Zwölf Gramm Glück - Feridun Zaimoglu - E-Book

Zwölf Gramm Glück E-Book

Feridun Zaimoglu

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Beschreibung

»Berauschend, virtuos, subtil. Zwölf Gramm Glück ist ein schwerwiegender Glücksfall.« Der Tagesspiegel Was bleibt, wenn das große Glück nicht mehr zu haben ist und das Leben zu versanden droht? In ebenso fulminanten wie filigranen Geschichten erzählt Feridun Zaimoglu von der Suche nach dem kleinen beglückenden Rest. »Zaimoglu ist ein literarischer Erotiker, wie er unserer gefühlsarmen Gegenwartsliteratur nur guttun kann.« Neue Zürcher Zeitung »Die erste Geschichte dieses Bandes – so intensiv wie sonst nur allerbeste Filme. Ein Kanon der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts wäre ohne Zaimoglu unvollständig.« Frankfurter Allgemeine Zeitung »Feridun Zaimoglu legt eine Prosa vor, die so selbstverständlich daherkommt, als hätte er nie etwas anderes geschrieben. Sie ist ganz bei sich zu Hause und strahlt doch eine irritierende Fremdheit aus, sie zeigt Kraft, ohne zu protzen, sie tritt weder lautstark noch plakativ wütend auf und vibriert doch streckenweise von einem dunklen Grimm.« Süddeutsche Zeitung »Wenn es Zaimoglu nicht gäbe – er müsste sich erfinden.« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung »Auch wenn man einige Milieus, manche Figur und Sprachbesonderheiten aus früheren Büchern Zaimoglus kennt, ist hier doch nichts zur Masche geworden. Man hat vielmehr den Eindruck, die kompositorische und sprachliche Kunst des Autors sei auf eine neue Höhe gelangt.« Frankfurter Rundschau »Zaimoglu ist ein großartiger Erzähler. Virtuos, wuchtig, gut.« Profil

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Seitenzahl: 269

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Feridun Zaimoglu

Zwölf Gramm Glück

Erzählungen

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Feridun Zaimoglu

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

WidmungDiesseitsFünf klopfende Herzen, wenn die Liebe springtFremdkörperLibidoökonomieGötzenliebeFeindes ZahnGottesanrufung IGottesanrufung IIJenseitsHäuteGottes KriegerDer Kranich auf dem Kiesel in der PfützeBettelbrotEin Liebesdienst
zurück

Für Loulou Dakar

zurück

Diesseits

Fünf klopfende Herzen, wenn die Liebe springt

In der Hochsaison des Widerstands verließ ich mich auf eine Frau. Ich hatte noch achtunddreißig volle Tage zu leben, und dann wollte ich, ohne Rücksicht auf eine mögliche gute Wendung, einfach nach Plan Selbstmord begehen. Ich wußte, wie man sich die Pulsadern aufschneidet, ich kannte den kurzen Weg zum Tod. Ich hatte in Gedanken ein Unglück durchgespielt, das ich aus anderen Szenarien kannte, die Jungs trauten sich erst beim vierten Bier davon zu erzählen wie ihre schönen aufgeschickten tadellosen Traumfrauen durchknallten, und die Jungs mußten sich tadellos benehmen, eine große Schuld brannte sie aus und verwandelte sie in furchtbar frostige Jammerlappen, ich wußte nicht, wie ihnen zumute war, und hörte ihnen trotzdem zu. Das erklärt meine damalige Verfassung am besten: ein Bekannter, ein Freund oder ein bis dahin Unbekannter redet vor sich hin, und ich bin der Beisitzer, ab und zu werde ich um meine Meinung gefragt, und ich gebe eine läppische Bemerkung zum besten. Ich hatte noch nicht wirklich mit dem Leben abgeschlossen, und ich schluckte auch jeden Tag Vitamin- und Calcium tabletten, ging zum Bäcker und Zeitungsladen, setzte mich an den Schreibtisch und schrieb an den Kurzgeschichten, für die ich mich nicht zu schämen brauchte. Meine Finger bewegten sich über und auf der Tastatur, und wenn es klackte, wußte ich, es ist Zeit, daß ich mir die Nägel schneide. Ich hasse das Schlammweiß der Abenddämmerung, eindeutig hell und eindeutig dunkel sind meine Lieblingsfarben, deshalb gehe ich mittags und nachts aus dem Haus. Damals aber war ich skrupelloser, ich verließ meine Wohnung, wann immer mir der Sinn danach stand. Ich wußte, jeder Tag bringt mich meinem Ziel näher, bald würde ich bis zur Stopplinie aufgeschlossen haben, und ich würde endlich heraustreten aus der Gemeinschaft der gewachsten und geschwefelten Menschen, der Finanzoptimierer mit ihrer hundert Prozent Kapitalgarantie, ich dachte, bloß raus aus der bürgerlichen Welt, die mich und uns belagert, ich dachte wirklich: scheiß drauf, komm ihnen zuvor, mach dich vor dem finalen Termin kaputt, den sie dir gesetzt haben, kaputt bist du nicht mehr auf sie angewiesen, bist du nicht mehr angreifbar, bist du nicht mehr. Der Trümmerlandschaft um mich herum wollte ich keinen Sinn einhauchen, und daher mochte ich auch keinen Abschiedsbrief hinterlassen, mein Tod war mir versprochen, und ich würde ihn besiegeln, und in der Zwischenzeit schrieb ich meine Geschichten, Punkt.

