Freunde hier mit dem Gerede fertig wären, könnte er sogar eine halbe Packung durchziehen. Einen Moment, bitte, würde er sagen, legt mal kurz eine Pause ein, ich muss euch etwas gestehen, was mit dieser Sache nichts zu tun hat. Ich habe die Bioköstlerei aufgegeben und wieder angefangen zu rauchen, okay? Wenn sie sich von dem Schock erholt hätten – vor dieser Schockatmosphäre graute ihm, er hatte nicht den geringsten Bock auf die selbstgerechte Empörung, als würde er den Weltuntergang beschleunigen, wenn er sich gelegentlich eine Zigarette ansteckte und ab und zu ein Stück Fleisch verzehrte. Wenn sie dann mit ihren »Aber seit wann denn?«, »Aber warum denn?« fertig wären, würde er einfach sagen: Avischai liegt tot im Zimmer nebenan, sollten wir uns nicht lieber darauf konzentrieren?

Vielleicht verbarg sich hinter dem Gedanken ein zynisches Ausnutzen der Gegebenheiten, doch war Jehuda sicher, Avischai hätte ihm verziehen, hätte über den Verrat des Freundes am gemeinsamen Vegan-Wahn einfach gelacht, hätte darauf hingewiesen, dass er schließlich keiner dieser engstirnigen amerikanischen Sektierer sei. Internetlinks mit Rezepten an Avischai zu schicken, Seitan-Gulasch auf Kartoffel-Auberginen-Püree, Dal aus roten Linsen, Quinoa mit Erbsen und Minze – das war noch die leichteste Übung gewesen. Er hatte ihm außerdem ausführlich vom kläglichen Versagen der konventionellen Medizin berichtet, als er Heilung für seine Kniegelenke gesucht hatte, um mit Avischai wieder Sport treiben zu können. Einmal alle vier bis sechs Wochen hatte er sich sogar breitschlagen lassen, mit Avischai das Restaurant zu besuchen, das allein wegen der vielen Fliegen im Garten schon eine Zumutung war, um zum Dessert »Käsekuchen« – mit Anführungsstrichen stand es auf der Karte – zu verspeisen. Beim Nachtisch verspürte Jehuda stets besonders starke Gewissensbisse.

Wenn er so sicher war, dass Avischai ihm lachend vergeben hätte, warum hatte Jehuda dem Freund die Kehrtwendung dann verschwiegen? Schämte er sich etwa, weil er wieder einmal aufgegeben hatte? Befürchtete er, dabei erwischt zu werden, wie er ein Projekt sausen ließ, dem er kurz zuvor noch sein Leben hatte widmen wollen? Hatte er es satt, den wissend lächelnden Freunden einen weiteren, schon gar nicht mehr nötigen Beweis dafür zu liefern, dass er nun einmal so war? So ist Jehuda eben, da kann man nichts machen. Aber man konnte etwas machen, und ihrem Lächeln fehlte jegliche Grundlage, denn die Dinge waren anders, als sie dachten, er war gar nicht so, und er fand dieses Getue inzwischen unerträglich.

Also erschien er weiterhin zu den von Varda und Idith mit Eifer zubereiteten halb veganen Abendessen, nahm von der falschen Hälfte des Aufgetischten und lauschte Avischais Tiraden über die neu erworbene Fitness. Er selbst verspüre keine dramatische körperliche Veränderung, verkündete Jehuda bei diesen Gelegenheiten, weil er dann das Gefühl hatte, weniger zu lügen, er mache aber weiter, weil es eben die richtige Lebensweise sei.

Jehuda beschloss, sich lieber zu beherrschen und nicht zu rauchen, der Augenblick war für eine Beichte denkbar ungeeignet. Krebs, Krebs, Krebs, Krebs, elendig dahinsiechen, fluchen und bereuen, nicht eher aufgehört zu haben, die Enkelkinder von Daria nicht mehr sehen, Daniella nicht bei der Schwangerschaft begleiten oder sie gerade noch bis zum Ende der Schwangerschaft begleiten und wegsterben, wenn der Junge anfängt zu plappern, sie werden ihn nicht mehr zu mir bringen, weil ich Blut spucke und bereits wie eine Leiche aussehe. Krebs, Krebs, Krebs, Krebs.

Er musste sich konzentrieren.

Sie ist völlig klar im Kopf, jedenfalls soweit ich informiert bin, nicht wahr, Jehuda?, es war Nili, die da redete. Avischais Mutter ist noch ganz in Ordnung, sie kann sich nur nicht mehr so gut fortbewegen, sagte er und fügte hinzu, sie muss weit über neunzig sein, für ihr Alter ist sie in gutem Zustand, in den letzten Monaten wirkte sie allerdings etwas verwirrt. Kann sie denn überhaupt zum Begräbnis kommen?, fragte Nili, und Jehuda antwortete, das wisse er nicht. Er dachte an Pnina, Avischais Mutter, die er in den letzten Jahren nur selten gesehen hatte. Seit sie in das Seniorenheim gezogen war, ging sie kaum noch aus.

