Libellenunsterblichkeit - B.E. Pfeiffer - E-Book

Libellenunsterblichkeit E-Book

B. E. Pfeiffer

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Beschreibung

Drei Monate nach den Ereignissen in Bangkok wissen Hermes und Shenan immer noch nicht, was es mit der Libellenmagie auf sich hat. Der Einzige, der ihnen bei der Lösung helfen könnte, ist Mr Bourne, doch der ist selbst für Hermes unauffindbar. Erst als ein mysteriöser Geheimbund Jagd auf den Gott und Shenan macht, taucht ihr ehemaliger Auftraggeber als Retter auf. Allerdings ist seine Hilfe nicht selbstlos, denn er hat eine weitere Aufgabe für sie. Diesmal ist ihr Ziel die Lagunenstadt Venedig. Dort bietet ihnen der Libellenzirkel Schutz, der teuer erkauft ist. Zumindest hilft er ihnen dabei, ein weiteres Artefakt zu finden. Es könnte Shenan davor bewahren, sich in der Macht, die durch ihre Adern fließt, zu verlieren: jene der Libellenunsterblichkeit.

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Der Gott der Diebe

LIBELLENUNSTERBLICHKEIT

GOTT DER DIEBE

BUCH ZWEI

B.E. PFEIFFER

Copyright © 2022 by B.E. Pfeiffer

c/o WirFinden.Es

Naß und Hellie GbR

Kirchgasse 19

65817 Eppstein

www.bepfeiffer.com

[email protected]

Umschlaggestaltung: Vivien Summer

Lektorat: Diana Steigerwald

Korrektorat: Carolin Diefenbach

Satz: Bettina Pfeiffer

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Für alle Suchenden. Auf dass Ihr Antworten findet

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

So geht es weiter …

Danksagung

Über den Autor

Bücher von B.E. Pfeiffer

KapitelEins

Eine Libelle schwebt zum Fenster herein, macht jedoch sofort wieder kehrt und fliegt in die Dunkelheit der Nacht davon. Seit Tagen sehe ich immer wieder Libellen in Shenans Nähe und bin mir unsicher, was ich davon halten soll.

Ich seufze und verschränke die Arme hinter meinem Kopf, starre an die Decke, die wie der restliche Raum von silbernem Mondlicht erhellt wird.

Es fühlt sich immer noch ungewohnt an, Shenans Schlaf zu überwachen, aber wäre ich nicht hier, würde ich mir Vorwürfe machen, falls ihr etwas zustoßen sollte. Wobei ›überwachen‹ nicht das richtige Wort ist für das, was ich hier tue. Ich liege auf dem Boden neben ihrem Bett und halte dunkle Wesen davon ab, sie im Schlaf zu töten. Wir wissen beide nur zu gut, in welcher Gefahr sie schwebt, weswegen sie es mittlerweile auch hinnimmt, dass ich mich in ihrer Wohnung aufhalte, wenn sie schläft. Anfangs hatte sie diesbezüglich ziemliche Bedenken, aber jetzt ... ja, jetzt ist irgendwie alles anders und dann auch wieder nicht. Zwischen uns liegt immer noch eine schier unüberwindbare Kluft, weil ich ein Gott bin und sie ein Mensch. Zumindest reden wir mittlerweile über das, was in Bangkok geschehen ist. Denn das konnte Shenan lange nicht.

Drei Monate liegt unsere Reise zurück. Drei Monate, in denen sich mehr und mehr Fragen wegen der Libellenmagie, die in Shenan schlummert, aufgetan haben. Drei Monate, in denen ich Mr Bourne nicht aufspüren konnte, obwohl ich alles versucht habe. Nach dem Telefonat mit ihm verschwindet jegliche Spur zu Mr Bourne. Zwar hat er für unseren Aufenthalt in dem Luxushotel und den Rückflug alle Kosten übernommen, seitdem haben wir allerdings nichts mehr von ihm gehört.

Wobei das nicht stimmt. Shenan hat am Flughafen noch einen Brief erhalten, in dem er uns anweist, so zu tun, als wäre in Bangkok nichts geschehen.

Kein Wort über das Libellenarmband, die Morde oder die Dämonen, die versucht haben, Sie zu töten, stand darin.

Erst wollte ich aus purem Trotz die ganze Geschichte an eine Zeitung verkaufen. Aber die hätten Fotos von Shenan und mir gemacht und das wäre nun wirklich nicht hilfreich gewesen. Denn mir sieht man meine Göttlichkeit durch die Flügel auf meinem Rücken und das altmodische Gewand an, das die Kamera festhält, wenn auch nur verschwommen. Und Shenan … Bei ihr wären die Libellenflügel und die Rüstung so deutlich zu sehen, als würden wir zu einem Kostümball gehen.

Also haben wir dort weitergemacht, wo wir aufgehört haben, als Museumsleiterin und Assistent. In dieser Zeit ist nichts passiert. Und wenn ich nichts sage, meine ich nichts.

Denn obwohl ich jeden Abend zu Shenan gehe und in ihrer Wohnung Wache schiebe, haben wir noch kein Wort darüber verloren, ob und was zwischen uns ist.

