Licht - Die Trilogie - M. John Harrison - E-Book

Licht - Die Trilogie E-Book

M. John Harrison

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Beschreibung

Hinter dem Ereignishorizont

Der Wissenschaftler Michael Kearney ist mit der Arbeit an dem neuen Quantencomputer beschäftigt, als ihm zunehmend unwirkliche Erscheinungen aus seiner Vergangenheit zu schaffen machen. Vierhundert Jahre später hat eine Frau, die mit dem Bewusstsein eines Raumschiffs verbunden ist, mit demselben Problem zu kämpfen. Einem Problem, das offenbar die Struktur des Universums durchzieht. Doch dann machen beide eine unfassbare Entdeckung, die das Schicksal der Menschheit für immer verändern wird.

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Seitenzahl: 1432

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DAS BUCH

Wir schreiben das Jahr 1999: Der hochbegabte Wissenschaftler Michael Kearney ist mit der Arbeit an einem neuen Quantencomputer beschäftigt, als ihm eine unwirkliche Erscheinung – genannt der Shrander – zu schaffen macht und ihn zu den fürchterlichsten Verbrechen antreibt. Um seinem Dilemma zu entkommen, versucht er, gemeinsam mit seinem amerikanischen Kollegen Brian Tate in die Zukunft zu fliehen. Vierhundert Jahre später hat Käpten Seria Maú Genlicher, deren Bewusstsein mit ihrem eigenen Raumschiff verbunden ist, mit genau demselben Problem zu kämpfen – ebenso wie der Weltraum-Pirat Ed Chianese. Der Shrander durchzieht die Struktur des gesamten Universums, und eine Flucht scheint unmöglich. Doch dann machen die drei eine unfassbare Entdeckung, die nicht nur ihre Rettung sein könnte, sondern das Schicksal der Menschheit für immer verändern wird …

Bombastische Weltraumpanoramen verbunden mit packenden Abenteuern und überraschenden Wendungen – M. John Harrisons bahnbrechende Licht-Trilogie erstmals in einem Band.

DER AUTOR

M. John Harrison wurde 1945 in Warwickshire, England, geboren und zählt seit Jahrzehnten zu den führenden Autoren auf dem Gebiet der Science-Fiction und Fantasy. Etliche seiner Romane und Erzählungen wurden preisgekrönt. Der Autor lebt und arbeitet in London.

Mehr über M. John Harrison und seine Romane erfahren Sie auf:

M. JOHN HARRISON

Licht

DIE TRILOGIE

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgaben:

LIGHT, NOVA SWING, EMPTY SPACE

Deutsche Übersetzung von P. H. Linckens und Jakob Schmidt

Deutsche Erstausgabe 09/2014

Redaktion: Birgit Herden

Copyright © 2002, 2006, 2012 by M. John Harrison

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung eines Motivs von thinkstock/Hemera

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN 978-3-641-13180-7

www.diezukunft.de

INHALT

Licht

Nova

Raum

ERSTES BUCH

Licht

Für Cath in Liebe

1 · Desillusioniert vom Faktischen

1999:

Kurz vor Torschluss fragte jemand Michael Kearney: »Und, wie werden Sie wohl die erste Minute des neuen Millenniums verbringen?« Das also verstand man in der trostlosen Kleinstadt in den Midlands, wo er seinen Vortrag gehalten hatte, unter einer netten Abendgestaltung. Schneeregen schlug an die Fenster des privaten Esszimmers und rann im orangefarbenen Schein der Straßenlaterne an den Scheiben herunter. Antworten folgten einander rings um den Tisch, mit geradezu nachtwandlerischer Vorhersehbarkeit, manche mit Hintergedanken, manche sittsam, alle optimistisch. Man wollte trinken bis zum Umfallen, miteinander schlafen, sich das Feuerwerk anschauen oder aus dem Fenster eines Flugzeugs den endlosen Sonnenaufgang verfolgen.

Dann gab jemand zu: »Mit den Scheißkindern vermutlich.«

Das sorgte für brüllendes Gelächter, und gleich darauf sagte ein anderer: »Mit jemandem, der jung genug ist, um eins von meinen Kindern zu sein.«

Mehr Gelächter. Allgemeiner Beifall.

Von dem Dutzend rings um den Tisch gaben die meisten etwas Ähnliches zum Besten. Kearney hatte keine hohe Meinung von den Leuten und wollte, dass sie es erfuhren; er war böse auf die Frau, die ihn hergelotst hatte, und wollte, dass sie das ebenfalls erfuhr. Also sagte er, als die Reihe an ihn kam: »Am Steuer eines fremden Wagens zwischen zwei Städten, die ich nicht kenne.«

In dem sich anschließenden Schweigen ließ er seine Worte eine Weile nachwirken, eher er bedächtig hinzufügte: »Es müsste allerdings ein anständiges Auto sein.«

Vereinzeltes Lachen.

»Du liebe Zeit«, sagte eine Frau. Sie sah lächelnd in die Runde. »Wie freudlos.«

Jemand wechselte das Thema.

Kearney ließ es dabei bewenden. Er zündete sich eine Zigarette an und dachte über seine Idee nach, die ihn selbst ziemlich überrascht hatte. In dem Augenblick, in dem er sie ausgesprochen hatte – in dem er sie sich eingestanden hatte –, war ihm ihre zersetzende Wirkung bewusst geworden. Nicht bloß wegen der Einsamkeit, der Egozentrik dieser Vorstellung, hier in dieser Schonung aus akademischer und politischer Selbstzufriedenheit – nein, vielmehr wegen ihrer Kindlichkeit. Die Freiheiten, für die sie stand – die Wärme und Leere des Automobils; der Geruch nach Plastik und Zigaretten; das leise spielende Radio bei Nacht; das grüne Leuchten der Armaturen; bei jeder Kurve das Gefühl zu haben, über ein Instrument zu verfügen oder eine Reihe instrumenteller Entscheidungen zu treffen – diese Freiheiten waren ebenso infantil wie befriedigend. Sie beschrieben sein bisheriges Leben.

