Leyla - Feridun Zaimoglu - E-Book

Leyla E-Book

Feridun Zaimoglu

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Beschreibung

Eine Familiensaga aus dem Herzen des Orients Eine anatolische Kleinstadt in den fünfziger Jahren. Hier wächst Leyla als jüngstes von fünf Geschwistern auf, im engen Kreis der Familie und der Nachbarschaft, und hegt einen großen Wunsch: Sie will dieser Welt entkommen. Feridun Zaimoglu wendet den Blick zurück auf das Land, aus dem er mit seinen Eltern kam. Ein Land, erstarrt im Kalten Krieg, in dem ein strenger Glaube den Alltag durchdringt, die Familien dem Vater unterstehen, den Frauen ein bescheidener Platz zugewiesen ist – und in dem all das ins Wanken gerät.Er lässt die heranwachsende Leyla ihren Alltag erzählen, von den Vormittagen in der Schule, den Nachmittagen im Kreise der Schwestern, die an ihrer Mitgift sticken, und dem Leben in der Kleinstadt, in der Armut herrscht und jeder sein bescheidenes Auskommen sucht. Leylas Vater hat keinen Erfolg, verliert seine Anstellung als Bahnbeamter und schlägt sich mit immer windigeren Geschäften durch. Die Brüder gehen ihrer Wege, rebellieren gegen den Vater, die Schwestern warten auf den Mann, der für sie ausgesucht wird, und hoffen auf die große Liebe. Leyla erobert sich kleine Freiheiten, die sie wieder verliert, als sie zur Frau wird. Und sie kommt einem dunklen Familiengeheimnis auf die Spur. Erst der Umzug der Familie nach Istanbul eröffnet neue Möglichkeiten: Leyla lernt einen Mann kennen und verliebt sich, doch die beiden haben keine Zukunft in der Türkei. Mit epischer Kraft und einer sinnenfrohen, farbenprächtigen und archaischen Sprache erzählt Feridun Zaimoglu vom Erwachsenwerden eines Mädchens, dem Zerfall einer Familie und von einer fremden Welt, aus der sich viele als Gastarbeiter nach Deutschland aufmachten.

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Feridun Zaimoglu

Leyla

Roman

Kurzübersicht

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> Inhaltsverzeichnis

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> Über dieses Buch

> Impressum

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Inhaltsverzeichnis

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. KapitelPersonenverzeichnisTürkische Anredeformen
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Für Remzi Çeçen

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– Prolog –

Dies ist eine Geschichte aus der alten Zeit. Es ist aber keine alte Geschichte.

In Gottes Namen –

Ein Wolfsrudel macht auf offenem Gelände Jagd auf einen Menschen. Auch andere Tiere sind geschickt, doch Wölfe sind Meister im Stöbern und Greifen. Ein Wolf greift das Opfer an, er fällt vom einfachen Lauf in einen leichten Galopp, und dann treibt es ihn vorwärts, der Kopf als Rammsporn gereckt, der Wind kann das gesträubte Nackenfell kaum niederhalten. Er kennt die Richtung, in die er hetzt. Er fühlt in seinen Lefzen, daß er begehrt, und daß das Opfer erstarrt und auf ihn wartet. Der Rest des Rudels fällt scheinbar zurück. Wartet ab, tritt aus seinem Versteck heraus, stürmt voran.

Die Unwissenden glauben, die Wölfe seien die Meister der Feigheit. Dabei sind sie Meister der Wollust, denn sie kennen den Geschmack des warmen Fleisches.

Wenn der vorangeschickte Wolf seine erste brutale Kraft einbüßt, in eben diesem Moment der Erschlaffung, kommt die Nachhut, die frische Reserve. Die Wölfe scheucht man nicht mit Feuer, sie achten nur immer darauf, daß sie nicht verbrennen.

Ihre Augen spähen weit hinaus in die Nacht.

Sie sind nicht schlau, sie sind nicht dumm: Sie sind Tiere, das reicht.

Die Wölfe umkreisen die Beute, den Menschen. Sie sind unerbittlich.

Ihr Angriff, ihr Verlangen, ihre schnappenden Zähne: Wie kann man die Jäger böse nennen?

Wie kann man nur seine Unschuld opfern, daß man sich in der Not den Wölfen hingibt?

Der Fraß heiligt diese Tiere.

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– 1 –

Besser ist es, erst Pfirsich und dann Melone zu essen, denn Melone ist süßer. Sagt meine Mutter. Sie schneidet die Honigmelone in Viertelscheiben, sie führt das Messer von einem Ende zum anderen, dem Rund der Melonenscheibe folgend, um dann das Fruchtfleisch zu stückeln. Ein Stück, aufgespießt mit den krummen Zinken der einzigen Eisengabel, die wir haben, ein Stück reicht sie mir und hält die Hand unter mein Kinn. Ich beiße hinein, quetsche das Stückchen, bis der Saft an meinem Kinn herunterschliert.

Wo ist dein Kettchen?

Dort, wo mein Tand ist, sage ich.

Und was hast du für Tand angesammelt?

Kindertand. Runde kleine Steine.

Steinchen?

Ja, Steinchen, sage ich, Hölzchen mit Splittern drin.

Das sind Kerben, sagt sie. Djengis hat dir also in dein Hölzchen geritzt. Was geritzt?

Meinen Namen.

Dein Bruder ist klug. Er kann lesen und schreiben. Bald wirst du es auch können … jetzt geh’ raus und spiel vor dem Haus. Aber nicht weglaufen. Sonst schnappt man dich, und du wirst als Zigeunerbraut verkauft!

 

Das Gesicht mit verklebten Wimpern, die Haare zum dicken Zopf geflochten. Fünf Finger, eine Hand. Zehn Finger, zwei Hände: Ich habe das Putztuch, das meine Mutter über den Rundspiegel gehängt hat, gelüpft und sehe mich. Meine Augen starren zurück, die trübe Silberfläche ist gesprungen, doch mein Gesicht paßt in die größere Spiegelhälfte. Bin ich froh? Ist mein Mund dort, wo Gott ihn hingesetzt hat? Das Gesicht ist die Palastjurte der Seele. Sagt meine Mutter. Sie streicht mir Olivenöl auf die trockenen Lippen und verhängt nach dem Gesetz und dem Befehl ihres Mannes den Spiegel.

 

Eine Fingerspitze, ein langer Strich, ein kurzer Strich. Mein Daumen bohrt Löcher in den nassen Boden, auf den ich mich nicht setzen darf. Auf meinen Fersen hat meine Kehrseite genug Platz. Ein alter Mann – er steht halb abgewandt am Rande meines Spielplatzes – bricht trockene dünne Äste übers Knie. Die Stecken klaubt er zusammen und geht weg. Fünf Fingerspitzen, ein beharkter Garten, die Finger meiner zweiten Hand, ein schöner Zaun. Und jetzt will ich meinen Tand benutzen, die schönen spitzen Splitterkiesel, einen Kiesel, zwei Steine, ich verstopfe die Tunnel, die Gräben da kann nichts und kein Tier heraufkriechen, ein Glück.

Komm rein, sofort!

Will nicht, will nicht: aber ich stehe auf und renne hinein, in die Arme Yasmins, die meine Hände mit einem nassen Stofflappen sauberreibt.

Du bist was?

Wie stumme Wand.

Wirst du deinen Mund aufmachen, auch wenn er dir eine Frage stellt?

Nein, sage ich, nie.

Und deine Augen, sie machen was?

Nichts, sage ich, nie. Ich schaue ihn nicht an, ich blicke ihm nicht in die Augen. Nie.

Meine Mutter ruft nach meiner zweiten Schwester, nach meinen beiden Brüdern. Ruhe muß einkehren, hier auf der Stelle, wir wissen es alle, und jeder macht, was er muß, jeder hustet und schluckt, um später nur noch eine schwache Stimme zu haben. Ich sehe ihn kommen. Sagt meine Mutter. Auf den angewinkelten Armen Yasmins liegt die gebügelte, gestärkte und gefaltete Pyjamahose.

Seine Pantoffeln halte ich mit meiner rechten Hand zusammen, die Spitzen sind gerade ausgerichtet. Das älteste und das jüngste Kind, wir warten an der Tür hinter der Schwelle. Meine Mutter steht reglos am Fenster, sie wird seine Wünsche erfüllen.

Er füllt den Türrahmen, ich beuge mich flink, drehe die Pantoffeln herum, stelle sie vor seine Füße auf den Boden, so daß er gleich hineinschlüpfen kann. Es ist die Stunde seiner Verrücktheit, seine Faust saust auf meinen Kopf, er setzt mir mit Hieben zu. Yasmin schleudert er ins Hausinnere, ein Tritt genügt, um sie zum Wirbeln zu bringen. Die Pyjamahose liegt wie die Hülle eines halben Menschenkörpers auf dem Boden. Der Sühnestock saust auf uns herab, er macht ein Geräusch wie heftiger Wind. Er zeichnet mit dem Stock rote Finger auf unsere Haut. Es ist ihm egal, wo er zuschlägt, Hauptsache, er trifft. Nicht vorbei, noch nicht vorbei. Hinter meinem Rücken halten meine Schwestern und Brüder den Atem an. Einen Halbkreis haben sie gebildet, auf dem Boden des Wohnzimmers sitzen sie, und meine Mutter, die sich nicht von der Stelle gerührt hat, streicht mir übers Haar, drückt mich in die Lücke des Halbmondes. Warten, noch nicht vorbei. Endlich hat er sich umgezogen. Zu Hause wartet er auf die Gäste, die nicht kommen, im Galarock. Sagt meine Mutter. Oben feiner Mann, unten Schlafanzughose.