 

Ich habe mich nicht umgebracht, sie kam dazwischen. Der achtunddreißigste Tag vor dem Ende fing vielversprechend an: ein Fagott-Trio spielte unter meinem Fenster ein herzzerreißend schwermütiges slawisches Volksstück, und ich hielt kurz inne beim Anziehen, das rechte Bein schon halb in der Hose und die Hände am Bund, die Russen spielten, und es erwischte mich das erste Mal an diesem Wintertag. Ich stand in der Küche – dort spielt sich mein halbes Leben ab – und sah die leeren Mineralwasserflaschen, das Abtropfsieb aus Plastik, die Fertigsuppen in Beuteln, ich sah die Mappen und Aktenordner mit den Mitteilungen und Mahnschreiben vom Finanzamt, und den Krimskrams, den man behält und sammelt, obwohl man dafür keine Verwendung hat. Je mehr ich arbeite, desto mehr hafte ich an den Zwängen des Betriebs, ich hangele mich von einem Abgabetermin zum nächsten, und während sich andere Leute besaufen, bekiffen und verlieben, sitze ich auf meinem Arsch und tippe Seiten voll, und wenn die Türken in der Wohnung über mir wieder einmal Krach schlagen, stehe ich auf, steige auf den Stuhl und klopfe mit dem Besenstiel gegen die Decke. Meine Exfreundin hielt mich deswegen für einen Spaßverderber, und irgendwann ist sie ausgebüxt und hat sich einen fidelen Luftgitarristen geschnappt, einen tollen Typen mit dreifach gepiercter Zunge und einem Drachenkopf auf dem Bizeps, den er durch Muskelspiel zum Leben erweckt. Er ist ein ständiges Mitglied der Szene im Schanzenviertel. Hier in der Schanze gelten vielleicht andere Regeln als in der Hamburger Reststadt, jedenfalls glauben das die Zuzügler aus den Kleinstädten. Wenn man aber die Hauptstraße, die Lebensader zwischen der Julius- und Eifflerstraße, abgeht, erkennt man die eindeutigen Zeichen der Yuppiesanierung, die jedem linkskulturellen Milieu blüht: auf der rechten Straßenseite wechseln sich Fischrestaurants, portugiesische Stehcafés, Goldschmuckläden und Nostalgiemöbelmärkte ab. Die schicken Dreißiger trinken ihren Galao oder spanischen Rotwein und schauen hinüber auf die andere Straßenseite, auf der man die Wahl hat zwischen dem Kampf um den nächsten Schuß und dem Kleinkrieg gegen die bestehende falsche Ordnung. Vor dem Fixstern stehen die Junkies, in der Roten Flora wohnt das Technische Personal der Revolution, meine argwöhnischen aufgeregten Freunde, die mir wegen meiner Verbürgerlichung Vorhaltungen machen. Ich liebe sie trotzdem, weil sie eine ungefähre Vorstellung davon haben, wie man es ohne Yoga und esoterischen Quatsch binnen einer Woche schafft, wirklich frei zu atmen: ein Werbeagenturknecht muß einfach aufhören, von der Wertschöpfungskette zu schwätzen, und schon ist er sein eigener Herr, ein blutjunges Fernsehsternchen muß nur ihre Brüste in die Körbchen wieder versenken, und schon glaubt man ihr, wenn sie von subtiler Frauenmacht spricht. Ich weiß, ich bin ein Romantiker, und wenn ich mich deswegen rechtfertigen muß, beziehe ich mich auf meine Ex-Freundin, eine Vegetarierin mit einem Heißhunger auf Spaghetti carbonara. Sie setzte Sojahackgranulat in Brühe an, es quoll auf und sah aus wie Hackfleisch, schmeckte aber wie Fleischersatz. Sie hat es tapfer verspeist, sie schmatzte sogar beim Kauen. Ihr Verzicht auf Rinderhack tat ihrer chronisch guten Laune keinen Abbruch, sie war beseelt von einer Idee, und die Idee bekam ihr. Ich vermute, das ist kein einleuchtendes Beispiel, doch darum geht es ja – wenn man fühlt und romantisch ist, liegt man immer daneben.

 