Aber so habe ich zumindest Zeit herauszufinden, was diese Libellenmagie mit ihr angestellt hat. Da komme ich allerdings auch nicht weiter und ich fürchte mich vor dem Moment, wenn diese Kraft wieder ausbricht und Shenan sich verwandelt. In Bangkok konnte ich sie durch einen Kuss davon befreien, aber ich merke, dass die Magie stärker wird, und zweifle daran, dass ich sie noch einmal durch einen gewöhnlichen Kuss aufhalten kann. Wenn ich doch nur herausfinden würde, wozu die Libellenartefakte wirklich genutzt wurden …

»Was machst du auf dem Boden?«, fragt eine verschlafene Stimme und reißt mich aus den Gedanken.

Ich blicke auf und betrachte Shenans müdes Gesicht. Meine göttlichen Kräfte erlauben mir, im Dunklen zu sehen. Ich weiß nicht, ob Shenan das auch kann. Aber da sie mir direkt in die Augen schaut, nehme ich es an.

»Ich habe die Couch ausprobiert und muss gestehen, der Boden ist bequemer als dieses Möbelstück«, erwidere ich, während ich aufstehe. »Auf dem Bett will ich nicht mehr sitzen.«

Sie hebt eine Augenbraue und wischt sich eine Strähne ihrer schwarzen Haare aus der Stirn. Selbst nachts trägt sie sie nicht offen, obwohl ihr das steht.

»Warum?«, will sie wissen.

Ich ringe nach einer Antwort. Warum will ich nicht so nah neben ihr sitzen? Vielleicht weil sie es ist, die mich wegstößt, und ich schon zu viel mit meinen Ängsten um sie zu tun habe, um mich auch noch auf ein gebrochenes Herz zu konzentrieren? Ich will ihr nah sein, will sie in den Armen halten. Aber ich bin nicht sicher, ob sie damit einverstanden wäre, denn sie hält mich für gewöhnlich auf Abstand. Deswegen versuche ich es mit dem, was ich am besten kann: Humor.

»Nachdem du mir fast den Bleistift auf deinem Nachttisch in den Hals gerammt hast, als du aufgewacht bist und mich nicht erkannt hast, bin ich lieber vorsichtig.« Ich grinse und hoffe, dass sie es mir abnimmt. Innerlich fühlt sich das genauso falsch an, wie auf dem Boden neben ihrem Bett zu schlafen.

»Da wusste ich auch nicht, dass du dich jede Nacht in meine Wohnung schleichst, um auf mich aufzupassen«, rechtfertigt sie sich kleinlaut. »Abgesehen davon bist du ein Gott und der Bleistift hätte dich nicht umgebracht.«

»Schmerzhaft wäre es trotzdem gewesen«, brumme ich und verschränke die Arme.

Sie seufzt und reibt sich die Schläfen.

Dann schweigen wir wieder eine Weile. So ist es immer zwischen uns, wenn wir um das eine Thema herumtänzeln, über das wir nicht sprechen wollen. Oder sie. Denn ich habe eigentlich gehofft, dass wir Fortschritte machen würden, was unsere Situation angeht. Von der Sache mit der Libellenmagie abgesehen. Denn ... ich bin in Shenan verliebt. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie auch etwas für mich empfindet.

Shenan seufzt noch einmal. »Wie soll das weitergehen, Harrison?«

Sie spricht mich immer noch mit meinem derzeitigen menschlichen Namen an. Aber offen gesagt, will ich auch nicht, dass sie mich Hermes nennt. Es würde sich falsch anfühlen, weil dieser Teil meines Daseins hinter mir liegt. Ich bin technisch gesehen zwar ein Gott, lebe aber nicht mehr wie einer.

»Was genau meinst du?«, hake ich nach und hoffe, dass sie damit unsere Beziehung meint.

Sie sieht mich einen Moment an, dann lässt sie den Kopf sinken.

»Ich kann eine bequemere Couch kaufen«, murmelt sie und streicht ihre Decke glatt. »Du kannst sie aussuchen, sie darf nur nicht zu groß sein, damit sie in meine Wohnung passt.«

»Schon in Ordnung. Der Boden ist gut genug für mich«, winke ich ab.

»Harrison«, brummt sie und sieht mich ernst an.

Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber es kommt mir vor, als wäre sie von einem türkisblauen Schimmer umgeben.

»Hör zu, das Bett ist groß«, sagt sie und sieht wieder weg. »Nicht so groß wie das in Bangkok, aber es bietet genug Platz für uns beide.«

»Hältst du das für eine gute Idee?«, unterbreche ich sie.

»Ich halte es schon für eine schlechte Idee, dass du überhaupt hier bist«, erwidert sie mit fester Stimme. »Aber ich kann dich nicht davon überzeugen, dass Orion mich beschützt.«

Bei der Erwähnung seines Namens klimpert es und eine Statue aus Gold kriecht unter dem Bett hervor. Der Wächterdämon ist uns gefolgt, als wir Thailand verlassen haben, und weicht uns seitdem nicht von der Seite. Zum Glück können gewöhnliche Menschen ihn nicht sehen, sonst würde das kleine Wesen ziemliches Aufsehen erregen. Sein Unterkörper sieht aus wie der eines Affen, während sein Oberkörper menschlich ist. Mit seinem kollektivem Bewusstsein, durch das er mit allen Dämonenwächtern verbunden ist, stellt er eine große Hilfe dar. Er weiß auf diese Art Dinge, die weder Shenan noch mir bekannt sind.