Als man aufbrach, sagte seine Begleiterin: »Na ja, eine reife Leistung war das nicht.«

Kearney hätte nicht jungenhafter lächeln können. »Sag bloß?«

Sie hieß Clara. Sie war Ende dreißig, rothaarig und körperlich noch ziemlich jung, aber erste Falten und ein abgehärmtes Gesicht verrieten, dass es ihr zunehmend schwerfiel, Schritt zu halten. Die Karriere forderte Einsatz. Sie musste alleinerziehend und erfolgreich sein. Sie musste jeden Morgen sieben Kilometer joggen. Sie musste gut im Bett sein, sie musste Sex brauchen, ihn genießen und in der Lage sein, nachts »Oh. Da. Ja, so!« zu winseln. Brachte es sie durcheinander, hier in einem viktorianischen Hotel aus roten Ziegeln und Terracotta mit einem Mann zusammen zu sein, der das alles offenbar nicht zu schätzen wusste? Kearney war sich nicht sicher. Er sah sich um. Die cremeweiß glänzenden Korridorwände erinnerten ihn an die Schulen seiner Kindheit.

»Eine schreckliche Bruchbude«, sagte er.

Er nahm sie bei der Hand, sodass sie mit ihm die Treppe hinunterlaufen musste, zog sie in einen menschenleeren Raum, in dem zwei oder drei Billardtische standen, und tötete sie so rasch, wie er all die anderen getötet hatte. Sie sah zu ihm auf, und noch bevor ihre Augen glasig wurden, schlug die Erwartung darin in Verwirrung um. Er kannte sie seit etwa vier Monaten. Anfangs hatte sie ihn als »seriell monogam« eingestuft. Vielleicht erkannte sie nun ja die Ironie dieser Bezeichnung, wenn schon nicht die durch sie zum Ausdruck gebrachte sprachliche Inflation.

Draußen auf der Straße – achselzuckend, sich mit einer Hand rasch und wiederholt über den Mund wischend – glaubte er eine Bewegung, einen Schatten an der Wand zu sehen, die Ahnung einer Bewegung im orangefarbenen Schein der Straßenlaterne. Regen, Schneeregen und Schnee, alles schien auf einmal herunterzukommen. Dazwischen meinte er, Dutzende von kleinen Lichtflecken zu erkennen. Funken, dachte er. In allem waren Funken. Dann schlug er den Mantelkragen hoch und ging rasch davon. Auf der Suche nach seinem Wagen hatte er sich bald in dem Labyrinth aus Straßen und Fußgängerzonen verlaufen, das zum Bahnhof führte. Also nahm er stattdessen den Zug und kehrte erst nach einigen Tagen zurück. Der Wagen stand noch da, wo er ihn geparkt hatte, ein roter Lancia Integrale, in den er ziemlich verknallt gewesen war.

Kearney setzte sein Gepäck – einen alten Laptop, zwei Bände von A Dance to the Music of Time – auf die Rückbank des Integrale und fuhr nach London zurück, wo er ihn in einer Straße in South Tottenham abstellte, nicht ohne sich noch einmal zu vergewissern, dass die Türen unverschlossen waren und der Zündschlüssel steckte. Dann nahm er die U-Bahn zu seiner Forschungssuite, seinem Hauptarbeitsplatz. Finanzielle Verquickungen, zu kompliziert, um sie aufzuschlüsseln, waren der Grund, warum diese Suite in einer Seitenstraße zwischen Gower Street und Tottenham Court Road lag. Dort hausten er und ein Physiker namens Brian Tate in drei langen Zimmern mit lauter Beowulfsystem-Computern, die ihrerseits mit Apparaturen verschraubt waren, die, so hoffte Tate, eines Tages in der Lage sein würden, die Interaktionen von Ionenpaaren aus dem magnetischen Rauschen zu isolieren. Theoretisch würde ihnen das erlauben, Daten in Form von Quantenereignissen zu codieren. Kearney hatte seine Zweifel; doch Tate war von Cambridge über das MIT und, was vielleicht noch wichtiger war, über Los Alamos gekommen, sodass er durchaus gewisse Erwartungen hegte.

Als die Suite noch ein Team von Neurobiologen beherbergt hatte, das mit lebenden Katzen arbeitete, war sie wiederholt von extremistischen Tierrechtlern in Brand gesteckt worden. An nassen Vormittagen roch sie noch schwach nach verkohltem Holz und Plastik. Kearney, der sehr wohl um die moralische Entrüstung der Wissenschaftsgemeinde über diesen Vorfall wusste, hatte jedermann wissen lassen, dass er die Tierrechtsbewegung unterstützte; und dann hatte er noch Öl ins Feuer gegossen, indem er ein Paar orientalischer Katzen importiert hatte, die eine schwarz und männlich, die andere weiß und weiblich. Mit ihren langen Beinen und bedrohlich dünnen Leibern schlichen sie rastlos wie Mannequins umher, warfen sich in bizarre Posen und behinderten Tate bei der Arbeit.

Kearney nahm das Weibchen hoch. Es wehrte sich kurz, dann schnurrte es und ließ sich auf seiner Schulter nieder. Der Kater beäugte Kearney, als habe er ihn noch nie gesehen, legte die Ohren an und duckte sich unter eine Werkbank.

»Die beiden sind nervös heute«, sagte er.

»Gordon Meadows war hier. Sie wissen, dass er sie nicht leiden kann.«

»Gordon? Was wollte er?«

»In Erfahrung bringen, ob wir uns einer Präsentation gewachsen fühlen.«

»Hat er sich so ausgedrückt?«, fragte Kearney und fuhr, als Tate lachte, fort: »Für wen denn?«

»Ein paar Leute von Sony, glaub ich.«

Jetzt war es an Kearney, zu lachen.

»Gordon ist ein Dummkopf«, sagte er.

»Gordon«, sagte Tate, »ist unser Kapital. Muss ich dir das buchstabieren? Erst K und dann A …«

»Du kannst mich auch mal«, sagte Kearney. »Sony bräuchte nur ein Glas Wasser, um Gordon zu schlucken.« Er sah sich zwischen den Apparaturen um. »Die müssen verzweifelt sein. Haben wir diese Woche Fortschritte gemacht?«

Tate zuckte die Achseln.

