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Ein großer Roman von zwei verlorenen Seelen und dem Auftauen vereister Herzen Feridun Zaimoglu bleibt den gesellschaftlichen Randgebieten und ihren Bewohnern treu. Er wendet sich dem Leben einiger Großstadtkreaturen zu, die fern von Berliner Hipness und Touristenströmen ihre eigenen Wege gehen.Isabel ist eine schöne Frau, aber nicht mehr schön und jung genug, um weiter zu modeln, und nicht anerkannt genug, um als Schauspielerin an die großen Rollen zu kommen. So arbeitet sie als Gelegenheitsdarstellerin, ist mit der Liebe am Ende, verlässt ihren Freund und beschließt, ihr Leben neu zu entwerfen. Es ist die Zeit nach den Sensationen, sie verabschiedet sich von der Lust und wählt den Weg in die Keuschheit. Nachdem es auch ihren Eltern trotz großer Anstrengungen nicht gelungen ist, ihr einen passenden Heiratskandidaten zuzuführen, trifft sie Marcus, und es beginnt die Geschichte von Isabel und dem Soldaten. Marcus ist ein Kriegsheimkehrer aus dem Kosovo-Einsatz, traumatisiert und nur daran interessiert, eine aufs Nötigste reduzierte Existenz zu führen. Ihre Begegnung verändert beider Leben und führt sie auf eine faszinierende und bedrohliche Reise in Marcus' Vergangenheit.Gewohnt sprachmächtig, dabei sehr genau in der Beobachtung und bewusst in der Verknappung, führt Zaimoglu seine Leser in eine Welt der zurückgefahrenen Lebenserwartungen, die aufgebrochen wird durch Liebe, Schmerz, Reue und Rache.
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Seitenzahl: 267
Feridun Zaimoglu
Isabel
Roman
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Für meine Schwester Belhe
Männer ohne Land. Frauen ohne Himmel. Zeit nach den Exzessen. Aufgebrauchtes, aufgesogenes Licht – Schluss.
Isabel las die Zeilen, riss den Zettel vom Block, zerknüllte ihn und steckte ihn in die Rocktasche. Kein alberner Abschiedsbrief. Sinnlos. Ihr stieg die Hitze ins Gesicht. Keine Lüge tünchen. Ratten fraßen Ratten, Liebe ging zu Ende, Liebende lagen wie glühende Leichname nebeneinander. Nach drei Jahren und zwölf Tagen war das Licht erloschen. Isabel hastete durch die Wohnung, schaute sich um: sein Hausrat, seine Siebensachen, seine Beutestücke, die er aus anderen Städten mitbrachte. Der schöne Mann, ihr gewesener Freund. Seine Sammlerwut: in den Regalen Muskelmänner, Gliederpuppen, verpackt in bunter Glanzfolie. Er hatte beim Trennungsgespräch gesagt: ›Ich weiß, es ist lächerlich. Bin erwachsen und horte Spielzeug. Arbeite hart, leiste mir Luxus. Das steckt dahinter.‹
Sie rannte in die Küche. Schnell durchsehen, nichts vergessen. Eine Haarsträhne verfing sich am Leimstreifen an der Tür des Hängeschranks. Sie riss und schnitt mit dem Messer. Ihre Locke am Fliegenfänger – das würde ihm gefallen.
Jo rief sie ins größte Zimmer. Teure Geräte, Ledersofa. Kahle pockige Wände, die Tapete hatte sie allein heruntergerissen. Der Liebhaber bezahlte die Miete, das Liebchen machte den Haushalt. Sie starrte auf die schwarze japanische Bodenmatratze, sein Geschenk für sie.
Du warst sein Haustier, sagte Jo, du passt in seine Welt wie das Schwein auf das Sofa.
Alles seins, sagte sie.
Er sieht nicht nach Geld aus. Aber die richtig reichen Leute tragen den Pelz nach innen.
Die erste Zeit war schön.
Ist es immer … Welche Schuhgröße hat er?
Fünfundvierzig.
Schade.
Ich will ihn nicht beklauen, sagte Isabel.
Dann tu ich das, sagte Jo.
Bitte nicht.
Nimm dir, was du brauchst. Plünder ihn. Er wird es verstehen.
Ich bin kein Dieb.
Ein hässliches Wort.
Sie stritten sich, sie verstand ihn: Jo war der Einzige von ihren Freunden und Bekannten, der ihr beim Umzug half. Seine Bedingung: drei Fuhren. Sie konnte ihn nicht bezahlen, er liebte teure Geschenke. Das gefüllte Glas Saft stand auf dem Tisch, er hatte es nicht angerührt.
Bald hab ich wieder Geld, sagte sie, dann darfst du dir etwas wünschen.
Wer’s glaubt.
Ich bin dir wirklich dankbar.
Weg hier, sagte Jo.
Sie schob und drückte die Matratze durch die Wohnungstür, bat Jo um etwas Geduld, machte kehrt, griff in die Werkzeugkiste, hieb mit dem Schraubenzieher in das Waschbecken. Porzellansplitter sprangen ab, einer riss die Haut ihrer Wange auf. Sie strich das Blut über Stirn und Schläfe. Seine Ersatzschlüssel warf sie in die Badewanne. Die Tür fiel hinter ihr zu.
Frag nicht, sagte sie und ging vor. Die Matratze schleifte sie hinter sich her, vier Stockwerke herunter, Jo trug zwei kleine Kisten, er pfiff gut gelaunt eine Melodie. Wahrscheinlich hatte er eine Kleinigkeit mitgehen lassen.
