Libellenflug und Windgeflüster - Paulina Kleinsteuber - E-Book

Libellenflug und Windgeflüster E-Book

Paulina Kleinsteuber

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Beschreibung

Eine staubige Baustelle und ein kleines Rinnsal am Wegesrand, Risse in maroden Kirchenmauern oder das Kerngehäuse eines Apfels – Orte und die Dinge, die oft übersehen werden, ziehen nicht nur die Aufmerksamkeit der Missions-Benediktinerin Schwester Paulina Kleinsteuber auf sich, sondern inspirieren sie auch zu überraschenden Gedanken über Gott und das Leben. Mit klaren, wachen Worten schreibt sie über die Faszination der Schöpfung, die Verletzlichkeit des Lebens und die Suche nach Gott. Die Beobachtungen, die sie im Alltag und auf ihren Streifzügen macht, hält Sr. Paulina dabei teilweise auch in Zeichnungen fest, von denen eine Auswahl die Texte begleitet. Ein außergewöhnlicher Begleiter für alle auf der Suche nach unverbrauchten Bildern und Worten und einem neuen Blick auf die Schöpfung, den eigenen Glauben und das Leben.

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Seitenzahl: 158

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Paulina Kleinsteuber

Libellenflug und Windgeflüster

52 Fährten Gottes in der Welt

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Wenn nicht anders angegeben, so ist als deutsche Bibelübersetzung zugrunde gelegt:

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und Neuen Bundes.

Vollständige deutsche Ausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

S. 14: Genesis 28,16, zit. n. Die Schrift. Aus dem Hebräischen verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Deutsche Bibelgesellschaft 1992.

S. 59: Psalm 62,2 : Eigenübersetzung, Missions-Benediktinerinnen von Tutzing

S. 168: Psalm 29,3–5.11: ebd.

S. 109: Psalm 30, 12-13: ebd.

Illustrationen auf dem Umschlag und im Innenteil: Sr. Paulina Kleinsteuber, Tutzing

Umschlaggestaltung: Sabine Hanel, Gestaltungssaal, Rohrdorf

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN Print 978-3-451-39698-4

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83381-6

Dem Unergründlichen

Inhalt

Dank

Hinführung

Prolog

Wesenheit andernorts

Aufbruchstimmung

Vom Reisen

Social Media

Mauerblümchen

Sakralraumgeflüster

Versandet

Spinnerei

Schatztruhe

Zwielicht

Phos Hilaron

Gewässer

Raue Zeiten

Stephan

Furchen

Abstieg

Vergittert

Der Notnagel

Scheinheilig

Entwicklungshelfer

Lebensräume

Laboratorium

Im Dazwischen

Gelbe Karte

Treibholz

Staub

HochZeit

Strom

Aus den Fugen geraten

Alltagsmosaik

Paradiesisch

Schlichter Glanz

Tanzstunde

Gewichtig

Elterlicher Halt

Erbauliche Baustelle

Kunststücke

Wagnis?

Röhricht

Fixateur externe

Vom Verlieren der Fassung

Maskerade

Ausgeschöpft?

Tohuwabohu – Erster Tag

Der Nabel der Welt – Zweiter Tag

Atem – Dritter Tag

In der Schlucht – Vierter Tag

Gewimmel – Fünfter Tag

Der zweite Blick – Sechster Tag

Die Welt im Tau – Siebter Tag

Draußen zu Hause

Die Herbstzeitlosen

Nebulös

Aufbäumen

Fährtenlese mit Gefährten

Bedrohte Arten

In der Fremde

Der Klang der Stille

Wege

Zum Verzehr bestimmt

Flüchtigkeit

Rundschau

Zur Neige

Epilog

Im Spiegel

Die Fährten im Kirchenjahr

Bibelstellenverzeichnis

Die Autorin

Dank

Im Allgemeinen steht am Ende eines Buches die Danksagung. Auch für dieses Buch sind dies die letzten Zeilen, die geschrieben werden, aber ich möchte sie an den Anfang stellen; in Anklang an unser klösterliches Stundengebet. Wir starten in den Tag mit den Laudes, dem Morgenlob. Ganz entgegen der alten Weisheit, man solle den Tag nicht vor dem Abend loben, stehen bei uns am Beginn jedes Morgens Lob und Dank. Warum also nicht auch am Beginn dieses Büchleins?

