Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Was hast du in deinem Leben geschafft? Was hast du zu sagen, wenn du einst vor deinem Schöpfer stehst?" Diese Gedanken kamen dem Autor eines schönen Tages unter der heißen Sonne Spaniens - Gedanken, die sein Leben verändern sollten. Karlheinz Böhm und seine Eine-Mark-Wette kamen ihm in den Sinn. Mit seinem Projekt hat der berühmte Schauspieler vielen, vielen Menschen den Start in ein würdiges Leben erleichtert. Warum sollte das nicht noch mal klappen? Ein Projekt auf die Beine zu stellen, das den Ärmsten der Armen Unterstützung anbietet … In seinem Buch schildert der Autor einfühlsam seine Kindheit und seinen beruflichen Werdegang. Er übt scharfe Kritik am deutschen Lebensmitteleinzelhandel und spart auch Politik, Wirtschafts- und Finanzwelt nicht aus. Mithilfe seines Projekts "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" will Roland Reuss versuchen, das Elend dieser Welt ein wenig zu lindern! Helfen Sie seinem Hilfsprojekt auf die Beine! Mit dem Kauf dieses Buches unterstützen Sie die Stiftung "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Durch Hilfe und Selbsthilfe Elendsviertel in menschwürdige Wohnsiedlungen verwandeln" mit einem Euro.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 412
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Roland Reuss
Meine Vision, die Welt lebenswerter zu machen
© 2016 Roland Reuss
Umschlag: Rulf Neigenfind, Paris
Coverabbildung: NASA
Lektorat: Christoph Sattler, Dr. Matthias Feldbaum
Website: www.roland-reuss.de
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7345-5306-6
Hardcover:
978-3-7345-5307-3
E-Book:
978-3-7345-5308-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitungund öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Freundschaft ist etwas Wunderbares. Wie leicht kommt uns das Wort „Freund“ über die Lippen, wenn es uns gut geht und wenn der Freund von einem selbst nichts mehr will als deine Freundschaft. Was eine Freundschaft wert ist, erfährst du erst dann, wenn du sie benötigst, und sie, vielleicht, dann nicht findest. Mein Freund R. R. war da, als ich ihn darum bat, mich bei der Verwirklichung dieses und auch meines nächsten Buches zu unterstützen. Seiner menschlichen Großherzigkeit und seiner gelebten Freundschaft verdanken wir dieses Buch. Und deshalb widme ich auch zu Recht dir und unserer Freundschaft dieses Buch, mein lieber Freund!
Für das Cover dieses Buches zeichnet mein Freund Rulf Neigenfind, Paris, verantwortlich.
An dich, meine liebe Irmi. Für deine unendliche Geduld und Langmut. Für die vielen tausend Stunden, die du alleine, ohne mich an deiner Seite, verbringen musstest. Nie hörte ich von dir ein Wort der Kritik und des Missmutes. Welch ein wunderbarer, großzügiger Liebesbeweis, den ich dir aus ganzem Herzen nicht nur mit Worten, sondern auch durch Taten erwidern werde.
Der Wunsch, dieses Buch zu schreiben, entstand an einem herrlichen Morgen. Ich lag auf einer Liege und schaute gegen den Himmel in die Morgensonne. Das war in Sotogrande, einem wunderschönen, friedlichen Ferienresort, das auf Sichtweite zu Gibraltar und eine Autostunde von Marbella entfernt liegt, wo die Neureichen, die Mafia und der ehrwürdige europäische alte Adel seine rauschenden Partys feiern.
Dieses Buch widme ich all den Menschen, die nicht aufhören, an sich zu zweifeln, die der Meinung sind, dass sie für diese Welt, was auch immer sie darunter verstehen mögen, nicht gut genug sind.
Bin ich deshalb ein unverbesserlicher Weltverbesserer? Der alles besser weiß? Oder gehöre ich nur zu denen, die noch an das Gute im Menschen glauben und sich trotz aller Rück- und Nackenschläge von dem Glauben daran nicht abbringen lassen?
Ich glaube an den einen Gott und ich glaube an das Menschliche im Menschen.
Es gibt viel mehr Menschen, die ihrem Nächsten Gutes tun, als Schlechte, Böse, die ihre Mitmenschen belügen, bestehlen, misshandeln, missbrauchen, quälen, foltern und bestialisch töten.
In der Natur wird getötet um des Überlebens willen, mit dem Ziel, sich fortzupflanzen.
Der Mensch dagegen tötet aus Macht-, Besitz- und Geldgier. Aus Herrschsucht. Aus Neid. Aus Eifersucht. Aus Rache. Aus verletztem Stolz. Aus dem Glauben und aus der Überzeugung heraus, Familientraditionen schützen und bewahren zu müssen. In der Annahme, seine Religion vor Andersgläubigen verteidigen, bewahren und beschützen zu müssen. Gründe, tiefe Abgründe, die Menschen meinen lassen, das Recht zu besitzen, Menschen deshalb töten zu dürfen.
Im völligen Gegensatz zu dieser Spezies Mensch stehen jene Menschen, die ihren Urlaub opfern, um im fernen Afrika, im Nahen und Fernen Osten, in Südamerika oder in irgendeinem Land Asiens Kranke zu pflegen, zu operieren und zu heilen. Oder sie unterrichten in Schreiben und Lesen, in Krankenpflege, in Ackerbau und Viehzucht.
Dann wiederum wissen wir von Menschen, die von ihren Regierungen in ferne Länder entsandt werden. Mit dem alleinigen Ziel – mal aus politischen, mal aus wirtschaftlichen Gründen –, dort lebende Menschen im Umgang und im Gebrauch von Waffen auszubilden. Damit Regierungen zu stürzen. Jahrzehnte andauernde Guerillakriege zu ermöglichen.
Und was tun die Kirchen? Sehr viel und doch viel zu wenig! Während sie den Glauben an eine bestimmte Gottheit verbreiten, bauen sie gleichzeitig auf die Macht ihrer Religion. Sie sind deshalb nicht frei von irdischen Fehlern. Weil auch sie nur Menschen sind? Oder aber, weil ihre Religion, nicht ihr Glaube, sie in ein Korsett zwängt, das gegen jede menschliche Natur ist? Sie predigen die Liebe und denken dabei an politische und geistige Macht.
„Gäbe es aber die Liebe nicht …“ (1. Korinther 13) … so würde die Welt nur noch aus Hass, Mord und Totschlag bestehen. Nagasaki und Hiroshima mit den Bildern nach den beiden Atombombenabwürfen stehen für uns alle zur Warnung, wie schnell ein Atomschlag in einer Apokalypse enden kann.
Um das zu verhindern, sollte jeder von uns auf diesem Planeten nach Liebe, Nächstenliebe, gegenseitigem Respekt, Toleranz, Rücksichtnahme im täglichen Leben, im Straßenverkehr, im Beruf, im Umgang mit der Natur und mit unserer Umwelt streben. Dies alles sind Garanten dafür, dass wir uns zu Recht als „Menschen“ bezeichnen dürfen.
„Heute bist du oben – und ich unten.
Doch morgen schon kann ich oben und du unten stehen.“ (Nino Bocchi)
Der Weg zum Erfolg ist oftmals mühsam –
der Absturz meist unerwartet und schmerzhaft.