Ich habe mich schließlich doch aufraffen können, in die Hose zu schlüpfen, die Russenmusikanten zogen weiter, vormittags halten sich auch in meinem Viertel die Menschen ungern bei Pflasterkünstlern auf. Der Bürgersteig war vereist, die Räumwagen hatten über Nacht den Schnee von der Straße an den Bordstein gepflügt, ich stapfte in die Kämme aus braunem Matsch, das Wasser lief mir in die Turnschuhe, und ich bekam auf halber Strecke nasse Füße. Vor den drei Geldautomaten der Sparkasse standen die Leute Schlange, unter dem Vordach der Bank saß Gerd im Schlafsack und bat um fünfzig Cent oder eine Zigarette. Hätte ich mich nicht zu ihm gewandt und die Hand zum Gruß erhoben, hätte ich dem Mini Cooper gerade noch ausweichen können, der aus einer Parklücke herausschoß, und die in diesem Moment vor Wut überhitzte Frau am Steuer hätte, statt das Bremspedal durchzudrücken, weiter beschleunigt, mir laut hupend im Rückspiegel den Vogel gezeigt und einen Anlaß gehabt, ihrem Ärger Luft zu machen. Statt dessen erwischte es mich zum zweiten Mal an diesem Tag, sie erwischte mich eigentlich nur mit dem Kotflügel, ein heftiger Schlag von der Seite. Ich ging zu Boden und setzte mich in den Matsch, ich weiß noch, wie ich zwischen meinen Beinen in den schmutzigen Schnee griff, so als könnte ich es nicht fassen, und dann saß sie auch schon neben mir, ich gaffte auf ihre Beine und dachte, das darf sie nicht tun, sie holt sich noch eine schlimme Erkältung. Dann hob ich den Kopf und schaute sie an, ich sah sie sprechen, aber ihre Worte drangen nicht zu mir durch, sie hatte wunderbar grünblaue Augen. Plötzlich verklang das Rauschen in meinen Ohren, und ich konnte sie verstehen, sie war besorgt und tastete mich seltsamerweise auf irgendwelche Knochenbrüche ab, ich sagte, daß ich keine Schmerzen hätte, ich sagte, sie könne mich stützen und in den ersten Stock des gelben Hauses dort begleiten, und als sie mir aufhalf und das Eiswasser von meinem Hosenboden troff, nahm ich mir vor, den Schock nicht einfach abzuschütteln. Sie sollte eine Stunde dableiben, denn dann, spätestens dann, hätte ich mich in sie verliebt.

 

Ich habe mich in sie verliebt, denn sie kam um vor Sorge und rechnete mit dem Schlimmsten, eine schöne Totschlägerin hätte sie abgegeben. Ich schickte sie gleich wieder auf die Straße, die Beschaffungskriminellen und die Politessen sind rund um die Uhr auf Raubzug unterwegs, ein nicht abgeschlossener Wagen in zweiter Reihe ist leichte Beute. Die Hose klebte schwer und naß an der Haut, ich fror erbärmlich, also zog ich mich in der Küche um. Die Wollsocken verfingen sich am Hosensaum, schwer atmend bückte ich mich und zupfte ungeschickt herum. Plötzlich flog die Tür auf, beim Anblick meines wie ein Erpelbürzel gereckten nackten Hinterns bekam sie prompt einen Lachanfall, sie lachte, wie ich noch keine Frau lachen gehört habe, und ich floh, beide Hände auf meinem Geschlecht und die verdammte Hose an den Fußknöcheln, ins Bad. Als ich zurückkam und sie fragte, ob ich ihr Instantkaffee anbieten könne, lachte sie erneut los, und ich mußte breit grinsen, weil sie sich dabei wirklich schüttelte, ihr Haar geriet in Unordnung und stand nach allen Seiten ab, und ihre Wangenröte war beachtlich. Obwohl ich sie nicht darauf angesprochen hatte, erzählte sie, daß sie als Kind gern draußen in der Kälte gewesen sei, und dann, sie war fünf und saß auf dem Schlitten, den ihr Vater zog, sei ihr Gesicht erfroren, seitdem bekomme sie Apfelbacken, auch zu unpassenden Gelegenheiten. Zum letzten und dritten Male erwischte es mich an diesem Tag, mein Herz stand in Flammen, das ist die ganze reine Wahrheit. Sie war nicht neugierig, sie fragte mich nicht aus, sie zeigte nur auf den Hirschkopfmagneten an der Kühlschranktür, sie habe auch Hirsche an ihrer Pinnwand, und auch ihnen seien die Geweihe nach und nach abgebrochen, sie sähen aus wie fette Antilopen. Dann wollte sie wissen, ob das Ding auf dem Boden ein Tischstaubsauger sei, und ich erzählte, daß Gerd, der junge Berber um die Ecke, neben seiner Haupttätigkeit als Schnorrer auch abstruse Gebrauchsgegenstände vertreibe, woher er sie beziehe, bleibe sein Geheimnis, und das Ding sei übrigens eine Dampfputzdüse, die den Kalk von der Badezimmerarmatur sprenge. Darauf folgte ein weiterer Lachanfall, und ich konnte mich an ihr nicht satt sehen. Angelockt von den Polizeisirenen, stellte ich mich ans Fenster, der Krawall war auf späte Nacht angesetzt, bestimmt mischten sich die Zivilbullen unters Volk, lauschten den Gesprächen und gaben die aktuellen Gerüchte an die Zentrale weiter. Gestern hatte ein Freund von der Roten Flora, ein Anarchosyndikalist, von dem bevorstehenden Zusammenprall der Kontingente gesprochen, und er nannte die vermehrte Polizeipräsenz in der Schanze eine Provokation. Ich drehte mich zu ihr um und fragte sie nach ihrem Namen, Lulu, sagte sie, und du? Fernando, sagte ich, ich schwöre, es ist mein Taufname. Wir blieben eine Weile still und dachten über diese beiden Namen nach, Lulu und Fernando, es hörte sich nicht schlechter an als Frieda und Karl-Johann. Mittlerweile spürte ich die Schmerzen an meiner linken Seite, das würde große blaue Flecken geben, mir fiel einfach kein interessanter Gesprächsstoff ein. Sie blickte auf ihre Armbanduhr, ein Gucci-Imitat, sprang auf und sagte, sie sei mir etwas schuldig, ich müsse heute abend zum Eisenstein in Altona kommen, dort würde sie kellnern, und sie würde mir eine Pizza meiner Wahl vorsetzen. Bis dann, rief ich ihr nach – sie war eine knappe Stunde dageblieben, und es hatte gereicht, ich sog die Luft ein, ihr Parfüm kitzelte mich an der Nase.