So möchte ich Dank sagen Johanna, Stephan und Simon vom Verlag Herder für das lebendige Miteinanderunterwegssein und allen, die verlagsseitig im Hintergrund mitgewirkt haben (irgendjemand muss ja auch die kaputten Glühbirnen austauschen, die Abrechnungen tätigen und die vielen Seiten formatieren ...).

Ich danke allen, die meinen Weg während der Entstehungsgeschichte des Buches begleitet haben, allen, die sich in einem der Texte wiederfinden und an gemeinsame Momente erinnert fühlen. Von Herzen danke ich meinen Testleserinnen und allen, die mich unterstützt und mir den Rücken gestärkt haben.

Ihnen, den Leserinnen und Lesern, danke ich für Ihre Offenheit und Bereitschaft, auf ungewohnten Pfaden den Geist dessen auf sich wirken zu lassen, dem selbstredend der erste und letzte Dank gehört: dem unergründlichen GoTT.

Hinführung

Religiosität ist im Wandel. Wir spüren deutlich, dass vertraute Gepflogenheiten, Denkmuster und Sprachbilder der kirchlichen Welt zunehmend angefragt und hinterfragt werden und sich zugleich spirituell hungrige Menschen geistlich nicht ausreichend genährt fühlen. Während sich eine große Weltinstitution wie die Kirche eher schwerfällig reformiert, spricht im Blick auf unser eigenes Glaubensleben nichts gegen beständige Erneuerung, flexible und kreative Nahrungssuche. Wir selbst sind gefragt, neben den hier und da ausgetretenen Pfaden unserer tradierten Religiosität offenen Herzens auf Entdeckungsreise durchs Leben zu gehen. Schauen wir in die Heilige Schrift, stellen wir fest, dass GoTT den Menschen immer und überall begegnete – bereits zu Zeiten des Alten Bundes und menschgeworden konkretisiert in Jesus Christus. ER tritt ins Leben der Menschen. Nicht nur in der Synagoge, auch während der Arbeit, beim täglichen Mahl und beim Feiern, in der Stille auf dem Berg wie auch im Getümmel zwischen den Leuten, beim Gang über die Felder oder am Brunnen vor dem Stadttor, selbst auf dem Weg zur geplanten Steinigung und in Zeiten von Verzweiflung und Fassungslosigkeit. GoTT taucht überall auf und bleibt dennoch unverfügbar und rätselhaft. Dieses Büchlein liest Fährten, die GoTT in unserer Welt hinterlässt.

Die Texte in ihrer charakterlichen Unterschiedlichkeit von unbeschwert fröhlich über nachdenklich melancholisch bis analytisch-kritisch können in ihrer 52-Zahl durchaus als wöchentliche Begleiter durch den Jahreskreis gelesen werden. Die Zusammenstellung und Reihenfolge der Fährten lehnen sich an den geprägten Zeiten des Kirchenjahres und den Verlauf der Jahreszeiten an. Für manche Texte wäre auch ein anderer Platz passend, wenn man den Festkreis des Kirchenjahres zu Grunde legt. Ein Verzeichnis am Ende des Buches schenkt eine Übersicht und Platz, eigene Entdeckungen zu vermerken.

In erster Linie ist das Buch jedoch eine Einladung an Sie, liebe Leserinnen und Leser, auf Ihre eigene, ganz persönliche Spurensuche nach dem immer Anderen zu gehen und sich dabei selbst finden zu lassen.

Wesenheit andernorts

Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sprach: So denn, ER west an diesem Ort, und ich, ich wusste es nicht. Er erschauerte und sprach: Wie schauerlich ist dieser Ort!

Dies ist kein andres als ein Haus Gottes, und dies ist das Tor des Himmels.

Genesis 28,16

Auf nacktem Boden, an unbequemer und unerwarteter Stelle widerfährt Jakob die Wesenheit Gottes. Nicht nur ihm.

Auch uns.

Denn ER west allenorts! ER ist nicht einfach nur da, ER ist mehr als präsent, mehr als lebend.

ER agiert mit SEINEM ganzen Wesen:

Vibrierend im flauen Magen bei der Arbeit auf einer hohen Leiter.

Geschichtenerzählend im raunenden Quellwasser.

Schmerzhaft fragend im Angesicht des Todes.