»Es ist immer dasselbe Problem«, sagte er.

Er war ein ziemlich großer Mann mit sanften Augen, der seine Freizeit, soweit er sie denn hatte, darauf verwandte, sich ein komplexitätsorientiertes architektonisches System auszudenken, das voller Formen und Kurven war, die er als »natürlich« beschrieb. Er wohnte in Croydon, und seine Frau, die zehn Jahre älter war als er, hatte zwei Kinder aus erster Ehe mitgebracht. Vielleicht als Erinnerung an seine Zeit in Los Alamos hatte Tate eine Vorliebe für Bowlinghemden, Hornbrille und einen sorgfältigen Haarschnitt, mit dem er wie Buddy Holly aussah.

»Wir können das Tempo verringern, mit dem die Qubits Phase aufnehmen. Wir sind da schon besser als Kielpinski – ich hatte diese Woche Faktor 4 und mehr.«

Er zuckte die Achseln.

»Darüber nimmt das Rauschen zu. Kein Qubit. Kein Quantencomputer.«

»Und das ist alles?«

»Das ist alles.« Tate nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. »Oh. Eins noch.«

»Was?«

»Komm und sieh’s dir an.«

Ganz hinten im Raum auf einem niedrigen Schrank hatte Tate einen superflachen Dreißig-Zoll-Schirm installiert. Er betätigte eine Tastatur, und der Bildschirm leuchtete eisblau auf. Irgendwo tief in seinen parallelen Labyrinthen begann das Beowulfsystem den dekohärenzfreien Teilraum – den Kielpinski-Raum – eines Ionenpaars zu modellieren. Die zarten, energetischen Schleier erinnerten Kearney an Nordlichter. »Das kennen wir schon«, sagte er.

»Pass trotzdem auf«, sagte Tate. »Kurz bevor er zerfällt. Ich hab es gut eine Million mal verlangsamt, aber es ist trotzdem noch schwer zu sehen – da!«

Eine Kaskade von Fraktalen wie eine Vogelschwinge, so winzig, dass Kearney es kaum wahrnahm. Doch die weibliche Katze, die ihren Wahrnehmungsapparat anderen biologischen Umständen verdankte, war im Nu von seiner Schulter. Sie näherte sich dem leeren Bildschirm und kratzte über das Glas, wobei sie gelegentlich innehielt und auf ihre Vorderpfoten hinabblickte, als erwarte sie, etwas gefangen zu haben. Schließlich kam der Kater aus seinem Versteck hervor und machte Anstalten, sich zu beteiligen. Zornig fauchend sah sie auf ihn hinunter.

Tate lachte und schaltete den Bildschirm ab.

»Das macht sie jedes Mal«, sagte er.

»Sie sieht mehr als wir. Da ist noch etwas im Gange, wenn wir schon nichts mehr sehen.«

»Eigentlich ist da überhaupt nichts.«

»Lass noch mal laufen.«

»Das ist nur ein Artefakt, weiter nichts«, beharrte Tate. »Es stammt nicht aus dem eigentlichen Datenmaterial. Sonst hätte ich es dir überhaupt nicht gezeigt.«

Kearney lachte.

»Das ist ermutigend«, sagte er. »Lässt es sich noch weiter verlangsamen?«

»Käme auf einen Versuch an. Aber wozu die Mühe? Es ist ein Fehler.«

»Trotzdem«, sagte Kearney. »Nur zum Spaß.« Er streichelte die Katze. Mit einem Satz saß sie wieder auf seiner Schulter. »Braves Mädchen«, sagte er geistesabwesend. Er zog ein paar Sachen aus der Schreibtischschublade, darunter das verblasste Lederbeutelchen mit den Würfeln, die er dem Shrander vor dreiundzwanzig Jahren gestohlen hatte. Er schob die Hand hinein. Die Würfel fühlten sich warm an. Kearney fröstelte, als ihm plötzlich das kristallklare Bild der Frau aus den Midlands vor Augen trat, wie sie mitten in der Nacht auf dem Bett kniete und zu sich selbst flüsterte: »Ich möchte so gerne kommen.« Zu Tate sagte er: »Könnte sein, dass ich für eine Weile weg muss.«

»Du bist eben erst zurückgekommen«, erinnerte ihn Tate. »Wir kämen schneller voran, wenn du öfter da wärst. Die Kaltgasleute sind uns dicht auf den Fersen. Die erreichen stabile Zustände, wo es bei uns noch kriselt: Wenn die noch mehr Fortschritte machen, stehen wir bald ziemlich dumm da, weißt du?«

»Ich weiß.«

Kearney, der schon an der Tür war, hielt ihm die weiße Katze hin. Sie wand sich in seinen Händen. Ihr Bruder konnte sich noch immer nicht von dem inzwischen leeren Bildschirm trennen.

»Hast du schon Namen für die beiden?«

Tate sah verlegen drein.

»Nur für sie«, sagte er. »Ich dachte, wir könnten sie Justine nennen.«

»Passt sehr gut«, sagte Kearney anerkennend. An diesem Abend wollte er nicht in ein leeres Haus zurückkehren und rief Anna, seine erste Frau, an.

2 · Goldgräber von 2400 A. D.

K-Käpten Seria Maú Genlicher befand sich mit ihrem Schiff White Cat oben im Halo und fischte nach Kundschaft.

Dort oben, tausend Lichtjahre vom Zentrum der Milchstraße entfernt, treibt der Kefahuchi-Trakt über den halben Himmel, unsichtbare, weit ausladende Fahnen dunkler Materie hinter sich herziehend. Seria Maú gefiel es da draußen. Sie mochte den Halo. Sie mochte die ausgefransten Ränder des Trakts, die jedermann den Strand nannte, wo die zerfressenen uralten vormenschlichen Observatorien ihre chaotischen Umlaufbahnen woben, Instrumentenplattformen und Laboratorien, vor Jahrmillionen von Wesen aufgegeben, die keine Ahnung mehr hatten, wo sie sich befanden – die vielleicht nicht einmal mehr wussten, was sie waren. Sie alle hatten sich den Trakt näher besehen wollen. Einige hatten ganze Planeten in Position gebracht und waren dann verschwunden oder ausgestorben. Manche hatten ganze Sonnensysteme hierherbugsiert, um sie dann sich selbst zu überlassen.