Konnte ich mir mein Kreuz aussuchen, als ich am 10. März 1947 in Stuttgart im Marienhospital geboren wurde? Vor mir hatte ich eine Vita, wie es sie nicht alle Tage gibt. Ausgestattet mit all jenen Höhen und Tiefen, die ähnlich wie das Salz und der Pfeffer eine Speise verfeinern, ein Menschenleben erst interessant machen. Das mir zugesprochene Kämpferherz und meinen unbeirrbaren Glauben an das Gute im Menschen hatte ich sicherlich zu einem großen Teil meinen Genen zu verdanken, und noch viel mehr meiner katholischen Erziehung. Von all dem ahnte ich nichts, als ich nach einem kräftigen Klaps auf meinen zarten, kleinen Hintern den ersten Schrei tat.
Noch, dass ein II. Weltkrieg gerade einmal zwei Jahre hinter uns lag. Auch nicht, dass vor Beginn dieses vernichtenden und zerstörerischen Krieges Wiesbaden und Stuttgart zu den schönsten Städten Deutschlands gezählt hatten. Beide lagen sie jetzt, wie die meisten deutschen Großstädte, zerbombt in Trümmern. Noch viel schlimmer aber waren der furchtbare Hunger, die eklatante Wohnungsnot, der Mangel an Kleidung, an Schulen, an Lehrern und Ärzten. Millionen Tote, auf allen Seiten. Millionen körperlich und seelisch Verletzte. Von Granaten und Bomben verstümmelt. Ohne jeglichen seelischen oder finanziellen Beistand. Jeder Einzelne auf sich allein gestellt. Nur der Selbsterhaltungstrieb hielt die Menschen am Leben. Ließ sie Hunger, körperlichen und seelischen Schmerz ertragen. Der Wiederaufbau Deutschlands ist ein einmaliges Beispiel dafür, was Menschen zu leisten in der Lage sind.
Von all dem wusste und ahnte ich, Gott sei Dank, damals nichts, als ich noch müde von der schweren Geburt mein kleines Mäulchen aufriss und damit meiner völlig entkräfteten Mutter ein erstes, glückliches Lächeln abrang. Dem hatte ich es in meiner ganzen Unwissenheit auch zu verdanken, dass sie mir sogleich ihre Brust anbot. Als wäre es für mich das Selbstverständlichste auf der Welt, sog ich mich an ihr fest und ließ erst wieder von ihr ab, als ich satt und müde vom Trinken auf ihr einschlief. In weißen Windeln, fein säuberlich gewickelt. Mutter und Sohn. Sie völlig erschöpft und mit den Gedanken bereits zu Hause. Er hatte erst einmal den Bauch voll. Was kümmerte ihn die Welt und sein Kreuz? Ganz anders die Mutter. Woher würde sie die Kohlen zum Heizen bekommen, um ihren neugeborenen Sohn und die daheim schon sehnsüchtig wartende Tochter baden zu können? Den Kleinen konnte sie, solange ihre Brüste Milch produzierten, stillen und damit am Leben erhalten. Auf welchem Weg aber konnte sie an Lebensmittel gelangen, um Mann, Tochter und sich selbst einigermaßen sattzubekommen? All diese Gedanken begannen sie jetzt schon zu quälen, während ihr Blick verloren durch das weiß gekalkte Krankenzimmer glitt.
Trotz dieser nicht gerade erfreulichen Begleitumstände hatte jener kleine Mann im Vergleich zu den vielen anderen Millionen seiner Geschlechtsgenossen, die am selben Tag zur Welt gekommen waren, noch Glück gehabt. Immerhin war er mit einer weißen Haut geboren worden. In einem jetzt noch völlig zerbombten Land zwar, doch bereits zehn Jahre später würde es zu einem von der gesamten Welt bewunderten und bis dahin niemals gekannten Wirtschaftsaufschwung ansetzen. Damit würden diesem Jungen alle Chancen offenstehen. Nicht umsonst spricht der Volksmund davon, dass bereits mit der Geburt jedem Menschen sein Schicksal, das aber auch sein Kreuz umfasst, in die Wiege gelegt wird.
Stellt sich nur die Frage, worauf ich und wahrscheinlich niemand eine Antwort finden wird: Was kann ein Baby dafür, dass es zur selben Zeit, zur selben Sekunde in einem Slum von Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, Bombay, Manila oder Nairobi zur Welt kommt – ohne dass ihm fein säuberlich die Nabelschnur durchtrennt wird, ohne dass es sofort gewaschen und anschließend in saubere Windeln gewickelt wird? Die beiden verbinden im Grunde genommen nur zwei Dinge: Erstens: Sie wurden unter denselben Schmerzen von ihren Müttern geboren. Zweitens: Jedes von ihnen kam gleich nackt und bloß auf die Welt. Damit hat es sich aber auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Gleich nach dem ersten Schrei, wenn sich die kleinen Lungen erstmalig mit Sauerstoff gefüllt haben, wird das Leben der beiden einen voneinander völlig unterschiedlichen Verlauf nehmen. Für den einen wird es aufgrund seiner dunklen Hautfarbe, seiner Rasse, aber auch wegen seiner Herkunft aus einer niedrigen Kaste, weder Gleichheit noch Gerechtigkeit geben. Soziale Ungerechtigkeit, Analphabetentum, Hunger, Krankheiten werden ihn sein Leben lang begleiten. Ein Kreuz, das der kleine weiße Junge aus Stuttgart auf keinen Fall mit ihm tauschen wollte. Dieser kleine dunkelhäutige Junge hatte das unsägliche Pech, in einem von vielen Elendsvierteln auf die Welt zu kommen, noch dazu in einem Land, wo die Geburt darüber entscheidet, wer in Armut oder wer in Reichtum aufwachsen und leben wird. Wer mit oder ohne Anrecht auf Bildung. Wer als Analphabet und Sklave der Reichen. Wer als Gebildeter und Herrscher über ein Volk von Armen, mit eigenen Sklaven. Für die niedrigen Kasten bedeutet dies einen Teufelskreis, aus dem es für sie kein Entrinnen gibt. Aber muss ich mir deshalb gleich, nur weil ich mit weißer Hautfarbe geboren wurde, ein schlechtes Gewissen machen? Wie verhält es sich aber mit dir, der du mit einer schwarzen oder mit einer gelben oder mit einer roten Hautfarbe auf diese Welt geschickt wurdest? Niemand kann etwas für seine Hautfarbe. Keiner von uns kann sich schließlich seine Eltern aussuchen. Von der Hautfarbe einmal ganz abgesehen: Wie viele Kinder unter einer Million von Kindern haben das unglaublich seltene Glück, in einem sogenannten wohlbehüteten, noch dazu wohlhabenden Elternhaus aufzuwachsen? Etwas höher dürfte der Prozentsatz jener Babys ausfallen, deren Eltern der Arbeiterklasse, damit aber immer noch einer relativ sozial schwachen Schicht, angehören. Diese Babys werden sich ganz gehörig anstrengen müssen, darüber hinaus sehr viel Glück haben müssen, damit sie ihre Schulausbildung mit einem guten Abschluss beenden werden. Von einem Abitur, das ihnen den Weg zu einem Studium eröffnen könnte, ganz zu schweigen. Dennoch, ganz auszuschließen ist es nicht. Vor allem, wenn die Eltern dafür bereit sind, durch Extrajobs noch etwas dazuzuverdienen, um ihm dadurch den Besuch einer höheren Schule mit anschließendem Hochschulstudium zu ermöglichen.