Willst du Tee, Hausherr?

Du mußt mir dankbar sein, sagt Halid, aber du bist eine undankbare armenische Nutte. Du hast kein Viertel Anstand, nicht in der vergifteten Milch deiner Brüste, nicht dort, wo diese fünf Tiere herausgekommen sind. Nicht in deinen Augen, nicht in deinen Händen … Er wirft mit einem harten Gegenstand aus seiner Jackentasche nach ihr. Ihre Angst ist echt, sie darf sich nicht wegducken. Der Gegenstand prallt an ihrem Arm ab. Kein Schmerzensschrei. Jetzt setzt sie sich in den dunkelsten Winkel des Zimmers und blickt auf den Boden.

Unter meinen Füßen euer aller Anstand, schreit er. Was weißt du schon, Weib? Wer bist du schon? … Du bist mir als Soldatenflittchen zugelaufen, und ich hatte Erbarmen mit dir. Mein Erbarmen mit euch Hunderasse ist verschwendet …

Nun endlich, wie jeden Tag, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, setzt er seinen Filzkalpak auf. Eine Landsknechtskappe. Wir sind seine Kinderschüler, wir müssen unsere Blicke auf den dünnen Teppich heften und hoffen, daß sein Sühnestock nicht unsere Rücken sprengt. Tolga stopft Fransenfäden in ein Mottenloch, unter der Handkuppel versteckt arbeiten seine Finger. Ich sehe ihm dabei zu, bis er unter dem Schlag zusammenzuckt. Eine Pantoffelspitze trifft mich am Kreuz. Halids Stimme schneidet wie ein Messer durch die Luft.

Was mir in den Sprung läuft, fress’ ich. Ich fresse euch alle ohne Mühe, ihr Hunderasse. Ab heute ist Schluß mit den kleinen Freiheiten, ich bleibe zu Hause. Kaum drehe ich euch den Rücken zu, fallt ihr schon ab von meinem Hausgesetz. Ihr glaubt, ich bin eine Wolke Mücken, nach der ihr schnappen könnt? Ihr könnt mich nicht hintergehen …

Was ist passiert? sagt meine Mutter. Wir halten alle den Atem an. Er könnte sich jetzt auf sie stürzen, und wir müßten ihm dann in den Arm fallen. Nicht vorbei, noch nicht vorbei.

Wer will sich um Papierhaufen kümmern, sagt er, sollen sie mal sehen, wie sie ohne mich auskommen. Ich habe die Akten verbrannt, ich habe sie in den Ofen gesteckt. Und da ruft doch mein Dienstherr den großen Inspekteur aus der Großstadt herbei. Der will mir Benehmen beibringen! Sitzt er an meinem Schreibtisch und tut so, als würde er in meiner Personalakte blättern. Ich bin gegangen, so einfach ist das …

 

Wir dürfen aufstehen, uns in Ordnung bringen: Es ist vielleicht für heute genug, vielleicht vorbei. Er schreit aus dem Schlafzimmer nach Emine, meiner Mutter. Und sie steht auf und folgt dem Ruf, obwohl sie weiß, was sie erwartet, sie schließt die Tür hinter sich, damit wir nur hören, aber nicht sehen können. Ich setze mich mit dem Gesicht zur Wand und mit dem Rücken zur Schlafzimmertür auf den Steinboden. Die Kälte steigt in meinem Körper hinauf. Das ist die Strafe dafür, daß die Schläge nicht mich treffen. Halids Vater hat den Zweig eines Kornellkirschbaumes zum Stock schnitzen und an einem Ende mit einem Silberknauf versehen lassen. Er hat ihn seinem Sohn in die Hand gedrückt und gesagt: Jage den Feind, der sich an dich herangepirscht hat. Der Befehl des Großvaters gehört zum Hausgesetz. In den drei Kammern zum Leben und zum Schlafen, in unserem Haus, geht ein Jäger mit dem Strafknüppel herum.

Wach auf, sagt Yasmin, es ist nicht die Zeit zum Träumen.

Spielst du mit mir?

Nein, bist du verrückt? Du hast deinen Kindertand, damit kannst du spielen.

Wann kommt meine Mutter da wieder heraus?

Sei still, sagt sie, sonst bringst du Unglück über uns. Mach dich unsichtbar, los!

Bis zur Abenddämmerung bleibe ich auf meinem Spielplatz vor dem Haus, ritze Striche und Kreise in die Erde, schließe die Augen und bin unsichtbar. Wenn man es schafft, drei Kichererbsen aufzutürmen, bricht man dem Teufel das Herz. Sagt meine Mutter. Ich breche dem Teufel ein Stück aus seinem Herzen: mein Turm aus zwei Kichererbsen wackelt und fällt in sich zusammen. Selda drückt mir eine Hackfleischpastete in die Hand, und ich muß in eine Strickjacke schlüpfen, weil mir der Wind eine Gänsehaut auf meine Arme zaubert. Später werde ich wieder ins Haus gerufen, Yasmin reibt mir das Gesicht mit dem eingeseiften Reinigungstuch ab, kämmt mir die Haare, und als ich sie fragen will, ob wieder das Gute eingezogen ist in unsere Kammern, legt sie mir den Finger auf die Lippen. Mein Schlafkleid zwickt mich überall, ich darf mich leise kratzen. Ich krieche unter die Steppdecke, ziehe sie über meinen Kopf und male in die Dunkelheit, die mir gehört, Farbenhände, Farbenfinger. Ein Luftzug und ein Lichtschein zerstören mein Bettmärchen, es ist meine Mutter, die unter meine Decke schlüpft.

Was hast du bei mir zu suchen? Geh doch zu deinem Mann.

Gott soll mich von ihm erlösen, sagt sie.

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– 2 –

Im Eingang des Schulhofs steht mein Lehrer, er schaut mir nach. Meine Vorderseite kann ich endlich vor ihm verbergen, und ich knöpfe meinen weißen Kittelkragen auf, halte beide Enden zusammen, damit er nicht abfällt. Bald wird Blut aus meiner Nase schießen, ich weiß es. Der Bonbonmann hat sich in seine Ladenhöhle zurückgezogen, die von einer Stoffserviette umwickelten Karamelstangen liegen wie Holzscheite im Schaufenster. Am liebsten würde ich stehenbleiben und sie lange ansehen. Dann kommt immer Herr Bonbonmann heraus, gibt mir einen Splitter Süßigkeit. Das Versprechen, das ich meinem Lehrer gab, muß ich einlösen. Sonst bekomme ich einen dritten Verweis und werde eine ganze Woche lang als schlechtes Mädchen angesprochen. Ich gehe weiter und immer weiter, halte den Mund so lange geöffnet, wie ich kann: der Bissen Staubkuchen knirscht zwischen meinen Zähnen. Der Himmel läßt Brot regnen in kleinen harten Teigkrümeln, und wer danach schnappt, kann glücklich werden oder sich daran verschlucken.

Als ich heraufschaue, um einen großen Brocken zu entdecken, nach dem ich greifen kann, sehe ich einen Fellbalg am Fenster im obersten Stock des Hauses, in dem der Schuldirektor wohnt. Er beult sich, es ist Leben in ihm, und plötzlich wird er abgeworfen und fliegt durch die Luft, ein Tierknäuel, ein Wolleball, ein Fell, das jetzt auf den Pflastersteinen vor dem Haus liegt. Fulya steht nackt am offenen Fenster, sie klatscht in die Hände.

Schaut her, schreit sie, zwischen meinen Schenkeln ist ein leckeres Rippchen. Kommt, schnappt es euch!

Ein Mann, den ich kenne, weil er den Mann meiner Mutter freitags zum Gebet abholt, wendet sofort den Blick ab und bittet den Herrn der Strafen, seine Kraft an unzüchtigen Kleinweibern zu zeigen. Zwei verschleierte Frauen beißen das Gesichtstuch fest, damit es nicht verrutscht, sie suchen nach kleinen Steinen im Staub und werfen nach der nackten Fulya. Sie zielen nicht richtig, sie treffen nicht richtig.

Auch ihr Rabenvögel könnt was haben, schreit sie von oben, saftig ist mein Rippchen, es schmeckt allen, mein Rippchen, werft mit Münzen, ihr blöden Vögel, nicht mit Steinen.

Sie verteilt Handküsse und preist sich, und dann trommelt sie auf dem Schätzchen, das ein Mädchen nicht vorzeigen darf. Ihre Mutter ist vom Einkauf zurückgeeilt, sie stößt einen Verzweiflungsruf aus und läßt in ihrer Wut die volle Tasche fallen.

Du Lästerteufelin! ruft sie, du meine Schande und mein Unglück! Zieh’ dich sofort an, geh’ da vom Fenster weg. Na warte, Mädchen, du kannst dich auf was gefaßt machen. Scher’ dich ins Schamzimmer, sage ich, hörst du nicht, was für ein schwarzer Tag, mein Gott!

Komm’ Leyla, schreit Fulya und dreht sich schnell um ihre Achse, lass’ auch dein Rippchen sehen. Ihr Menschen und Männer! Ihr Mäuse und Rabenvögel! Klatscht meinem saftigen Rippchen zu!

Die Schleierfrauen laufen wütend weg, sie sind der kleinen Teufelin nicht gewachsen. Ihre Mutter verschwindet im Haus, und da Fulya weiß, daß sie eine Tracht Prügel bekommen wird, genießt sie die letzte Minute ihrer Verrücktheit.