Lockend im Farbenspiel eines zusammengefegten Scherbenhaufens.

Auf und ab tanzend mit den Staubkörnern, wenn der erste Sonnenstrahl durchs Fenster streift.

Singend mit dem Wind, der plötzlich in Böen durch die tautriefenden Gräser huscht.

Schmeckend nach Leben im erdigen Aroma herbstlicher Blätterhaufen.

Duftend im würzigen Wohlgeruch eines Regenschauers auf ausgetrocknetem Boden.

SEINE Präsenz ist erspürbar. Im Dasein und im Fernsein, in SEINER ganzen (An- und Ab-)Wesenheit.

Aufbruchstimmung

Erste Fährte

Vom Reisen

Als du jung warst, hast du dich selbst gegürtet und bist gegangen, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst.

Johannes 21,18

Wir gehen im Leben auf vielerlei Reisen. Innere wie äußere. Oft machen wir uns aus eigenem Antrieb auf den Weg, aus Freude, aus Interesse und Lust am Neuen, aus beruflichen Gründen oder um Besorgungen zu erledigen. Manchmal werden wir auf eine Reise geschickt, zu der wir aus eigenem Entschluss nie aufgebrochen wären. Unsere Familie, unser soziales Umfeld, die Arbeitgeber, die Ordensoberen, sie muten uns manch ungelegene Aussendung zu, innerlich wie äußerlich. Blickt man in die Welt, machen vielerorts Hunger, Vertreibung, Angst und Krieg eine Reise not-wendig. Das ganze Leben an sich ist eine Reise. Eine Reise durch die Zeit!

Eine Reise ist immer eine Bewegung hin zu etwas anderem, ein Aufbruch. Jede Reise verändert: die Reisenden, die Zurückbleibenden und auch die, denen wir während der Reise begegnen. So birgt eine Reise immer Neues, Fremdes. Sie ist ein Wagnis ins Unbekannte, welches womöglich das Vertraute in ein neues Licht tauchen wird, einen Perspektivwechsel herbeiführt. Gewollt oder ungewollt. Auf mancher Reise sehen wir selbst den vertrauten Sternenhimmel ein ganzes Stück ver-rückt: Momente, in denen man ehrfürchtig innehalten mag, denn selbst wenn die Sterne am Himmel Kopf stehen, es sind und bleiben dennoch dieselben. Wenn ich den Mond anschaue, sei es in Tutzing, in Erfurt, in Yerewan, in Mazar-e-Sharif oder in Chicago, es ist und bleibt immer derselbe Mond. Blicke ich zur selben Zeit in den Nachthimmel wie ein Mensch, der mir am Herzen liegt und gerade fern ist, sei es aufgrund räumlichen Abstandes oder innerer Unnahbarkeit, so kann ich darauf vertrauen, dass es trotz aller Distanz die gleichen Sterne sind, die wir am Firmament sehen. Ferne wird so ein Stück weit relativ.

Und wie ist es mit GoTT? Wir schauen mit je unseren eigenen Augen des Herzens auf diesen, unseren Gott: in allen Teilen unserer Erde, aus unseren verschiedenen Kulturen heraus, mit unseren unterschiedlichen Blickwinkeln. Und doch bleibt Gott GoTT, der Eine. Trotzdem fällt es uns so schwer, andere Menschen in ihrer jeweils eigenen Perspektive auf ›ihren‹ Gott schauen zu lassen, ohne deren Sicht über den Haufen werfen zu wollen oder zu meinen, es besser zu wissen. Warum nicht darauf vertrauen, dass es immer ER ist, auf den wir alle blicken? Stattdessen scheuen wir uns davor, uns probeweise in eine andere Anschauung GoTTes hineinzuwagen. Wovor haben wir Angst? Vor einem Wahrnehmen der eigenen Enge, vor einem Zugewinn an Weite? Davor, dass wir den spirituellen Halt verlieren, wenn wir erkennen, dass das, was wir als ›richtig‹ erlernt haben, womöglich nicht das einzige ›Richtig‹ ist? Davor, dass unser Glaube eine Bereicherung erfährt und sich damit wandelt?