Ganz ohne Frage haben es im Vergleich dazu jene Babys, deren Eltern sich zur sogenannten Mittelschicht zählen dürfen, schon ganz erheblich besser und leichter. Doch oftmals zahlen sie dafür auch einen hohen Preis. Vom Tag ihrer Geburt an wird durch ihre Eltern auf sie ein Erwartungsdruck ausgeübt, den sie während ihres gesamten Lebens nicht mehr loswerden. Wie selbstverständlich erwarten die Eltern von dem Kind, dass es nicht nur das Abitur mit Glanz und Gloria bestehen wird, sondern zusätzlich auch noch herausragend im Schulsport sein wird, wodurch in erster Linie ihr und danach erst sein Ansehen im Freundeskreis und in der Öffentlichkeit erheblich gesteigert wird. Ein Abschluss als Bachelor oder Master mit summa cum laude wird als etwas genauso Selbstverständliches vorausgesetzt wie eine sich daran anschließende glanzvolle Karriere. Dieser Schuh, in den ein Kind oftmals von seinen Eltern hineingestellt wurde, wird sich mit fortschreitender Schulzeit häufig als viel zu groß herausstellen. Das Ergebnis ist, dass die viel zu ehrgeizigen Eltern in helle Aufregung und tiefe Verzweiflung verfallen werden. Das Kind aber, als der eigentlich Geschädigte, wird von Selbstzweifeln nicht selten so sehr geplagt, dass es an Selbstmord denkt und oft sogar darin den einzigen Ausweg aus dieser ihm ausweglosen Misere sieht. Kind ist eben nicht gleich Kind, Eltern sind nicht gleich Eltern. Beide haben aber eines gemeinsam: Sie bestehen nur aus Fleisch und Blut. Neben Stärken hat jeder von ihnen auch Schwächen. Die Eltern sollten rechtzeitig begreifen, dass es völlig normal ist, wenn sich während der ersten Schuljahre die Spreu vom Weizen trennt. Dass nicht jedes Kind die nötige Auffassungsgabe und Intelligenz für eine höhere Schulbildung und ein Studium mitbringt. Und das ist auch gut so. Andernfalls würde sich ja überhaupt niemand mehr für einen ehrenhaften und verdienstvollen Handwerkerberuf entscheiden. Nicht zuletzt aber liegt es an den Eltern selbst. Mittels ihrer Gene, wahrscheinlich noch mehr durch ihre Erziehung, tragen sie selbst sehr entscheidend dazu bei, wie viel Positives und wie viel Negatives sie ihrem Sprössling auf seinem langen Weg ins Leben mitgeben.
Unter genauer Abwägung aller Risiken, die jede Geburt von Natur aus in sich birgt, gleicht sie in meinen Augen einer Lotterie für das soeben geborene Kind, aber auch für die glücklichen Eltern. Wird das gerade gezogene Los den Eltern Glück bringen? Und umgekehrt die Eltern dem Kind? Ein Los, nachdem es sich als Niete herausgestellt hat, kann man achtlos wegwerfen. Nicht so ein Kind. Schon gar nicht, dass ein wehrloses Kind die Eltern so einfach wechseln kann. Wer stellt sich schon in solchen, meist glücklichen Momenten nach der Geburt die alles entscheidende Frage, mit welchen Eigenschaften und mit welchem Charakter werden sie sich gegenseitig überraschen? Welche Rolle wird dabei der „eigene Kopf“ jedes Einzelnen spielen? Wird man auf Dauer die wechselseitigen Wünsche und Erwartungen erfüllen können?
Für nicht wenige all jener Babys, die allem Anschein nach in unseren Augen das große Los gezogen haben, wird sich früher oder später herausstellen, dass wir sie eher zu bedauern haben. Dies allein schon wegen jener gewaltigen Erwartungshaltung, mit der gleichzeitig ein ungeheurer Erfolgsdruck auf das Kind ausgeübt wird. Schon der wird dem Kind gewaltig zu schaffen machen.
Jedes Baby, das gewissermaßen in einem Rolls-Royce zur Welt kommt, bezeichnen wir oftmals, vorschnell, als ein sogenanntes „Glückskind“. Der Volksmund spricht von einem Kind, das mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde. In der Regel gehören deren Eltern der High Society an, der absoluten Elite unserer Gesellschaft. Der Spanier hat dafür ein sehr passendes Sprichwort parat: „De aqui al cielo!“ – „Von hier zum Himmel.“
Aber auch in dieser ehrenwerten Gesellschaft werden Unterschiede gemacht. Die Superreichen halten sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, von den hohen Adelsgeschlechtern und von den mächtigen Herrscherhäusern fern. Diese wiederum schlagen um die verarmten Adelshäuser einen großen Bogen. Bleiben die Emporkömmlinge, die sogenannten Neureichen. Deren ausgelassene Champagnerpartys sind auf das Äußerste verpönt und werden, zu Recht, als dekadent bezeichnet. Der Kreis schließt sich mit den Unerwünschten und den Größen, den Erfolgreichen und weniger Erfolgreichen aus Film, Fernsehen, Theater, Kunst, Gesang und Schauspiel. Für diese Klientel erhebt die Boulevardpresse den Anspruch, ihnen im Namen und in Vertretung des „kleinen Mannes“ allerhand neugierige, bisweilen auch unverschämte Fragen stellen zu dürfen. So zum Beispiel, welchen Weg das Baby aus dem Bauch der Mutter genommen hat? Wurde es per Kaiserschnitt geholt, darf dann gratuliert oder doch eher kondoliert werden?
Nun – überall, in jedem Land, in jeder Volksschicht, gibt es, wie wir Schwaben zu sagen pflegen „solche und solche, aber mehr solche als solche!“ Wie auch immer. Jedes dieser Kinder wird sich während seines Heranwachsens und auch noch während des späteren Erwachsenenlebens oft genug die Frage stellen: „Was wäre gewesen, wenn …?“ Vielleicht wird er oder sie irgendwann einmal in der Lage sein, sich diese Frage zu beantworten.
Eines ist und bleibt jedoch völlig unbestritten. Im Vergleich zu den Babys, die in einen Slum hineingeboren werden und dort aufwachsen, erhält jedes andere Kind in unserer Gesellschaft ungleich größere Möglichkeiten und Chancen mitgegeben, um Fuß zu fassen und an seinem Profil zu arbeiten. Ganz anders jene Kinder, die im Slum aufwachsen. Sie lernen als Erstes, weit vor dem Schulbeginn, wenn es diesen überhaupt für sie geben wird, den täglichen Kampf um ein Stück Brot und um das eigentliche Überleben kennen. Die größte Herausforderung stellt für sie ein gnadenloses Umfeld aus Kriminalität und Gewalt dar. Die wenigsten von ihnen werden sich dieser Herausforderung stellen und werden ein Leben mit Drogen, Alkohol und Prostitution vorziehen.