Als sie Kinder waren, hatte er Avischai um diese Mutter beneidet. Seine eigene war Mathematiklehrerin an der Städtischen Oberschule, und man sagte ihr nach, sie habe eine Affäre mit einem Mathematiklehrer vom Humanistischen Gymnasium, was der Sohn als kränkend empfand. Warum gab sie sich mit so wenig zufrieden? Weil ihm keine andere Wahl blieb, beteiligte Jehuda sich mit vorgetäuschter Begeisterung an den Versuchen seiner Klassenkameraden, dem Paar nachzuspionieren. Die Alternative wäre zu demütigend gewesen, das wollte er sich keinesfalls einhandeln.

Sehr viel später, nach dem Tod seiner Mutter, fragte er sich manchmal, ob er seinen Vater auf diese Sache ansprechen sollte. In amüsiertem Tonfall, eine Anekdote, über die das Leben längst hinweggegangen war, eine perfekte Gelegenheit, die Geschichte zu bereinigen, wenn er es nur fertigbrachte. Wie oft saß er im Seniorenheim in Ramat HaScharon und suchte angestrengt nach einem Thema, nach erzählenswerten Vorfällen, nach Klumpen im dünnen Teig seines Lebens, um die anderthalb Stunden irgendwie zu füllen. Und dennoch brachte er die wenigen Worte, die dem Zimmer eine andere Dimension verliehen hätten, niemals über die Lippen. Mehr als sechzig Jahre einer beschädigten Elternschaft hätten innerhalb eines Augenblicks ihre Qualität verändern können. Später wurde sein Vater zum Pflegefall, und am Ende gesellte sich noch Alzheimer hinzu. So trat ein, wovor in Fernsehprogrammen wie der Dr. Phil Show immer gewarnt wurde: Nahestehende Menschen sterben, ohne dass wichtige Fragen beantwortet sind, und die Tatsache, dass es für immer zu spät ist, tut höllisch weh. Jehuda allerdings verspürte unvermutet Erleichterung.

Sohara sagte, gut, Avischais Schwester Ruthi wird es ihrer Mutter beibringen, nicht wahr? Das wird sie sicher tun, pflichtete Jehuda ihr bei, und Amos fragte: Könntest du Ruthi anrufen? Jehuda nickte, und Amos fügte hinzu: Es wird allmählich Zeit, es ist fast schon seltsam. Ich geh mal kurz runter und besorge uns etwas zu trinken, schlug Jehuda vor, ich rufe sie dann von unterwegs an, es ist mir sowieso unangenehm, das Gespräch vor euch zu führen.

Was auch immer du holst, bring auf jeden Fall eine große Flasche Cola Zero mit, bat Amos, und Jehuda entgegnete, das Gesöff wird von der amerikanischen Polizei zum Entfernen von Blutflecken auf dem Asphalt benutzt, nur dass ihr es wisst. Sohara ergänzte, nicht nur zum Entfernen von Blut, sie desinfizieren auch Leichen damit, woraufhin Amos witzelte, dann bring doch bitte gleich drei Liter mit. Sehr lustig, meinte Jehuda. Es tut mir leid, die Lagerfeueratmosphäre zu zerstören, mischte Nili sich ein, aber die erste Behauptung ist genauso frei erfunden wie die zweite. Und jetzt hol uns bitte Diät-Cola und mach uns nicht verrückt.

2

Jehuda bog zweimal rechts ab, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass er sich nicht mehr im Rücken des Gebäudes befand und die Bank eventuell vom kleinen Toilettenfenster in Avischais Wohnung aus beobachtet werden könnte, setzte er sich hin und zündete sich eine Zigarette an.

Anstatt Trauer zu empfinden, war er ärgerlich, oder vielleicht war der Ärger zusätzlich zur Trauer aufgekommen. Seine schlechte Laune legte sich über alles, und er wusste nicht mehr, was genau sich darunter verbarg.

Wie waren sie nur in diese Lage geraten? Er hatte von Anfang an gesagt, komm, lass uns einen Krankenwagen rufen, warum auf Nili und Amos warten, was soll Nili denn noch ausrichten können, ihn wiederbeleben? Aber Sohara meinte: Darum geht es nicht, hier sind äußerst diffizile Entscheidungen zu treffen. Welche Entscheidungen meinst du?, fragte Jehuda, also wirklich, Sohara, wir müssen einen Krankenwagen rufen und die Dinge mit dem Kibbuz-Friedhof besprechen. Bleibt nur zu klären, wer von uns was übernimmt, mehr nicht, und danach lass mich nach Hause gehen und in Ruhe weinen.