»Orion kann über dich wachen, aber wenn etwas geschieht, kann er nicht viel unternehmen, außer mich zu verständigen«, erkläre ich ruhig. »Nichts für ungut.«

»Kein Problem«, sagt der Dämon mit einem Schulterzucken. »Ich weiß, dass sich meine Kräfte nicht mit deinen messen können.« Er zuckt mit den Schultern und kriecht wieder unter das Bett, als wollte er uns nicht länger stören. Sehr anständig von ihm.

Shenan verschränkt die Arme. »Wie auch immer«, murmelt sie. »Ich finde es lächerlich, wenn du auf dem Boden liegst, obwohl hier genug Platz ist.«

Ich hebe meine Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln und denke an unsere Zeit in Thailand zurück. »Ist das auch so ein ›Wenn es die Situation erfordert, geht es klar‹-Ding?«

»Wenn es dir damit besser geht«, meint Shenan und zuckt unbeteiligt mit den Schultern.

»Mir würde es besser gehen, wenn ich wüsste, dass du keine Angst mehr vor mir hast«, flüstere ich.

Ich kann verstehen, dass es für sie seltsam ist, einem Gott gegenüberzustehen. Menschen sind es nicht mehr gewohnt, dass wir unter ihnen wandeln. Aber die furchtsamen Blicke, die sie mir zuwirft, schmerzen dennoch. Vielleicht habe ich ihr deswegen nicht gesagt, was ich vermute. Nämlich, dass sie kein gewöhnlicher Mensch mehr ist. Wobei ... Shenan war immer etwas Besonderes. Aber jetzt, nachdem sie die Libellenmagie in sich aufgenommen hat, umgibt sie eine Magie, aus der ich nicht schlau werde.

»Es ist nur«, erwidert sie und stößt den Atem aus. »Ich verstehe das alles nicht. Und ich weiß nicht, wie ich mit dir umgehen soll.« Ihre Augen suchen meine. Ihre Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern, als sie weiterspricht. »Denkst du, das alles ist für mich einfach?«

»Nein«, sage ich und fahre mir durch die Haare.

»Ich mag dich, Harrison«, haucht sie und hält meinem Blick stand. »Aber ich ...«

»Solange du mich nicht verabscheust, bin ich zufrieden.«

»Ich habe dich nie verabscheut.« Sie seufzt und klopft neben sich auf das Bett. »Würdest du jetzt bitte herkommen?«

»Oh wow«, brumme ich und verschränke die Arme. Wenn sie die Genervte spielt, bekommt sie von mir eben wieder eine schnippische Aussage. Anders kann ich darauf nicht reagieren. »Für gewöhnlich sind die Frauen etwas euphorischer, wenn sie mich in ihr Bett bitten.«

Shenan verzieht den Mund. »Ja, das habe ich mehr als einmal mitbekommen.«

Ich hebe meine Schultern bis zu den Ohren. »Es ist nicht meine Schuld. Das ist meine göttliche Anziehung. Gegen die ausgerechnet du immun bist. Schon ziemlich unpraktisch.«

»Ich dachte, das hätte mich davor bewahrt, Dionysos sabbernd zu folgen oder Heshen dabei zu helfen, die Magie des Armbands an seinen Gebieter zu schicken«, entgegnet sie.

»Ja, aber ...«, setze ich an, seufze dann ebenfalls und lasse mich auf der Bettkante nieder. Ich will ihr wirklich nah sein ...

»Aber was?«, hakt sie nach.

»Nicht so wichtig«, murmle ich und verschränke die Arme wieder.

Shenan schüttelt kaum merklich den Kopf und legt sich schließlich hin. Sie dreht mir den Rücken zu und versucht, so viel Abstand wie möglich zwischen uns zu bringen.

»Falls es dir nicht aufgefallen ist: Ich bin schon lange nicht mehr auf die Avancen von einer der Frauen eingegangen, die meiner Anziehung erliegen«, flüstere ich. Als ich noch im Olymp lebte, hatte ich viele Liebschaften. Bei keiner war es mir ernst genug, um treu zu sein. Mit Shenan bin ich nicht zusammen und doch will ich keiner anderen Frau nahe kommen. Liebe ist schon ein grausames Spiel ...

Sie schweigt einen Moment, bevor sie sich zu mir umdreht. »Doch, das ist mir aufgefallen.«

Shenan hebt ihre Hand, als wollte sie mich berühren. Ich muss daran denken, wie ich Shenan gehalten habe, als wir in Bangkok in einem Bett geschlafen haben. Nachdem wir zweimal fast gestorben wären. Wie nahe wir uns gekommen sind und wie sehr ich es genossen habe. Wie sehr es mir jetzt fehlt.

Aber seitdem wir zurück sind, hat Shenan mich kein einziges Mal berührt. Außer als sie mich mit dem Bleistift attackiert hat.

»Es ist nur ... ich kann das nicht, Harrison.«

»Was?« Meine Kehle schnürt sich zu. Wenn sie mir jetzt sagt, sie kann mit mir nicht zusammen sein, zerbreche ich.