 

Der Ärger, sagen die Bürgerlichen, liegt in der Luft, dort wo die Revoluzzer sich verschanzen und absondern, die Staatsgewalt und ihre Knüppel-bewehrten Truppen müßten einschreiten und zumachen, die Löcher zupfropfen, keinen Fußbreit den Ratten, das steht sogar im Feuilleton. Es fing alles damit an, daß zwei Streifenbullen einem Obdachlosen einen Platzverweis aussprachen, der damit nicht zurechtkam, weil er keinem Außenstehenden erlaubte, in sein System einzudringen. Der Berber war nicht mehr von dieser Welt: er blieb alle paar Schritte stehen und machte vor einer imaginären Macht einen Bückling. Er verwehrte allen den Zugang zu seinen Einbildungen, nur ein einziges Mal sah ich ihn auf den Treppenstufen eines Hauseingangs sitzen und ein zivilisiertes Gespräch mit einem Freund von der Flora führen. Ein irrer Lumpen-Rastafari in seiner kleinen Welt der Zwänge. Er tat keinem weh, und es gab niemanden, der ihn scheuchen wollte, weil er am falschen Platz stehenblieb. Manchmal kümmerten sich die Bibelenthusiasten vom »Spiritueller Shop« um ihn, sie gaben ihm Brot und Wasser, in ihre Andachtsräume konnten sie ihn aber nicht locken. An jenem fraglichen Nachmittag also stellten sich dem Mann die Bullen in den Weg, sie sagten, der Mann solle seinen Ausweis vorzeigen, und als er nicht reagierte, sprachen sie ihren Platzverweis aus, und als der unansprechbare Mann mit seinen Kotaus nicht enden wollte, glaubten sie, er mache sich über sie lustig, und sie schubsten ihn, vielmehr, sie rüttelten ihn durch, und er fiel hin. Sie umringten den Irren am Boden, er schrie, wie jeder schreien würde in Erwartung einer kommenden Verletzung, denn tatsächlich mußte man ihn später wegen eines Trümmerbruchs an der Handwurzel behandeln. Die Streifenpolizisten wandten sich zum Gehen, und ehe sie sich’s versahen, waren sie von aufgebrachten Rotfloristen umringt, ein Wort gab das andere, »Schweine« schallte es ihnen entgegen, als »Prügelschergen« wurden sie beschimpft, man riet ihnen abzuhauen, sonst würde es was auf die Backe geben. Wenig später rückten Streifenwagen mit Blaulicht an, und die Meute zerstob, einige wenige wurden gestellt und zur Vernehmung mitgenommen. Man kündigte Vergeltung an für kommende Tage, man wollte »den Schergen« entgegentreten, die Söldner, wie man sie nannte, hatten einen armen Irren niedergemacht, und die Feigen gehen nicht ein in das Himmelreich, sagten die Bibelenthusiasten, denn wir alle steckten und stecken unter einer Decke, die Evangelisten, die Rotfloristen, die Passanten und die Gastronomen. Und wo war ich zu der Zeit? Ich lag auf meiner Matratze und dachte über meinen Selbstmord nach, und dann stand ich auf und stellte mich wie so oft ans Fenster, mir fielen die Menschen auf, die alle in eine Richtung schauten, und ich sah sogar die Floristen durch den Seiteneingang hinaustreten, ich konnte mir vorstellen, daß wieder einmal der Ernstfall eintrat, und vom Ernstfall bis zur Eskalation ist es hier immer nur ein kleiner Schritt, die Leitungen laufen heiß, und am Ende behalten die Schwarzvermummten recht, die fest davon überzeugt sind, daß der Friede ein fauler sei. Von meinem Krähennest aus blickte ich hinab auf die Augenzeugen einer eskalierenden Situation, ich wollte nicht mehr als die Zimmerwärme und die Schreibmaschine im Rücken. Ich denke: wer sich beteiligt, nimmt Schaden. So bin ich.

 