Selbst ohne dieses ganze Zeug wäre der Halo ziemlich unwegsam gewesen. Und genau das machte ihn zum lohnenden Jagdrevier für Seria Maú, die zurzeit in einem nicht-Newton’schen Stillstand innerhalb eines klassischen Orbitalgewirrs Weißer Zwergsterne verharrte und auf Beute lauerte. Solche Momente gefielen ihr am besten. Der Antrieb war abgeschaltet. Der Bordfunk war abgeschaltet. Alles war abgeschaltet. Sie lauschte.

Ein paar Stunden zuvor hatte sie einen kleinen Konvoi – drei Dynaflow-Frachter, Zivilschiffe mit »archäologischen« Artefakten aus einem auf zwanzig Lichtjahren parallel zum Strand verlaufenden Bergbau-Gürtel, vorangescheucht von einer schwer bewaffneten Jolle namens La Vie Féerique – an diesen düsteren Ort gelockt und ihn dort zurückgelassen, derweil sie sich anderswo zu schaffen machte. Die Mathematik der White Cat wusste genau, wie die Schiffe wiederaufzufinden waren: Letztere, auf die normalen Tate-Kearney-Transformationen angewiesen, konnten sich mit Mühe und Not auf das Datum verständigen. Als Seria Maú zurückkehrte, hatte die von so viel Verantwortung überforderte Jolle ihre Frachter in den Schatten eines alten Gasriesen dirigiert und versuchte verzweifelt, einen Fluchtweg zu berechnen. Seria Maú beobachtete den Konvoi neugierig. Sie war gelassen, die anderen nicht. Sie belauschte ihren Sprechverkehr. Man begann, Verdacht zu schöpfen, argwöhnte, sie sei in der Nähe. Die La Vie Féerique hatte Drohnen ausgeschickt. Winzige aktinische Lichtscheibchen verrieten, wo dieselben auf Minenfelder stießen, die Seria Maú Tage zuvor in die unterschwelligen Gravitationsströmungen des Clusters gesät hatte.

»Ah«, sagte sie, als könne man sie hören. »Ihr solltet vorsichtiger sein hier draußen in der Leere.«

Die Worte waren noch nicht verklungen, als die White Cat durch eine Wolke nicht-baryonischer Trümmerpartikel tauchte, die leicht auf sie reagierten und wie mit Geisterfingern über den Rumpf strichen. Im verwaisten Menschenquartier erwachten ein paar Anzeigen der manuellen Back-up-Systeme zum Leben, tanzten und fielen auf null zurück. Als Materie war die Wolke kaum vorhanden, aber die Schattenoperatoren reagierten. Sie sammelten sich an den Bullaugen und arrangierten das einfallende Licht so, dass sie – sich im Spiegel betrachtend, wispernd, mit dünnen Fingern über den Mund oder durchs Haar fahrend und mit den trockenen Schwingen raschelnd – ein möglichst tragisches Bild abgaben.

»Wärst du nur so gewachsen, Aschenputtel«, wehklagten sie in der alten Sprache.

»Wär das schön«, sagten sie.

Das muss jetzt ja wohl echt nicht sein, dachte sie.

»Geht wieder auf eure Posten«, befahl sie, »oder ich lasse die Bullaugen entfernen.«

»Wir sind immer auf unseren Posten …«

»Wir wollten dich nicht kränken, Liebes. Bestimmt nicht.«

»… immer auf unseren Posten, Liebes.«

Als sei dies ein Signal gewesen, geriet die La Vie Féerique, die sich rasch der lokalen Sonne näherte, in ein Minenfeld.

Die Minen – zwei Mikrogramm Antimaterie, die von Hydrazintriebwerken, eingeätzt in Silikonscheibchen von einem Quadratzentimeter, an ihren Bestimmungsort gebracht wurden –, diese Minen waren nicht viel intelligenter als eine Maus; aber sobald sie wussten, dass man da war, war man tot. Das alte Dilemma. Man darf sich nicht bewegen, und man darf auch nicht stillstehen. Die Besatzung der La Vie Féerique wusste, was ihr widerfuhr, auch wenn alles sehr schnell ging. Seria Maú hörte sie schreien, als die Jolle der Länge nach aufriss und auseinanderbrach. Kurz darauf stießen zwei der Frachter zusammen, als sie sich mit ihren Dynaflowtreibern ins Raumgefüge krallten, um einen überstürzten und unzulänglich berechneten Fluchversuch zu wagen. Der dritte Frachter stahl sich zwischen die Trümmer rings um den Gasriesen, schaltete alles ab und richtete sich aufs Warten ein.

»Nein, nein, mein Dickerchen«, sagte Seria Maú. »So haben wir nicht gewettet.«

Wie aus dem Nichts tauchte sie backbord achtern auf und ließ sich entdecken. Das hatte eine jähe Zunahme des internen Funkverkehrs sowie einen vergnüglichen Versuch des Frachters zur Folge, sich in Sicherheit zu bringen; beidem setzte sie mit ein paar schwereren – wenn auch nicht ganz so intelligenten – Waffen ein Ende. Das Flackern der Explosion beleuchtete etliche kleine Asteroiden und ganz kurz das Wrack der Jolle, die – im Bann des lokalen chaotischen Attraktors und in ein wunderschönes radioaktives Glühen gehüllt – im endlosen Salto vorüberzog.

»Was heißt das eigentlich?«, fragte Seria Maú die Schattenoperatoren: »La Vie Féerique?«

Keine Antwort.