Die Bibel ist prall gefüllt mit Reiseerfahrungen über Wege, die Glaubende gegangen sind, und die sie teilweise unfreiwillig gehen mussten. Immer wieder sind sie in Berührung mit GoTT gekommen. Immer wieder hat ER sich den Menschen offenbart. Die Formen der Anbetung, die Struktur der religiösen Gemeinschaften, sie waren immer gebunden an äußere Umstände, an die Zeichen und Erfordernisse der jeweiligen Zeit. Die Quelle der Gottesbegegnung war dabei stets die Lauterkeit des Herzens und eine tiefe Ehrfurcht vor GoTT, die Liebe zu IHM, zu unseren Nächsten, zu SEINER ganzen Schöpfung. All das hat uns auch Jesus Christus mit auf den Weg, auf unsere Reise durchs Leben gegeben, wie das Versprechen, dass diese Lebensreise mit dem Tod kein Ende hat, sondern durch den Tod hindurch Vollendung finden wird.

Die großartige Zusage einer Reise hinein in die Ewigkeit findet Platz im kleinsten Reisegepäck. Sie braucht keinen Koffer, lediglich den Herzbeutel, und sie lässt sich an keiner Sicherheitskontrolle aufhalten.

Ja, die Unwägbarkeiten, die jede Reise mit sich bringt können, verunsichern. Sie dürfen sogar verunsichern, denn sie machen uns vorsichtig, aufmerksam und empfänglich für verschiedene Eindrücke. Man kommt von einer Reise anders zurück als man aufbrach und ist dennoch derselbe Mensch. Und auch der Ort der Rückkehr, die Menschen dort, sie werden sich verändert haben und sind dennoch keine anderen.

Es bleiben Fragen: Was wird an mir geschehen? Welche Blessuren werde ich davontragen? Welche Erfahrungsschätze werde ich bergen?

Wird die Haut, in die ich zurückkehre, noch passen? Antworten darauf wird die Zeit liefern. Die Verzagtheit, die Angst davor dürfen wir in die Zusicherung GoTTes legen:

Nun aber – so spricht der Herr, dein Schöpfer, Jakob, der dich geformt hat, Israel: Fürchte dich nicht; denn ich habe dich ausgelöst und rufe dich beim Namen, mein bist du. Gehst du durchs Wasser, ich bin bei dir, durch Ströme, sie werden dich nicht überfluten. Gehst du durchs Feuer, du wirst nicht verbrennen, die Flamme wird dich nicht versengen. Denn ich, der Herr, bin dein Gott, der Heilige Israels ist dein Helfer.

(Jes 43,1–3)

Zweite Fährte

Social Media

… der Engel Gabriel (wurde) von Gott in eine Stadt in Galiläa, in eine Stadt namens Nazaret zu einer Jungfrau gesandt … Der Engel sagte zu ihr: … Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären … Heiliger Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden … Maria macht sich in diesen Tagen auf und eilte in eine Stadt im Gebirge von Judäa.

Lukas 1,26–29

Maria, sie wandert los. Allein. Als Frau in einer Männerwelt. Jung. Unverheiratet. Schwanger. Skandalös und wagemutig.

Man könnte sagen, sie sei verrückt, und läge damit ganz richtig.

Maria, sie ist spürbar ver-rückt. Im Blick auf die damaligen Konventionen, im Blick auf das, was sich so gehört, im Blick auf die Lebensprioritäten. So rückt Maria heraus aus der Vertrautheit ihrer bisherigen Normalität.

Ver-rückt mutet auch Marias Umgang mit äußeren Gefahren an. Am Wegesrand warten Raub, Mord, Misshandlung. Auch ein Absturz in unwegsamem Gelände wäre denkbar. Im Jahre 0 finden sich weder Polizeistreife noch Krankenwagen im Bergland von Judäa.

Bewegt von dem, was in ihr begonnen hat zu leben, macht sich Maria auf diesen Weg. Schickt keinen Boten, auch keine WhatsApp. Sie bricht selbst auf.

Wie, wenn nicht in echter Begegnung mit Elisabeth ließe sich für sie das Unteilbare in eine Teilhabe hineintragen? Der Preis: Aussetzung, soziale Ausgrenzung, Lebensgefahr. Und die nächsten riskanten Aufbrüche werden in Marias Leben nicht lange auf sich warten lassen. Wie teuer ist diese Begegnung mit Elisabeth! Wie kostbar und wertvoll ist dieses wahrhafte Miteinander, dieses Innehalten im Dazwischen, und wie weit weg von dem, was wir ›soziale Netzwerke‹ nennen.