Bis zum Abend hatte ich viel Zeit totzuschlagen. Ich habe nichts geschrieben, kein einziges Wort. Eine beginnende Liebe, eine Liebe, von der man nicht einmal weiß, daß man sie fühlt, ist ein Schwächeanfall, nein, eine Folge von Schwächeanfällen, und die Minuten dazwischen verziehen sich ins Maßlose, wie als würde man auf den Stundenzeiger starren und warten, bis er endlich den nächsten Strich überschneidet. Ich wollte nicht immerzu auf die Uhr starren, und obwohl ein Schneeregenschauer niederging und kleine Hagelkörner gegen die Fenster prasselten, machte ich mich auf den Weg, wohin, das würde sich noch zeigen. Damals trug ich die Haare lang, dicke Locken grenzten mein Sichtfeld ein – wenn ich zur Seite blickte, mußte ich den Kopf drehen, und weil ich meinen Kopf ungern bewegte, war es auch leicht, mich von der Seite anzufallen. Dies bißchen Gefahr gefiel mir. Die Wandzeitung der Roten Flora gab Gefechtsalarm, ein revolutionsmüder Anwohner hatte dazugekritzelt, er glaube, wegen des guten Fernsehprogramms und schlechten Wetters würden die Schleimschnecken ihre Digitalquadrate nicht verlassen. Ich verließ meine Wohnung, ich verließ mein Viertel, ich verließ meine Leute, den aufgespannten Regenschirm hielt ich schräg in den Wind, mein Nacken war ungeschützt dem Regen ausgesetzt, ein herrliches Gefühl. Ich verharrte und ging, mal stand ich an der roten Ampel und las einen in Augenhöhe angeklebten Werbezettel, auf dem eine Werkstatt für Unikatschmuck zu einem Tanz mit einer Elfe einlud; mal schaute ich einem Welpen hinterher, der vergeblich versuchte, ein windverwirbeltes Blatt mit der Schnauze zu schnappen. Ein Pokalstudio versprach Gravuren aller Art, Vereinsbedarf und Fußballfanartikel. Ich stieß mit fremden Menschen zusammen, und es war mir egal, denn so viele Dinge lagen außerhalb meiner Möglichkeiten, ich war fast stolz darauf, den Mund zu halten und krumme Gedanken zu hegen. Irgendwann schien es mir auch unwichtig, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten, und so betrat ich, nach einem langen Gewaltmarsch, die Zeisehallen, ich betrat das »Eisenstein«, setzte mich an den ersten freien Tisch, blickte auf sie und sah sie, ich sah nur sie, es gab in diesem großen Saal keine andere als Lulu. Sie wirkte verblüfft, mich so schnell wiederzusehen, sie wickelte gerade die weiße Kellnerschürze um die Hüften, sie sah aus wie eine Schauspielerin, die sich für ihre Rolle umkleidet. Sie sprach kurz mit den beiden Afrikanern hinter dem Pizzatresen, dann kam sie an meinen Tisch, und bevor ich zu einer Erklärung ansetzen konnte, sagte sie, ich solle sie in den Hinterhof zum Zigarettenrauchen begleiten. Fünf Minuten habe sie herausschlagen können, sie könne sich nicht um mich kümmern, ich solle zum Arzt gehen, bitte. Der Glanz auf ihren Lidern war unbeschreiblich. Ihre schlanken, in geradezu zierlichen Kuppen auslaufenden Finger waren unbeschreiblich. Sie nahm einen tiefen Zug, sie sei wütend gewesen, und die Wut habe einfach ihren Blick getrübt, sonst fahre sie immer in nüchterner Verfassung. Nüchterne Verfassung – ihr etwas altmodischer Zungenschlag gefiel mir. Und weil ich nicht nachfragte, wer oder was diesen Ärger provoziert habe, erzählte sie, nach zwei tiefen Zügen, ihre beste Freundin habe sich von einem verheirateten Mann schwängern lassen, und sie wolle das Kind und ein anderes Leben als junge Mutter. Sie ließ die Zigarette fallen und trat sie mit ihrer Zickenpusche aus, Schlangenlederimitat, Stilettabsätze. Wir gingen wieder hinein, die Schleifen ihrer Schürze wippten bei jedem Schritt. Ich wollte mich schon an meinen Platz begeben, doch sie stellte mir erst einmal die Afrikaner vor, sie hießen Gottfried eins und zwei, hochseriöse Ghanaer im weißen T-Shirt und in weißer Hose, sie verteilten die Soße auf der ausgerollten Pizza, und für den Pizzateig war ein gewisser Darius zuständig, ein nicht ganz koscherer Aussiedler. Wenn Bewegung in sein Gesicht kam, sah es aus wie erstarrendes Wachs. Ich schlängelte mich durch eine Gruppe von Musicalbesuchern wieder zurück an meinen Tisch und vertiefte mich in die Speisekarte, Barbarie-Ente, Lammkarree und Wildschwein, ich war, um mit Lulu zu sprechen, zu sehr in nüchterner Verfassung, um mir damit den Magen zu verderben. Und dann stand sie plötzlich bei mir und zückte einen Bleistiftstummel, dessen Minenspitze sie wie ein Buchhalter anfeuchtete, beinahe hätte ich bei ihrem Anblick jede Kontrolle fahren lassen, bestellte aber beherrscht eine Quattro Stagioni und verstand es nicht, daß sie auflachte, sie knickte an ihrem Körperschwerpunkt unterhalb ihres Nabels ein und schüttelte sich vor Lachen. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, verriet sie mir, daß der hanseatische Spießer aus seiner Unentschiedenheit eine Tugend mache und die »Multibelagpizza« bestelle: zu je einem Viertel Artischocke, Salami, Schinken und Pilze. Wenigstens hatte ich mich nicht wie die schlimmsten Spießer für den krossen Spinatteig mit einem Ei in der Mitte entschieden. Sie stand, ich saß, und weil ich in diesen Dingen altmodisch bin, stand ich auf und sagte: Ich werde bald so stark sein, daß ich dir deine Trauer vertreiben kann – natürlich nur dann, wenn du es zuläßt. Lulu schaute mich lange an, fast schien es mir, als studierte sie mein Gesicht. Ich habe Kopfschmerzen, sagte sie, und schon sprang ich auf und bat sie, zu warten und nicht wegzugehen. Ich stürmte aus dem Eisenstein, ich lief so schnell, daß mir die Hacken auf die Arschbacken trommelten, und endlich fand ich einen türkischen Tante-Emma-Laden, in dem ich eine Halbliterflasche Anisschnaps und zehn Ingwerwurzeln erstand, ich legte einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Geldteller und wartete das Rückgeld erst gar nicht ab. Keine zehn Minuten später war ich wieder zurück, sie war gerade dabei, meine Spießerpizza zu servieren, und ich wies sie an, so viele Ingwerwurzeln wie möglich in den Schnaps einzulegen, und in einer halben Stunde würde ich mit der Behandlung ihrer Kopfschmerzen anfangen. Sie lächelte, sie lachte nicht, sie lächelte. Mittlerweile waren alle Tische besetzt, sogar am Katzentisch neben dem Garderobenständer saßen drei Pärchen dicht an dicht und mit eingezogenen Ellenbogen. Die Kundschaft bestand aus den Angehörigen der gehobenen Kulturschicht, den typischen Pop- und Pornomodels einer Großstadt, Bürgerlichen und ihren Kleinkindern, die in Rüschenröcken oder gebügelten Jeans steckten. Ein bleicher Jungpoet hustete manieriert in die Hand, und seiner Freundin fiel vor lauter Langeweile nichts Besseres ein, als die Papierserviette in Stücke zu zupfen. Ich kannte ihn von seinen Gedichten, er hatte ein Poem verfaßt, in dem er beschreibt, wie er oder sein Alter ego die Beine auf einen Bandscheibenentlastungswürfel aus Schaumgummi legt und Apfelsaft trinkt. Ich habe die Wand über meinem Bett mit den vierzehn Seiten dieses Poems tapeziert, ich kann es stellenweise aus dem Kopf zitieren, ich wünschte, ich hätte es verfaßt. Ihm meine Huldigung offen auszusprechen kam mir doch zu blöd vor, ich klebte auf meinem Stuhl und dachte beim Pizzaessen darüber nach, ob sich der achtunddreißigste Tag vor meinem unangekündigten Selbstmord zum Guten oder zum Schlechten wenden würde. War sie die Frau meines Lebens, oder hatte sie einen Freund, einen Geliebten, einen Mann? Eine solche Frau wie sie mußte eigentlich einen smarten Italiener an der Leine führen. Ich verscheuchte die bösen Gedanken, und wie als hätte sie nur darauf gewartet, erschien sie und sagte, die halbe Stunde sei um. Ich folgte ihr zum Hinterhof, sie drehte einen Zinkeimer um, stellte ihn auf den Boden und setzte sich, die Augen fest geschlossen, die Wimpern zuckten wie bei einem Kind, das von niedrig fliegenden Vögeln träumt, deren Schatten es streifen. Ich fischte zwei Ingwerwurzeln aus der Salatschüssel und begann sanft und in kreisenden Bewegungen ihre Schläfen zu massieren. Nach einigen Minuten schlug sie die Augen wieder auf und sagte, sie kenne meine Hände nun besser als mich, und sie wüßte nicht, ob sie bereit sei, daran etwas zu ändern. Ihre Schläfen waren von der Ingwermassage gerötet, und die Röte färbte auch ihre hohen festen Jochbeine, ihre Wangen, ihren Hals. Ohne große Scham gestand ich ihr, daß ich ein Liebeslaie sei, und noch willens, in Schwierigkeiten zu geraten; ich wüßte, ich sei in einem Alter, da ging alles oder wenigstens das meiste, und in einem Jahr würde ich anfangen, die Menschen nach den Distanzen zu beurteilen, die sie wahrten zwischen sich und den Spießgesellen aus der Vergangenheit, und vielleicht bald würde auch ich behaupten: hinter mir ist Gerümpel, vor mir sind Prothesen. Sie verstand kein Wort, ihr Gesicht zwischen den rotierenden Ingwerwurzeln strahlte mich nur an, und ich stockte mitten in meinem Dichterquatsch und bat sie, mir zu erlauben, sie nach ihrer Schicht abzuholen. Sie sagte, sie müsse bis um zwei Pizza schleppen, und vor Freude biß ich in die Ingwerwurzel und nahm einen kräftigen Schluck aus der Salatschüssel.