Sie überquerten die Straße, die Menschen blieben stehen und starrten sie an: Eine fluchende Irre zerrte an etwas, das nach einer schweren Bettdecke aussah. Sie stiegen in die Straßenbahn, der Schaffner wollte sie abweisen, Isabel sagte: Seien Sie nicht hartherzig, Sie wollen doch nicht in die Hölle kommen. Der Schaffner murmelte eine Verwünschung und fuhr los. Was glotzt ihr, dachte sie, ich bin nicht verrückt. An der dritten Haltestelle stieg sie aus. Alexanderplatz, neue Welt. Jo stellte die Kisten im Aufzug ab.
Wirst du ein braves Mädchen sein?
Was meinst du damit?
Ruf ihn nicht an.
Nein.
Es gibt blonde Männer wie Sand am Meer.
Du bist auch blond, sagte Isabel.
Ich stehe auf dunkelhäutige Männer.
Ja.
Vergiss ihn. Du wirst mir später dankbar sein für diesen Rat.
Bin dir sowieso dankbar, sagte Isabel.
Deine Freundinnen sind Schnepfen, sagte Jo, mach’s gut.
Isabel drückte auf den Knopf. Vom vierten Stock in den vierten Stock, dachte sie, alles wird besser. Sie hörte ihre Hündin an der Tür bellen, schloss auf, und Ruby sprang sie sofort an. Ihren Plastiknapf füllte sie mit Trockenfutter, dann stellte sie sich an das Panoramafenster. Fernsehturm, Kaufhaus, Hotelhochhaus. Marienkirche. Das ehemalige Staatsratsgebäude. Der Neptunbrunnen. Sie drehte sich um und sah: eine lichtdurchflutete Grabkammer. Ummauerte Luft. Das zusammengeklappte Bügelbrett auf dem Linoleumboden. Das ausgestopfte Murmeltier auf Hinterpfoten hatte sie auf das Bücherbord über dem Kopfende des Bettes gestellt. Sie rührte Sesam und Honig zur Paste, stippte Fladenbrot hinein, aß und stillte ihren Heißhunger. Dann wählte sie seine Nummer, sprach auf den Anrufbeantworter: Ich war überwältigt, es hat mich umgehauen, du musst mir schon verzeihen. Du hast bestimmt mit einem letzten Wutanfall gerechnet. Deshalb bist du ferngeblieben. Es tut mir leid. Wie immer, jedes Mal, wenn ich es nicht zurückhalten kann, entschuldige ich mich. Ich wollte nicht anrufen, ich habe es sogar Jo versprechen müssen. Ich lasse dich in Ruhe. Schön war es trotzdem, oder nicht? Doch, es war schön. Ich habe mich in dich verliebt. Das ging schnell. Die beiden Geldscheine liegen neben deinem Bett. Wenn nicht, hat sie Jo mitgenommen. Dann ruf mich bitte an, und ich sorge dafür, dass du das Geld zurückbekommst. Er wollte, dass ich dich bestehle. Ich bin aber nicht habgierig. Danke für alles. Und nichts zu danken für all das, was ich dir gab.
Sie legte auf und schämte sich. Dummer Einfall. Auf der Küchenanrichte stand ein großer Saftbeutel mit Zapfhahn. Morgentrunk. Isabel füllte ein Glas, leerte es in einem Zug. Erste Nacht, ohne Freund, das Grübeln verdarb. Berliner Zerfall: Ihr Körper funkelte und glühte. Ablenkung – sie wischte die Türklinke mit Essigwasser. Dann klebte sie an die Innenseite des Fersenriemchens ein Schaumgummistück. Jetzt hatten die Schuhe Halt. Sie war die Tochter ihrer Mutter. Was hätte sie jetzt an ihrer Stelle getan? Gewischt, geputzt, gereinigt. Isabel erinnerte sich an das Zündholzheftchen auf dem Spülkasten und an die strikte Weisung ihrer Mutter: Riecht es streng im Bad, brenne ein Streichholz ab. Schließe nicht die Augen, dachte Isabel, es ist vorbei. Ihre Hündin Ruby bohrte die Schnauze in den alten Teppich und wühlte sich schnappend hinein. Raus aus der Zelle.
Draußen: tropfender Mond. Sie ließ Ruby von der Leine, pfiff sie zurück – ihr Gebell verschreckte die Frauen. Hündin und Herrin liefen zum Club in der Unterführung. Der Türsteher winkte sie durch, er kannte ihren ehemaligen Freund, er wusste von ihrer Trennung, es war ihm egal. Fremdbenutzer zahlten eine Toilettengebühr von fünfzig Cent, darauf achtete er besonders. Und auf die jungen Perversen. Ein Stehtisch in dunkler Nische, Isabel steuerte darauf zu, Ruby an straffer Leine, nach kurzem Streit mit einem Studenten erkämpfte sie sich einen Barhocker. Ein Kellner fegte herbei, sie bestellte das billigste Getränk. Im schwachen tiefgelben Licht tanzten Frauen in glitzernden Blusen. Sie prüften ihre Ausschnitte: nicht zu tief und nicht zu hoch. Sie schwitzten die Cocktails aus. Harter Schnaps, versetzt mit süßer Frucht. Jeder starrte, Isabel kam sich nicht schäbig vor. Regentropfen klatschten gegen die Fenster, ein kurzer Schauer.