»So tun, als wärst du ein Mensch. Ich brauche Zeit, um das alles zu begreifen.«

»Wie lange?«, frage ich. Das war noch keine eindeutige Ohrfeige. Es besteht noch Hoffnung für mich und auch wenn Geduld nicht meine Stärke ist, auf sie würde ich warten ...

»Ich weiß es nicht«, erwidert sie und hebt ihr Kinn leicht an. »Wie lange wirst du noch brauchen, um mir zu sagen, was mit dem Armband geschehen ist und warum ich im Dunklen sehen kann?« Ich lag also richtig mit meiner Vermutung. Laut stoße ich den Atem aus, ehe ich ihr antworte. »Wenn ich mehr Sicherheit habe, damit ich dir nicht unnötig Angst mache.«

»Das machst du mit diesen Aussagen sowieso.«

»Es tut mir leid, Shenan. Bitte glaube mir, dass ich dir wirklich nur helfen will. Ich passe auf dich auf, bis ich mehr weiß. Versprochen.«

»Du windest dich immer aus allem heraus, oder?«, fragt sie genervt und dreht mir wieder den Rücken zu.

»Ich bin der Gott der Diebe und schrieb einst die Chroniken der Götter. Natürlich winde ich mich aus allem heraus. Das liegt in meiner Natur.«

»Und der Gott der Redekunst«, brummt sie. »Passt ja hervorragend zusammen. Vor allem wenn es darum geht, mich im Dunkeln tappen zu lassen.«

Natürlich verstehe ich, dass sie aufgebracht ist, aber mir fällt das selbst nicht leicht. Deswegen werde auch ich langsam zornig. »Ich weiß, du kannst das nicht mehr hören, aber ich mache das, um dich zu schützen.«

»Ja. Das sagtest du schon mehrmals«, erwidert sie aufgebracht und zieht die Decke höher. »Gute Nacht, Harrison. Wenn du Hunger bekommst, musst du einkaufen. Der Kühlschrank ist leer, da Orion versucht hat, zu kochen.«

»Ich wollte nur sehen, ob Nahrung wirklich so gut schmeckt, wie andere Wächter behaupten«, murmelt der Dämon unter dem Bett. »Zumindest hat das, was ich da fabriziert habe, nicht wirklich geschmeckt.«

»Wir sind schon eine wunderbare Gang.« Ich grinse diesmal richtig, bekomme aber von keinem der beiden eine Antwort.

Also lehne ich mich zurück, verschränke die Arme hinter meinem Kopf und starre wieder an die Decke.

Ich muss dringend Mr Bourne finden, doch so sehr ich auch versucht habe, seine Magie zu erspüren, es ist mir nicht gelungen. Dabei schuldet er uns Antworten. Denn selbst wenn Shenan wieder schläft und sich in ihren Träumen windet, kann ich die Libellenmagie in ihren Adern fühlen. Ich fürchte, sie wird sich bald einen Weg bahnen, um sich zu entfalten.

KapitelZwei

Harrison«, seufzt Shenan.

Ich schrecke hoch, als ihre Hand plötzlich auf meiner Brust landet.

Als Gott brauche ich keinen Schlaf, aber es ist nicht das erste Mal, dass ich neben ihr eingeschlafen bin. Draußen geht die Sonne auf und die Vögel zwitschern unerträglich laut.

Mein Blick wandert zu Shenan, die jetzt halb auf mir liegt. Sie schläft immer noch und murmelt unverständliche Worte vor sich hin. Ihr Zopf hat sich fast vollständig aufgelöst. Offenbar hat sie sehr unruhig geschlafen.

Ich streiche ihr sanft über die Wange. Ihre Lippen kräuseln sich zu einem Lächeln. »Harrison«, murmelt sie wieder.

Zumindest im Schlaf scheint sie meine Nähe zu mögen. Wenn ich nur wüsste, was ich tun kann, damit es zwischen uns nicht so seltsam ist.

Da kommt mir ein Gedanke, der vielleicht ein wenig fies ist. Aber ich brauche Klarheit. Morpheus hat mir einmal gesagt, dass Menschen im Halbschlaf zuhören und antworten können. Lügen ist in diesem Zustand nicht möglich. Ob ich mit Shenan reden sollte?

Schnaubend schiebe ich den Gedanken fort. Aber nur für einen kurzen Moment, denn es ist zu verlockend.

»Shenan?«, frage ich leise.

»Hm?«

»Wie schaffe ich es, dass du mich magst?«

»Ich mag dich doch, Harrison«, murmelt sie und schmiegt sich enger an mich. »Mehr, als ich sollte. Du riechst so gut ...«

Mein Körper ist ein fieser Verräter, weil sich jedes Haar aufstellt bei diesen Worten.

Einen Moment denke ich, dass sie mich durchschaut hat und mit mir spielt. Aber dann wird mir bewusst, was sie gesagt hat. Dass ich gut rieche, hätte Shenan im Wachzustand vermutlich nie zugegeben.

Mein Puls steigt an. Jetzt oder nie. »Gut, wie kann ich dir die Angst vor mir nehmen?«

»Ich habe keine Angst vor dir. Nur vor dem, was du bist«, erwidert sie und ihre Miene verändert sich, als hätte sie Schmerzen. »Und dem, was ich bin.«

»Was bist du denn?«, frage ich leise und spitze die Ohren. Kennt sie unterbewusst vielleicht die Antwort?