Süße, rufe ich ihr zu, mach’ jetzt lieber das Fenster zu.

Rippchen! Rippchen! Saftiges Rippchen!

Deine Mutter ist böse auf dich.

Sie soll doch mein Rippchen essen, schreit sie, und dann wird sie am Arm gepackt und in die Wohnung gezerrt.

Das vierjährige Teufelchen schreit auch unter den Schlägen seine lustigen Kinderverse heraus, ihre Mutter schließt schnell das Fenster, und ich gehe weiter. Fulya wird einige Tage Ruhe geben, sich dann aber wieder nackt am Fenster zeigen. Wegen ihr steht Senem Hanim in dem Ruf, besonders schamlos zu sein. Sie sollte nachts ihre Schlafzimmertür schließen, sagt meine Mutter, das Kind lauscht und merkt sich jedes Wort. Senem Hanim hat beteuert, daß sie wirklich nicht weiß, woher ihr Kind diese unaussprechlichen Worte aufgeschnappt hat. Keiner glaubt ihr, und sie läßt ihre Wut an Fulya aus.

Die Glasscheiben des Männercafés sind beschlagen, ich sehe nur Köpfe und Körper, aber kein bekanntes Gesicht. Ich klopfe so lange gegen die Tür, bis der Besitzer heraustritt.

Was willst du? sagt er.

Ist Halid Bey in deinem Haus?

Du willst deinen Vater sprechen? Komm’ doch einfach rein.

Nein, nein, sage ich, ich warte lieber hier draußen. Kannst du ihm bitte Bescheid geben? Mein Lehrer wird böse, wenn ich zu lange ausbleibe.

Er verschwindet im Kaffeehaus, wenig später erscheint der Mann meiner Mutter – er blickt mich an, als hätte man sein Gesicht mit der schwarzen Erde vom Totenacker eingerieben. Er nimmt den Filzkalpak ab, kratzt sich am Kopf und setzt ihn wieder auf.

Was hast du Dummkopf hier zu suchen?

Hier, sage ich und zeige ihm das neue Schulheft, der Herr Lehrer möchte endlich das Geld dafür haben. Deshalb hat er mich zu dir geschickt.

Habe ich euch Drecksbrut nicht gelehrt, daß es für alles eine Frist gibt? Eine Frist für Demut. Eine Frist für Gehorsam. Und eine Frist, daß man den Hausherrn aufsuchen kann. Du willst Münzen eintreiben? Hier, ich gebe sie dir.

Sein geschwärztes Gesicht ist plötzlich ganz nah an meinem, der Atem, der seinem aufgerissenen Tiermaul entströmt, streift meine Stirn, sein Handrücken prallt auf meine Nase, und vielleicht möchte er das Leben aus mir pressen, oder er will, daß ich den Springtanz der Kinder aufführe, und er kann mich nicht darum bitten. Nach zwei Zuchtschlägen ist er verschwunden, mein Kittelkragen klebt mir am Hals, rot und naß. Rot und naß kehre ich um, ein Lämmchen stolpert im Klee, singt Yasmin, singt mich manchmal nachts in den Schlaf, und wenn ich mich neugierig aufrichte, drückt sie mich singend ins Bett, rot und naß gehe ich den Weg zurück zum Schultor, dort wartet mein Lehrer und mustert mich, die schnell zurückgekehrte Schülerin, und da er nicht spricht, sage ich: Ich bin unterwegs hingefallen und habe auch das Geld für das Heft verloren.

Das ist nicht mehr wichtig, sagt er, wir tun so, als hätte ich das Geld von dir bekommen. Können wir uns darauf einigen?

Ja, sage ich, das ist schön.

Ich bringe dich zu der Sekretärin, sie macht dich sauber, und ich glaube, sie schenkt dir auch einen neuen Kragen. Na, freust du dich?

Ja.

Er nimmt mich bei der Hand, nach zwei Schritten bleibe ich stehen und reiße mich los. Ganz bestimmt werden sie mich ausfragen, meine Zunge muß gelähmt bleiben, immer dann, wenn man von mir Antworten verlangt, die ich nicht geben darf. Meine Schultasche ist noch im Klassenzimmer, ich kann nicht, ich kann nicht, und ich laufe weg, mein Lehrer ruft mir hinterher, ich kann nicht, ich springe über die großen Steine, über die man leicht stolpern kann, mit Kram und Tand kann man dich locken, sagt meine Mutter, und einen Tandkasper nennt sie mich, du bist ein Kramkasper, weil du den Himmelszauber auf den Straßen aufsammelst und heimbringst, halte still, sei nicht so aufgeregt, ich kann nicht, ich kann nicht.

Ein Bergbach fließt durch den Garten hinter unserem Haus, eine Kratzspur Gottes, in dem sich Wasser gesammelt hat, jedes Haus hat sein Rinnsal. Wenn Djengis mich ärgern will, erzählt er das kurze Märchen: Gott habe in schlechter Laune hingespuckt, und wir Menschen würden Gottes Spucke trinken, und unser Durst würde den Herrn immer an die Stunde seiner Mißgunst erinnern, aber Er vergesse sowieso nichts und niemanden. Ich kann nicht, ich kann ihm nicht glauben.

Aus Stroh und Lehm sind die Wände unseres Hauses. Wir bewohnen die ebene Erde, über uns und unser Leben hat eine andere Familie einen Boden geschichtet, damit sie uns mit einer Decke beschenken und versiegeln kann. Manchmal beobachten sie mich von oben, doch heute rührt sich keine Gardine. In gebückten Kindersprüngen bewege ich mich um das Haus herum, lege mich auf den Bauch, meine Lippen berühren das treibende Wasser, und der erste Schluck ist wie Karamel im Mund. Ist wie ein Mund voll Zuckerwürfel, ein Mund voll Süßteig, ist wie Puderkaramelzucker im Mund. Ich tauche meinen Schulkragen in den Bach vor meinen Augen, in dünnen Schlieren geht mein getrocknetes Nasenblut ab, rosa bleiche Schlangenlinien, die verschwimmen, verfärben und verschwinden. Mein Kopf im Bach: meine Blindheit im Wasser ist eine Dunkelheit.

*

Djengis flämmt mit seinem Feuerzeug die Härchen auf seinem Oberarm ab. Die schwarz verpfropften Haarenden reibt er ab, das Gekrispel färbt seine Fingerkuppen. Die amerikanischen Filmhelden sind unbehaart, und die schönen Gazellen der Nachbarschaft begehren leicht beflaumte junge Männer. Tolga findet es nicht lohnend, seinen Körper nach den Ideen der Modegecken zu formen: Er sitzt neben seinem Bruder, schaut ihm verwirrt zu. Über seine neuen Schuhe, die es im Basar billig in Einheitsgröße gibt, kann er sich so recht nicht freuen. Er hat die Fersennähte aufgetrennt, das Leder drückt aber den Spann, und aus alter Gewohnheit rollt er die Zehen ein. Nächstes Jahr ist Gott großzügiger. Sagt die Mutter. Jetzt kommt sie ins Zimmer, die Zofe, die Magd, die Bettlerin. Da uns der Prügler keine Schandohren aufgesetzt hat und wir nicht fürchten müssen, daß das Böse auf unsere Köpfe prasselt, sind wir ruhig: Er ist weg, er geht seinen Geschäften nach. Nach einem langen Blick aus dem Fenster setzt sich meine Mutter auf den Erddiwan, tunkt einen harten Brotkanten ins Wasser und saugt und nagt so lange, bis sie einen Bissen abbeißen kann. Es ist ihr Frühstück an diesem Morgen.

Yasmin und Selda werden in Nadelkünsten unterrichtet, sie besuchen das Institut für weibliche Handfertigkeiten. Der Mann meiner Mutter wollte sie erst nicht in die Unzucht entlassen. Senem Hanim suchte ihn auf und sagte: Deine Töchter sind gute Handnäherinnen, laß sie für mich arbeiten. Die Mitgift meiner Tochter Fulya ist nicht komplett. Sie helfen mir aus der Not, und die Piaster, die sie verdienen, geben sie bei dir, dem Herrn des Hauses, ab. Ich bin der Wärter einer Heimstatt für Fliegen, rief er daraufhin aus und ging, fortgescheucht vom Verstand einer Frau, die weiß, wie man mit Analphabeten umgeht.

Yasmin spannt den Stoff in die Sticktrommel ein. Die Kett- und Schußfäden bilden ein Gewebegitter und verlaufen rechtwinklig zueinander. Sie legt das Leinen mit dem Muster nach oben über den inneren Ring, setzt den äußeren Ring darüber und drückt ihn herunter. Dann zieht sie die Schraube an, der Stoff spannt sich. Sie teilt die locker gezwirnte Kelimwolle in Einzelfäden, sie nimmt aus einer kleinen flachen Cremedose, dem Behälter für die Einfädler, einen zurechtgeschnittenen Papierstreifen heraus. Sie faltet ihn über dem Fadenende zusammen, das sie durchs Nadelöhr schiebt, sticht mit der Linken durch und empfängt die Nadel unten mit der Rechten. Einstechen, ausstechen. Sie hat es mir erklärt: mit dem gefiederten Zopfstich bildet sie Blätter, mit dem geknüpften Langettenstich faßt sie Kanten ein, die Musterflächen füllt sie per übergreifendem Plattstich aus.