Der Unterschied zwischen Arm und Reich? Hier ein unbeschreiblicher Luxus, mit offenen Türen für Bildung und dadurch zu einer höchst lukrativen Karriere. Dort Hunger, Krankheit, ungenügende oder auch keinerlei Bildung, Hass, Gewalt und oft ein Ende in Kriminalität.
Nach den glücklichen und erholsamen Tagen im Krankenhaus wurden Mutter und Sohn viel zu schnell von den Realitäten des Alltags eingeholt. Dazu zählte auch die Rückkehr in die kleine, viel zu kalte Wohnung, die zudem von einer völlig fremden Frau und ihrem Kleinkind bewohnt wurde. Mutter und Sohn teilten gemeinsam mit Vater und Schwester damals das Los vieler anderer Familien, denen ebenfalls aufgrund der Wohnungsnot während der ersten Nachkriegsjahre die Aufnahme von geflüchteten Deutschen aus dem Osten aufgezwungen wurde. In der ohnehin schon kleinen Wohnung wurde es dadurch für alle noch enger, noch ungemütlicher. Kein Platz für ein Privatleben. Dazu der Hunger, die Frustration über die Enge, die aufgezwungene Nähe. Da musste es niemanden wundern, wenn es immer öfter zu lautstarken Auseinandersetzungen kam. Nach zweieinhalb Jahren war der Spuk Gott sei Dank zu Ende. Wir hatten unsere Wohnung wieder für uns ganz alleine. Doch der nächste Schock und Schrecken ließ nicht lange auf sich warten.
Meine zwei Jahre ältere Schwester war im Alter von drei Jahren an Meningitis, einer Gehirnhautentzündung, erkrankt. Das blieb auch auf mich, der ich soeben meinen ersten Geburtstag im Kreis meiner kleinen Familie hatte feiern dürfen, nicht ohne Auswirkung. Meine Eltern wurden nicht müde, stets zu betonen, wie unglaublich süß und liebreizend meine Schwester als Baby gewesen war, wenn während eines Besuches die Rede auf ihre Krankheit kam. In allerkürzester Zeit entwickelte ich mich zu einem richtiggehenden Schreihals. Machte dadurch Vater und Mutter völlig sprachlos. Da ich ihnen so auch noch die dringend benötigte Nachtruhe raubte, trieb ich sie mit der Zeit zur puren Verzweiflung. Die Sorgen um ihre Tochter und das zwischenzeitlich bis auf über 41 Grad angestiegene Fieber ließen den geplagten Eltern keine Sekunde übrig, sich über die Gründe meines Geschreis auch nur einen Gedanken zu machen.
Als ein im Sternzeichen des Fisches, noch dazu unter dem Aszendenten Jungfrau geborenes Kind verfügte ich schon im Babyalter über ein erstaunliches Maß an Sensibilität. So hatten mir meine feinen Antennen die unvorstellbaren Sorgen meiner Eltern um ihre todkranke kleine Tochter zugetragen. Auch hatten sie mir ihre panische Angst und ihre Furcht um das Überleben meiner kleinen Schwester vermittelt. Bei aller Sensibilität mangelte es mir in diesem Alter jedoch noch an dem notwendigen Verstand, um begreifen zu können, was sich in dieser Zeit in der Familie abspielte. Warum so plötzlich die gesamte Aufmerksamkeit meiner Schwester und nicht mehr mir galt – war ich doch bis dahin sowohl von meinen Eltern als auch von meiner kleinen Schwester nach allen Regeln der Kunst verwöhnt und verhätschelt worden. Wie anders als durch Schreien hätte ich auf den jetzigen Missstand aufmerksam machen können?
Die Liebe der Eltern und ihre qualvollen Sorgen um das Leben der Tochter retteten letztlich ihr Leben. Mehr tot als lebendig übergaben sie sie der Obhut der Ärzte im Krankenhaus. Es folgten 48 Stunden Todeskampf, 48 Stunden unerträgliche Ungewissheit und furchtbarste Sorgen. Würde sie überleben? Dann die Nachricht: „Ihre Tochter hat überlebt!“ Es folgten unbeschreibliche Erleichterung, große Freude und tiefe Dankbarkeit. Darauf aber der furchtbare Befund: „Ihre Tochter ist an Meningitis erkrankt. Sie hat eine Gehirnhautentzündung. Die Auswirkungen dieser Krankheit werden wir erst in einigen Tagen bei Ihrer Tochter untersuchen können. Möglicherweise ist das Gehirn und damit das Nervensystem beschädigt. Es können aber auch noch andere Organe betroffen sein. Wir müssen abwarten.“ Sprachlosigkeit. Entsetzen. Fragen über Fragen. Warum hatte der Hausarzt die Symptome der Krankheit nicht erkannt? Er war doch ein gelernter Kinderarzt. Doch war er auch erfahren genug? Er musste zur Verantwortung gezogen werden! Was hatte er nur ihnen und ihrer Tochter angetan? Das Gespräch, das einige wenige Tage später mit dem Kinderarzt folgte, nahm einen völlig anderen Verlauf als erwartet. Und als meine Eltern sich danach von ihm verabschiedeten, hatten sie sich mit ihm und der Welt wieder ausgesöhnt.
Wann immer in den folgenden Jahren und Jahrzehnten während eines Besuches das Gespräch auf die Gehörlosigkeit der Tochter und deren Ursachen kam, war es stets mein Vater, der diesen Kinderarzt in Schutz nahm. Wurde dieser dabei angefeindet, verteidigte ihn mein Vater mit dem Argument, dass dieser wie alle anderen Ärzte im Krieg genug damit zu tun gehabt hatte, Menschenleben zu retten. Zwangsläufig musste darunter die berufliche Weiterbildung leiden und zu kurz kommen.
Bis es den Eltern überhaupt auffiel, dass irgendetwas mit ihrer Tochter nicht stimmen konnte, waren Tage vergangen. Ihre Tochter hatte augenscheinlich die schwere Krankheit gut überstanden. Sie lächelte und war guter Dinge. Seltsamerweise jedoch reagierte sie überhaupt nicht; antwortete auch niemals, wenn sie angesprochen wurde. Die Eltern stellten ihr Fragen, die man eben stellt, wenn ein Kind schwer erkrankt war und sich danach, zu ihrer großen Freude und Erleichterung, von Tag zu Tag besser zu fühlen scheint. Die Mutter war es schließlich, die eines Nachmittags zuerst die Krankenschwester und die den Oberarzt, der seinen Stationsarzt darauf aufmerksam machte. Daraufhin unverzüglich eingeleitete Untersuchungen erbrachten die für alle äußerst bittere Gewissheit: Ihre Tochter hatte das Gehör verloren. Das tagelang anhaltende hohe Fieber hatte die für das Hören verantwortlichen Organe angegriffen und zerstört. Das Mädchen würde für immer taub bleiben.