Hier drin war sie sicher vor Wind und Missstimmung. Amerikanische Schlager von gestern, nicht laut, man konnte sich unterhalten. Wasser vom Himmel versiegte. Isabel schaute: Ein Mädchen tupfte mit der Papierserviette die Spitzen ihrer Lackschuhe ab. Ihre Freundin zog sich die Lippen nach. Taumelnde Kinderkörper. Eine Frau nickte Isabel zu – wer war das? Irgendjemand aus der Kultur, irgendeine Assistentin. Sie saß mit Minderjährigen an einem Tisch. Statisten. Doch keine Minderjährigen, knapp über achtzehn, sie hatten bestimmt dem Türsteher ihre Ausweise vorzeigen müssen. In der Tischmitte ein Dreiliterglas Weißbier mit Cola, das Getränk hieß ›Neger‹, und wer es bestellte, grinste breit. Junge Trottel im Freiheitsrausch.
Isabel zählte die knallgrünen Knickstrohhalme im Glas: acht Stück. Sie saugten, sie steckten die Köpfe zusammen und saugten. Ein Junge und ein Mädchen nebeneinander, ihre Arme und Schultern berührten sich, der Junge flüsterte dem Mädchen etwas ins Ohr, es zeigte mit dem Finger auf die Tanzfläche. Er war beleidigt, er saugte. Er hielt es nicht mehr aus auf seinem Platz, erhob sich halbherzig. Niemand in der Runde, der ihn bat, zu bleiben.
Das Mädchen stand auch auf, eilte ohne Abschied zur Tanzfläche. Hohe Pfennigabsätze, rote Sohlen. Sie liebte wohl das kleine Karo auf ihren Kleidern. Eine Großbusige. Sie spielte herunter, dass es im Kampf um die Blicke der Männer ein Vorteil war. Der Junge stürmte aus dem Club.
Die entlaufene Nonne mischte sich unter die Geilen – Isabel hatte sich nicht geschminkt, sie hielt sich nicht an die Regeln der Geilen, sie würde um Mitternacht oder etwas später ihre Welt verlassen. Ihre Hündin würde keinen Männergeruch an ihr riechen. Manchmal glaubte Ruby, ihre Herrin wäre geküsst worden. Dann warf sie sich auf die Flanke, täuschte einen Krampf vor, Isabel streichelte sie am Hinterbein, der Schmerz verging. Manchmal witterte sie einen streunenden Rüden und bellte jeden und alles an. Jetzt schlief sie zu Isabels Füßen.
Aus der Dunkelheit zu ihrer Linken trat ein Mann heraus. Jung, weicher Flaum an den Wangen. Einsame Seele verhärtet. Auf der Haut an seinem Adamsapfel war die medizinische Zeichnung eines Kehlkopfs tätowiert. Hatte er den richtigen Zeitpunkt abgewartet? Ja. Hatte er es auf sie abgesehen? Ja. Er sah Isabel fest an, er wollte den Mann spielen. Die Maske, die die netten Bubenmännchen auflegten, hatte er abgenommen. Er bekannte seine Liebe zu einem Amokläufer auf seinem T-Shirt. Seine Hose hing herunter, die Poritze war zur Hälfte unbedeckt.
Du vertust deine Zeit, sagte Isabel, ich bin nur zum Schauen hier.
Es muss nicht gleich Liebe sein, sagte er.
Es muss nicht gleich das sein, was du dir erhoffst.
Ein wildfremder Mann. Ein kalter Nagel in Isabels Brust. Sie wollte später nur schlafen, ohne einen befriedigten Mann im Bett. Der Kellner stellte ein Glas Rotwein auf den Tisch, es ging aufs Haus, man hielt große Stücke auf ihren Exfreund, sie sollte davon profitieren. Der wildfremde Mann kam einen Schritt näher, sie versteifte sich, er ging wieder auf Abstand.
Er fing an zu reden, er sprach mit gepresster Stimme: Weißt du, was mein Lieblingsgeräusch ist? Mit dem Löffel in der Schüssel zu Schaum geschlagenes Eiweiß unter den Teig rühren … Die Schüssel stelle ich in den Kühlschrank. Am Abend stelle ich fest: Der Waffelteig ist zu hart geworden. Ich muss den Teig mit Sahne strecken … Ich zerbreche die Kuvertüre in kleine Brocken, lasse sie lächelnd, ja wirklich lächelnd, in einen Becher fallen und stelle den Becher in einen kleinen Topf mit heißem Wasser. Der Topf steht auf der glühenden Herdplatte. Die Schokolade schmilzt im Wasserbad …
Um Gottes willen, hör auf, sagte Isabel.
Ich dachte, es lockert dich auf.
Ein Mann mit einer brutalen Tätowierung erzählt mir von selbst gemachten Waffeln. Das gibt’s doch gar nicht.
Das Lächeln fror auf seinen Lippen ein. Er dachte nach, er grübelte über seinen nächsten Zug. Ein schön gescheitelter Junge. Um Harmlosigkeit bemüht. Enttäuscht, dass man ihm nicht den großen Zauberer ansah.
Ich bin jünger als du, sagte er.
Ja, und?
Das müsste dir doch schmeicheln.
Tut es nicht.
Dein Hund kann mich gut riechen. Sonst hätte er dich verteidigt.
Sie schläft, sagte Isabel, sie schläft und verdaut.
Bist so prüde wie ein Serviermädchen. Ich raub dir schon nicht die Unschuld.