Seldas Spezialität sind kleine Kissen aus weißem Batist, die sie mit Duftkräutern und Watte befüllt. Die Schnurenden taucht sie in geschmolzenes Kerzenwachs, um sie vor dem Ausfransen zu bewahren. Jetzt arbeitet sie an einem rosa Anhäkeltaschentuch mit gebogtem Lochrand und ausgeschnittener Ecke. Zählmuster und Häkelschriften auf zusammengeklebten Papierbögen liegen zu ihren Füßen. Ich sauge an dem Zuckerwürfel in meiner Backentasche.

Wir haben einen Abgabetermin in wenigen Wochen, sagt Yasmin, ohne den Kopf zu heben – es sieht aus, als würde sie das Leinen besprechen.

Das Schutzdeckchen, flüstert Selda.

Und wie gehen wir vor?

Die Decke besteht aus fünfundzwanzig Rosetten, sagt Selda, die erste Rosette häkeln wir nach der Häkelschrift, ab der zweiten Rosette schlingen wir an den vorangehenden Rosetten an …

Das schaffen wir nie, sagt Yasmin und sticht ein, dann will Senem Hanim auch noch Zackengardinen mit Blütenornamentranken und Kissenplatten, auf die wir Blumengebinde häkeln sollen.

Eine Platte habe ich schon fertig, ich habe sie auf das Kissen angenäht.

Hoffentlich auf die markierte Vorderseite.

Ja, natürlich … sie will Bettucheinsätze aus Spitzenborte.

Dafür brauchen wir kochfestes Baumwollgarn, sagt Yasmin, es ist teuer, das Geld können wir nicht vorschießen.

Djengis steckt das Feuerzeug in die ausgebeulte Hosentasche, blickt sich im Zimmer um. Ein Muskel an seiner Schläfe, immer angespannt, zuckt kurz.

Ihre Tochter, sagt er, wie heißt sie noch einmal?

Fulya, sagt meine Mutter, und dann wiederholt sie: Fulya, Fulya.

Also Fulya, die Männer erzählen eigenartige Geschichten über sie. Stimmt es, daß sie nackt durch die Straßen tanzt?

Nein, sagt Selda, du hättest sie sonst längst gesehen. Das Mädchen zieht sich aus und zeigt sich am Fenster. Das stimmt.

Fulya ist süß, sage ich. Djengis schaut mich böse an, und ich senke den Blick.

Ich weiß ja nicht, sagt er, sie ist vielleicht zu klein, um Böses zu denken. Aber man muß sie schon davon abhalten.

Wovon? sagt Yasmin.

Das gehört sich einfach nicht. Ein kleines Mädchen, ein großes Mädchen – was man sieht, ist immer das gleiche.

Du wirst unanständig in Gegenwart unserer Mutter, sagt Tolga.

Sie lächelt, unsere Mutter, sie kaut an dem Brotkanten, unsere Mutter, sie läßt die Augenblicke verstreichen, bis sie zum nächsten Tag ihres Lebens übergehen kann. An ihrer bleichen straffen Wange klebt ein Krümel, er wird abfallen, und dann ist wieder ein Augenblick vergangen.

Senem Hanim zähmt die Wilde, sagt Yasmin, sie kann zwar nicht die Nadel führen, aber ihre Tochter und ihren Haushalt führt sie gewissenhaft.

In andere Haushalte haben meine Gedanken nicht einzudringen … diese Hanim muß schon gütig sein, wenn sie euch eure Handarbeit abnimmt.

Yasmin legt die Nadel auf die Sticktrommel, schließt die Augen und atmet tief durch. Eine dicke Ader zeichnet sich an ihrem Hals ab, die Rufe des Zuckerkringelhändlers verhallen draußen in unserer Gasse, Tolga kneift die Bügelfalte seiner Hose. Es ist noch so früh am Tag, daß man dem Wind, der die Stimmen vom Friedhof herweht, lauschen könnte.

Tausend mal tausend Spitzenmaschen … das dauert Stunden, die ich von meiner Lebenszeit abziehen muß, sagt Yasmin. Deine Schwester und ich, wir versticken unsere Jugend, und was bekommen wir dafür? Einen Dienstmagdlohn! Wir umhäkeln Batisttaschentücher, wir häkeln Rüschenränder an Kopfkissenbezüge, wir sticken Platzdeckchen und Tischläufer. Senem Hanim bestellt, wir machen. Senem Hanim bezahlt wenig, wir machen. Und dann müssen wir uns auch noch von einem jungen Herrn anhören, daß wir uns am Boden winden sollten. Wieso? Weil die Dame gütig ist … Ich glaube schon, daß du ihre Güte schätzt. Was soll das heißen? sagt Djengis.

Wenn du ihr begegnest, hast du die Augen nicht dort, wo ein Mann sie anstandshalber haben sollte. Sie springen dir aus den Augenhöhlen, sie machen sich selbständig.

Gebt Ruhe, sagt meine Mutter. Das harte Brot hat sie gegessen und ist davon nicht satt geworden, sie schluckt ihre Spucke herunter. Und sie hält Wache am Fenster: es könnte sein, daß der Prügler im Jähzorn seine Formulare zerreißt und nach Hause eilt. Hier kann er richten.

Gott, der Leben einhaucht und Leben schenkt, wird schon für die Nahrung sorgen, sagt sie.

Was meint sie nur damit? Muß ich nur nach draußen gehen, mich hinstellen und meinen Mund wie ein Raubtier beim Gähnen aufreißen, um nach den Brocken Gottes zu schnappen? Yasmin streitet sich mit Djengis, Tolga ruft zu Anstand und Sitte auf, Selda schreibt vor Zorn mit der Häkelnadel Schleifen in die Luft. Ich starre auf die Häkelschrift eines Deckchenmodells. Hinter meinem Lieblingszeichen steht: 1. vierfaches Stäbchen, dabei zunächst nur 3 mal 2 Schlingen abmaschen, 2. nicht ganz zu Ende abgemaschte dreifache Stäbchen in die folgenden beiden Einstichstellen, 3. Schlingen zusammen abmaschen, restliche Schlingen je 2 und 2 abmaschen. Es macht nichts, daß ich den Sinn der Worte nicht verstehe, ein Wort klingt wie der Kosename einer Schildkröte, ein anderes Wort wie der Anfang eines Liebesgebets, das ein Erzengel an seinen Smaragdgott richtet. Zwei Wörter summen im Kopf, man darf sie nicht aussprechen, und das Geheimnis ist der Hausgeist meines Schädels. Wenn ich einen Satz leise aufsage und mittendrin abbreche, stelle ich mir die Watteaugen einer Puppe vor. Einstichstelle, das Wort ruft ein schlechtes Bild hervor, ich muß an Räude-Fell denken.

Ein Zusammenzählzeichen als Krone auf drei Zeltpflöcken, an die jeweils drei Bretter genagelt sind: das ist mein Lieblingsschriftbild. Ich sehe es mir lange an, ich werde es in den feuchten Boden vor unserem Haus ritzen. Meinen Glücksvorrat habe ich nicht aufgebraucht.

… sie ist eine reife Frau, sagt Djengis, sie könnte meine Mutter sein.

Die Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn ist eine andere als die Liebe, die der Dame vorschwebt. Tu nicht so empört!

Ein falsches Wort, und die Klatschweiber reden übel nach. Wegen dir, Schwester, kann ich mich bald nicht mehr in der Öffentlichkeit blicken lassen!

Dich bringen höchstens deine Taten in Not, sagt Yasmin – sie geht wieder in ihrer Handarbeit auf und ist nur mit halbem Herzen bei dem Streit.

Du willst mir also verbieten, Senem Hanim zu grüßen?

Grüße sie von mir aus morgens, mittags, abends, grüße sie zu allen Gebetszeiten. Es wird sie freuen. Jedesmal wenn du sie anschmachtest, strahlt sie über das ganze Gesicht.

Los, sagt Djengis, hier macht man sich über uns lustig. Der Vater wartet schon.

Er stürmt aus dem Haus, Tolga trottet unwillig hinter ihm her, Mutter ermahnt sie, die Flüche der Händler im Bahnhof zu überhören. Meine Brüder werden stundenlang in der Schlange vor der Güterwaage stehen, und vielleicht müssen sie auf den Säcken schlafen, weil es unvernünftig ist, die Stelle in der Schlange aufzugeben. Der Mann meiner Mutter erlaubt es ihnen nicht, oft können sie am nächsten Morgen nicht zur Schule gehen. Er denkt sich Ausreden aus, er dichtet ihnen unheilbare Krankheiten wie Malaria, Typhus und Krebs an. Die Lehrer nennen Djengis und Tolga wahre Wunder der Natur. Sie bekommen kein Taschengeld, die Kommissionsgebühr wandert in Halids Tasche, er hat Einnahmen und Ausgaben, er ernährt die Familie.

Fünfzehn Rosetten müßten auch reichen, sagt Yasmin, was setzt sie uns auch Fristen? Oder will sie Fulya mit fünf Jahren verheiraten? Ich würde es ihr zutrauen, sagt Selda und lacht sich los von ihrer Arbeit.