 

Die Hauptströmung erfaßte mich, ich trieb ab von der Böschungskante und konnte noch knapp den Kopf über Wasser halten. Oder einfacher: Eine Frau berührte mich, ich glaubte, sie sei ein Traumbild, ein mir unerklärliches Phänomen, und obwohl ich mir ins Fleisch kniff, verflog die Schönheit nicht. Oder mystischer: Die Wölfin entdeckte mich auf ihrem Beutezug, und als ich ihr die Kehle hinhielt, fletschte sie die Zähne, und ich tat es ihr gleich. Oder problematischer: Wir sprachen und sprachen und sprachen, und doch sah sie keine gemeinsame Liebesbasis, ein Mann konnte ihr gestohlen bleiben …

Während ich im Schneeregen zu meinem Viertel zurücklief, malte ich mir ungewisse Ausgänge, böse Enden und, zwischendurch, Erlösungsfabeln aus, ich war eindeutig nicht bei Sinnen. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich das Gefühl, wirklich zu leben und zu erleben, denn meist verhielt ich mich in guten wie in schlechten Situationen passiv, wußte ich doch, sie ließen sich immer zu einer Geschichte umschreiben. Die Schaulust verging mir, ein halber Tag hatte genügt, um mich von einem Gelegenheitskomparsen in einen potentiellen Liebhaber zu verwandeln. Ich starrte nicht mehr durch die starke Linse, daß sich die Bilder auch zu einer Momentaufnahme fügten. Ist man verliebt, neigt man zur Selbsttäuschung, das mag richtig sein – ich wollte es aber so und nicht anders.