Ihr Leben lang würden sich die Eltern zum Vorwurf machen, viel zu lange auf ihren Hausarzt gehört und ihm vertraut zu haben. Die Einlieferung in das Krankenhaus hatte sich dadurch für die Tochter verhängnisvoll verzögert. Es mag hart klingen: Durch den täglichen Kampf ums nackte Überleben fehlte ihnen schlichtweg die Zeit zum Jammern, Klagen und Weinen. 1949 standen die Zeichen immer noch auf Sturm. Noch viele Jahre später, als mittlerweile stolze Besitzer eines Eigenheimes, eines Volkswagens und einer gut gehenden Handelsagentur, konnte man immer noch eine gewisse Bitterkeit aus ihren Stimmen heraushören, wenn diese längst zurückliegenden Zeiten angesprochen wurden. Neben Krankheit und Gehörlosigkeit der Tochter wurde gerne darauf verwiesen, dass sie leider nicht das Glück wie andere Eltern gehabt hätten, für sich und ihre Kinder in den Genuss von Carepaketen zu kommen. Mehrmals hätten sie sich deshalb beim zuständigen Sozialamt beschwert. Doch außer einer kleinen Flasche Lebertran war nichts dabei herausgekommen. Das Ergebnis war, dass Eltern und Kleinkinder von Unterernährung schwer gezeichnet waren. Um damals überhaupt an etwas Nahrhaftes und Essbares zu gelangen, mussten sie weite Strecken, jeder von ihnen bepackt mit einem Rucksack, zurücklegen. Am nächsten noch lag für sie die fruchtbare Filderebene. Neben dem in unmittelbarer Nähe liegenden internationalen Flughafen Stuttgart-Echterdingen verdankt dieses Gebiet seinen nationalen und internationalen Ruf dem Filderkraut, das vorzugsweise zu dem auch im Ausland so beliebten Sauerkraut verarbeitet wird. Während und nach den Kriegsjahren hatten sich die dort ansässigen Bauern neben dem Filderkraut vor allem aber den so wichtigen Grundnahrungsmitteln wie der Kartoffel und dem Getreide zugewandt. Nicht selten jedoch führten die Eltern ihre Hamsterwanderungen auf die entfernt gelegene Schwäbische Alb. Von den dort lebenden Bauern wurden ein paar Kartoffeln oder ein Glas Milch für die kleinen Kinder erbettelt. Doch auch hierbei erwies sich einmal mehr, dass es auf dieser Welt mehr Schlechte als Rechte gab. Während die einen ihre Schäferhunde auf sie hetzten, bekamen sie von den anderen ein paar Kartoffeln, ein Glas Milch, manchmal sogar ein Stück Butter und wenn sie sehr großes Glück hatten, ein Stück Wurst oder ein paar Hühnereier. All dies gab es natürlich nicht gratis. Da Papiergeld damals wertlos war, musste der restliche verbliebene Schmuck der Mutter herhalten. Um nicht zu verhungern, mussten letztlich sogar auch noch unter den Tränen der Mutter die beiden goldenen Eheringe daran glauben. Eine Flasche Lebertran wurde zur Obsession unseres Vaters. Nach mehreren Gängen zum Gesundheitsamt half als letztes Mittel dann nur noch Drohen und Schreien, um von dem diensthabenden Beamten das so lang ersehnte Rezept für eine Flasche dieses flüssigen Goldes zu erhalten.
Der Inhalt mag ja Gesundheit für unsere Zähne und unsere Knochen bedeutet haben und hatte damit den Wert von Gold. Doch dieses Zeug schmeckte einfach schrecklich … bbbrrr …. Von den Eltern wurde es mit einer Vorsicht auf den Esslöffel geträufelt, als handele es sich dabei tatsächlich um flüssiges Gold. Wir machten es unseren Eltern wahrlich nicht leicht und brachten sie oftmals zur schieren Verzweiflung, wenn wir uns mit aller Macht weigerten, unsere Münder aufzumachen und das verdammte Zeug hinunterzuschlucken. Auch ließen wir ihnen keine andere Wahl, als uns den Löffel zuerst durch unsere fest zusammengepressten Lippen, dann durch die mit allen zur Verfügung stehenden Kräften zusammengepressten Zähne zu stemmen. Da half auch ihr Flehen nicht, den Mund bitte aufzumachen und das „flüssige Gold“ doch bitte, bitte hinunterzuschlucken. Was war das jedes Mal für ein Drama!
Dank des Marshallplanes überlebte auch diese Familie wie viele andere Millionen Deutsche, wenn auch mehr schlecht als recht, jene schweren Nachkriegsjahre. Dem Marshallplan war es auch zu verdanken, dass sich ab 1950 die Lebensbedingungen in Deutschland zunehmend verbesserten. Der Vater war inzwischen in Sachen Kaffee, Haferflocken, Kakaobutter und Süßwaren als Handelsvertreter in Baden-Württemberg unterwegs. Ab und an, zum Leidwesen der Kinder viel zu selten, landete das eine oder andere Fruchtdrops, zu Weihnachten sogar eine dünne Scheibe Nugat, in den hungrigen Mündern der Kinder. Die Süßigkeiten entstammten dem Musterkoffer des Vaters, dessen Inhalt von ihm wie ein Goldschatz behütet und bewacht wurde. Das Abschneiden der Nugat-Scheibe von einem länglichen, rechteckigen Block wurde am Heiligen Abend vom Vater regelrecht zelebriert, mit Weihnachtsbaum und Kerzenlicht. Für uns Kinder war das jedes Mal ein unglaubliches Ereignis, ein unbeschreibliches Erlebnis. Konnte nicht jeder Tag ein Heiliger Abend sein? Wenn wir zuerst von der Mutter, gleich danach vom Vater ein kleines Stückchen Nugat in den Mund geschoben bekamen, war dies für uns im Vergleich zum Lebertran das totale Kontrastprogramm. Nun waren wir es, die sie um noch ein kleines Stück von diesem herrlich, einmalig schmeckenden Nugat baten. Alles Betteln half jedoch nicht. Auch nicht, dass sich die Mutter mit all ihrem weiblichen Charme für uns einsetzte. Der Vater ließ sich durch nichts erweichen. Mit Recht, denn der verbleibende Rest musste noch für viele Verkostungen bei potenziellen Kunden reichen. Bei all der Lust und dem Verlangen kamen wir Kinder niemals auch nur auf die Idee, in aller Heimlichkeit uns davon etwas abzuschneiden.
Meine Schwester besuchte ab ihrem vierten Lebensjahr den Kindergarten in der Gehörlosenschule zu Schwäbisch Gmünd. Mit fünf Jahren wurde sie dort eingeschult und wurde zu einer hervorragenden Schülerin. Nach Beendigung der Hauptschule absolvierte sie eine Schneiderlehre. Sie war nicht nur zu einer ausgezeichneten Schneiderin gereift, sie erwies sich in ihrem Beruf auch als sehr kreativ. Mit ihren selbst angefertigten Modezeichnungen hatte sie mich schon damals überrascht, als ich aus dem Karmelitenseminar nach Hause gekommen war. Leider verhinderte unser Vater aus uns unerfindlichen Gründen, dass dieses großartige Talent gefördert wurde. Ich bin mir absolut sicher, dass durch diese seine Entscheidung der Welt eine wunderbare Modeschöpferin verloren gegangen ist.