*

Das Pferd bockt auf den letzten Metern. Unter der Peitsche stemmt es sich ins Kumt, die Zugketten spannen an den Scherbäumen. Bei jedem Schritt klingeln die Sprungglocken an den Ballen der Vorderbeine. Die bunte Schweifbandage leuchtet hell im frühen Nachmittagslicht. Endlich kommt das Pferd zum Halten, kaut an der Trense. Der Mann steigt vom hohen Sitz ab und hängt ihm einen Hafersack um. Dann löst er die Schnüre, schlägt die Plane über der Ladung zurück, und es ist, als würden kleine Sonnen aufscheinen: der Karren ist gefüllt mit hundert oder mehr Orangen, Fruchtgeschenke des Himmels, das Glück wird sich wenden. Ein zweiter, ein dritter, ein vierter und fünfter Pferdekarren halten vor dem Haus. Halid hat junge Streuner aufgelesen, an deren Spitze er schreitet wie ein Freischärlerkommandant. Ein Mann steigt auf den Bock, reicht die leeren Bastkörbe herunter zu den Trägern, die sich dicke Lappen auf die Schultern legen und die Körbe umschnallen. Sie stellen sich nebeneinander mit den Rücken zur Längsseite des Kastens, der Mann oben bringt die Orangen zum Purzeln und Prasseln.

Sag der Hundebrut, sie soll den Weg zum Zimmer frei machen, sagt Halid.

Ehe ich aufspringen kann, geht die Haustür auf, meine Mutter und meine Schwestern kommen heraus, sie schleppen Kessel und große Kochtöpfe, die sie mit Orangen füllen und zur leergeräumten Fruchtkammer tragen, und auf Geheiß des Hausherrn hin schnappe ich einen vollen Orangentopf und flitze ins Haus, flitze heraus, schnappe nach dem Stiel einer Pfanne, presse sie fest an meinen Bauch, umklammere den kleinen Orangenhaufen mit den Ellenbogen, und auch wenn der Kommandant uns zur Eile antreibt, habe ich kein Recht, unterwegs auch nur eine Frucht zu verlieren. Er aber hat eine Zigarette gedreht und zündet sie sich an, steht da und schaut streng, ein Fehler, und er würde mir, er würde meinen Schwestern, er würde unserer Mutter Schlingen um den Hals legen, vor diesen fremden Männern, und er scheute sich nicht, an dem Seil der Schlinge zu ziehen, bis wir uns nicht mehr regten und liegen blieben: unsere Vorderseiten wären staubbefleckte, mit Kieselsteinsand gespickte Wundmale. Aber ich darf nicht daran denken, ich renne meiner Mutter hinterher, und immer dann, wenn er mich nicht sehen kann, beuge ich den Kopf und schnuppere an den Orangen, bis sich vor Freude Wasser in meinen Augen sammelt. Der Schmerz in meinem Rücken macht mir nichts aus, das Glück bricht den Schmerz. Einmal beiße ich in die Orangenschale, so tief und fest ich kann, ich schmecke das Bittere, ich schmecke das Süße, und ein bißchen Saft kann ich herunterschlucken, Glück vom Himmel in meinem Bauch. Dann renne ich hinaus, Zögern und Tändeln stellt er unter Strafe. Aus der Tiefe seiner Jackentasche holt er einen mehrfach geknickten Zettel hervor, faltet ihn auseinander, wirft einen flüchtigen Blick darauf. Er schiebt den Daumen unter die Klemme des Füllfederhalters und läßt die Federklemme mehrmals klicken. Die Lastenträger stehen bereit, sie schauen ihn an.

Gut, sagt er, gut. Bis jetzt läuft alles nach meinem Plan. Die Körbe sind gefüllt, also schwärmen wir aus. Weib, in ein paar Stunden bin ich zurück, bis dahin habt ihr die Orangen ins Zimmer getragen. Wenn auch nur eine einzige Orange fehlt, werde ich es jeden von euch büßen lassen.

Er geht los, fällt in einen Laufschritt ein, die Lastenträger folgen ihm, unter der Last gekrümmte Menschen. Meine Mutter schaut ihnen nach, der Kessel, den sie an einem Henkel festhält, hängt an ihrer Seite herab.

*

Halid klopft zum zehnten Mal an eine Tür. Hasan Bey schiebt die Tüllgardinen auseinander, öffnet das Fenster und mustert erst die beiden Lastenträger, dann den Mann mit dem Kalpak auf dem Kopf und dem Füllfederhalter in der Hand.

Was wünscht der große Tschetschenenfürst von mir, ruft er, willst du mit mir das Geschäft deines Lebens machen?

Der Friede Gottes sei mit dir, sagt Halid.

Vor allem sei er mit deinen Lastenträgern. Du läßt sie für einen Teller Bohnensuppe schuften. Ich kann ihren Schweiß sogar von hier oben riechen.

Bei deiner Nase ist es auch kein Wunder. Aber deswegen bin ich nicht hier …

Ich bin nicht bedürftig, also kann ich keine Armensteuer annehmen. Du hast kein gutes Herz, also beschenkst du nicht deine Nachbarn. Was bleibt dann übrig?

Ich verhelfe den in Not Geratenen zu einer Stunde Ofenwärme, sagt Halid, jede meiner guten Taten ist ins Kerbholz Gottes eingetragen!

Du bist ganz bestimmt ein guter Moslem, sagt Hasan Bey. Und du willst mir sicher nicht deine Seele, aber deine Orangen verkaufen. Halid bedeutet einem Träger, sich klein zu machen, er greift eine Orange aus dem Korb und hält sie hoch.

Siehst du! Sie paßt nicht in meine Männerhand!

Ja, sagt Hasan Bey, woran das wohl liegt?

Die Orange ist größer als eine Männerfaust, sagt Halid, anderthalb mal so groß. Da geht man vor Ehrfurcht in die Knie.

Wirf sie mir hoch, ich will prüfen, ob sie schmeckt.

Halid schleudert die Orange nach oben, als würde er eine Kugel stoßen, sie fliegt über den Kopf Hasan Beys ins Zimmer. Er verläßt fluchend seinen Fensterplatz, die Gardinen bauschen hinaus und wiegen sich im Wind. Eine Weile ist es still, Halid holt seine Verkaufsliste mit den Namen der möglichen Einkäufer hervor, sagt einige Namen auf. Die beiden jungen Männer stehen stramm wie Wachsoldaten und wagen es in Gegenwart Halids nicht, einer Frau hinterherzuschauen. Sie grinsen einfältig, sie werden später einander ermutigen, der scheuen Gazelle nachzustellen. Der ältere der beiden hat geschworen, das Tablett aus Alpaka, das er gegen zwei Schachteln filterlose Zigaretten eingetauscht hat, der ersten Schönen, die Feuer legt in seinem Herzen, zu schenken. Daran darf er nicht denken, die Last drückt ihn nieder, und Halid bringt ihn und den anderen mit seinen Selbstgesprächen durcheinander.

Ich habe von der Orange gekostet, sagt Hasan Bey, sie ist jedenfalls nicht bitter.

Halid und die Träger zucken zusammen, sie waren ganz in ihre Gedanken versunken, sie hatten sich einen Löwensprung Liebe, beide Hosentaschen voller Geldscheine und drei volle Jahre Haussegen gewünscht.

Dann komm’ runter und nimm mir so viele Kilos ab, wie du haben willst.

Meine Frau ist außer Haus. In diesen Dingen bin ich unerfahren. Ich weiß nicht, ob es ihr recht ist, wenn ich mich um die Hausarbeit kümmere.

Du kaufst für dich, die Kinder und für sie Orangen, sagt Halid, was soll daran falsch sein?

Und, was kostet das Kilo?

Vier Kurusch, billiger als auf dem Markt.

Ich kann mich nicht entscheiden, sagt Hasan Bey. Er starrt auf die Orangen, leckt sich über die Lippen, saugt die Wangen ein, als wolle er einen jähen Zahnschmerz unterdrücken.

Langsam bekomme ich vom Hochschauen Muskelkrämpfe im Nacken, sagt Halid, wir sind keine Schaustellertruppe, die zu deinem Vergnügen abgestellt ist. Ein Mann, ein Wort.

Stell’ mir zwei Orangen vor die Tür, sagt Hasan Bey, ich fasse es als Geschenk von dir auf, und es bringt dir bestimmt für deine künftigen Verhandlungen Glück.

Ich habe hier herumgestanden, und du sagst mir jetzt: Nein, aus dem Geschäft wird nichts! Dein verdammter Geiz entstellt schon deine Gesichtszüge, du bist toter als Aas.

Hach, sagt Hasan Bey, ein Bergfürst magst du sein, ein Geschäftsmann bist du ganz sicher nicht. Beschatte nicht länger meine Hausschwelle, zieh’ weiter und nimm deine Lustknaben mit.

Er flieht ins Innere, aber ehe er die Fenster schließen kann, gehen sie zu Bruch. Halid und die beiden jungen Männer sind außer sich vor Wut. Ihr Ehrengesetz sieht vor, daß man die Raupe in der Puppe töten soll, und jede Ehrverletzung muß sofort geahndet werden. Halid nennt Hasan Bey die Frucht eines Leibes, der sich in falsche Betten gelegt hat, um einen schlechten Lebensatem zu empfangen. Sein Mund rauht die Wörter auf. Als er die Tür mit seinen Kriegerreiterstiefeln eintreten will, halten ihn die Träger zurück.

Hör auf, Effendi. Er hetzt die Gendarmen auf uns. Und sie werden keine Gnade mit uns haben, wenn du den Hausfrieden dieses Gottlosen brichst.