Wenig später glich sie ihre Geschwindigkeit der des Wracks an und hing im Raum, während es sich langsam überschlug: verbogene Rumpfplatten, gigantische Teile des Dynaflowantriebs, die aussahen wie kilometerlange, sich träge schlängelnde Kabel. »Kabel?«, lachte Seria Maú. »Was ist das denn für eine Technik?« Draußen am Strand gab es allerlei Merkwürdigkeiten zu sehen, eine Million Jahre alte Ideen, die man modifiziert hatte, um mit ihrer Hilfe kleine, rundbäuchige Schiffe wie dieses aufzumotzen. Unterm Strich lief es darauf hinaus, dass alles funktionierte. Wo man auch hinsah, man wurde fündig. Das war der schlimmste Albtraum überhaupt. Das machte es so aufregend. Derart in Gedanken versunken, manövrierte sie die White Cat behutsam näher heran, dorthin, wo die Leichen umhertrudelten. Es waren Menschen, die an ihrem Bug vorübertrieben. Männer und Frauen in ihrem Alter, aufgebläht, gefroren, mit sonderbar gespreizten Gliedmaßen. Seria Maú schob sich dazwischen, forschte in den Mienen, die voll stumpfer Furcht und Schicksalsergebenheit waren, ohne genau zu wissen, wonach. Nach einer Spur. Einer Spur ihrer selbst.

»Spur von mir«, grübelte sie laut.

»Sieh dich doch um«, wisperten die Schattenoperatoren und bedachten sie mit schwermütigen Blicken aus den Lücken zwischen ihren filigranen Fingern. »Und guck mal da!«

Jemand hatte in einem Druckanzug überlebt; die klobige weiße Gestalt ruderte wild mit den Armen und versuchte vergebens, durch das Nichts zu laufen, spreizte und krümmte sich wie eine Art Meerestier, aus Schmerz oder auch nur aus Furcht, Verstörtheit und Unglauben. Vermutlich, dachte Seria Maú, während sie der Übertragung aus dem Helm lauschte, schließt man einfach die Augen und sagt sich: »Ich komme hier raus, wenn ich nur die Ruhe bewahre.« Dann öffnet man sie und weiß mit einem Mal wieder ganz genau, wo man ist. Das wäre Grund genug, so zu schreien.

Sie überlegte noch, wie sie ihm den Rest geben sollte, als sie ein Stück eines Schattens streifte. Es war ein fremdes Schiff. Es war riesig. Das gesamte K-Schiff schlug Alarm. Schattenoperatoren schwärmten aus. Die White Cat löste sich vollkommen auf; in einem Schaum aus Quantenereignissen, nicht-kommutativen Mikrogeometrien und kurzlebigen exotischen Vakuumzuständen verschwand sie aus dem lokalen Raum, um, alle Systeme einsatzbereit, einen Kilometer von ihrer ursprünglichen Position entfernt wiederaufzutauchen. Entsetzt stellte Seria Maú fest, dass sie sich immer noch im Schatten des Störenfrieds befand. Er war derart groß, dass er nur ihren Arbeitgebern gehören konnte. Für alle Fälle setzte sie ihm einen Schuss vor den Bug. Der nastische Kommandant ließ sein Schiff nervös von ihr abrücken. Gleichzeitig schickte er sein holografisches Double zur White Cat. Es hockte vor dem Tank, in dem Seria Maú lebte; aus den Gelenken der zahlreichen gelblichen Beine sickerte des Realismus halber Flüssigkeit. Weshalb es von Zeit zu Zeit zirpte, blieb Seria Maú ein Rätsel. Der knochig wirkende Schädel besaß mehr Fühler, Facettenaugen und Schleimgehänge, als ihr lieb war. Diesen Anblick konnte man nicht so leicht ignorieren.

»Du weißt, wer wir sind«, sagte der Kommandant via Double.

»Hältst du es für klug, ein K-Schiff so zu erschrecken?«, schimpfte Seria Maú.

Das Double schnalzte nachsichtig.

»Wir wollten dich nicht in Verlegenheit bringen«, sagte der Kommandant. »Wir haben uns nicht angeschlichen. Du hast unsere Sendungen einfach überhört, weil du …« – er suchte nach Worten und schloss nervös – »… hiermit beschäftigt warst.«

»Das war gerade eben erst.«

»Das war vor fünf Stunden«, sagte der Kommandant. »So lange versuchen wir schon, mit dir Kontakt aufzunehmen.«

Seria Maú war so erschüttert, dass sie die Verbindung unterbrach. Derweil das Double sich in ein braunes, rauchartiges Transparent seiner selbst verwandelte, versteckte sie die White Cat in einem fernen Asteroidenschwarm; sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Sie schämte sich. Warum hatte sie sich so verhalten? Wo war sie mit ihren Gedanken gewesen, dass sie sich derart ausgeliefert hatte und fünf Stunden lang nicht ansprechbar gewesen war? Während sie sich zu erinnern versuchte, begann sich die Mathematik des nastischen Schiffes mit zwei oder drei Milliarden Positionsschätzungen pro Nanosekunde anzupirschen. Nach ein oder zwei Sekunden ließ Seria Maú sich finden. Das Double wirkte im Nu wieder solide.

»Was«, fragte Seria Maú den Kommandanten, »würdest du unter der Frage nach einer Spur von mir verstehen?«

»Nicht viel«, sagte der Kommandant. »Hast du das deswegen getan? Um eine Spur von dir zu hinterlassen? Bei uns fragt man sich, warum du deine eigene Art so unbarmherzig tötest.« Seria Maú bekam diese Frage nicht zum ersten Mal gestellt.

»Sie sind nicht von meiner Art«, sagte sie.

»Es sind Menschen.«

Sie quittierte dieses Argument mit dem Schweigen, das es verdiente, und sagte dann: »Wo ist das Geld?«

»Ah, das Geld. Wo es immer ist.«

»Ich will keine lokale Währung.«

»Wir benutzen fast nie lokale Währungen«, sagte das Double des Kommandanten, »auch wenn wir manchmal Geschäfte darin machen.« Seine größeren Gelenke traten in Erscheinung, um irgendwelche Gase abzulassen. »Bist du wieder kampfbereit? Am Strand, vierzig Lichtjahre von hier, hätten wir mehrere Missionen im Angebot. Du müsstest es mit Kriegsschiffen aufnehmen. Die Einsätze wären Teil des Krieges, nicht solche Versteckspielchen mit Zivilisten.«

»Oh, euer Krieg«, sagte sie achtlos. Fünfzig Kriege, große und kleine, wurden allein hier draußen in Sichtweite des Kefahuchi-Trakts geführt; doch es gab nur einen Kampf, den Kampf um die Überreste. Sie hatte sie noch nie gefragt, wer ihr Feind war. Sie wollte es nicht wissen. Die Nastischen waren ihr ohnehin schon fremd genug. Im Allgemeinen war es unmöglich, die Motive von Aliens zu verstehen. Motive, dachte sie angesichts des Konglomerats aus Beinen und Augen, das vor ihr hockte, Motive sind eine Sache des Sinnesapparats. Motive sind eine Sache der Umwelt. Der Katze fällt es schwer, sich die Motive der Stubenfliege in ihrem Mund vorzustellen. Sie dachte nach. Der Stubenfliege fällt es noch schwerer, entschied sie.