Isabel stemmte sich dagegen. Sie durfte keine Lust empfinden. Kleine Jungs fingen Katzen und schnitten ihnen die Ohren ab, und sie lächelten nach dieser Heldentat vor Glück. In jedem Jungen steckte ein Mann. Männer sprachen von Frauengeschichten. Sie wollte keine Männergeschichten. Verbrannte Wildnis, überall. Aufgehellte Schwärze an der Wand hinter ihr: Ihr Schatten sah aus wie eine Frau in dunklen Lumpen. Es beleidigte ihn, dass sie sich abgewandt hatte – das war kein schönes Spiel mehr. Nun wollte er den Schlag nicht abmildern.
Bist außen bunt und innen grau, sagte er, das ist hier keine Trauerfeier.
Ich bin unten verstopft, sagte Isabel.
Ach ja?
Ich möchte mich nicht in die Höhe tragen lassen.
Ich könnte das schon.
Danke. Nein.
Hast du ein schweres Herz?
Nein. Ich bin aufgeräumt.
Sie hätte sagen können: Ich knirsche im Schlaf mit den Zähnen. Ich muss eine Zahnleiste tragen. Ich habe sie verloren. Isabel dachte: Niemand dankt es mir, dass ich aus Rücksicht auf den Boden oder himmelaufwärts blicke – ich will keine bösen Schläfer wecken. Die Hündin streckte sich, sie kraulte sie zwischen den Ohren. Der Junge hatte aufgegeben. Isabel sah ihn bei einer verschwitzten Frau stehen, die ihre Haare in Ordnung brachte. Sie lachte ihn an, sie ermutigte ihn. Keine zehn Minuten später verzogen sie sich in einen uneinsehbaren Winkel.
Es dauerte nicht lange, bis sie wieder auftauchten. Die Frau war bereit, sie war einverstanden. Drogengeilheit. Die beiden verließen den Club. Auch Ruby zerrte an der Leine, es reichte ihr, es reichte Isabel. Kälte nach dem Regen. Die Hündin kannte den Weg und führte die Herrin zum Monbijoupark. Vertropfter Mond, blasse Scheibe in der Höh. Isabel starrte hoch, folgte dem kleinen Tier, das anderer Tiere Duftmarken erschnüffelte. Dort hinter den Büschen rissen sie sich auf, seine Hände unter ihrem Pullover, sie saß mit nacktem Unterleib auf seinem Schoß. Isabel eilte weiter, bis sie einen Polizisten entdeckte.
Hallo, Sie!
Was? Haben Sie sich an mich angeschlichen?
Nein. Ich will einen Verstoß melden.
Der Polizist schaute sie genauer an – es gab viele frei laufende Irre in Berlin, in allen Bezirken, sie machten sich einen Spaß daraus, Gesetzestreue vorzugaukeln. Diese Frau war angespannt, er kam zu dem Schluss, dass von ihr keine Gefahr drohte. Ihr Hund nagte an Grashalmen. Worum geht’s?, sagte er.
Sex in der Öffentlichkeit, sagte Isabel.
Und wie weiter?
Ich führ Sie hin. Sie treiben es hier im Park.
Haben Sie sie beobachtet?
Isabel verstand – der Polizist hielt sie für eine Abartige. Sie musste aufpassen, sie musste sich zügeln. Ihre Hände in den Manteltaschen machten ihn nervös. War er von einem verrückten Menschen angefallen worden? Fast hätte sie ihn gefragt, ob ihn die Schlechtigkeit der Menschen niederdrückte. Sie schüttelte den Kopf, er verspannte sich, als erwartete er einen Angriff.
Ich gehe nur spazieren, sagte Isabel, ich bin nicht diejenige, die Sie festnehmen müssen.
Und wen sollte ich stattdessen festnehmen?
Kommen Sie doch einfach mit.
Was dann?
Dann sehen Sie es mit eigenen Augen.
Gehen Sie bitte weiter, sagte er.
Öffentliche Unzucht ist doch strafbar.
Sie wollen sich Ärger einhandeln.
Nein.
Also: Ich fordere Sie auf, Ihren Spaziergang fortzusetzen. Haben Sie mich verstanden?
Wie feige, flüsterte Isabel.
Wie war das?
Nichts. Genießen Sie den Mondschein.
Sie trat wieder in die Dunkelheit – sie wusste, er würde ihr hinterherstarren, unschlüssig darüber, ob es richtig gewesen war, sie wegzuschicken. Rauschen in ihrem Kopf, der Zorn. Ein Pfiff, Ruby rannte davon. Dort stand sie: Helga, die Flaschenpflückerin. Kaum trat Isabel näher, fing sie an zu sprechen.
Bin hier geboren. Bin gar nicht weggekommen. Ich geh hühnerblind durch die Straßen. Ich erkenn die Leute nicht. Ich muss angeredet werden. Ich weiß nicht, wie viel der Kaffee kostet.
Es kostet Geld, sagte Isabel.
Ja, Geld, sagte Helga.
Darin kannte sie sich aus. Für eine gute Pfandflasche bekam sie fünfzehn oder fünfundzwanzig Cent, für Bierflaschen bloß acht. Vier Flaschen machten einen Euro. Sie trug schwer an den Tüten, es kam ihr nicht in den Sinn, sie abzusetzen. Das beladene Gespenst. Sie wog nicht mehr als fünfzig Kilo, war wohl nicht schwerer als ein prall gefüllter dicker Männerbauch.
Ich habe mich gerade bei einem Polizisten beschwert, weil ein Pärchen es miteinander treibt – gleich hier in der Nähe.
Bist dumm, sagte Helga.
Bin ich nicht.