Vielleicht will seine verrückte Schwester ihn noch einmal hier in seiner Wohnung sehen, sagte Sohara, sie ist doch auf dem Naturtrip, vielleicht möchte sie ihn auf eine bestimmte Art begraben lassen. Ruthi sollte dankbar sein, dass ihr Bruder so normale Freunde hat, meinte Jehuda, und dort zur Beerdigung erscheinen, wohin wir sie einladen, bezahlen wird sie das Begräbnis wohl ohnehin nicht, das ist mir aber ganz egal, für Avischais Beerdigung komme ich mit Freuden auf. Sohara verzog das Gesicht, um Humor und Sinn für sprachliche Feinheiten zu demonstrieren. Jehuda konnte diese Grimasse nicht leiden und murmelte nur noch: Du weißt doch, wie ich das gemeint habe.

Bitte versetze dich einmal in ihre Lage, Jehuda, sie ist immerhin seine Schwester. Ihr Bruder ist heute gestorben oder vielleicht gestern, keine Ahnung, wie lange er hier schon liegt, und sie weiß von nichts. Ich finde, sie sollte entscheiden, was als Nächstes geschieht, und ein Abschied im Krankenhauskeller vor dem Gefrierfach wird sie wohl kaum glücklich machen.

Dann lass uns jetzt gleich mit ihr reden, hatte Jehuda daraufhin vorgeschlagen, wir dürfen das nicht länger aufschieben, aber Sohara gab zu bedenken: Nili und Amos sind doch schon unterwegs, warte noch fünf Minuten, Jehuda, Nili soll ihn sich wenigstens einmal anschauen, dann können wir Ruthi am Telefon vielleicht schon etwas Genaueres sagen. Nili wohnt ja um die Ecke, sie dürfte gleich hier sein, sie hat mich gebeten, mit allem zu warten, bis sie da ist.

Also hockten sie in Avischais Wohnzimmer und warteten auf Nili und Amos. Gut, dass der Tod ihnen Gesellschaft leistete: Sohara stand dann und wann auf und ging in Avischais Schlafzimmer, wie um nachzusehen, ob sich dort etwas verändert hatte. Jehuda blieb sitzen und stützte den Kopf in beide Hände, eine Haltung, die ihm für einen Trauerfall angemessen erschien, obwohl er an den Schmerz in seinem Innern überhaupt nicht herankam, dazu hätte er Ruhe und eine Zigarette gebraucht.

3

Früher einmal waren die beiden innerhalb der Fünfergruppe ein festes Gespann gewesen, Sohara war ja Single, und Jehuda verfügte über recht viel freie Zeit. Seine Frau Idith störte sich an den Zweiertrefffen überhaupt nicht, sie beschäftigte sich mit Millionen von anderen Dingen, und Sohara galt allgemein eher als Schwester. Sie schauten sich zusammen – ohne vorher Kritiken oder sonstige Informationen gelesen zu haben – alle Filme in den Programmkinos an, ob es sich nun um kroatische Uhrmacher oder koreanische Waisenkinder handelte, und gingen hinterher beim Italiener essen.

Natürlich zogen sie auch ein wenig über die anderen her, allerdings stets innerhalb der Grenzen, die sie in Tausenden von Gesprächen abgesteckt hatten. So durfte beispielsweise über Avischais Freundinnen geredet werden, über Nilis Dates allerdings nicht. Was Idith und Jehuda betraf, so waren alle Fragen erlaubt, was Varda und Amos anging, waren alle verboten. Bevor sie an ein taufrisches Thema anrührten, erkundeten sie mit den Zehenspitzen behutsam die Festigkeit des Bodens. Als Vardas aufblühende juristische Karriere schon allen zu den Ohren raushing, genügte ein kleiner Hinweis von Sohara, damit Jehuda zugab: etwas ermüdend, oder?

Sohara verfügte über grenzenlose Geduld, eine Geduld, wie sie nur kinderlose Menschen aufbringen. Jehuda breitete seine stets vergeblichen Pläne vor ihr aus und beleuchtete seine Ideen immer wieder aus allen möglichen Blickwinkeln, auch wenn diese unverändert dieselben blieben. Er war ihr dankbar für das erneute Lauschen ohne die Spur jenes Nickens, das besagte: Das kannst du überspringen, das hatten wir schon. Stattdessen stellte sie selbst noch einmal die gleichen gründlichen Überlegungen an und übernahm großmütig und elegant einen Teil seiner Bürde.

Nur einmal wäre ihr fast der Kragen geplatzt. Nach einem Abendessen bei Varda und Amos meinte Sohara, Vardas grandiose Überkompensation von Minderwertigkeitsgefühlen habe etwas Erbarmungswürdiges, woraufhin Jehuda zurückfragte, was ist denn unser aller Leben, wenn nicht ein einziger großer Versuch, Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren? Also meins nicht, auf gar keinen Fall, entgegnete Sohara, ich weiß kaum, was das sein soll, ein Minderwertigkeitskomplex, das heißt, ich weiß natürlich, was du meinst, habe aber selbst so etwas noch nie empfunden.