Ihre Lider flattern und ihre Finger verkrampfen sich um mein Shirt. »Die Träume haben etwas zu bedeuten«, haucht sie und wimmert dann.

»Welche Träume?«

Ich erinnere mich an die Albträume, die sie immer wieder geplagt haben. Sie hatte schon lange keine mehr, zumindest hat sie nicht geweint wie damals in Bangkok.

»Das Feuer ... das viele Blut«, keucht sie und verkrampft ihre Finger noch fester. »So viel Blut.«

»Shenan«, sage ich laut und lege meine Hand auf ihre Schulter, schüttle sie, um sie zu wecken. Jetzt mache ich mir Vorwürfe, weil ich das alles ausgelöst habe.

»Die Libellen!«, schluchzt sie und ich halte inne, blicke mich um. Aber keine Libelle ist durch das Fenster geschwebt, obwohl ich es erwartet habe. »Sie waren immer da. Beschützen mich. Wachen über uns alle. Ich habe sie so lange gesucht, als Oma starb. Sie kennen die Antworten.«

Ihr Atem geht schneller, ich sehe den Schweiß auf ihrer Stirn und bekomme es mit der Angst zu tun, weil sie zu beben begonnen hat. »Shenan, du musst aufwachen«, sage ich und schüttle sie noch einmal leicht, dann fester, weil sie nicht reagiert. »Shenan.«

»Es gibt kein Entkommen«, haucht sie.

Ruckartig setzt sie sich auf und reißt die Augen auf, schreit, als würde sie einem Monster gegenüberstehen, das versucht, sie zu fressen. Ich packe sie wieder an den Schultern.

»Shenan!«, sage ich, ziehe sie in die Arme und wiege sie wie ein Kind. »Es ist gut, Shenan, ich bin da.«

Meine Ohren klingeln, so laut brüllt sie. Deswegen höre ich kaum, dass sie nicht mehr schreit. Erst als sie sich zu bewegen beginnt, realisiere ich, dass sie aufgewacht ist.

»Shenan, es wird alles gut«, flüstere ich und streiche über ihren schweißnassen Rücken.

Sie stemmt ihre Hände gegen meine Brust, schiebt mich von sich. Ihre Augen sind weit geöffnet, aber ihr Blick geht ins Leere. »Das Ende hat begonnen«, flüstert sie, bevor sie kraftlos in meinen Armen zusammensinkt.

»Ich sagte doch, ich erinnere mich an nichts von einem Traum«, brummt Shenan und schüttelt den Kopf.

Wir sitzen in ihrer Küche beim Frühstück, das ich vorhin geholt habe, nachdem ich sicher war, dass es ihr den Umständen entsprechend gut geht.

»Du hast so laut geschrien, dass dein Nachbar die Polizei alarmiert hat, weil er dachte, jemand bringt dich um«, erwidere ich ruhig. »Du weißt schon, die netten Herren, die geläutet und dich damit geweckt haben.« Sie sieht mich finster an. »Die dich gefragt haben, ob es dir gut geht.«

»Ich weiß, wen du meinst.« Sie trinkt einen Schluck Tee und räuspert sich dann. »Trotzdem glaube ich nicht, dass ich so gebrüllt habe.«

Ich räuspere mich ebenfalls. »Orion, würdest du ihr bitte erzählen, was genau passiert ist? Scheinbar glaubt sie mir nicht.«

Der Wächterdämon sitzt auf dem Tisch, einen Eierbecher, in den Shenan Kakao für ihn gefüllt hat, vor sich. Er wischt sich mit dem Arm über den Mund und richtet sich auf.

»Natürlich, Hermes. Also, nachdem du dich auf ihn geworfen hast ...«

»Ich habe mich auf ihn geworfen?«, hakt Shenan nach und ich erkenne eine leichte Röte auf ihren Wangen.

Orion nickt. »Ja, du hast dich im Schlaf herumgewälzt und bist irgendwann auf ihm gelandet«, erklärt er und sieht sie an. Als sie nichts sagt, fährt er fort. »Hermes hat begonnen, dir Fragen zu stellen, die du im Schlaf beantwortet hast.«

Ihr Blick schießt zu mir. »Solche Tricks verwendest du?«

Ich zucke mit den Schultern, aber in meinem Magen verknotet sich alles. Ja, ich bin ein Mistkerl. »Na ja, Morpheus meinte, Menschen können nicht lügen, wenn man sie in diesem Zustand befragt.«

»Machst du das öfter, wenn ich schlafe?« Sie funkelt mich an und die Finger, mit denen sie ihren Tee hält, verkrampfen sich. Hoffentlich wirft sie das Ding nicht nach mir.

»Bisher nicht.«

»Ist schon unfair«, meint sie und die Finger schließen sich noch fester um die Tasse. »Du schläfst nie. Also kann ich dich nicht einmal auf diese Weise befragen.«

»Du kannst mich alles fragen, was du möchtest. Ich werde wahrheitsgemäß antworten.«

»Was ist mit dem Armband geschehen?«

Ich hebe abwehrend die Hände, innerlich lache ich aber. Mir war klar, dass sie diese Frage stellen würde. »Du kannst mich alles außer dieser Sache fragen«, korrigiere ich mich.