»Ich habe, was ich will«, erklärte sie dem Double des Kommandanten. »Ich will nicht mehr für euch kämpfen.«

»Und wenn wir das Angebot erhöhen?«

»Das wäre zwecklos.«

»Wir könnten dich zwingen.«

Seria Maú lachte.

»Ich bin schneller hier weg, als dein Schiff denken kann. Wie willst du mich finden? Das ist ein K-Schiff.«

Der Kommandant ließ eine wohl kalkulierte Pause verstreichen.

»Wir wissen, wo du hinwillst.«

Diese Bemerkung erzeugte bei Seria Maú ein Gefühl von Kälte, das aber nur den Bruchteil einer Sekunde währte. Sie hatte bekommen, was sie von den Nastischen gewollt hatte. Sollen sie tun, was sie nicht lassen konnten. Sie unterbrach den Kontakt und betrat den mathematischen Raum der White Cat.

»Schau her!«, wurde sie von der Mathematik empfangen. »Wir können dorthin. Oder dorthin. Oder dorthin. Wir können egal wohin. Lass uns einfach irgendwohin gehen!«

Alles lief genauso, wie sie es vorhergesehen hatte. Ehe das nastische Schiff reagieren konnte, hatte Seria Maú sich ihrer Mathematik und diese sich irgendeiner Realitätsdoublette bedient, und die White Cat war aus diesem Raumsektor verschwunden, nichts als einen sich verflüchtigenden Wirbel aus geladenen Teilchen hinterlassend. »Siehst du wohl?«, sagte Seria Maú. Die restliche Reise verlief so langweilig wie immer. Die mächtigen Sensoren der White Cat – Antennen, die eine Astronomische Einheit lang waren, fraktal zusammengefaltet auf anderthalb Dimensionen und als gerade einmal zwanzig Meter langer Belag auf der äußeren Hülle angebracht – entdeckten nichts weiter als das Flüstern von Photinos. Ein paar Schattenoperatoren sammelten sich piepsend und fuchtelnd an den Bullaugen und starrten in das Dynaflow hinaus, als hätten sie dort etwas verloren. Vielleicht hatten sie das ja. »In diesem Augenblick«, verkündete die Mathematik, »bin ich dabei, die Schrödinger-Gleichung für jeden Punkt auf einem Gitter von zehn räumlichen und vier zeitlichen Dimensionen zu lösen. Das kann nur ich.«

3 · New Venusport, 2400 A. D.

Tig Vesicle betrieb eine Tankfarm in der Pierpoint Street.

Er war der typische Neue Mensch, groß, blass und mit dem charakteristischen orangeroten Haarschopf, der die Vertreter seiner Gattung aussehen lässt, als fühlten sie sich unentwegt vom Leben überrascht. Seine Tankfarm war zu weit oben in der Pierpoint Street, um viel abzuwerfen. Sie lag in den oberen Siebenhundertern, wo die Banken von Bekleidungsgeschäften, Schneidereien und zwielichtigen Chopshops abgelöst wurden, deren Inhaber veraltete Cultivare und lebendige Tattoos verhökerten.

Und das hieß: Vesicle musste noch andere Eisen im Feuer haben.

Er kassierte Mieten für die Cray-Schwestern. Er fungierte gelegentlich als Mittelsmann bei sogenannten »Off-World-Importen«, bei denen es um Waren und Dienstleistungen ging, die von der Earth Military Contracts Inc. untersagt waren. Er handelte mit kleinen Mengen Heroin, das mit Nebennierenprodukten aus der hiesigen Tierwelt verschnitten war. Nichts von alledem nahm besonders viel Zeit in Anspruch. Seine Tage verbrachte er größtenteils auf der Farm und onanierte dabei etwa alle zwanzig Minuten vor den holografischen Pornoshows; die Neuen Menschen waren hervorragende Masturbierer. Er kontrollierte die Tanks. In der übrigen Zeit schlief er.

Wie die meisten Neuen Menschen schlief auch Tig Vesicle nicht gut. Es war, als würde ihm etwas fehlen, etwas, das ein erdähnlicher Planet nicht zu bieten hatte und das sein Körper weniger brauchte, wenn er wach war. (Selbst in der Wärme und Dunkelheit des Geheges, das er als sein »Zuhause« betrachtete, zuckte und wimmerte er im Schlaf und trat mit den langen Storchenbeinen aus. Seiner Frau erging es nicht anders.) Er träumte schlecht. Am schlimmsten war es, wenn er davon träumte, Geld für die Cray-Schwestern einzutreiben; aber es war die Pierpoint Street selbst, die ihn durcheinanderbrachte, im Traum war sie eine Straße, die ihn kannte, eine Straße voller Tücke und bösartiger Intelligenz.