Welchen Aufwand betreiben wir in unserer digitalen Welt, um Nachrichten zu ›teilen‹? Was kostet uns das? Es ist so einfach geworden. Wir überschütten uns ohne wirkliche Mühe mit Mitteilungen und sind bedroht, uns selbst damit in Belanglosigkeiten und Unverbindlichkeit zu ersticken.

Gibt es sie noch, diese Widerfahrnisse, die uns nötigen, mit ihnen schwanger zu gehen? Widerfahrnisse, die uns ganz bewusst aufbrechen lassen, weil das Herz uns drängt? Widerfahrnisse, nach denen wir, wie Maria, alles außer Acht lassen, was uns sozialer Druck und Konventionen einflüstern, wohl wissend, dass hinter der ersten steinigen Etappe gewiss die nächste Mühsal wartet?

Und wenn es diese Widerfahrnisse noch gibt, können wir sie noch wahrnehmen? Können wir den Ruf GoTTes noch wahrnehmen inmitten der aufdringlichen Informationsflut, der Alltagshektik? Es lohnt sich, diese zeitweise aufzubrechen, zu unterbrechen, damit GoTTes Ruf in uns einbrechen kann. Wie sonst kann er in uns Wohnung nehmen, uns aus der Welt verrücken lassen, damit wir IHN in diese Welt hinein- und hindurchtragen können?

Dritte Fährte

Mauerblümchen

Seht ihr dies alles? Amen, ich sage euch: Kein Stein hier wird auf dem anderen bleiben …

Matthäus 24,2

Die kleine graue Betonmauer gegenüber der alten Schmiede ist nützlich, aber wahrlich kein schöner Anblick. Man kann die Gießkannen darauf abstellen, die Heckenschere ablegen, für eine kurze Pause darauf Platz nehmen, aber sie bleibt, was sie ist: eine ordinär graue, tote, wesenlose Mauer. Bisher schien sie das jedenfalls zu sein.

Eines Morgens besucht mich eine Mitschwester am Arbeitsplatz. Ob ich kurz Zeit habe? Ich nehme mir sie und wir gehen gemeinsam durch den Garten bis zur Schmiede. »Hast du das Blümchen an der Mauer schon gesehen?« Bisher hatte ich das nicht, aber als wir um die Ecke biegen, lacht sie uns entgegen: eine prächtige Margarite, mitten in der Mauer, aus der Mauer heraus. Es ist kaum zu erkennen, wie das funktionieren kann; wo sie Halt, Nahrung und Wasser findet. Offensichtlich hat sie Möglichkeiten gefunden.

Wir freuen uns. Hier lebt etwas, lässt sich nicht unterkriegen und unterwirft sich nicht den unnachgiebigen Regeln der Betonklötze, den abdichtenden Gesetzmäßigkeiten von Verbindungsstellen toten Baumaterials. Die Pflanze bahnt sich den Weg hindurch, bricht Widerstände, will unbedingt blühen, leben. Ein Trotzdem.

Ein Trotzdem desgleichen: GoTTes Geist. Die winzigsten Lücken durchdringend, die ihm die Seele bietet, selbst in erstarrten, festgefahrenen Zeiten – wie auch einst Jesus treffend, IHN bewegend. SEINE Art zu leben hat sich aus den Fugen des Üblichen herausgeschält. Kein Stein sollte mehr auf dem anderen liegen, und das bereits vor der gegenständlichen Zerstörung des Tempels.

Das Mauerblümchen, es bricht durch, bringt Hoffnung, weist neue Wege. Es scheint uns mit Paulus sagen zu wollen:

Doch all das überwinden wir, durch den, der uns erlöst hat.

(Röm 8,37)

Kraftvoll, unbeugsam, auch eine Spur dickköpfig und doch friedlich. Ein Sinnbild für viele: für die Trümmerfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg, für die Menschen im Osten 1989, für heutige Initiativen gegen Rechtsextremismus und für die vielen Engel des Alltags. Vorbild für uns im konkreten Hier und Jetzt.

Das Mauerblümchen blüht uns vor, verheißungsvoll und mahnend zugleich, der Spur der Freude und des Lebens zu folgen, wo Verhärtung herrscht; aufzubrechen, was verharscht ist oder zu verkrusten droht; Fruchtbarkeit und Vitalität zu erschließen, wo auf dem ersten Blick Sterilität und Kargheit regiert.