Sie schweigt, presst ihre Lippen aufeinander und sieht Orion auffordernd an.

»Er wollte wissen, was er tun soll, damit du ihn magst«, fährt der kleine Dämon fort.

»Das musst du nicht erzählen.« Ich räuspere mich, weil es mir unangenehm ist, dass Shenan all das hört.

Der Wächter legt den Kopf schief. »Wieso? Ich denke, es ist wichtig für das alles, und sie sollte es erfahren, falls sie sich nicht an die Antwort erinnert.«

»Und die wäre?« Shenan schmunzelt bei den Worten, als würde sie eine ziemlich schlagfertige Aussage erwarten.

Orion dreht sich wieder zu ihr. »Du hast gesagt, dass du ihn bereits magst, und zwar mehr, als du solltest, und dass er gut riecht.«

Das Schmunzeln verschwindet aus ihrem Gesicht und sie starrt auf ihre halbvolle Tasse Orange-Pekoe-Tee. Sie hebt den Blick nicht, während Orion ihr den Rest erzählt.

»Glaubst du mir jetzt?«, frage ich und verschränke die Arme. Irgendwie habe ich erwartet, dass sie darauf eingeht, was sie zu mir gesagt hat. Aber das tut sie nicht und das nervt mich. Genau deswegen muss ich zu unfairen Mitteln greifen, auch wenn ich mich jetzt dafür schäme.

Sie stößt den Atem aus. »Ich verstehe es nicht. Ich erinnere mich an gar nichts.«

»Du hast etwas von Feuer und Blut gesagt«, werfe ich ein und lehne mich nach vorn, bis unsere Fingerspitzen sich fast berühren. »Wir haben einmal über deine Großmutter gesprochen, als wir in Bangkok waren. Es tut mir leid, wenn ich wieder damit anfange, weil ich weiß, dass es dich belastet, aber ... glaubst du, dass dieser Vorfall mit dem, was in den letzten Monaten geschehen ist, zusammenhängt?«

Sie betrachtet mich mit ihren braunen Augen und mir wird warm unter ihrem Blick. Wieso können wir nicht einfach darüber hinwegsehen, dass ich ein Gott bin, und wie gewöhnliche Menschen ein Paar werden?

»Ich bin mir gerade nicht sicher, was genau du meinst«, murmelt sie. »Wieso sollte der Tod meiner Großmutter etwas mit dem Armband zu tun haben?«

»Es scheint etwas in deiner Vergangenheit zu geben, das dich für Mr Bourne interessant gemacht hat. Du hast heute Nacht gesagt, die Libellen beschützen dich und du hast sie gesucht. Und ich weiß noch nicht, wie es zusammenhängt, aber ich denke, dass der Tod deiner Großmutter etwas damit zu tun hat, dass du die wahre Gestalt von Orion, Heshen und Ares erkennst.«

»Aha«, macht sie nur und trinkt wieder aus ihrer Tasse. »Und wie kommst du zu dieser Überzeugung?«

»Es ist nur ein Gefühl ...«

»Hm. Ich habe dir doch schon einmal gesagt, dass ich nicht sicher bin, was genau mit Grandma geschehen ist. Also hilft uns das auch nicht wirklich weiter. Tut mir leid.« Sie stellt die Tasse ab und streicht mit ihrem Finger den Rand entlang. »Wieso stellst du mir solche Fragen, wenn ich schlafe?«

»Neugierde? Wir sprechen nie über das, was zwischen uns ist.«

»Ich darf dich daran erinnern, dass wir tagsüber zusammen arbeiten? Ich bin deine Vorgesetzte ...«

»Diesen Job würde ich sofort kündigen, wenn es das ist, was du willst.«

»Harrison«, haucht sie und schließt ihre Augen. »Verstehst du es nicht? Ich kann nicht so tun, als wärst du ein normaler Mensch. Du bist unsterblich. Ich nicht.«

»Was aber eher mein Problem ist als deines. Immerhin überlebe ich dich.« Ich drücke ihre Hand. »Aber selbst wenn uns nur siebzig Jahre bleiben, will ich sie mit dir verbringen.«

Sie öffnet ihre Lider und sieht mich an. »Wie alt, denkst du denn, bin ich?«

»Um die dreißig.«

»Und wie alt werden Menschen deiner Meinung nach?«

»Sie können über hundert werden, Shenan.«

Sie lacht leise und schüttelt den Kopf. »Und dann gehst du, weil ich mit fünfzig faltig bin und du das nächste hübsche Gesicht siehst.«

»So schätzt du mich ein?«, frage ich gekränkt, auch wenn ich monatelang dafür gesorgt habe, dass sie genau diesen Typ Mann in mir sieht. Ich habe gehofft, sie hat bereits mein wahres Ich erkannt. Das Ich, das so verliebt in sie ist.

»Ich weiß nicht, Harrison. Du bleibst ewig jung, was willst du denn mit einer alten Frau an deiner Seite?« Ihre Stimme bebt und ich erkenne, dass sie sich darum wirklich Sorgen macht.