Darauf Jehuda: Im Ernst, du fühlst dich Leuten, die im Leben mehr erreicht haben als du, nicht unterlegen? Worauf Sohara meinte: Jehuda, wenn du dich Leuten, die im Leben mehr erreicht haben als du, unterlegen fühlst, dann ist das dein Problem und auf keinen Fall meins. Das stimmt nicht, konterte Jehuda, vielleicht sollte ich es genauer sagen: Ich fühle mich Leuten unterlegen, die ihre eigentliche Bestimmung gefunden haben und zu wahrer Größe aufgelaufen sind, das schon. Was zum Teufel soll das sein, »wahre Größe«, das verstehe ich überhaupt nicht, empörte sich Sohara. Jehuda erklärte: Leute, die für ihre Leistung eindeutige internationale Anerkennung erhalten, okay? Dann hat Avischai sich also zu wahrer Größe aufgeschwungen?, fragte Sohara. Und Jehuda gab zurück: Weißt du was, wenn Avischai wirklich den Nobelpreis erhält, dann würde ich mich für ihn freuen und mit ihm feiern und all das, aber ihm gegenüber vermutlich auch ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl verspüren, und ich kann mir keinen Menschen auf der Welt vorstellen, dem es nicht ähnlich erginge.

Also ehrlich, meinte Sohara daraufhin, das hat für mich etwas schrecklich Provinzielles, außerdem überrascht es mich, ich meine, jemand wie du, Jehuda Charlapp, wohlhabend, unglaublich erfolgreich, ein Mann mit Freunden und einer Familie – du würdest dich kleiner fühlen, wenn irgendeiner einen schwedischen Preis erhält, noch dazu auf einem Gebiet, das dir völlig fremd ist. Alles Akademische hat dich doch bisher völlig kaltgelassen?

Jetzt untertreibst du, Sohara, gab Jehuda zurück, es geht um die größte Ehrung der westlichen Kultur, der Nobel ist wie der Oskar. Wir alle, sogar Leute, die nie ins Kino gehen, beneiden einen Israeli, der einen Oskar gewinnt. Und warum? Darum! Denn wenn Erfolg im Allgemeinen relativ ist – was ist Erfolg überhaupt, und wer beurteilt ihn? –, dann gibt es zwei Dinge, die eine solche Diskussion beenden: das sind der Oskar und der Nobelpreis. Nun haben wir beide das Glück, mit jemandem befreundet zu sein, der diesen Preis möglicherweise erhalten wird, und wenn das tatsächlich eintreten sollte, dann wäre das etwas wirklich Bedeutendes, und dann würde ich mich Avischai vermutlich unterlegen fühlen.

Und dass du ihn so gut kennst, dass du die Schwächen und Probleme dieses Menschen so gut kennst, das würde daran nichts ändern?, fragte Sohara. Spricht das nicht eher für das Gegenteil? Sobald man mit diesen Leuten, neben denen unsereins sich deiner Meinung nach minderwertig fühlen müsste, auf vertrautem Fuß steht, sieht man doch die Komplexität hinter der Fassade und erkennt, dass jeder mit seinem eigenen Minderwertigkeitsgefühl zu kämpfen hat, dass sich alles auf irgendeine Weise wieder ausgleicht! Gut, sagte Jehuda, dann frage ich andersherum: Wenn du dich mit Tirza triffst und sie dir von ihren Auslandsreisen und Preisen erzählt … Was dann?, fragte Sohara. Und du erzählst ihr im Gegenzug, sagen wir, dass du jetzt gerade ein Buch zu irgendeinem Firmenjubiläum fertiggestellt hast, meldet sich dann nicht eine innere Stimme und fragt: Wir sind im gleichen Alter, und schau, was sie erreicht hat, und ich, wo stehe ich? Zwar wollte ich nie im Leben Schriftstellerin werden, und ich bin auf meinem Gebiet erfolgreich und all das, aber dennoch: Tirza hat objektiv gesehen in dieser Welt mehr erreicht! Und da ich leider nicht blöd bin, ich bin sogar ganz im Gegenteil sehr intelligent, muss ich mir das eingestehen, oder?

Was soll das, Jehuda, willst du mir jetzt einen Minderwertigkeitskomplex einreden? Um Himmels willen, Sohara, du bist überaus klug, schön und erfolgreich, sonst hätte ich gar nicht erst davon angefangen. Jehuda, unbestritten gibt es Leute, die mehr erreicht haben als ich, die eigentliche Frage ist doch, wie man sich in ihrer Gesellschaft fühlt. Also ganz ehrlich, wenn ich mit Tirza zusammen bin, dann höre ich etliche Dinge, die du nie zu hören bekommen wirst. Wenn du denkst, ihr Leben sei ein Kinderspiel, liegst du ziemlich daneben. Die Hälfte ihrer Zeit muss sie Misserfolge und Fehlschläge verkraften – oder was sie dafür hält, und ich spreche hier noch nicht einmal von ihrem Privatleben.