Es war früher Vormittag, und schon waren zwei Polizisten dabei, ein Rikschagirl aus der Gabel ihres Vehikels zu zerren. Sie krümmte sich vor Lachen und fuchtelte herum wie ein gestürztes Pferd. Die Haut rings um ihren Mund lief blau an, als die Welt von ihr abrückte und schließlich verschwand. Auf ihrem persönlichen Soundtrack lief Street Life,und wieder einmal hatte Café électrique ein beherztes Menschenkind zerstört. Als er etwa auf halber Länge in die Pierpoint Street wollte, stellte Vesicle fest, dass die Gebäude keine Nummern hatten, es gab nichts, was er wiedererkannte. Ging es nun rechts zu den hohen Nummern oder links? Er kam sich vor wie ein Idiot. Diese Anmutung ging nahtlos in Panik über, und er fing an, ungeachtet des Verkehrs immer wieder die Richtung zu wechseln. Folglich entfernte er sich nie weiter als ein, zwei Blocks von der Seitenstraße, aus der er gekommen war. Nach einer Weile bekam er flüchtig die Cray-Schwestern selbst zu Gesicht, wie sie vor einer Falafel-Stube posierten und auf ihre Mietzahlungen warteten. Sie mussten ihn gesehen haben. Er blickte in eine andere Richtung. Der Job musste bis Mittag erledigt sein, und er hatte noch nicht einmal damit begonnen. Schließlich ging er in ein Restaurant und fragte den Erstbesten, in welche Richtung er gehen müsse, nur um zu erfahren, dass das gar nicht die Pierpoint Street war. Es war eine völlig andere Straße. Er würde Stunden brauchen, um dahin zu gelangen, wo er eigentlich sein sollte. Er war selbst schuld. Er war zu spät losgegangen heute früh.

Vesicle wachte weinend auf. Unwillkürlich identifizierte er sich mit dem sterbenden Rikschagirl; schlimmer noch: Irgendwann zwischen Wachen und Träumen waren »Mieten« zu »Tränen« geworden, und das, so empfand er, brachte das Leben seiner ganzen Art auf den Punkt. Er stand auf, wischte sich den Mund am Mantelärmel ab und trat auf die Straße hinaus. Er hatte diesen komischen ungelenken Gang, den alle Neuen Menschen haben. Zwei Blocks weiter in Richtung Klinik für exotische Krankheiten kaufte er sich eine Portion Muranofisch in Curry, die er mit einer Einwegholzgabel aß, wobei er sich den Plastikbehälter dicht unters Kinn hielt und das Essen mit ungeschickten, gierigen Bewegungen in den Mund schaufelte. Dann kehrte er in seine Tankfarm zurück und dachte über die Cray-Schwestern nach.

Evie und Bella hatten mit digitalisierten Kunst-Retropornos angefangen – wobei sie sich auf Oberflächen spezialisierten, die derart realistisch wirkten, dass sie den Geschlechtsakt zu etwas Maschinellem und Interessanten verfremdeten –, um ihr Geschäft dann, nach dem Zusammenbruch des Haussemarkts von 2397, aufs »Tanken« und die damit verbundenen Gaunereien auszuweiten. Jetzt waren sie reich. Vesicle hatte eher Ehrfurcht als Angst vor den beiden. Er war jedes Mal ganz hin und weg, wenn sie in seinen Laden kamen, um die Mieten abzuholen oder die Einnahmen zu prüfen. Er kannte jede Handbewegung und jede Geste der Schwestern und versuchte immer so zu reden wie sie.

Nachdem er noch ein wenig länger geschlafen hatte, machte Vesicle einen Rundgang durch die Farm und kontrollierte die Tanks. Irgendetwas veranlasste ihn, bei einem davon stehen zu bleiben und die Hand daran zu legen. Der Tank fühlte sich warm an, als habe die Aktivität im Innern zugenommen. Wie bei einem Ei.

In dem Tank war Folgendes im Gange:

Chinese Ed wachte auf, und nichts in seinem Haus funktionierte. Der Wecker am Bett wollte nicht verstummen, der Fernseher rauschte, und der Kühlschrank antwortete einfach nicht. Es kam noch schlimmer: Nachdem er die erste Tasse Kaffee getrunken hatte, pochten zwei Burschen aus dem Büro des Staatsanwalts an die Tür. Sie trugen zweireihige Sharkskinanzüge mit offenen Jacketts, sodass man sehen konnte, dass sie bewaffnet waren. Er kannte sie aus der Zeit, als er selbst noch im Büro des Staatsanwalts gearbeitet hatte. Es waren Idioten. Sie hießen Hanson und Rank. Hanson war dick und ging die Dinge ruhig an, doch Otto Rank war wie Rost. Er schlief nie. Angeblich hatte er es selbst auf den Posten des Staatsanwalts abgesehen. Diese beiden saßen auf hochbeinigen Hockern an der Frühstücksbar in Eds Küche und Ed machte Kaffee.

»He«, sagte Hanson. »Chinese Ed.«

»Hanson«, sagte Ed.

»Also was weißt du, Ed?«, sagte Rank. »Es heißt, du wärst am Brady-Fall interessiert.« Er lächelte und beugte sich vor, bis er Ed direkt in die Augen blickte. »Wir sind auch daran interessiert.«

Hanson wirkte nervös. »Wir wissen, dass du am Tatort warst, Ed«, sagte er.

»Halt die Klappe«, fuhr Rank ihn an. »Darüber reden wir nicht mit ihm.« Er grinste Ed an. »Warum hast du ihn umgelegt, Ed?«

»Wen soll ich umgelegt haben?«

Rank blickte kopfschüttelnd zu Hanson, wie um zu sagen: Was soll man von diesem Scheißkerl halten?

»Leck mich, Rank. Willst du noch Kaffee?«, erwiderte Ed.

»He«, sagte Rank. »Leck du mich.« Er nahm eine Handvoll Messinghülsen heraus und kippte sie über die Frühstücksbar. »45er Colt«, sagte er. »Militärmunition. Dumdumgeschosse. Zwei verschiedene Kanonen.« Die Messinghülsen tanzten und kullerten. »Zeigst du mir deine Kanonen, Ed? Die zwei verdammten Colts, die du mit dir herumschleppst wie ein Fernsehdetektiv? Wetten, dass wenigstens einer passt?«

Ed fletschte die Zähne.

»Um das rauszufinden, musst du meine Kanonen erst mal haben. Du willst sie mir also abnehmen, jetzt und hier? Traust du dir das zu, Otto?«

Hanson wirkte besorgt. »So war das nicht gemeint, Ed«, sagte er.

»Wir können uns auch den verdammten Durchsuchungswisch holen, Ed, und dann kommen wir zurück und beschlagnahmen die Kanonen«, erwiderte Rank. Er zuckte die Achseln. »Wir können dich verhaften, dir dein Haus wegnehmen. Wir könnten deine Frau mitnehmen, wenn du noch eine hättest, und ihr mal zeigen, wo’s langgeht bis Samstag. Willst du es auf die harte Tour, Ed, oder auf die sanfte?«

»Macht doch, was ihr wollt«, sagte Ed.