Im Schulterblatt traf ich auf kleine Verbände, fünf- bis zehnköpfige Gruppen, dem Ausbruch entgegenfiebernde Floristen und Sympathisanten, die mich, ihren halben Genossen, zur Teilnahme aufriefen. Es würde einen Knall geben, das war sicher. Vor dem kahlen Efeu an der Fassade eines Flora-Anbaus wärmten sich einige Vermummte ihre Hände an den Flammen, die aus einer Tonne herauszüngelten. Ein Berber kam herbei, man machte ihm Platz. Immer mehr Menschen strömten ins Viertel und wußten zu berichten, daß die Einsatzfahrzeuge mit Martinshorn und Blaulicht unterwegs waren, die Wasserwerfer wurden im Hintergrund gehalten – sie würden anrücken, wenn die Bullen auf größeren Widerstand stießen als vermutet. Man würde ihnen einen schönen Empfang bereiten, denn aus unserer Sicht waren sie die Chaoten, bessere Wirtshausschläger in dummen Uniformen, und die Frauen unter den Schlägern zogen die Knüppel besonders heftig über die Köpfe, mit dem Schlagstock in der Hand waren sie Geschöpfe der Männer und würden es auch bleiben. Für die Bullen war es auch einfach – sie zogen zu Felde gegen Ölaugen, Schmocks und Zecken, der Gummiknüppel traf immer den Richtigen, und sie verkauften es anschließend als Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. Heute abend, dachte ich, heute könnte es was werden, könnte es anders laufen, und in meiner Erregung lief ich von einer Gruppe zur nächsten, mir war klar, daß ich mich wie ein Zivilbulle verhielt, der Stoff für seine brandneue Meldung sammelt. Das Feuer aus der Öltonne zeichnete Schattenrisse von auf und ab gehenden Ge stalten auf das Kopfsteinpflaster, ein Gedränge, als käme ein Stamm zusammen und hielte Nachtwache vor einer Ruine, die aufzugeben außer Frage steht. Ich mußte gleich fort und weg, später wäre es unmöglich, hinter die Linien, hinter die Polizeikette, zu kommen. Und ich wandte mich ab, vielleicht war es schäbig, vielleicht würden sie, meine halben Genossen, mir zu Recht vorhalten, ich sei ein Randaletourist, der sich trollt, wenn es zu brenzlig wird. Wie konnte ich mit ihnen über meine Liebe sprechen? Das Private ist nicht politisch, es steht manchmal der politischen Tat im Wege. Mit meiner vagen Abneigung gegen alles, was siegen gelernt hat, stand ich zwar nicht alleine da doch eine Ausschreitung zu verpassen, weil man eine Frau abholen will, geht zu weit.

 

Keine zwei Häuserblocks weiter stiegen die Bullen gerade aus den Einsatzwagen, der Körperpanzer unter ihrer Uniform ließ sie wie ungelenke Gladiatoren aussehen. Der Zugführer gab über Funk die Koordinaten durch. Als ich die Plexiglasschilde sah, wußte ich, sie würden sie zu einer fugendichten Reihe schließen und im Eilschritt vorrücken, und die laufende Mauer würde alles aus dem Wege räumen, was nicht rechtzeitig zur Seite quoll. Einige Männer saßen auf dem Gußstahlgitter um eine einzelne Ulme herum und schnallten perforierte Schutzschalen an ihre Oberschenkel, ein unförmiger Hüne stützte sich auf einem Betonpoller ab und setzte seinen Helm auf. Es war die Zeit kurz vor dem Zusammenprall, auf der anderen Seite würden sich meine Freunde auch rüsten …

 