Helga ging los, Isabel hinterher. Sie wollte ihr eine Tüte abnehmen, doch Helga stieß ihr leicht den Ellenbogen in die Seite. Diese leeren Flaschen waren ihr Besitz, keiner hatte ein Anrecht darauf.
Hab Bucheckern gefressen, rief sie, hab’s für Schweinefett gemacht.
Ich verstehe nicht, sagte Isabel.
Als junge Dame kamst du her. Glaubst, alles ist abenteuerlich. Alles schick. Berlin ist das armseligste Zuhause.
Ich führ kein leichtes Leben, sagte Isabel.
Dumm, sagte Helga, hab Trümmerschutt gekarrt. Hab Haare geschnitten. Hab rasiert und frisiert. Hab Kindernasen geputzt. Fußnägel geknipst. Für zwei Kartoffeln. Hat alles nicht geholfen.
Wann?
Tausend Tode. Tausend Männer, tausend Frauen, tausend Kinder tot. Trichter voll mit Blut und Schlacke. Fiel im Hagel der Tod vom Himmel herab.
Der Krieg?
Kriegsende, die letzten Tage. In die Bombenkrater haben wir die Leichen reingeworfen. Leichen einzeln, Leichen in Haufen. Tote begraben? Keine Zeit. Nächstenliebe? Keine Zeit. Es hieß nur: Seuche. Arische Mädchen haben angebändelt mit den siegreichen Soldaten. Flittchen. War selbst eins. Für Mehl, Butter, Zucker, Speck, Kaffee hab ich’s gemacht. Für Hopfenbrause, für Milchsuppe mit Vanille. Für Damenstrümpfe mit Naht. Für ’ne Ami-Zigarette. Für gefälschte Lebensmittelkarten. Der Schieber. Der Schnapsbrenner. Der Russ, der Franzos, das Albino – hab sie alle gekost. Hatte glatte Haut, zum Streicheln schön …
Isabel hörte nicht mehr hin. Helga stapfte in gelöcherten Gärtnergaloschen durch die dunklen Straßen. Die spärliche Habe steckte im Zugschnurbeutel, er stieß bei jedem Schritt gegen den Steiß. Sie erzählte von den groben und weichen Händen der Männer, sie sprang von einem Jahr zum nächsten: Sie nahm Brot von Fremden an, und die Fremden wollten nach dem vielen Schießen und Lärmen getröstet werden.
Ich spür, wenn jemand die Augen verdreht, rief sie, ich hab eine Tochter erzogen. Ich weiß, wenn ein Mädchen hinter meinem Rücken Grimassen schneidet.
Hab nix gemacht, sagte Isabel.
Lügen tust du schlecht.
Wo gehen wir hin?
Ich trag doch nicht Sand zum Strand!
Ist ja gut, Helga.
Sie fluchte, sie knurrte, sie schrie. Isabel schwieg, wartete ab. Die Flaschenpflückerin hatte nicht gern Menschen um sich. Man musste ihr die Zeit lassen, die sie brauchte, um sich zu gewöhnen. Das Dunkel verblasste, Morgendämmerung. Die Hündin war müde vom langen Auslauf. Helga führte sie über Schleichwege zur Armenhilfe in der Parochialkirche. Die Wohlfahrt verteilte Gaben, und die Armen kamen in Scharen.
Sie wurden eingelassen, man kannte sie gut. Sie stiegen in den Keller. Knochige, bärtige alte Kerle. Mütter. Dicke Frauen in viel zu großen Kleidern. Unbrauchbar gemachte. Gelbe Zähne, schwarzer Kragen. Ein wilder Wind fegte durch ihre Tagträume. Für keinen Menschen im Saal war es unwürdig, mit der Bettlerschale herumzugehen. Jetzt hatten sie Pause. Jetzt saßen sie an gedeckten Tischen und aßen wie Maden pickende Vögel.
Isabel hakte sich bei der erstarrten Helga unter, geleitete sie zum Tisch mit zwei freien Plätzen. Ruby leinte sie an, wickelte die Leine um das Stuhlbein. Die Ausgabehelferin bedachte sie mit einem strengen Blick – jeder Verstoß gegen die Hausordnung wurde geahndet. Isabel durfte nicht an ihren Hunger denken, sie musste lauschen. Der Pastor erzählte eine Geschichte über Zwillinge: Die Zwillingsschwestern unterhalten sich im Mutterbauch. Die eine Schwester sagt: Uns geht es hier gut. Wieso sollen wir weggehen? Es gibt sonst nichts. Die andere Schwester sagt: Das kann nicht alles sein. Das eigentliche Leben kommt noch … Gesenkte Häupter, neben dem Teller ruhende Hände. Erst stirbt der Mensch, dann erwacht er im Jenseits. Der Pastor beendete die Predigt, er wünschte allen Gottes Schutz und gesegneten Appetit. Endlich essen. Keiner, der nicht die Serviette entfaltete und sie auf den Schoß legte. Jeder zog den Kopf ein. Kuchen, Kaffee. Die Helferin kam an den Tisch und gab die Erlaubnis, die restlichen Kuchen einzupacken. Der Mann neben Isabel fing sofort an, die Kuchen in eine Tüte zu stopfen. Mensch, Helga, tu mir den Gefallen und iss was.
Bin satt.
Bist du nicht, sagte Isabel.
Helga holte aus ihrem Beutel altes Brot heraus, nagte lustlos daran. Dann gab sie es auf und legte das Brot auf den großen Kuchenteller. Die junge Mutter am Tisch griff sofort danach, die heftige Bewegung weckte den Säugling auf ihrem Schoß. Helga packte ihre Tüten, ging zum Rauchen vor die Tür.