Welchen Anteil am Verlauf eines Menschenlebens mag die Schulbildung wohl haben? Welche Rolle spielt dabei die Lehrerschaft und vor allem auch die eigenen Eltern oder die Geschwister, falls vorhanden? Für Pädagogen und Psychologen ein genauso interessantes wie viel diskutiertes Thema. Von den Eltern wird es oftmals erst dann zum Thema gemacht, wenn es für das Schulkind bereits zu spät ist.
Unbestritten dürfte bei all der Diskussion sein, dass Lesen, Schreiben und Mathematik das Fundament für ein Leben in unserer Gesellschaft bilden. Darauf lässt sich, je nach Begabung des Kindes, seiner Lust und Freude am Lernen, seiner Neugier, seinem Wissensdurst und seinem Ehrgeiz dessen Zukunft aufbauen. Vergessen wir dabei vor allem auch nicht seinen Willen und die oftmals unangemessenen und übertriebenen Wunschvorstellungen der Eltern. Wie letztlich die Zukunft eines Kindes ausschauen wird, diesbezüglich teilen sich Schule und Eltern die Verantwortung. Das Kind selbst übernimmt die Rolle des Ausführenden. Die Lehrer weisen ihm den Weg, die Eltern sagen ihm, was es zu tun hat. Alles in allem und auf den ersten Blick doch eine ganz simple Sache – oder etwa nicht? Hält sich das Kind an die „Gebrauchsanleitung“, ist es aufmerksam, willig und ergeben, sollte bei der Konstruktion seiner Zukunft eigentlich nichts schiefgehen – oder doch? Doch wie oftmals im täglichen Leben auch, zum Beispiel beim Lesen einer Gebrauchsanweisung für den neuen Fernseher – eine Erfahrung, die wir alle irgendwann schon einmal gemacht haben –, folgt dann nach der Vorfreude der absolute Frust. Was lehrt uns das? Dass die Gebrauchsanleitung nicht nur gelesen, sondern vor allem auch verstanden werden muss. Während der technisch Begabte sich bereits nach wenigen Minuten an dem Bild des neuen Fernsehers erfreuen wird, wird jeder andere, der mit Technik wenig oder gar nichts am Hut hat, daran verzweifeln. Ihm wird nichts anderes übrig bleiben, als völlig frustriert zum Telefon zu greifen, den Fernsehtechniker anzurufen und wenn er großes Glück hat, wird sich dieser sogar bereit erklären, ihm den Fernseher innerhalb der nächsten Stunden einzustellen. Ein Schulkind ist jedoch kein Fernseher. Es besitzt weder einen Stecker, einen Chip, noch eine Fernbedienung, mit der es sich einstellen lässt. Es ist auch kein Gegenstand, der sich x-beliebig ein- und ausstellen lässt. Im Gegensatz zu einem Fernseher handelt es sich bei einem Kind um ein lebendiges, oft sehr sensibles, höchst kompliziertes menschliches Wesen aus Fleisch und Blut. Anstelle eines programmierbaren Chips besitzt es ein Gehirn, einen Charakter, Begabungen, Talente und noch ein paar Veranlagungen mehr. Die tägliche „Power“ für Schule, Sport und Freizeit bezieht das Kind aus einem unsichtbaren Mix aus Erbgut und Erlerntem, aus ausreichender und gesunder Ernährung, aus ihm entgegengebrachter Liebe, Zuwendung, Toleranz und entgegengebrachtem Verständnis, und vergessen wir bei alledem auch nicht seine Freiheit. Ebenfalls darf nicht vergessen werden, dass es sich bei einem kleinen, heranwachsenden Kind um ein sehr zartes, von außen leicht beeinflussbares Wesen handelt. Noch weniger ist es ein Instrument oder gar ein Energieträger, dessen man sich beliebig bedienen kann, damit es nach unserer Pfeife tanzt. Und schon gar nicht ist es ein Roboter, der sich von uns leicht, einfach und vor allem ohne Widerrede bedienen lässt.
Ob nun Kind, Heranwachsender oder Erwachsener, während all dieser Etappen im Leben ist und bleibt er vor allem eines, ein Mensch. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, ein höchst fragiles, sensibles, leicht verletzbares Wesen dazu. Außer durch Organe, Blutbahnen, ein höchst kompliziertes Gehirn zeichnet sich jeder Menschen vor allem durch eines aus, die Seele, viele bezeichnen sie auch als Psyche. Sie ist nicht sichtbar, nur anhand komplizierter Analysen wird ihre Existenz und Funktion nachweisbar. Unser Gehirn spielt eine ähnliche Rolle wie der Chip in einem Roboter. Bedauerlicherweise lassen sich die im menschlichen Gehirn auftretenden Störungen nicht so leicht, auch nicht so schnell beheben wie im Fall eines Roboters.
Für mich hat der Mensch eine Ähnlichkeit mit einem Orchester. Zuerst muss sich jeder daran Beteiligte mit den anderen Beteiligten bekannt machen. Danach müssen die vielerlei Instrumente durch einen Dirigenten peinlichst genau aufeinander eingestellt werden, Musikstücke müssen gemeinsam eingeübt werden, auch hier gilt der Spruch „Übung macht den Meister“ oder „Ohne Fleiß kein Preis“. Damit das Orchester während der Aufführung eines Konzertes perfekt harmoniert, müssen Einsatz, Takt, Abstimmung, Musikalität, einfach alles stimmen. Das Ergebnis? Eine herrliche, wunderbar schön anzuhörende Musik. Für mich jedes Mal ein kindlich bestauntes Wunder, dass so viele Musiker, so unterschiedliche Instrumente einen solch harmonisch aufeinander eingestellten Klangkörper abgeben. Nicht zuletzt dank eines genialen Dirigenten. Vergessen wir bei alledem auch nicht den genialen Komponisten, der für uns die wunderbare Musik komponiert hat. Applaus! Applaus! Erfolg! Erfolg! Nun, Sie werden mir vielleicht darin zustimmen, dass ein vielköpfiges Orchester wesentlich leichter zu führen ist, als einen einzigen jungen Menschen zu erziehen. Vielleicht wird das eine oder das andere unserer Kinder später selbst einmal ein Musiker, oder ein Künstler ganz anderer Richtung. Wie auch immer. Zur Wahl stehen unendlich viele Berufe. Wissenschaftler, Ärzte, Lehrer, Bankkaufleute, Angestellte bis hin zum Direktor eines Industrieunternehmens. Warum nicht einfach nur Handwerker? Den richtigen Beruf zu wählen, das wird sich spätestens nach einem erfolgreichen Schulabschluss zeigen, ist weit schwieriger als gedacht. Die Auswahl ist riesig. Zu allem Überfluss möchten dabei auch noch Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten ein Wörtchen mitreden. Wollen alles besser wissen, weil sie doch viel älter, viel erfahrener sind. In den wenigsten Fällen wird der junge Mensch von ihnen gefragt werden, was er eigentlich will. Schon das kann ein Fehler, ein nicht mehr