Komm’ runter, du Dämonenscheiße, schreit Halid, ich ramme dir die Feder meines Füllers zwischen deine Augen! Noch besser – ich werde dich auf die Weise foltern, wie es meine Ahnen mit Memmen und Verrätern getan haben. Erst rasiere ich deinen Schädel mit einer stumpfen Klinge kahl. Dann weihe ich Gott eine Kuh, schächte sie und stülpe das blutwarme Euter über deinen Kopf. Ich setze mich auf einen Stuhl, ich warte, ich betrachte dich und warte weiter. Deine Haare wachsen nach, aber wegen der engen Hautkappe bohren sich die Stoppeln in deinen Schädel hinein. Du wirst den Verstand verlieren, und ich werde laut lachen! Hörst du mich, du Dämonendreck! Dir bleibt nur noch wenig Zeit, lauf’ los und besorge dir schon mal dein Totentuch. Ich spucke auf deine Hausschwelle, du bist gezeichnet …

Plötzlich kracht ein Schuß, und nach der ersten lähmenden Sekunde laufen die Jungen davon, die Körbe auf ihren Rücken wiegen sich wie die Höcker von trabenden Kamelen. Halid versucht, mit ihnen Schritt zu halten, fällt zurück, schlägt eine andere Richtung ein.

Wenn ich dich in der Nähe meines Hauses herumstreunen sehe, ruft Hasan Bey ihm hinterher, dann jage ich dir ein ganzes Magazin in deinen hohlen Kopf! Du bist schneller bei deinen Kaukasierahnen, als dir lieb ist … Hast du mich verstanden, Tschetschene?!

*

Es fällt ein heftiger Regen in der Nacht. Ich stelle mir vor, daß die Steine, erhitzt und zum Glühen gebracht von den heißen Luftausstößen der Geister unter der Erde, bei jedem Aufprall eines Regentropfens zischen und dampfen. Das ist der Lärm der Hölle, in der die Seelen gedrängt stehen, in der Platzmangel herrscht, weil es den Menschen besser gefällt, im Diesseits die Lippen zum Pfeifen zu spitzen, als zu beten. Sagt meine Mutter.

Sie hat ihn daran gehindert, seine Wut an uns auszulassen, sie ist dazwischengegangen und hat die Schläge abgefangen.

Die Menschen im Viertel wollen von den Orangen nichts wissen, sie sagen: Wir haben sie nicht bestellt, wie kannst du von uns Geld verlangen. Du kannst nichts eintreiben, was dir nicht zusteht. Der Mann meiner Mutter schlendert durch die Gassen wie ein Gelehrter. Seine Rechnung geht nicht auf, die Zahlen und die Preise kommen in seinem Kopf durcheinander.

Er hat mir ein Geschenk gemacht, unfreiwillig. Die Früchtekammer ist ein Märchengeschenk, in unseren Höhlen zum Leben und zum Schreien riecht es wie in einem großen Garten, die Gottesbrocken wachsen nicht an den Bäumen, sie stapeln sich im verbotenen Raum.

Meine Mutter schläft. Meine Schwestern und Brüder schlafen. Er liegt auf dem Rücken, rührt sich nicht, er stößt laut Luft durch den offenen Mund aus. Über dem Kopfende der Ehematratze hängt an einem krummen Nagel das Heilige Buch, worin er in seltenen Stunden der Muße blättert: die Kraft überträgt sich auf seine Zunge, auf seine Arme und Beine. Die Verse gehen ein in einen Traum, der ihn in den Nächten des Frühjahrs und in den Nächten des Winters heimsucht. Der Kaukasus, für eine kleine Ewigkeit verloren, eine Öde jenseits der bolschewistischen Schranke, erscheint ihm, dem Vertriebenen, als ein weites Land, das von den Leichen der Totgeschlagenen bedeckt ist. Er versetzt ihn in Unruhe, dieser Traum, er läßt seine Wimpern zittern, dieser Traum.

Geh’ nicht, flüstert Tolga, wag’ es nicht. Bitte!

Doch, es ist stärker als ich, meine Seite der Bettdecke habe ich zurückgeschlagen und krieche auf allen vieren aus der Diwanhöhle, und vor der Tür der Früchtekammer richte ich mich auf den Knien auf und spähe durch das Schlüsselloch. Die kleinen Sonnen durchleuchten die Finsternis. Das Verbot des Hausherrn gilt nicht, wenn er schläft, wenn ihn der Kaukasustraum auffrißt, sein Verbot geht mich nichts an. Die Tür knarrt nicht in den Angeln, sie geht leicht auf, ich will die Hand nach einer einzigen Frucht ausstrecken, die bis zur Zimmerdecke aufgetürmten Orangen lösen sich aus dem großen Haufen und poltern auf mich und an mir vorbei auf den Flur. Ich liege in einem Garten, die Gottesbrocken sind herabgeregnet, ich kann sie berühren.

Du Hundsgeburt, schreit er, du Bolschewistensamen! Der Bund seiner Pyjamahose schneidet in sein Bauchfleisch, in seiner Rechten der Sündenknüppel, der auf mich herabsaust, und weil ich zur Seite rolle, trifft er eine Orange, die sofort aufplatzt, seine nackten Fersen finden mich, auch wenn ich mich zusammenrolle, er findet mich, er hat mich gefunden …

 

Danach. Wir alle tragen die Orangen wieder heraus aus dem Haus, in Pfannen, in Töpfen, in Kesseln, die wir draußen leeren, er steht wieder nur da und rollt sich Zigaretten, und manchmal gibt er mir einen Fußtritt, oder verflucht meine Mutter, die durchgebohrte Hündin soll in der Hölle nach ihrer Unschuld suchen, schreit er, und wir tragen schwer an den Gottesbrocken und verteilen sie auf meinem Spielplatz, der nasse Boden schnalzt und schmatzt, wir verteilen sie hinten im Garten.

Am nächsten Tag schauen wir hinaus, unsere Augenlust können wir nicht stillen, er hat hinter sich abgeschlossen und die Fenster zugenagelt, sein Ausgehverbot gilt für zwei Tage. Die Früchte verderben und locken Fliegen an. Die Nachbarn bleiben vor dem Haus stehen, sie rühren sich nicht, sie sind ergriffen. Es gefällt dem Mann meiner Mutter, daß er seinen Reichtum ausstellt, auch wenn er nur mit Münzen in der Hosentasche klimpern kann.

Regenwasser und Fruchtsaft: die Erde empfängt den Segen still. Mein Wunschgebet wird nicht erhört.

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– 3 –

Mein Smaragdgott hat mir einen Traum geschenkt, ich bat darum in der Schwitzhöhle meines Bettes, und er gab ihn mir: Er verscheucht die Fliegen auf meinem Gesicht. Sein Atem prallt auf meine Stirn und teilt sich in kleinere Luftzüge, in denen die Fliegen fortsirren, fort von meinen Lippen. Und ich kann meinen Mund öffnen und atmen, dann verschwindet dieses Bild, es wechselt die Farbe von Gelb zu Braun zu Rot, und ich sehe den Mann meiner Mutter, der sich an der Haltestange seiner Lokomotive abstützt und absteigt. Der Zug ist auf der Strecke stehengeblieben. Ein Steinbockweibchen kreuzt das Gleis, leckt das Salz der Steine, spitzt die Ohren, als er fluchend näher kommt. Hau ab, ruft der Mann, sonst landest du in meinem Topf und auf meinem Teller, ich reiße dein Fleisch mit meinen Händen entzwei. Er kommt dem Tier so nahe, daß er hören kann, was ich hören kann, wie es mit der rauhen Zunge über die Steine fährt. Näher kommt er ihm nicht, es dreht sich um, bleckt die Zähne und spricht menschenähnlich, mit einer Stimme, die aus seinem Kopf herausdröhnt, spricht es: Wär’ ich die Geiß, für die du mich hältst, könnt’ ich nicht reden! Der Mann meiner Mutter fällt vor Schreck zu Boden, die Menschgeiß schnuppert an ihm wie an einem Leblosen und lacht und heult den Himmel der Nacht an.

Der Traumlärm weckt mich. Die Decken sind zurückgeschlagen, die dünnen Bodenbetten sehen aus wie weiße Insektenkörper. Ich gehe auf Mäusepfoten, klackend über den Stein, ich drücke die Klinke der nächsten Kammer herunter, schlüpfe durch den Türspalt. Ihre Kniekehlen sind naß vor Schweiß. Sie bedeckt ihr Gesicht mit dem Schamtuch, einen Zipfel hält sie zwischen den Zähnen, ihre Augen sind eingesunken im geschwollenen Fleisch. Sie taucht einen Seifebrocken in den Waschzuber, ihre Hand flattert im Wasser wie ein Vogelflügel, bis sich kleine Schaumflocken bilden. Dann legt sie die rot bespritzte Stelle ihres Hauskittels auf die linke Handwurzel, holt den Seifeklumpen vom Boden des Zubers hervor, reibt über die Stelle, bis der Blutschmutz ausgerieben ist.

Willst du dich dort krumm stehen? sagt sie, komm rein oder geh raus.

Ich schließe die Tür hinter mir und sehe ihr dabei zu, wie sie ihr Gewicht vom rechten auf das linke und wieder zurück auf das rechte Knie verlagert. In der schönen Hitze will ich bleiben.

Mach das noch mal, sage ich.

Was soll ich machen? sagt sie.

Du sollst unter dem Wasser mit den Flügeln schlagen, sage ich.

Ich habe keine Zeit für Spiele, sagt sie, und dann, nach ein paar Wimpernschlägen, wird das Wasser unruhig, ich trete an den Waschzuber heran, um besser sehen zu können. Sie hat die Daumen verhakt zum Kopf einer Taube, und die abstehenden Finger sind die Federn zweier Flügel im rosarot gefärbten Wasser, die Taube fliegt hin und her, meine Mutter gurrt dazu, dann wird sie still und starrt auf einen Fleck am Boden, auf etwas, das nur sie sehen kann.