Sie wollen schlauer sein als wir?, sagte Isabel.
Wieso?, sagte der Mann.
Packen Sie die Kuchenstücke aus der Tüte. Sie haben alles eingestrichen.
Ist genug da.
Tun Sie das jetzt, damit Sie nicht als Arschloch vor Gott treten. Sie bessern sich lieber, bevor Sie sterben.
Was regst du dich auf?, sagte die junge Mutter.
Er wiegt doppelt so viel wie Helga.
Das ist für meine Enkelkinder, sagte der Mann, ich frier die Kuchen ein.
Du kannst Helga ja deinen Anteil abgeben, sagte die Mutter.
Zünd nicht unser Haus, zünd anderer Sünder Häuser an, flüsterte Isabel, ihr sitzt im Gotteshaus und stimmt böse Gebete an. Ihr würdet Helga in Streifen schneiden, weil ihr immer fressen wollt.
Du bist selber gierig, sagte die Mutter, du hängst dich an sie, weil es bei ihr was zu holen gibt.
Wer hat gerade Helgas Brot geklaut?
Schimmliges Brot – sie hat es weggeworfen.
Die Flaschenpflückerin hatte es sich wohl anders überlegt, sie kam zurück, nahm Platz, starrte, spielte mit der Tischtuchfalte.
Willst du Kuchen?, sagte der Mann.
Nein.
Mensch, was fragen Sie. Natürlich will sie Kuchen. Morgen zum Frühstück.
Sie kann doch für sich sprechen, sagte die Mutter.
Wenn du ihr das Brot nicht zurückgibst, lass ich dir den Himmel auf den Kopf stürzen.
Du musst zum Kopfdoktor, sagte sie.
Ich mache keine Stöße in die Luft, rief Isabel, jeder Schlag trifft.
Der Pastor erteilt dir Hausverbot, sagte die Mutter, ich muss ihm nur verraten, dass du mich bedroht hast. Es gibt sogar Zeugen.
Petzer, Petzer ging zum Laden/wollt für ’n Sechser Käse haben/Käse, Käse gab es nicht/Petzen, petzen darf man nicht. Helga summte leise vor sich hin. Sang mit Kinderstimme die Strophe zu Ende.
Eine wahre Christin. Aß wenig, sie brauchte fast nichts. Sammelte Pfandflaschen. Man sagte über sie: schwach, grimmige Teufelin, schlechte Zähne. Isabel tat sie leid. Isabel tat der Mann leid, den sie hart angefasst hatte. Ein müder Mensch, der an manchen Tagen sein Gesicht im Topflappen vergrub. Der bei lauter Ausländermusik vor der Kirche Verwünschungen ausstieß. Nun wandte er sich ab, und auch die junge Mutter war besänftigt. Jeder behielt ein Stück der kümmerlichen Beute, die Ausgabehelferin musste nicht einschreiten.
Die Hündin wurde unruhig, Isabel beugte sich vor und kratzte sie am Fellwirbel am Hals. Der Mann schaute an Isabel vorbei, räumte seinen Platz für einen Neuankömmling.
Der Pastor hatte auf Christines Ankunft gewartet, er brachte ihr einen vollen Teller: Das galt als große Ehre – warmes Essen aus der Hand des Hausherrn. Handtellergroßes Fleisch. Pfifferlinge, die zwischen Christines Zähnen knirschten, als sie aß. Alle Blicke ruhten auf ihr, sie legte die Gabel weg und rieb am zerkratzten Glas ihrer Uhr. Sie würde bis auf den letzten Bissen aufessen müssen. Wer einen Anstandsrest übrig ließ, galt als verkommen.
Entweder habe ich seit gestern drei Kilo abgenommen, oder das Kleid ist ausgeleiert.
Das Kleid steht dir gut, sagte Isabel.
Die Farben sind ausgewaschen. Hab es schon lange.
Farben dürfen diese Saison nicht leuchten, sagte Isabel, das steht im Modemagazin.
Ja.
Blau, Rot, Gelb – darf man alles tragen. Glitzern darf die Schminke, nicht die Farbe der Kleider … Wie geht’s dir?
Na ja.
Dein Essen wird kalt, sagte die junge Mutter.
Braucht dich nicht zu kümmern, rief Isabel.
Ich kann mich auch umsetzen, sagte Christine.
Nein, bleib. Wir werden uns gut benehmen. Kommst du sonst zurecht?
Wie soll das gehen? Ist eh alles vorbei.
Solang du dich an sie erinnerst, lebt ihre Seele, sagte Isabel.
Christine begann, das Fleisch in mundgerechte Häppchen zu schneiden. Es war die Zeit nach der Schneeschmelze. Die Toten hatte man begraben, die Lebenden sprachen über die Toten. Sie nahm nur widerwillig Trost an. Ihre Tochter war tot. Natürlich hatte sie der Heiterkeit abgeschworen. Wenn sie jenseits des Lebens ist, dachte Isabel, sollte sie sich einen leichten Schnitt, viele kleine Schnitte, zufügen. Oder sie sollte einen Mann bitten, sie in den Arm zu kneifen. Das gibt blaue Flecken, aber sie erwacht.
Isabel ging ohne Hund hinaus ins Freie, rauchte eine Zigarette. Sie starrte auf den Baum mit dem abgeknickten Zweig, von dem der nachlassende Regen abtropfte. Müde vom Laufen, müde vom Sprechen. Sie schaltete ihr Mobiltelefon ein, vier Nachrichten von ihrer Mutter Derya, alle von gestern. Später lesen, nicht jetzt. Zurück am Tisch, Hund wedelte sie an.