Er zögerte, aber wirklich nur sehr kurz; diese Diskussion war immerhin interessant genug, um nach absoluter Ehrlichkeit zu verlangen: Wenn es um persönliche Probleme geht, dann hast du selbst ja wohl in dicken Anführungszeichen kaum etwas Tröstliches vorzuweisen. Was soll das nun wieder bedeuten?, fragte Sohara, sollte ich etwa wegen meiner Kinderlosigkeit besonders ausgeprägte Komplexe haben?

Habe ich dich verletzt?, fragte er. Keineswegs, meinte sie, ich selbst konfrontiere dich doch auch mit potenziell verletzenden Dingen. Gut, sagte er, wenn wir das politisch Korrekte also einmal beiseitelassen, dann würde ich meinen, für dich als Single unter lauter Familien könnte die Kinderlosigkeit ein Anlass sein, dich mit anderen zu vergleichen. Sicherlich ist das ein Anlass, sagte Sohara, die Frage ist nur, zu welchem Ergebnis ich komme. Heutzutage ist die Hälfte unserer Bekannten geschieden, und deren erwachsene Kinder haben ihre eigenen Schwierigkeiten. Schau dich doch um, wer von den Kindern, deine eigenen Töchter eingeschlossen, hat keine Probleme? Die niedlichen Dreieinhalbjährigen sind sie doch längst nicht mehr. Mein Leben ist etwas anders verlaufen, und weißt du was, diese Dinge sind eben nicht so eindeutig wie dein Oskar und dein Nobelpreis. Wieso denn meiner, wehrte Jehuda ab. Eins muss ich dir noch sagen, Jehuda, ich kenne dich nun seit fast fünfzig Jahren und habe dich immer für einen sehr klugen Mann gehalten, und nun zeigst du mir auf einmal eine bis jetzt völlig unbekannte Seite.

Wenn du von diesen Dingen gänzlich frei bist, Sohara, dann darfst du dich glücklich schätzen. Es muss schön sein, so zu leben. Die Frage ist nur, ob du wirklich so lebst oder ob du dir das bloß einredest. Das kannst nur du allein beurteilen. Vielleicht sollte ich diesbezüglich wirklich einmal innere Einkehr halten, meinte Sohara, und Jehuda fragte: Du bist doch nicht etwa gekränkt oder so was, das war alles völlig arglos gemeint. Warum denn gekränkt, weil du vermutest, ich sei meiner selbst nicht bewusst genug? Weiß auch nicht, murmelte Jehuda, von diesem ganzen Gespräch vielleicht? Alles gut, Jehuda, beruhigte ihn Sohara.

4

Einige Zeit darauf entschloss er sich, sie wegen seines Buches um einen kleinen Gefallen zu bitten. Sie hatte schon oft wiederholt: Wenn du einmal etwas damit machen willst, dann sag Bescheid, ich berate dich, so gut ich eben kann. Und Jehuda gab dann meist zurück, leider ist es noch nicht so weit, aber vielen Dank.

Vor einigen Monaten war er nun aber mit dem Schreiben fertig geworden und hatte das Dokument einfach ruhen lassen. Er wusste nicht, wer aus seinem nächsten Umfeld sich am besten zum Lesen des Manuskripts eignete. Seine Frau Idith ganz bestimmt nicht, sie war gegen alles, was in Richtung Schreiben ging. Soharas Ansprüche schienen ihm nicht hoch genug zu sein. Es Nili zu geben, wäre eigentlich das Naheliegendste gewesen. Sie kannte seine Bedenken am besten und nahm sie stets ernst. Nili war jedoch im Widerspruch zu ihrer äußeren Erscheinung gefährlich und schwierig, sie verstand sich aufs Zerlegen und Sezieren, bis nichts übrig blieb. Vor ihr wollte er sein Buch – aber auch die gegenseitige Freundschaft – schützen, als würde nichts mehr da sein, wenn sie diesen Fuß abhackte.

In einer bestimmten Phase hatte er an Amos gedacht, ausgerechnet an Amos, den Experten für die Ökonomie des Glücks, denn dieser Amos hatte eine höchst unkonventionelle Art zu denken. Jehuda spürte, irgendwie würde Amos sein Buch Die Furchtlosigkeit des Erfinders zu schätzen wissen, es mit Vergnügen lesen, ja, vielleicht sogar etwas daraus für sein eigenes Leben mitnehmen. Aber ein solcher Schritt könnte Avischai verletzen, wieso erhielt Amos das Manuskript als Erster? Und so etwas vor Avischai zu verbergen, kam überhaupt nicht infrage.

Natürlich hätte Avischai das Manuskript als erster lesen können, aber das wollte Jehuda nicht. Er meinte vielmehr, der eminente Wirtschaftswissenschaftler müsste der Letzte sein, das letzte Wort haben. Avischai war niemand, dem man einen Entwurf zeigte. Das traf zwar alles zu, in Wirklichkeit aber fürchtete Jehuda sich vor etwas, das er nicht genau benennen konnte. Das war schon so gewesen, bevor er Sohara das Manuskript endlich zur Weiterleitung überließ, bevor überhaupt irgendetwas geschah; in ihm schwelte ein vages Grauen, als könnte das Buch Freundschaften zerstören, sie sozusagen beim bloßen Umblättern hinwegfegen. Im Rückblick erwies Jehudas bedächtiges Vorgehen sich als die klügste Entscheidung seines Lebens. Avischai las das Buch erst ganz zum Schluss, nachdem es gründlich redigiert und lektoriert worden war, und auf diese Art heimste Jehuda unversehens ein Vorwort ein, freiwillig geliefert aus Avischais Feder.