Sie wartete auf mich vor dem Torbogen der Zeisehallen, und sie beobachtete mich, wie ich näher kam, und vielleicht hat sie mir meine aufkommende Unsicherheit angesehen, ich wollte sie nicht mit einem Kuß auf den Mund verschrecken, aber ich brannte geradezu darauf, ihr Gesicht mit Küssen zu bedecken. Sie gab mir einen Kuß auf die Lippen und schob mich sanft weg, hinter ihr die erlöschenden Lichter im Saal. Der Himmel hatte sich ergossen, und ein stumpfes Perlmutt durchmischte das kalte Winterblau, der Eisglanz ließ die Straßen wie Fabelpfade erscheinen, da und dort, wie Rußstreifen auf der Haut, der Gummiabrieb von Reifen. Ein voreiliges Wort hätte alles zunichte gemacht, sie, die neben mir leise Atemwolken ausstieß, wäre verschwunden, ohne ein Wiedersehen zu versprechen. Sie war erschöpft, und sie vertraute sich mir an, vielleicht überließ sie mir einfach die Entscheidung, ich empfand das Glück, sie in meiner Nähe zu spüren, und gerne hätte ich ihr gesagt: Lulu, du bist mein Glück, und was bist du doch für eine wunderbare Frau. In einem Benimmduden hatte ich gelesen, daß die Regel, der Frau den Vortritt zu lassen, bei Eintritten in Kaffeehäuser entfällt. Als wir vor der Greenwich Bar standen, zog ich mit beiden Händen an der Griffstange und hielt ihr doch die Tür auf. Hinter dem langen Bartresen trocknete Gio gerade Cocktailgläser, und als er mich sah, schnalzte er mit der Zunge, er spielte wieder einmal irgendeinen Revolverhelden aus einem Italowestern nach. Ich holte Lulu ein, und wir stiegen die Treppen hoch zum sogenannten Lounge-Bereich, eine durchgehende Sitzbank führte an der Längs- und Stirnwand entlang, ein paar Puppenstubentische und -stühle waren parallel dazu angeordnet. Die Aschenbecher hatte man in Holzkubusse integriert, und die von Düsengehäusen eingefaßten Punktstrahler sorgten für ein Zwielicht, das auf die herbe Melancholie der Gäste genau abgestimmt zu sein schien. Es lief ein minimalistischer Suizid-Jazz, die Sorte von Musik, bei der man unweigerlich an Koks und kaputte Musiker denken muß. Mir ging der Effektsmog auf die Nerven, Lulu rauchte schweigend und ließ den Blick schweifen, eine müde Nachtschwärmerin bei ihrem letzten kurzen öffentlichen Auftritt. Wir bestellten beide Bier. Nach ihrem ersten Schluck sagte sie, ohne sich mir zuzuwenden, es sei schon komisch, daß der Mann, den sie fast totgefahren habe, sie erst mit Ingwerwurzeln massiere und dann ausführe, als wolle er sich bei ihr dafür bedanken. Und dann lachte sie wieder, die Frauen und Männer an den Nebentischen und auf der Sitzbank unterbrachen ihre Gespräche und schauten sie an, sie lachte und schüttelte ihre Müdigkeit ab. Und dann sagte sie, sie müsse jetzt unbedingt dieses eine Haar an meinem Ohrknorpel ausreißen, es jucke sie in den Fingern, und im nächsten Moment spürte ich einen Schmerz und genierte mich ein bißchen vor den Gaffern. Wenn es so weiterging, würde ich noch mehr blaue Flecken und blutende Poren davontragen. Ich weiß, es geht zu schnell, sagte ich, und du sollst dir die Zeit nehmen, aber man soll lieben und geliebt werden, bevor es zu spät ist. Ich spürte eine große Lust, mich um Kopf und Kragen zu reden, ein Erguß aus dem Herzen ohne Filter und Schalldämpfer, der aus mir strömte, aber Lulu legte ihre Hand auf meinen Mund, küßte ihren Handrücken, ein keuscher langer Kuß. Wir lösten uns voneinander, die Uhr an der Stützsäule gegenüber zeigte auf Viertel nach drei, es war Zeit zu gehen. Ein Mittzwanziger sprach sie an, er steckte in einem Retro-Anzug, lila Karos auf beigem Grund, und immer wieder fuhr er sich durch die Haare und ordnete die Ponysträhnen auf der Stirn. Es stellte sich heraus, daß sie sich aus einem Urlaub auf Mallorca kannten, zehn Jahre her und doch unvergessen, damals ging es noch, damals war Mallorca nicht deutsches Inland. Ich stand dabei und wurde nicht vorgestellt. Plötzlich sagte der Junge: Ich dachte eigentlich, du bist tot. Eine Frau habe es erzählt, genauer, die Schwester von Max, sie wisse schon, ihr Max, ihre große Liebe. Lulu drehte ihm den Rücken zu und steuerte den Ausgang an, ich knüllte einen Zehn-Euro-Schein, warf ihn in Gios Richtung, er liebte ja filmreife Szenen. Lulu wartete auf der anderen Straßenseite, und ich hatte ein Déjà -vu-Erlebnis, ich ging hastig über die Straße, rutschte aus und konnte mich noch fangen, vielmehr packte sie mich am Arm, und ich fand Halt. Wir werden es anders machen, sagte sie, ich begleite dich nach Hause, ich hasse Kavaliere.

Eigentlich gehe ich ungern zu Fuß, ihr zuliebe hätte ich jedoch die ganze Wegstrecke bis zur Schanze Purzelbäume geschlagen. Ich sagte, ich sei in der siebten Klasse bei dem Versuch, einen halbwegs ordentlichen Handstandüberschlag hinzubekommen, so unglücklich gestürzt, daß ich zwei Wochen lang an meinem schiefen Hals eine Halskrause tragen mußte. Lulu lachte nicht, und ich lief im Dunkeln rot an. Ich bin nicht tot, sagte sie, ich lebe noch, und … Max, ja, meine große Liebe damals, die Beziehung war ein einziger toter Kommunikationskanal, ich bin von ihm einfach nicht losgekommen, ich glaube, du kennst das. Ich kannte es nicht, ich schrieb nur Geschichten über Männer und Frauen.