»Können wir aber nicht, Ed«, sagte Otto Rank. »Diesmal nicht. Mich wundert, dass du das nicht weißt.« Er zuckte die Achseln. »He«, fuhr er fort, »ich glaube, du weißt es ganz genau.« Er hob den Finger vor Eds Gesicht, zielte wie mit einer Pistole. »Bis später.«

»Rutsch mir den Buckel runter, Rank«, sagte Ed.

Er wusste, dass etwas nicht stimmte, als Rank lediglich lachte und ging.

»Scheiße, Ed«, entgegnete Hanson. Er zuckte die Achseln. Dann ging er auch.

Nachdem Ed sich vergewissert hatte, dass sie fort waren, ging er hinaus zu seinem Wagen, einem 47er Dodge, in den jemand den 409 eines 52er Caddy gestopft hatte. Er ließ den Motor an, saß einen Moment lang am Steuer und hörte zu, wie der Doppelvergaser Luft ansaugte. Er betrachtete seine Hände.

»Macht doch, was ihr wollt, ihr Vollidioten«, flüsterte er. Dann ließ er die Kupplung los und fuhr in die Stadt.

Er musste herausfinden, was Sache war. Er kannte eine Tussi aus dem Büro des Staatsanwalts, Robinson hieß sie. Er überredete sie zu einem Mittagessen in Sullivans Diner. Sie war eine große Frau mit einem breiten Lächeln, ordentlichen Titten und einer Art, sich die Mayo aus dem Mundwinkel zu lecken, die erahnen ließ, dass sie das Gleiche auch ziemlich gut bei jemand anders konnte. Er hätte sich selbst vergewissern können, aber im Moment interessierte er sich mehr für den Brady-Fall und dafür, was Rank und Hanson wussten.

»He«, sagte er. »Rita.«

»Lass das Gesülze, Chinese Ed«, sagte Rita. Sie trommelte mit den Fingern und sah zum Fenster hinaus auf die stark befahrene Straße. Sie war aus Detroit hierhergekommen, weil sie sich eine Veränderung gewünscht hatte. Doch das hier war bloß eine weitere Schwefeldioxydstadt, eine Stadt ohne Hoffnung und voll rußiger Abgase. »Du musst kein Süßholz raspeln«, säuselte sie.

Chinese Ed zuckte die Achseln. Er war schon wieder halb zur Tür hinaus, als er sie sagen hörte: »He, Ed. Vögelst du noch?«

Er drehte sich um. Der Tag wirkte mit einem Mal vielversprechender. Rita Robinson grinste, und er kam auf sie zu, als etwas Verrücktes passierte. Die Türöffnung von Sullivans Diner verdunkelte sich. Rita, die den Grund dafür sehen konnte, starrte in einer Art erwachender Furcht an Ed vorbei; Ed, der es nicht konnte, wollte sie fragen, was denn los sei. Rita hob die Hand und zeigte zur Tür.

»Himmel«, sagte sie. »Sieh mal, Ed.«

Er wandte den Kopf. Eine riesige gelbe Ente zwängte sich mühsam in den Diner.

4 · Herzensangelegenheiten

»Du rufst doch nie an!«, sagte Anna Kearney.

»Ich rufe jetzt an«, antwortete er wie zu einem Kind.

»Du kommst nie vorbei.«

Anna Kearney wohnte in Grove Park, in einem Straßengewirr zwischen Eisenbahn und Fluss. Sie war eine dünne Frau, die ständig Gefahr lief, magersüchtig zu werden, und ständig einen verwirrten Ausdruck im Gesicht hatte; sie hatte seinen Namen behalten, weil sie ihren eigenen nicht mochte. Ihre Wohnung, früher eine Sozialwohnung, war dunkel und unaufgeräumt. Es roch nach billiger Seife, Earl Grey und saurer Milch. Damals, zu Beginn des Mietverhältnisses, hatte sie Fische an die Badezimmerwände gemalt und die Rückseiten der Türen mit Briefen von ihren Freunden tapeziert, mit Polaroidfotos und Memos. Es war eine alte Gewohnheit, doch viele der Memos waren jüngeren Datums.

Wenn du es nicht tun willst, dann musst du es nicht tun, las Kearney. Tue nur, was du kannst. Lass alles andere bleiben.

»Du siehst gut aus«, sagte er.

»Du meinst, ich bin dick geworden. Immer, wenn das jemand sagt, weiß ich, dass ich zu dick bin.«

Er zuckte die Achseln.

»Na ja, es ist jedenfalls nett, dich zu sehen«, sagte er.

»Ich nehme gerade ein Bad. Ich habe es mir einlaufen lassen, als du angerufen hast.«

In einem Hinterzimmer hob sie ein paar Dinge für ihn auf: ein Bett, einen Stuhl und eine kleine grün gestrichene Kommode, auf der zwei, drei gefärbte Federn, der Stummel einer dreieckigen Duftkerze und eine Handvoll Kiesel lagen, die immer noch entfernt nach dem Meerwasser rochen, das sie einst umspült hatte, hübsch arrangiert vor einem gerahmten Foto, das ihn mit sieben Jahren zeigte.

Obwohl es doch sein eigenes Leben war, von dem diese Dinge erzählten, kam es ihm verschlossen und fremd vor. Nachdem er sie einen Moment lang angestarrt hatte, rieb er sich mit den flachen Händen durchs Gesicht und zündete die Kerze an. Er schüttelte die Würfel des Shranders aus dem Lederbeutelchen und warf sie mehrmals. Ungewöhnlich groß, aus einem polierten bräunlichen Material, das er für menschlichen Knochen hielt, schlitterten und kullerten sie zwischen die übrigen Gegenstände und ergaben Muster, mit denen er nichts anzufangen wusste. Bevor er die Würfel gestohlen hatte, hatte er Tarotkarten gelegt. Irgendwo in der Kommode mussten noch zwei oder drei Spiele liegen, schmutzig vom Gebrauch, aber noch in den alten Schachteln.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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