Ist Schluss mit deinem Freund?, sagte Christine.
Ja. Das Ende war schlecht.
Hängst du noch an ihm?
Ich darf nicht jammern, sagte Isabel.
Der eine geht, der andere kommt.
Die Kerle, sagte Isabel.
Gibt es einen Nachfolger?
Es gibt eine Nachfolgerin.
Wie? … Ach so. Dann hat er sie sich angelacht, als er noch mit dir zusammen war.
Wahrscheinlich.
Du wirst schon sehen, sagte Christine, es werden dich viele anschmachten. Bist eine Fesche.
Ich will damit nix mehr zu tun haben.
Bin den Vater meines Kindes auch losgeworden, sagte die junge Mutter, er hatte Augen nur für mich. Dann wurde ich schwanger, und aus war’s.
Du kommst schon über die Runden, sagte Isabel und schämte sich. Durchhalten, standhalten – so sprachen die Prediger mit den wässrigen Augen.
Ich habe eine Idee. Aber du musst versprechen, dass du einwilligst.
Kann ich nicht, sagte Christine.
Wir machen einen Wohnungstausch. Du ziehst bei mir ein, ich ziehe bei dir ein. Wie in alten Zeiten.
Die gibt’s nicht mehr, die alten Zeiten.
Nur zwei Tage. Du machst Urlaub.
Bist doch erst eingezogen, sagte Christine.
Und ich habe fast nichts ausgepackt. Ein unmöbliertes großes Zimmer. Man hat einen tollen Ausblick.
Wo?
Alex. Weißt du doch.
Das bringt doch alles nichts.
Hör auf sie, sagte Helga, sei keine blöde Kuh.
Die Frauen am Tisch erstarrten. Bei der Armenhilfe, bei den Armen, hieß es: Die Flaschenpflückerin lässt man am besten in Ruhe, sie ist ungesellig, und wenn man sie bedrängt, kann sie einem schnell eine Flasche über den Kopf ziehen.
Da hörst du’s. Das wird dir guttun.
Und die Nachbarn?, sagte Christine, die denken doch: Die Neue schleppt gleich die ganze Sippe an.
Seit wann kümmern wir uns um das, was die Leute reden, sagte Isabel.
Ist auch wahr.
Ich warne dich vor, sagte Christine, aus den Schwulen sind gesetzte Herren geworden.
Spießer?
Ja, Spießer. Die glauben, Mode ist das Leben. Stecken sich dann auch noch einen Ehering an.
Gepuderte Heterosexuelle, sagte Isabel.
Nicht wirklich. Aber fast.
War ja öfter bei dir in Schöneberg – wann war’s das letzte Mal?
Egal, sagte Christine.
Isabel bemerkte ihren Fehler. Das letzte Mal war kurz vor Juliettes Tod gewesen. Der Wohnungstausch: das Mädchenspiel, das schöne Geheimnis von Isabel und Juliette. Erst später hatten sie Christine als dritten Spieler zugelassen. Juliette starb, die Mutter zog in die Wohnung ihrer Tochter.
Gleich morgen, ja?
Ich klingele bei dir Punkt zehn Uhr früh, sagte Christine.
Aufbruch. Längerer Aufenthalt wurde nicht geduldet. Die Flaschenpflückerin war fort. Spuk, Seele, hinausgewehter Geist. Die junge Mutter wollte weiterziehen, sie bat um Begleitung. Es gab bei der Treberhilfe NuGuGu: Nudeln, Gulasch, Gurkensalat. Es schlossen sich zwei Frauen an. Der Pastor entließ die Halbsatten mit Händedruck und Lächeln. Im leichten Regen strebte Isabel nach Hause. Es war im Himmel beschlossen, dass den Frauen die Seele aus dem Mund entwich. Die Männer – sie wusste nicht, aus welchem Loch sie ausströmten. Sie atmeten durch die Nase, wenn sie starben, ein letztes Mal. Sie hatte keinem Menschen beim Sterben zugesehen, sie lebte sich allein lustig.
Allein im Hauseingang. Allein im Aufzug. Allein im Etagenflur. Schnell rein, Tür zu, abschließen, Riegel vorschieben, horchen. Keine Schritte. Der Vormieter hatte ihr die Gardinen überlassen. Sie waren vergilbt und am Saum zerfranst. Ihr gewesener Freund wollte, dass sie ihn als guten Mann in Erinnerung behielt. Über gemeinsame Bekannte erfuhr er doch von ihrer neuen Adresse, kaufte für sie einen kleinen Kühlschrank, eine Waschmaschine, Töpfe und Pfannen. Sagte zu Isabel: Eine Woche musst du ohne Geräte auskommen. Dann werden sie geliefert.
Sie füllte den Napf, sah der Hündin beim Aufknacken des Röhrenknochens zu. Sie zupfte das Weiche aus einem Laib Brot, knetete es zu losen Kugeln. Die Rinde würde sie in Wasser einweichen und in das Hundefutter hineinwalken. Sie dachte: Hier ist es auch möglich. Auch hier werden sie meinem Ruf folgen.