In Familie, in Gesellschaft, in Gemeinschaft, in Kirche, in den überbordenden Bedrohungen unserer Zeit.

Sakralraumgeflüster

Vierte Fährte

Versandet

Bekleidet war er mit einem blutgetränkten Gewand und sein Name heißt »Das Wort Gottes«.

Offenbarung 19,13

Es ist ein großes Sandbad, in dem die Gebetskerzen brennen. Leise knistern sie vor sich hin. Ihre bernsteinfarbenen Flammen tragen die Gebete der Gläubigen durchs Dunkel. In den Sand wurden hier und da ein Schriftzug, ein Symbol oder ein Name hineingemalt. Bald sind die Zeichen im Sand verschwunden, ausgetilgt, wie die Flammen der niedergebrannten Kerzen.

Ich denke an die Geschichte aus dem Johannesevangelium, in der Jesus in den Sand schreibt. In der geschilderten Begebenheit bringen Schriftgelehrte eine Ehebrecherin zu Jesus. Sie verfolgen die Absicht, die Frau zu steinigen, berufen sich dabei auf die religiösen Gesetzesvorschriften. Gesetze, die niedergeschrieben wurden, wie Mose einst selbst die Gesetze, wie er sie im Gebet vom HERRN aufgenommen hat, in Stein eingeschrieben haben soll (Ex 35,27), nachdem er die von GoTT selbst überlieferte Ur-Version kurz nach deren Erschaffung am Berg zerschmetterte. Das eingravierte Gesetz sollte dem Volk Israel Halt und Ordnung geben, umgesetzt als feste, starre Regeln ermöglichte es allerdings auch krampfhaftes Klammern an den einzelnen Buchstaben. Noch Jahrhunderte später, als die Bundeslade mit den Gesetzestafeln längst verschwunden war, zur Zeit Jesu, gab es (und gibt es bis heute) die Tendenz des beharrlichen Festhaltens an strikten und manchmal mit dem Lauf der Zeit sinnentleerten Vorschriften. Dieses Verhaltensmuster verleiht eine Schein-Sicherheit, aus der uns Jesus herauslösen wollte.

Jesus hat uns keine Schriften hinterlassen. ER, der das Wort, der Logos selbst ist, versagte uns Menschenkindern das fixiert geschriebene Wort und sagt uns dennoch so viel mehr, als es jedes Gesetz und jede Festlegung vermag.

Alles, was wir über IHN und von IHM lesen können, ist Überlieferung, ist Üb-Ersetzung.

So können und sollen und dürfen wir uns damit, im besten Sinne des Wortes, auseinandersetzen.

Jesus schrieb Worte in den Sand.

SEIN geschriebenes Wort ist versandet, verwischt und ausgelöscht, wie die Flamme einer niedergebrannten Kerze.

Doch ER, der Logos, überdauert die Zeiten.

Unauslöschlich?!

Fünfte Fährte

Spinnerei

Er (Zachäus) wollte gern sehen, wer Jesus sei, konnte es aber nicht wegen der Volksmenge; denn er war klein von Gestalt. Da lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen.

Lukas 19,3–4

Es sind nicht nur Kinder, die gerne auf Bäume oder Gerüste klettern, auf Mauern und Felsen. Warum eigentlich? Weil das Abenteuer ruft, das Gefährliche reizvoll an den Nerven kitzelt? Weil die Dinge einfach anders ausschauen, wenn man hochsteigt und runterguckt und dieser Perspektivwechsel auch, im wahrsten Sinne des Wortes, den Horizont erweitert?

Zächaus war klar: bei seinem kleinen körperlichen Wuchs kann er nur von der Höhe des Baumes aus diesen Jesus in der Menschenmenge ausmachen.

Positions- und Perspektivwechsel sind hilfreich, manchmal wahrhaft notwendig, wenngleich mit ihnen auch immer Wagnis und Gefährdung einhergeht. So führte gar der Teufel Jesus in der Wüste nach oben, um IHM »in einem Augenblick alle Reiche der Erde«, über die ER herrschen könnte, zu präsentieren und somit in Versuchung zu führen (vgl. Lk 4,3–6). Eine Gratwanderung!