gutzumachender dazu, sein. Nicht selten wird ein solcher Mensch über kurz oder lang in einer Sackgasse landen. Möglicherweise ist es dann für die Erkenntnis zu spät, dass er sich damals nicht für das „Richtige“ entschieden hatte. Nicht für das Eigentliche, was ihn bis dahin schon immer angezogen und ihm Freude bereitet hatte. Nur, um die Eltern und seine Verwandten nicht zu enttäuschen, um ihnen zu gefallen, war er einen faulen Kompromiss eingegangen. Wie sich jetzt herausstellt, zu seinem Schaden. Vielleicht hatte er aber auch nur einer verlockenden, finanziellen Sicherheit den Vorzug vor einer völlig ungewissen Zukunft gegeben? War damit den Verlockungen des Geldes, dem Wunsch nach Luxus und Statussymbolen erlegen. Hatte alsbald jedoch feststellen müssen, dass er sich damit auch ihren Fängen ausgeliefert hatte. Wollte er nicht auf alles bisher Erreichte verzichten, blieb ihm keine andere Wahl, als sich auch weiterhin ihren Zwängen und Hierarchien zu unterwerfen. Dazu noch der permanente Erwartungsdruck, der unersättliche Wunsch, ja der gierige Ehrgeiz, Stufe um Stufe die Karriereleiter hochzuklettern. Mit dem Ziel, noch mehr Macht, noch mehr Geld zu haben. Und dies alles nur, um sich einen noch größeren, schöneren Wagen, ein Chalet amMeer oder in den Bergen, Urlaube in absolutem Luxus leisten zu können. Seinen Geist, seinen Körper hatte er dabei erbarmungslos, schonungslos an den Rand der Erschöpfung getrieben. Gleichzeitig wuchs in ihm die Angst vor einem beruflichen Scheitern bis ins Unerträgliche und dadurch alles Erreichte, alles Erarbeitete, alles Erworbene über Nacht wieder zu verlieren. Immer öfter hatte er in letzter Zeit mit dem Gedanken gespielt, Schluss zu machen. Hatte sich überlegt und bildlich vorgestellt, welche Todesart die schnellste, die schmerzloseste sein könnte. Gab es für ihn überhaupt ein Zurück? Konnte und vor allem wollte er überhaupt seinem Leben nochmals einen anderen Kurs geben? Er sah sich an einer Kreuzung stehen. Die Ampel stand auf Rot. Er stand vor der Wahl, geradeaus zu fahren und damit so weiterzumachen wie bisher, oder rechts abzubiegen, was gleichbedeutend mit einer Veränderung in seinem Leben sein würde. Wie würde er sich entscheiden? Er musste sich entscheiden. Dabei war es gar nicht so schwierig. Geradeaus oder abbiegen! Wir werden wohl niemals erfahren, wozu er sich entschieden hat.
Doch zurück zu diesem kleinen, jungen Menschen. Dem Kind. Dem Schulkind. Welche Erfahrungen wird es mit der Schule machen? Welchen Einfluss werden sie auf seine spätere Berufswahl und damit auch auf sein späteres Leben als Erwachsener und vielleicht selbst Familienvater haben?
Wenn Sie ein Kind oder sogar mehrere Kinder haben und eines davon Probleme in der Schule hat, dann sollten Sie die nächsten Kapitel mit besonderer Aufmerksamkeit lesen. In denen werden Sie allerdings vergeblich die sogenannten „guten Ratschläge“ suchen. Viel besser, viel effizienter, da anschaulich, sind Beispiele, an denen sich verzweifelte Eltern orientieren können. Möglicherweise, sehr wahrscheinlich sogar, werden Sie darin Parallelen zum Verhalten Ihres eigenen Kindes feststellen. Ich hoffe und ich wünsche es Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie daraus für sich, vor allem aber für Ihr Kind die richtigen Schlüsse ziehen werden. Ist dies nicht der Fall und sollten Sie sich danach noch ratloser als zuvor fühlen, dann empfehle ich Ihnen dringend, einen erfahrenen Schulpsychologen aufzusuchen.
Mein Reich und das meiner Spielkameraden war bis zu meinem siebten Lebensjahr die Alexanderstraße in Stuttgart. Dort spielten wir Cowboy und Indianer, die Kellerlichter unseres Wohnhauses verwandelten wir in eine schwäbische Eisenbahn. Jeder von uns übernahm abwechselnd die Rolle eines Zugführers, Heizers oder Bahnhofsvorstehers. Meine Eltern hatten mir dafür zu meinem vierten Geburtstag extra eine entsprechende rote Kappe samt der dazugehörenden Tasche und Trillerpfeife geschenkt. Den Kauf der Trillerpfeife bereuten sie allerdings schon nach wenigen Tagen sehr. Ein noch viel größeres Vergnügen bereiteten uns unsere „Rennmaschinen“. Diese bestanden aus einem flachen, stabilen Holzbrett, an dessen Unterboden vorne eine bewegliche und hinten eine starre Achse verschraubt war. An jedem Ende dieser Achsen diente ein mittelgroßes Kugellager als Rad. Wir erzielten damit ganz erstaunliche Geschwindigkeiten. Für den Sound eines Auspuffs sorgten unsere Kugellager. Wenn wir mit unseren Maschinen in einem Wahnsinnstempo die alte Weinsteige hinunterrasten, erzeugten diese den von uns gewünschten „höllischen Sound“. Gelenkt wurde per Hand, wenn man auf dem Brett lag oder per Fuß, wenn man darauf saß. Die Vorderachse war mittels einer Doppelschraube mit dem Holzboden verbunden. Dadurch ließ sich jeder „Rennwagen“ mindestens genauso leicht lenken wie mit einer Servolenkung, die es zu dieser Zeit allerdings noch gar nicht gab. Vor lauter Begeisterung vergaß ich dabei leider manchmal zu meinem und meiner Mutter Leidwesen, dass jeder Mensch, so klein er auch sein mochte, ab und zu doch auf seine Bedürfnisse achten und vor allem auch ihnen nachgehen musste. So landete manches „Geschäft“ nicht in der Toilettenschüssel, sondern in meiner Hose. Zeigte dafür zu Anfang meine von mir so sehr geliebte und verehrte Mutter noch Verständnis, schwand dieses von Vorfall zu Vorfall in einem für mich sehr bedenklichen Tempo. Nach dem dritten oder vierten Vorkommnis dieser Art wandelte sich ihr Verständnis urplötzlich, für mich völlig überraschend und so absolut nicht vorhersehbar, in Hiebe auf meinen zarten Popo um. Vielleicht aus Verärgerung, oder doch eher aus Enttäuschung über meine „Vergesslichkeit“?
Wie auch immer. Während sie auf meinem Hintern kräftig „Luft abließ“, wofür nun ich keinerlei Verständnis zeigte, wurde sie dabei von mir mit einem wütenden Indianergebrüll begleitet, das in der gesamten Nachbarschaft zu hören war. Noch viel schmerzhafter für mich war jedoch die von ihr im Anschluss daran ausgesprochene Zeitstrafe von gleich mehreren Tagen, während der meine Rennmaschine in der Fahrerbox zu bleiben hatte.