Deswegen streiche ich über ihren Handrücken. »Ich würde dich doch nicht verlassen, nur weil du älter wirst.«

»Ach?«

»Weißt du, als Keno dich umgarnt hat, ist mir eines bewusst geworden: Ich will dich nicht mit einem anderen Typen sehen. Niemals. «

Sie beißt sich auf die Unterlippe und schweigt. Schon klar, sie wird mir nichts über ihre Gefühle sagen. Dann werde ich das jetzt auch nicht vertiefen.

»Ich verbringe meine Zeit gerne mit dir. Du bist witzig und klug. Ich stimme dir in fast allem, was du tust, bedingungslos zu. Außer wenn es um diese Scherbe in der Etrusker-Ausstellung geht, mit der du mich einmal erwischt hast.«

»Was ist damit?«

»Ich überlege schon die ganze Zeit, wie ich es dir beibringen soll«, murmle ich und hole Luft, als wäre das gerade das größte Problem, dem wir uns stellen müssen. »Eure Wissenschaftler haben sie damals falsch zugeordnet. Sie gehört in die Römerzeit. Ich weiß das, weil ich dort war.«

»Tja, in den Geschichtsbüchern steht es leider anders und deswegen bleibt sie wohl in der Ausstellung der Etrusker.«

»In euren Geschichtsbüchern steht so viel, was nicht den Tatsachen entspricht.« Ich seufze. »Jetzt ernsthaft, wer hat sich die Märchen rund um die Götter des Olymps ausgedacht?«

»Es gibt Aufzeichnungen von griechischen Philosophen.«

»Falsch ist es trotzdem.«

Shenan lächelt. »Ich würde gerne einmal die wahren Geschichten rund um deine Familie hören.«

»Lieber nicht«, winke ich ab. »Du hast ohnehin schon keine gute Meinung von mir. Das würde es vermutlich nur schlimmer machen.«

»Das ist nicht wahr«, murmelt sie und diesmal drückt sie meine Hand. »Ich werde darüber nachdenken.«

»Über die Scherbe?«

»Ja, ganz genau«, erwidert sie mit einem Augenrollen und lässt mich los. »Aber jetzt sollten wir ins Museum gehen. Getrennt. Sonst gibt es Gerüchte.«

»Die gibt es immer.« Ich grinse. »Und außer der Mumie befindet sich niemand im Museum, der uns sehen könnte. Die anderen haben Urlaub.«

»Die Mumie kann uns sehen?«, fragt sie und schluckt.

»Ja. Aber sprich sie nicht an. Sie ist eitel und denkt, ihre Bandagen sollten erneuert werden, weswegen sie sich schämt.«

Shenan schaudert. »Sollte ich noch etwas wissen?«

»Willst du noch etwas wissen?«

»Warum ich deine göttliche Gestalt nicht sehen kann und auch sonst nichts wahrnehme außer Orion, Heshen und deinem Bruder.«

»Tja, das würde ich auch gerne wissen. Sobald ich es herausgefunden habe, gebe ich Bescheid.«

»Sehr freundlich.«

Shenan steht auf und ich tue es ihr gleich, lege jedoch meine Hände auf ihre Schultern. »Danke«, flüstere ich.

»Wofür?«, fragt sie verwirrt.

»Dass wir zum ersten Mal seit Monaten wirklich miteinander geredet haben. Und dass du dir die Sache mit der Etruskerscherbe überlegst.«

Sie lächelt und bläht ihre Nasenflügel. »Du riechst wirklich gut«, meint sie und tritt einen Schritt zurück. »Gehen wir, bevor ich herausfinde, dass die Totems in der Ausstellung auch mehr sehen, als sie sollten.«

»Dann schweige ich besser«, murmle ich so leise, dass sie es unmöglich hören kann, und setze Orion auf meine Schulter. »Und du sagst auch nichts darüber.«

»Und was ist mit den Schamanenmasken aus Afrika?«, hakt der Wächter leise nach.

»Das sollte auch unser Geheimnis bleiben. Sonst braucht Shenan vielleicht bald einen Psychiater«, erwidere ich und folge Shenan aus der Wohnung.

KapitelDrei

Shenan führt eine Gruppe Touristen durch das Museum. Innerhalb dieser Wände, die vermutlich mehr ihr Zuhause sind als ihre Wohnung, fühlt sie sich wohl. Und das merkt man. Sie lächelt viel mehr, erklärt leidenschaftlich die verschiedensten Epochen und Kulturen und unterhält sich angeregt mit den Besuchern.

Im Museum ist sie ein ganz anderer Mensch, wortgewandt und offen. Sonst benimmt sie sich eher wie ein Mauerblümchen. Sie hier zu sehen, lässt mich schmunzeln. Während sie arbeitet, könnte man wirklich denken, es wäre niemals etwas geschehen.