Tirza Bar-Ness war ihm damals überhaupt nicht in den Sinn gekommen, obwohl er selbstverständlich wusste, dass Sohara mit ihr befreundet war, er selbst hatte ja Tirza in jenem ominösen Gespräch über Minderwertigkeitskomplexe erwähnt. Die erfolgreiche bekannte Schriftstellerin schien ihm zunächst unerreichbar zu sein, doch nachdem Sohara Tirzas Misserfolge und Fehlschläge angedeutet hatte, noch ohne überhaupt vom Privaten zu sprechen, da dachte er, Tirza könne ihn mögen, sie seien einander sogar ziemlich ähnlich.

Sohara und er saßen in einem Lokal, als Jehuda sie wissen ließ, er habe die Arbeit am Manuskript abgeschlossen und überlege nun, wem er es als Erstem zu lesen geben solle, und da sei ihm ihre Freundin Tirza eingefallen, die sei seiner Meinung nach für diese Aufgabe hervorragend geeignet.

Sohara schaute überrascht auf, was Jehuda wiederum verunsicherte. Übertrieb er es etwa, war eine solche Bitte vielleicht völlig unangebracht? Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist es eine Art Selbsthilfebuch, sagte Sohara, und nun wusste Jehuda auf Anhieb, dass sein Anliegen unbedingt angebracht war, denn sein Werk ein Selbsthilfebuch zu nennen, zeugte von totaler Fehleinschätzung. Es verlief also eine Linie von ihm zu Tirza, und sie führte hoch über Soharas Kopf hinweg.

Hör mal, gab sie zu bedenken, Tirza schreibt ernsthafte Romane, verbesserte sich aber sogleich, Tirza schreibt Romane, und ich weiß nicht, ob sie die Richtige für ein Buch ist, das den Verstand trainiert. In welcher Funktion soll sie es denn überhaupt lesen? Erstens, erwiderte Jehuda, ist es mitnichten ein Buch, das den Verstand trainiert, es enthält auch sehr viel Privates, Kindheitserlebnisse, diverse Einsichten, die sich aus meiner Lebensgeschichte ergeben, egal … Das ist nicht egal, fiel ihm Sohara ins Wort, warum sollte es egal sein? Und zweitens, fuhr Jehuda unbeeindruckt fort, was soll das heißen: in welcher Funktion? Als Frau, als kluge Frau, als Schriftstellerin, als Frau von Welt, als Autorin, die sich im Markt auskennt, als Leserin, ist das nicht genug?

Kennst du ihre Sachen überhaupt?, fragte Sohara. Ihr erstes Buch, Gefälligkeiten und Genüsse, sagte er. Das ist gar nicht ihr erstes Buch, bemerkte Sohara. Na und? Du hast doch verstanden, was ich meine, und Sohara stichelte, nur nebenbei, das hat sie vor fünfundzwanzig Jahren herausgebracht. Ich wusste gar nicht, dass du ein Fan bist.

Schau, sagte er, wenn es dir nicht passt, dann vergiss es einfach, wenn es dir unangenehm ist, wende ich mich eben direkt an sie, worauf Sohara meinte, nein, nein, das geht schon klar. Schick mir das Buch, ich leite es dann an Tirza weiter, sag mir nur, was ich ihr schreiben soll, welche Art der Beurteilung du erwartest. Sie soll nur alles sagen, was ihr in den Sinn kommt, erwiderte Jehuda, und bloß keine Rücksicht auf mich nehmen.

Das meinte er im Ernst, er wollte tatsächlich die ganze Wahrheit hören, und je mehr er sich bemühte, der naturgegebenen teilweisen Blindheit seinem Werk gegenüber auf die Spur zu kommen, desto weniger gelang es ihm, sich eine andere Wahrheit auszumalen als die, dass sein Buch gelungen sei. Zwar meinte er, auf jedes mögliche Urteil gefasst zu sein, doch sein Gefühl setzte sich gegen die Vernunft durch, sodass er trotz aller Selbstbeschwichtigung mit nichts anderem als mit einem Triumph rechnete.

Drei Wochen später erschien in seinem Posteingang eine E-Mail von Sohara, mit dem angehängten Schreiben von Tirza Bar-Ness:

Lieber Jehuda,

zunächst einmal danke ich für den Text, der mir ein außergewöhnliches Leseerlebnis bescherte. Gleich zu Anfang möchte ich sagen, dass Du Dein Handwerk verstehst. Fast jede der vielen Zeilen Deines Buches bezeugt rasches Denkvermögen und Originalität, ich habe es gerne gelesen, und es hat mir stellenweise sogar großes Vergnügen bereitet.