Was hat er mit dir gemacht?

Seine Hand fährt aus, wenn er Ungehorsam wittert, sagt sie, was soll er schon getan haben?!

Wo sind sie alle hin? sage ich.

Er hat Yasmin mitgenommen auf seine Geschäftsreise, in zwei Tagen wird er wiederkommen. Die anderen sind draußen.

Selda ruft nach mir, und ich trete heraus aus der heißen Kammer, helfe ihr, die Bodenbetten einzurollen und an der Wand aufeinanderzutürmen.

Wir bestücken die Orangenschalen mit Nelken und legen sie auf die Ofenplatte. Sofort riecht es wie in einer Wunderkammer. Von mir aus können die Orangen im Garten verderben. Ich beuge mich über die Ofenplatte und ziehe die Luft ein, doch als Selda mich ermahnt, den Teufel nicht durch gefährliche Spiele hervorzulocken, wende ich mich ab. Ich schlüpfe aus dem Nachtkittel und hinein in das Kleid aus Wäschestoff, setze mich auf ein eingerolltes Bodenbett und warte, bis ich an die Reihe komme. Erst Djengis, dann Tolga, dann Selda und schließlich ich. Meine Mutter sagt, ich soll mich jetzt bereithalten. Sie holt einen Kessel warmes Wasser aus dem Ofen, sie zieht mir das Kleid über den Kopf, drückt mir den Waschlappen aus alten Nylonstrümpfen in die Hand. Gestern erst hat sie die Fußteile abgeschnitten, die Beinteile übereinandergelegt und sie zusammengenäht. Als sie mir die grüne Seife geben will, schließe ich die Augen, sie stinkt.

Chinasultanseife, sage ich, ich mag sie nicht.

Chininsulfatseife, sagt Selda im Türrahmen, mach jetzt zu, Mädchen!

Der Schaum stinkt, sage ich, bitte nicht.

Wo kommen wir hin, wenn wir dem Kleinsten der Familie seinen Willen lassen, sagt Selda, sie schöpft mit der Messingschale heißes Wasser aus dem Kessel und neigt sie leicht über der Schaumquaste. Ich seife mich blitzschnell ein, ich reinige mich, meine Mädchenschönheit muß ich besonders säubern, weil meine Mutter darauf achtet, daß wir nicht übel riechen. Selda reibt mich trocken und hält mir die Hemdhose hin, sie ist aus amerikanischem Stoff, sagt meine Mutter, das steife Nesseltuch scheuert mich hinten und vorne wund. Ich mag sie nicht anziehen, doch ich muß.

Die reiche Nachbarin hat einen Holzzuber, den sie vor dem Baden mit einem Tuch auslegt, sagt Selda. Und weißt du wieso, Mutter? Damit sich keine Splitter in das Fleisch der edlen Dame bohren! In ihrem Badewasser ziehen Duftkräuter. Die Dauben des Zubers, heißt es, sind mit Silbernägeln beschlagen.

Wer hat dir diese Märchen erzählt? sagt meine Mutter.

Sie hält Empfangssitzungen ab – sie trübt das Wasser mit Milch, damit der Gast ihres Herzens keinen Blick auf ihre Blößen werfen kann … Und außerdem: Die Menschen im Viertel erzählen sich die Geschichten.

Ach ja? sagt Djengis von hinter der Tür, und du glaubst ihnen das alles?

Du belauschst uns! ruft Selda, das ist ein Gespräch unter Frauen. Geh raus und sammle Orangen.

Ich weiß auch etwas, sagt Djengis, es heißt, sie würde Duftsäckchen unter den Achseln tragen.

Du bist ihr also so nahegekommen, sagt Selda.

Djengis geht ohne ein Wort in den Garten, ich höre ihn mit Tolga sprechen, er wird ihn über die Gemeinheiten aufklären, die die Frauen des Hauses ihm antun.

Glaubt nicht an diese Märchen, sagt meine Mutter, wahrscheinlich streut die Frau selber die Gerüchte. Aber ich glaube nicht einmal daran. Sie ist sehr nett zu uns.

Nett, weil sie uns ihre Nähmaschine leiht? sagt Selda.

Freundlich, weil wir ihre Nähmaschine benutzen dürfen. Freundlich, weil sie uns grüßt, wie es unter Menschen üblich ist. Ihr Mann bringt viel Geld nach Hause. Sie hätte es nicht nötig, mit uns auch nur ein Wort zu wechseln.

Das stimmt, sagt Selda, ich kümmere mich am besten um das Frühstück.

Da wir nicht fürchten müssen, daß der Mann meiner Mutter, der Blutverspritzer, uns jeden Augenblick anfallen kann, essen wir im Frieden. Jede Brotscheibe ist vier Finger dick. Wenn sie größer ausfällt, nimmt meine Mutter Maß, kappt das übermäßige Stück mit dem Messer. Mehr als eine Scheibe und eine kleine Kante stehen mir nicht zu, meist schenken mir Yasmin oder meine Mutter ihre Kanten. Eine Fingerkuppe Käse – ich lecke an ihm wie die Geiß in meinem Traum. Wenn du eine Närrin bist, so laß dir eine Kappe machen, sagt Djengis, und ich höre damit auf und beiße eine Spitze ab, die in meiner Backentasche schmilzt. Das ist konzentrierter Käse, sagt meine Mutter. Es bekommt euch nicht, wenn ihr zuviel davon eßt. Wenn dicke Menschen schwitzen, riechen sie nach Fett, das habe ich von ihr gelernt, und ich werde es nicht vergessen.

Mein Lieblingsbruder Tolga schaut sich im Zimmer um. Ein Dschinn, der in der Pfütze badet, so sehr ist er verliebt, so sehr hält er an dieser Liebe zu einem Mädchen fest, er glaubt, daß wir nicht viel wissen. Yasmin hat ihn zur Rede gestellt, Djengis hat ihn geneckt. Ihr Wort bannt meine Krankheit, sie löscht alles aus meinen Augen, das sind seine Worte, und mehr will er uns nicht verraten. Ein Mädchen, das vor anderer Männer Augen nie den Schurz lüftet, eine Unberührte, ein Mädchen, das nicht in einer Kopfstulpe mit Gesichtsgitter steckt, eine Freisinnige: mein Bruder hat zwei Frauen in einem Mädchen gefunden.

Träumt sie von einem Hofmacher? sagt Djengis zu Tolga gewandt, was meinst du?

Bestimmt.

Jedes Mädchen träumt davon, sagt Selda.

Zum Ofenheizen benutzt man am besten Aprikosenschalen, sagt Djengis, vielleicht bist du, Tolga, die Aprikosenschale ihres Herzens. Hoffst du das nicht?

Ja, sagt Tolga, ich möchte aber darüber nicht sprechen.

In der geteilten Leidenschaft gibt es keinen Betrug, sagt Djengis, er lacht laut auf, klopft Tolga heftig auf den Rücken. Vor Scham löse ich den Knoten meiner Hemdhose, ziehe die Leibschnur fester zu, damit das Taillenband verhindert, daß mir die Unterhose in die Kniekehlen rutscht. Ehe Selda dazu kommt, mich aus dem Zimmer zu schicken, weil über die Liebe geredet wird, stehen meine Brüder auf, greifen nach ihren Jacken und machen sich auf den Weg zum Bahnhof. Im Licht kurz vor dem Morgengrauen, da es nicht mehr möglich ist, daß die Tiere und die Tierhaften den Menschen im Dunkeln auflauern, beginnt ihre Arbeit. Sie werden die Säcke der Händler, die sie in Kommission genommen haben, beim Aufladen auf die Eisenbahnwagen bewachen. Tolga hält an der Türschwelle inne, schaut der Mutter ins Gesicht, mustert die Hautmakel, die Hautrisse, die Krankheitsfarben. Er räuspert sich, er will etwas sagen, aber meine Mutter schüttelt nur den Kopf.

Keine Zeit für Wut, sagt sie, ihr müßt jetzt die Banditen davon abhalten, daß sie euch arm machen. Gott mit euch.

*

Ein Gesetz in unserem Hause lautet: Es zeugt von Hochmut, wenn eine Frau gepreßte Kleider trägt. Weiße Wäsche ist eine Ehre für Frauen. Meine Mutter überläßt weder Yasmin noch Selda das Bügeln, denn leicht kann man das Eisen zum Bersten bringen. Sie hat das Bügeleisen auf der Ofenplatte erwärmt. Jetzt schiebt sie den Haken zur Seite, zieht am Holzgriff und klappt die Deckplatte hoch. Auf den Bodenrost legt sie mit der Feuerzange die Kohlen, und als die Glut eingefüllt ist, klappt sie die Deckplatte herunter und hakt sie fest. Ich starre durch die Seitenöffnung des Bügeleisens auf die glühenden Kohlen, und sie sagt: feine Mädchenplätte. Mit der angefeuchteten Fingerspitze tippt sie die Bügelsohle an, dann stellt sie das Eisen auf den dreibeinigen Untersetzer. Ich stelle mich auf einen Blick von ihr aufrecht hin und fasse das Herrenhemd an den unteren Enden, sie hält es an den Achselenden. Wir recken das Hemd, schlagen es in der Luft aus. Sie streckt das Stück auf dem Tisch aus, legt ein befeuchtetes Leinentuch darauf, besprengt es durch Spritzen mit den Fingern mit Wasser. Dann preßt sie das Eisen auf das Herrenhemd, fährt in geraden Bahnen hin und her.