Nachdem die Gruppe fort ist, setzen wir uns in den Saal mit der griechischen Ausstellung. Ich weiß nicht, warum sie diesen Ort gewählt hat. Vermutlich weil es hier keine Mumien oder Masken gibt, die zu sprechen beginnen könnten. Dafür eine überlebensgroße Statue von Poseidon, die ihm in keiner Weise gerecht wird. Er wird mit gelocktem Haar und langem Bart dargestellt, hält einen Dreizack in der Hand. Mein Onkel wirkt hier alt und brummig, dabei ist er einer der mächtigsten Männer, die ich kenne, und sieht deutlich besser aus als sein steinernes Ebenbild. Einen Bart trägt er, aber sein Körper ist gestählt und sein Gesicht jung und immer zu einem Lächeln verzogen. Poseidon hatte stets gute Laune, wenn ich ihn besucht habe. Nein, diese Statue hat mit ihm keine Ähnlichkeit.

Orion ist nicht von Shenans Seite gewichen, seitdem wir die Wohnung verlassen haben. Er nimmt seine Aufgabe ernst und dafür bin ich ihm dankbar. Er hat ein Auge auf sie, wenn ich einmal doch nicht bei ihr sein kann, und ich weiß, dass er mich sofort holt, wenn es brenzlig wird.

»Also, erzähl mal«, sagt Shenan und betrachtet eine Vase, auf der ringende Kämpfer dargestellt sind. »Wie falsch ist unser Wissen über das antike Griechenland wirklich?«

»Sagen wir es so. Das, was die Menschen damals gemacht haben, ist nicht so verkehrt überliefert worden«, erwidere ich und trinke den Tee, den ich für uns beide in ihrem Büro zubereitet habe. »Was die Göttersagen betrifft ...«

»Du bist der Chronist der Götter, du …«

»Ich war der Chronist der Götter«, korrigiere ich sie. »Ich bin nicht sicher, ob es jetzt einen neuen gibt. Seitdem ich den Olymp verlassen habe, musste ich meiner Familie zum Glück nur selten begegnen.«

Ich denke an Ares, der versucht hat, Shenan etwas anzutun, weil er mich für etwas bestrafen will, das ich gar nicht getan habe. Er hat meine erste große Liebe vor meinen Augen getötet. Bei Shenan darf ihm das nicht gelingen. Zum Glück hat sie Ares in Bangkok ziemlich zugesetzt und er wird sich wohl eine Zeit lang erholen und seine Kräfte neu sammeln müssen. Das heißt aber nicht, dass sie vor ihm – oder anderen Göttern – sicher ist.

»Warum bist du gegangen?«, fragt sie und sieht mich dabei aus ihren dunklen Augen an.

Ich kann den Goldrand erkennen, den ich das erste Mal in Thailand bemerkt habe. Er strahlt jetzt deutlich heller als noch vor drei Monaten. Ob das etwas mit der Libellenmagie in ihrem Körper zu tun hat?

»Ich erzähle dir etwas über meine Familie, wenn du mir von deiner erzählst«, schlage ich vor.

Sie stößt den Atem aus. »Einverstanden, aber du zuerst.«

»Na schön. Ich bin gegangen, weil ich es nicht in Ordnung finde, dass die Götter Menschen sterben lassen, nur damit sie mächtig sein können und sich nicht langweilen müssen in ihrem unsterblichen Leben. Sie haben keine Achtung vor Lebewesen und ich wollte da nicht mitmachen.« Ich schnaube. »Wenn du allerdings Ares fragst, wird er dir sagen, dass ich gegangen bin, weil ich der schwächste der zwölf höchsten Götter bin und sie mich wie einen Spielball behandelt haben.«

»Haben sie?«, will sie wissen.

Ich ringe mir ein Lächeln ab, weiß aber, dass sie es durchschaut, denn ihr Blick wird weich. »Sie konnten mir nichts Schlimmes antun. Es war trotzdem nicht lustig, das Opfer ihrer Späßchen zu sein. Aber das alleine hätte mich nicht in die Flucht getrieben.«

Sie hebt ihre freie Hand, zögert einen Moment, dann verschränkt sie ihre Finger mit meinen. »Ich weiß, wie das ist«, sagt sie und seufzt.

»Jetzt bist du dran. Erzähl mir von deiner Familie.«

»Tja, dass meine Großmutter mich quasi großgezogen hat, weißt du«, beginnt sie und nippt an ihrem Tee. Eigentlich hoffe ich, dass sie mehr von ihrer Großmutter erzählt, aber sie scheint das Thema nicht vertiefen zu wollen. »Ich habe drei ältere Brüder. Mein Vater war ein Trinker und meine Mutter hat sich von ihm scheiden lassen, als ich etwa fünf war. Was wohl mein Glück war, denn wenn ich meinen Brüdern zuhöre, was sie mit ihm erleben mussten ...«

Einen Moment schweigt sie und starrt auf ein Bild, das den Trojanischen Krieg skizziert, wie die Menschen heute ihn sich vorstellen. Es gab in Wahrheit kein Pferd, in dem sich Soldaten versteckt haben. Eine schöne Geschichte, nur leider nie passiert. Aber das behalte ich für mich ... Shenan mag diese Legende, das höre ich, wenn sie Führungen durch diesen Teil des Museums gibt.

»Wir sind in die Nähe meiner Grandma gezogen. Mum hatte drei Jobs, um uns über Wasser zu halten. Besonders, nachdem Gran starb. Meine Brüder sind auf die schiefe Bahn geraten, weil sie mit der Schule nicht klarkamen und die falschen Freunde hatten.

---ENDE DER LESEPROBE---