Sie öffnete das große Fenster, legte die Brotkugeln auf den Sims, schloss das Fenster, ging zwei Schritte zurück. Warten. Da. Die erste Möwe flog herbei, landete hart, flappender Flügel strich übers Fensterglas. Zweite Möwe. Mehr Möwen. Ein Hacken und Schreien. Rotgelbe Schnäbel. Dunkle Knopfaugen im schmutzweißen Gefieder. Wer war die Stärkste, wer kämpfte sich frei, wer pickte mehr Kugeln, wer fraß sich fett? Isabel wählte einen windschnittigen Vogel zu ihrem Favoriten. Er wurde von einer schlankeren Möwe aus dem Spiel gehackt. Alles weg, der Sims blank gepickt. Die Vögel flogen in den grauen Himmel. Das Telefon schrillte, sie zuckte zusammen. Erst verbot sie Ruby das Bellen, dann drückte sie auf die Annahmetaste.
Hallo, Mutter.
Warum hast du nicht zurückgeschrieben?
Hatte zu tun. Der Umzug.
Hast du dein Eigentum behalten?
Bis auf die letzte Haarnadel.
Er ließ dich ziehen. Einfach so.
Ich bekomme Abschiedsgeschenke, Mutter.
Das ist ehrenvoll. Du hast ihn uns vorgestellt. Er gab mir einen Handkuss. Das hat mir geschmeichelt. Ein guter Mann.
Ja. Leider, sagte Isabel.
Du liebst ihn noch.
Mit der Zeit verblasst sein Bild, da bin ich mir sicher.
Ich schätze dich, sagte ihre Mutter, du hurst dich nicht durch die Betten. Das gilt in unserer Zeit ja als besonders modern.
Ich bin nur ich. Nicht modern und nicht von gestern.
In unserem Haus im ersten Stock wohnt eine recht einfältige Frau. Diese Frau kann kein Geheimnis für sich behalten. Frag sie nach der Farbe ihrer Unterhose, und sie wird es dir verraten. Verstehst du?
Nein, sagte Isabel.
Ruby hatte sich im Körbchen eingerollt, biss sanft in ihren Stummelschwanz, leckte ihr glänzendes schwarzes Fell. Sie legte ihren Kopf zwischen die Pfoten, schloss die Augen.
Ihre Mutter sagte: Sehr oft und sehr leicht geschieht es, dass Männer die Ehrbarkeit der Frauen in Zweifel ziehen. Es ist ein Zuhälterzeitalter. Sex: Hose auf, in dreißig Sekunden fertig …Verzeih meine Offenheit.
Ich verstehe. Eine Freundin von mir – sie ging mit einem Bluterguss am Hals zur Arbeit.
Was arbeitet sie?
Sie macht Kundenbetreuung am Schalter einer Bank, sagte Isabel.
Gut, weiter.
Also die Freundin. Ihr Freund hat sie stürmisch umarmt.
Eher heftig geküsst, sagte ihre Mutter belustigt.
Du kicherst, sagte Isabel.
Das ist das Rauschen in der Leitung. Weiter.
Ihre Kollegen haben sie aufgezogen. Eine Kollegin hat sie gefragt, ob sie sich das Staubsaugerrohr an den Hals gehalten habe.
Böse Menschen.
Die Frau wollte sich nur wichtigmachen.
Kann sein. Ich habe die Fotos von deinem Hund erhalten.
Hündin, sagte Isabel.
Der Hund fängt auf Kniehöhe an, sagte ihre Mutter, du hast dir eine kläffende Katze zugelegt.
Sie ist mir treu. Sie schützt mich.
In jedem Haus wird die Zwiebel anders zerhackt.
Sie sprachen noch eine Weile. Wäre es Nacht gewesen, hätte Isabel gelegentlich gegähnt, und ihre Mutter hätte verstanden. Sie musste schlafen, also gab sie sich einsilbig, das Gespräch erstarb, sie versprach, keine Tabletten einzunehmen. Ihre Mutter glaubte, Pillenschlucken wäre chemische Trunksucht. Isabel wünschte gute Nacht, verbesserte sich, wünschte einen schönen Tag.
Sie gehörte nicht zu denen, die überzeugt davon waren, dass sie ihre Mutter an Klugheit übertrumpften. Isabel könnte ihre Mutter belächeln wegen der altmodischen Worte, die sie benutzte, aber sie tat es nicht – sie liebte diese ehrwürdige, störrische Dame. Das Böse steckte in allen – diese Überzeugung hatte sie ihrer Tochter eingehämmert. Sie erteilte oft ungefragt Ratschläge. Aber sie wedelte den dunklen Nebel in Fetzen. Große Fußstapfen, die Isabel ausfüllen sollte.
Die Hoffnung der Mutter: Isabel, der Spätgeburt, der Spätberufenen, würde es später, als ihr eigentlich zustand, gelingen. Sie verzögerte den Erfolg, das war der Vorwurf ihrer Mutter. Kampfhärte, das war die Forderung ihrer Mutter. Mit Glückslosen lockte man die Glücklosen von den Bäumen.
Der Kühlschrankkompressor machte Geräusche. Das Hündchen sprang auf das Fußende des Bettes. Es hatte sich hochgearbeitet, es durfte bei der Herrin schlafen. Licht aus. Im Traum stand Isabel im Zwielicht, hinter ihr Rankengewirr. Jemand, den sie nicht deutlich erkennen konnte, sprach mit verstellter Stimme. Dieser Jemand entfernte sich in Richtung einer brennenden Asphaltstraße. Der Widerschein des Feuers ein züngelnder Schatten. Isabel schrak auf, das Tageslicht verwirrte sie. Schlafende Hündin mit bebender Flanke. Sie sank wieder in den Schlaf und in den Traum.