Dennoch muss es meiner Ansicht nach vor einer eventuellen Veröffentlichung gründlich überarbeitet werden. Zunächst einmal ist die Fokussierung problematisch. Wie im Text eine Art »Anweisung für Erfinder« mit der Biografie eben jenes Erfinders verknüpft wird, mag interessant sein, doch zumindest in der jetzigen Fassung wird dem Leser der Eindruck vermittelt, zwei verschiedene, künstlich zusammengeführte Werke vor sich zu haben, die sich gegenseitig aber kaum in einem neuen Licht erscheinen lassen. Die Struktur wirkt rein assoziativ, beansprucht die Aufmerksamkeit des Lesers, verlangt also von ihm eine gewisse Anstrengung und nimmt ihm die Möglichkeit, sich entweder auf die Erzählungen oder auf die Übungen zu konzentrieren und diese zu genießen.

Ein Beispiel: Wo Du erzählst, wie Du den Tütenöffner erfunden hast, wirkt Deine Geschichte völlig willkürlich. (Vielleicht darf ich die Gelegenheit für einen Dank an Dich nutzen, denn erst durch diesen Text wurde mir klar, dass Du der Mann bist, der mein Leben verändert hat. Und wenn ich nicht strikt dagegen wäre, könnte ich hier gut und gern ein Smiley einfügen.) Auch wenn es sich tatsächlich auf diese Weise abgespielt hat, untergräbst Du damit in gewisser Hinsicht das Fundament des ganzen Buchs. Der Leser fragt sich, was er aus einer solchen Begebenheit lernen soll, was von all dem er in sein eigenes Leben integrieren kann – außer zu beten, auch ihm möge Ähnliches gelingen.

Was die praktische Seite betrifft, so finden sich im Internet seit Jahren schon – und heute in der Facebook-Ära erst recht – die unterschiedlichsten Trainingsmethoden zum Schärfen des Denkvermögens. Hast Du auf diesem Gebiet etwas Neues zu bieten? Darüber lohnt es sich nachzudenken, vielleicht zusammen mit einem professionellen Lektor.

Der Stil ist ein weiterer Punkt, der Beachtung verdient. Die biografischen Kapitel machen den Löwenanteil des Buches aus, und einige der Geschichten sind wirklich anrührend, dennoch solltest Du kürzere Sätze bauen und bedenken, dass der Leser nicht in Deinem Kopf sitzt. Deswegen müssen ihm die Dinge so deutlich wie möglich vermittelt werden.

Ich danke nochmals für die Gelegenheit, in eine für mich neue und spannende Welt spähen zu dürfen, und wünsche Dir von ganzem Herzen viel Erfolg.

Tirza

Eine ganze Woche lang vermied er es, Sohara anzurufen. Ob sie Tirzas Schreiben vor dem Weiterleiten gelesen hatte, wusste er nicht. Möglicherweise hatte Tirza Sohara mündlich ins Bild gesetzt. Er wollte sich keinesfalls dem Risiko aussetzen, ihr die Wahrheit sagen zu müssen. Anfangs vermutete er, auch Sohara habe ihre Gründe, ihn nicht anzurufen, sie war schließlich klug genug, um zu wissen, dass ein Gedemütigter sich keine Gesellschaft wünscht. Doch die Vorstellung, der schreckliche Verriss würde sich nun ohne jede Abschwächung in Soharas Bewusstsein festsetzen, machte ihn noch verrückter als der Verriss selbst, sodass er am Ende doch ihre Nummer wählte.

Sie fing nicht davon an, aber irgendwann bemerkte er: Mein Buch hat deiner Freundin nicht gefallen. Ach, nein?, fragte sie. Hat sie dir nichts davon gesagt?, erkundigte er sich. Selbstverständlich nicht, entgegnete Sohara, Tirza ist die Diskretion in Person.

Plötzlich fühlte er sich hilflos, erniedrigt wie noch niemals zuvor, und wusste nicht einmal, zu welchen Waffen er greifen und gegen wen er sie richten sollte. Zu seiner eigenen Verwunderung hob er unwillkürlich die Hände. Wärst du bereit, es ebenfalls zu lesen, fragte er Sohara. Wenn du es möchtest, gab sie zurück, aber bedenke bitte, dass die ganze Sache mit den Übungsanleitungen nicht in mein Gebiet fällt. Ich vertraue dir, sagte er, und lies bitte auch, was Tirza geschrieben hat, ich möchte wissen, was du darüber denkst. Kein Problem, meinte Sohara, aber schick mir ihre Nachricht bitte noch einmal, ich habe sie bei mir gleich nach dem Weiterleiten gelöscht. Noch in derselben Sekunde wusste Jehuda, dass sie log.