Du mußt aufpassen, daß du die frische Wäsche nicht durch Aschenflug verrußt, sagt sie, das gibt Sengflecken, und es ist dir verdorben. Ja, sage ich, ich werde darauf achten.

Worauf noch?

Die Wäscheklammern, sage ich, sie müssen sauber sein, sonst drücken sie Flecken auf die Wäsche … Und vor dem Aufhängen muß ich immer die Leine mit einem Wischtuch abgehen. Weil ich sonst eine böse Überraschung erlebe.

Nämlich?

Die Schmutzstreifen, sage ich.

Meine kleine Wäschebüglerin, sagt meine Mutter, obwohl ich nicht bügeln darf – ich bin zu klein. Die dampfenden Bettlaken, schneerein und steif und gefaltet, liegen im Wäschekorb. Eine Weile schaue ich zu, bis mir langweilig wird, ich übe, auf einem Bein zu stehen wie der Storch, ich spitze den Mund zu einem Schnabel, und ich strecke die Arme aus, um zu fliegen, unter mir ein Land mit kleinen Puppenkörpern von Menschen und Tieren. Vom Kohlendunst bekomme ich Kopfschmerzen, und ich höre wieder damit auf, als Phantasievogel im Himmel auf- und abzusteigen.

Womit könnte ich die Falten in Yasmins Rock pressen? sagt sie.

Mit der Spitze der Bügelsohle, sage ich.

Mein schönes Plättstubenmädchen, sagt sie, und sie schaut kurz auf, wischt mit dem losen Zipfel ihres Schamtuchs über Stirn und Mund, sie bittet mich, seinen Hut zu holen, es wird Zeit für das letzte Bügelstück. Die Melone hängt an einem gebogenen Zimmermannsnagel im Bad; hier hängt er sie auf, an einem Haken hängt jetzt der Klammerbeutel, seinen Filzkalpak hat er mit auf die Reise genommen. Selda kauert am Boden und zieht einen gerissenen Hosensaum über die Kante des Schemels, dann reckt sie ihn hin und her, bis er nach Augenschein wieder gerade ist. Ich eile wieder zu meiner Mutter, sie steht am Tisch, starrt geradeaus und irgendwohin, auf etwas, das nur sie sehen kann, der Flügel eines Engels hat ihr Haar gestreift, ich glaube fest daran. Als sie mich sieht, schickt sie den Engel hoch hinauf, und weil sie lächelt, weiß ich, daß der Engel ihr vom anderen Land erzählt hat, ein Land, in dem die schönen Seelen Bleiplättchen am Hals tragen und auf der Brust, dort, wo sich der Herzschlag auf das Amulett überträgt. Sagt meine Mutter.

Das Krempeneisen liegt im kleinen Kohleofen zu ihren Füßen. – Sie faßt es am Holzstiel und preßt die Eisensohle auf die Hutkrempe. Immer wieder. Spätestens jetzt ist der Engel fort, Menschenschweiß vertreibt ihn.

*

Mehmet, mein toter Bruder. Drei Atemzüge Traum und vier Atemzüge Schlaf hat er gelebt, er war keine zwei Jahre alt und konnte noch nicht gehen, auf seinen Beinchen wollte er stehen und fiel doch hintenüber hin. Meine Mutter hat ihn auf eine Decke im Garten gesetzt, er spielte und kroch dann auf allen vieren von der Decke weg. Er hatte nicht so viel Kraft in seinen Armen. Er fiel auf sein Gesicht, ein Holzsplitter bohrte sich in seine Nase, eine Ader ist geplatzt, sie konnten die Blutung nicht stillen, er fiel ins Koma und starb, nach drei Atemzügen Traum und vier Atemzügen Schlaf. Ein schönes Kind mit blauen Augen, das erste Kind der Familie. Sagt meine Mutter. Ein Mattenflechter wäre aus ihm nicht geworden, er ließ sich nur kurz tragen, sie mußte ihm schöne Weisen ins Ohr singen, leise singen, bis er besänftigt war und die Augen schloß. Erst dann verzogen sich die Schleier und gaben einen blassen rotschönen Himmel frei, in seinem Kindertraum. Doch der Todesengel schlüpft sogar durchs Nadelöhr, er hat nicht lange leben dürfen, das war vor dem Beginn der Ewigkeit vorher bestimmt. Sagt meine Mutter. Vielleicht spricht sie, wenn niemand im Raum ist, wenn er sie in Ruhe läßt, mit der Seele Mehmets, dem der Mann meiner Mutter eine Spatzenschleuder geschnitzt hatte. Seinen Erstgeborenen wollte er zum Jäger ausbilden. Er starb weg. Der Schreck, der in meine Mutter fuhr, der Schreck, als wische eine Mardertatze über ihren Rücken, der Schreck, als er vor ihren Augen starb, hat ihre Augen für immer dunkel umrandet. Dieses untilgbare Haßmal, schreit er, die Unzucht hat dich gezeichnet, jeder Mann im Viertel erkennt dich als Berührte und mich als Hurenwirt!

Ich klopfe mir kleine Spinnen vom Rock. Trockene Blätter unter meinen Füßen, sie zerreißen, wenn ich den Absatz verdrehe. Es riecht hier im Garten immer noch nach Orangen. Ich setze mich auf das kleine Spieltuch, schaue herum, damit mir nicht entgeht, wenn Mehmets Seele mit Flügelschlägen mir Luft zufächelt. Der amerikanische Stoff zwickt mich an allen Stellen meiner Vorder- und Hinterseite, ich ziehe die Unterhose aus und werfe sie weg, sie landet vor meinen Füßen, also stehe ich auf und werfe sie in hohem Bogen fort. Es wird niemand kommen und mit mir spielen wollen, ich gehe ins Haus, ich renne in die Arme meiner Mutter.

Hast du wieder das getan, was dir verboten ist? sagt sie.

Es liegt draußen.

Ich habe gesehen, was du getan hast, sagt sie, willst du dich nicht an die Verbote halten? Wenn dein Vater hier gewesen wäre, hätte er Spieße in deine unaussprechliche Stelle eingestochen.

Gott hat uns belohnt und ihn weggeschickt, sage ich.

Sprich nicht so über deinen Zeuger, sagt sie wütend, wieso hast du dich schamlos ausgezogen? Schaust du dir etwa bei Fulya etwas ab?

Nein.

Also?

Meine Unterhose zwickt, sage ich, sie ist ein Ungezieferbeutel, ich will sie nicht mehr tragen.

Das ist also dein letztes Wort?

Die Ungeziefer beißen mich, sage ich.

Sie greift zum Reisigbesen, legt das Besenende auf das heiße Schwarzblech, auf dem die Kichererbsen rösten, ruft mich zu sich. Ich muß mich umdrehen und die Hemdhose schürzen, sie versetzt mir ein paar Schläge, es tut weh, als würde sie mir die Haut meiner Hinterseite abziehen. Züchtige das Mädchen mit dem Besen, hat ihr die reiche Nachbarin eingegeben, und sie wird keine Spielchen mehr machen. Ich habe sie belauscht, als sie über Brotbacken und Kindererziehen gesprochen haben.

Du hast die Strafe verdient, sagt meine Mutter, dein Gesicht wird verwarzen, wenn du die Alten nicht ehrst und das Gesetz nicht beachtest.

Ist Unterhosen tragen Gesetz?

Sei still, sagt sie, und da sie nicht an sich halten kann, lacht sie auf, sie stopft den Schamtuchzipfel in den Mund, sie spuckt ihn aber vor Lachen aus, ein Karussellpferdchen nennt sie mich, Selda kommt, vom seltenen Lachen meiner Mutter angelockt, herbei. Als sie Selda meine Worte wiedergibt, muß auch sie prusten, ich schaue sie an und verstehe nicht, daß sie meine geschwollene Hinterseite lustig finden. Gott hat den Reisigbesen in Sein Buch der Bußübungen aufgenommen, auch den Sündenknüppel des Mannes meiner Mutter hat er verzeichnet. Die Menschen sind schlecht, die Mädchen sind schlechter, man muß sie bei lebendigem Leibe einmauern, schreit er, wenn er in Wut gerät. Auch dann würden sie kraft ihrer Schlechtigkeit den Mörtel zwischen den Backsteinen zerbröseln lassen und am Ende doch ins Freie gelangen.

Du darfst nie wieder drinnen oder draußen dich ausziehen, sagt Selda.

Es war niemand da draußen, sage ich, ich habe aufgepaßt.

Die Teufel verstecken sich, du siehst sie nicht, sie sehen dich, sagt meine Mutter, sie haben es auf Mädchen und Frauen abgesehen.

Und sie schnappen dich, sagt Selda, das geht schneller als bei einer Zigeunerin, die ein Kind entführt.

Sind viele Zigeuner hier bei uns? frage ich.

Nein, sagt meine Mutter, aber es hat Fälle gegeben, daß Kinder verschwunden sind, eben waren sie da, dann sind sie für immer verschwunden.

Mehmet haben die Zigeuner geklaut, sage ich.

Meiner Mutter vergeht das Lachen, und sie dreht sich weg, geht wieder zurück zu ihrer Wäsche.

Hol deine Unterhose vom Garten, sagt Selda, ich zeige dir gleich, wie man Randblenden auf Nachthemden aufnäht.

*