5

Als sie beim nächsten Treffen nach dem Kinobesuch ihre Plätze beim Italiener eingenommen hatten, holte Sohara sein Manuskript aus der Tasche. Er konnte es kaum fassen, dass sie ihn während des ganzen Films hingehalten hatte und ausgerechnet jetzt, ein paar Minuten bevor die Auberginen-Pizza gebracht wurde, darüber sprechen wollte, doch war er auf Anhieb bereit, ihr alles zu verzeihen.

Also meiner Meinung nach schreibst du sehr, sehr schön, begann sie. Aber?, warf er ein. Wieso aber?, fragte sie, meiner Meinung nach schreibst du sehr, sehr schön, und das hier ist ein ungewöhnlich originelles Buch, im Ernst, so etwas habe ich noch nie gelesen, und ich habe einiges gelesen. Okay, sagte er, und sie fuhr fort: Außerdem finde ich es sehr humorvoll, ich habe bei einzelnen Sätzen praktisch deine Stimme gehört. Dieses Buch, das bist du. Okay, besten Dank, sagte er. Nichts zu danken, ich sage nur, was ich denke, eins aber noch. Was denn?, fragte er dazwischen. Gerade weil es eine so schöne Idee ist, den Erfindergeist mit all dem anderen zu verknüpfen, fuhr sie fort, finde ich es schade, dass du das nicht konsequent durchgehalten hast, verstehst du, was ich meine? Es wirkt eher wie ein Buch über viele Dinge, die dich beschäftigen, alle möglichen Gedanken, Ideen und Betrachtungen, das ist völlig in Ordnung, wenn es das ist, was du schreiben möchtest, aber im jetzigen Zustand kommt es als etwas ganz anderes rüber.

Was soll das denn heißen, »alle möglichen Gedanken, Ideen und Betrachtungen«? Es ist die Geschichte meines Lebens, Sohara, genau darum geht es mir, ich habe nicht den geringsten Wunsch, einen weiteren Ratgeber oder Gehirntrainer oder ich weiß nicht was auf den Markt zu bringen. Okay, meinte sie, das scheint mir offenbar entgangen zu sein, ich finde die persönlichen Passagen vergleichsweise weniger gelungen. Aber die persönlichen Passagen nehmen doch den meisten Raum ein, entgegnete er. Ganz und gar nicht, entgegnete sie, so habe ich es nicht gelesen. Was meinst du mit »so habe ich es nicht gelesen«, das haut mich ehrlich gesagt um, wenn etwas keine eindeutige Überschrift trägt, dann seid ihr außerstande, es zu begreifen. Wen meinst du mit »ihr«, fragte Sohara, und was willst du eigentlich von mir? Weiß ich auch nicht, sagte Jehuda, allmählich gewinne ich den Eindruck, dass das Ganze überhaupt nicht funktioniert. Was funktioniert nicht?, fragte sie zurück, alles eben, sagte er, diese ganze Buch-Idee. Vielleicht erklärst du mir jetzt einmal kurz, in nicht mehr als zehn Worten, worin diese Buch-Idee eigentlich besteht. Es ist die Geschichte vom Aufwachsen eines Jungen in Tel Aviv, sagte Jehuda, aus dem später ein Erfinder wird, weswegen auch dieser Aspekt eingeflossen ist. Prima, sagte Sohara, völlig klar. Vor einer Sekunde hast du noch gemeint, es sei unklar. Vergiss, was ich gemeint habe, erwiderte sie, mir geht es um die Proportionen, das ist alles. Aha, und was sonst noch, fragte er.

Jetzt habe ich Angst, den Mund aufzumachen. Los doch, nun rede schon, forderte er sie auf. Gut, also die Übungsanweisungen, es sind ausgezeichnete dabei, einige habe ich selbst ausprobiert, mit überraschendem Nutzen, andere wirken wie etwas aus der Gemeinschaftskunde, teilweise, versteh mich da bitte richtig, es betrifft gewisse Abschnitte, andere können bleiben, wie sie sind.

Im Großen und Ganzen stimmst du also deiner Freundin Tirza zu. In welchen Punkten genau?, wollte Sohara wissen. Komm, sagte Jehuda, dann frage ich andersherum: Gibt es in Tirzas Kritik etwas, dem du widersprechen würdest? Jehuda, stellst du mich jetzt vor ein Standgericht? Das heißt also, Sohara, das Buch ist schlecht. Jehuda, das Buch ist zurzeit noch nicht so gut, wie es sein könnte, und das finde ich schade, denn du hast das Talent, daraus etwas ganz Hervorragendes zu machen. Gut, sagte Jehuda, dann ist es also ein Buch, an dem zu arbeiten sich lohnt? Das ist doch jetzt die Frage, fuhr er fort, würde die Arbeit sich auszahlen? Aber sicher!, bestätigte Sohara. Ich würde sowieso nie jemandem raten, sein Buch in der Schublade zu vergraben – ohne jeden Bezug zu dir jetzt, okay? Aber deins ist toll. Na dann, sagte Jehuda, ich habs kapiert.