Eine Freundin hatte ich damals auch schon. Ein unglaublich hübscher, kleiner Blondschopf. Sie wohnte mit ihren Eltern direkt uns gegenüber auf der anderen Straßenseite. Bereits damals stand ich auf blond. Dass der Weg zu diesem süßen blonden Lockenkopf nur über die Mutter führen würde, war mir schon damals, trotz meines noch zarten Kindesalters, bewusst. Mir kam dabei zugute, dass ich bis dahin und auch noch danach von meinen Eltern unentwegt daran erinnert und dazu aufgefordert wurde, ja jeden Menschen, dem ich begegnen sollte, immer schön zu grüßen, ihm immer schön die ausgestreckte Hand zum Gruß anzubieten. Der Zeitpunkt war gekommen, wo die nie versiegende Geduld und Ausdauer meiner Eltern mit mir Früchte tragen sollte. Sowohl bei meinem ersten wie auch bei jedem meiner folgenden Besuche begrüßte ich die Mutter meiner Angebeteten mit einem charmanten Lächeln. Der Sieg war meiner, ich hatte mir die vollste Sympathie ihrer Mutter erobert! Der Weg zu ihrer hübschen Tochter stand für mich offen und somit für eine wunderschöne, romantische Freundschaft zwischen zwei Kindern. Eines Tages wurde ich doch tatsächlich von ihr aufgefordert, ihr aufs Klo zu folgen und ihr beim Pipimachen zuzuschauen. Waren wir schon soooo weit? Während ich noch darüber nachdachte, wurde die Situation, zu meiner Erleichterung, von der Mutter mit den Worten geklärt: „Mädchen und Buben gehen getrennt auf die Toilette.“ Schmollend und total beleidigt, sah sich meine blonde Loreley gezwungen, den Weg zum Ziel alleine fortzusetzen.
Kurz darauf, an einem wunderschönen Frühjahrsmorgen, wurde mir von meiner Mutter die Lederhose angezogen. Ich staunte nicht schlecht, als der ein schneeweißes, kurzärmeliges Hemd folgte und dem zu allem Überdruss auch noch die von mir so gehassten langen Strümpfe. Sie hatten die Unart an sich, fürchterlich zu kratzen. Da half auch alles Protestieren nicht. Nun stand ich fertig angezogen vor meiner Mutter. Ich traute meinen Ohren nicht, als sie mich aufforderte, mir meine Sonntagsschuhe anzuziehen. Heute war doch nicht Sonntag!? Ich verstand die Welt nicht mehr. Genauso widerwillig wie zuvor schon in die Strümpfe schlüpfte ich nun in meine besten Schuhe. Als ich danach den Blick hob, stand Mutter in ihrer ganzen Größe vor mir, meine einzige Wolljacke weit weg von ihrem Körper mit ausgestreckten Händen haltend. Der Ausdruck in ihren Augen sagte mir, dass ich gut daran tat, ruhig zu sein und ihr zu gehorchen. Ich ergab mich meinem Schicksal und stieg wortlos in die Jacke. All diese Kleidung durfte ich normalerweise nur an Sonntagen anziehen, bevor wir zu einem gemeinsamen Spaziergang zum Bopser, einem kleinen Park und Naherholungsgebiet ganz in unserer Nähe, aufbrachen. Der Bopser ist ein regelrechtes Naturparadies und beherbergt heute unter anderem den Fernsehturm und das Teehaus. Dieses Naherholungsgebiet lag nur wenige Hundert Meter von der Alexanderstraße entfernt, wo wir wohnten, und bot sich daher für sonntägliche Spaziergänge an. Die Luft dort war so frisch! In der Alexanderstraße hingegen war es im Sommer oft unerträglich heiß und stickig. Stillschweigend verließen wir gemeinsam die Wohnung, das Haus. Einige Hundert Meter später bog meine Mutter nach rechts ab und betrat ein graues, flaches Gebäude. Ich folgte ihr. Widerwillig zwar; im Bewusstsein, dass aller Widerstand zwecklos war. Ich kannte meine Mutter. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, gab es kein Entrinnen. Kaum dass wir das Haus betreten hatten, wurden wir auch schon von einem jungen, hübschen Fräulein begrüßt. Ihr Lächeln machte sie sympathisch. Während sie kurz mit meiner Mutter sprach, ließ ich meine Blicke durch das Innere des Hauses schweifen. Dann wurde ich von meiner Mutter aufgefordert, dem Fräulein zu folgen. Ohne uns zu verabschieden, völlig unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, folgte ich ihr, wie vor den Kopf geschlagen und wie mir die Mutter befohlen hatte. Denn als sie von mir verlangt hatte, dem Fräulein zu folgen, hatte das viel mehr nach einem Befehl als nach einer freundlichen und liebevollen Aufforderung geklungen. Schon nach wenigen Metern kamen wir vor einem Halbkreis zu stehen, der, so schätzte ich, von Kindern meines Alters gebildet wurde. Mit immer noch sympathischem Lächeln wies mich das Fräulein an, mich dazuzusetzen. Widerwillig gehorchte ich ihr. Wohl wissend, dass jeglicher Widerstand mein Ansehen in den Augen dieses zierlichen Fräuleins von Beginn an mindern konnte. Sämtliche Spiele, die nun folgten und die ich gemeinsam mit den anderen Kindern spielen musste, waren alle ganz und gar nicht nach meinem Geschmack. Voller Wehmut sehnte ich mich nach meinen Freunden. Wünschte mich zurück zu den wundervollen Cowboy- und Indianerspielen, zu meiner Rennmaschine. Stattdessen spielte ich jetzt mit Murmeln, malte mit Kreide große, kleine, mittelgroße bunte Kreise, musste mir mit einer schwarzen Binde die Augen verbinden lassen und für die anderen Kinder Blindekuh spielen. Ich fand es überhaupt nicht amüsant, dass sie mich anschließend so lange im Kreis drehten, bis mir furchtbar schwindelig wurde und ich umzufallen drohte. Während ich um mich herum lautes, ausgelassenes Gelächter vernahm, stand ich regungslos, traurig und ziemlich verstört nur da, bis mir die Stimme des Fräuleins sagte, ich solle doch eines der Kinder fangen. Fangen? Ich war doch blind! Wie sollte ich da jemanden fangen können? Was waren das alles nur für sonderbare und langweilige Spiele! Wenige Tage später wurde meine Mutter zum Fräulein bestellt. Sie beklagte sich bei ihr bitterlich, dass ich, wenn überhaupt, dann nur nach mehrmaliger Aufforderung, immer noch stets sehr unwillig, dazu zu bewegen sei, gemeinsam mit den anderen Kindern zu spielen. Sie äußerte ihr gegenüber den unglaublichen, sehr gemeinen Verdacht, ich könnte möglicherweise sozial gestört sein. Mit dieser Äußerung hatte sie es sich allerdings von diesem Augenblick an mit meiner Mutter völlig verscherzt. Sie sagte dem nun gar nicht mehr sympathisch wirkenden Fräulein gehörig die Meinung, bevor man mit hochroten Köpfen auseinanderging. Am selben Nachmittag, nachdem unser Vater wie gewohnt von Kundenbesuchen heimgekehrt war, wurde der Ärmste, bevor er noch die Tageszeitung in die Hände nehmen konnte, von seiner Frau mit diesem unverschämten Verdacht konfrontiert. Mit recht bangem Herzen hatte ich vor der verschlossenen Wohnzimmertür angestrengt ihren Stimmen gelauscht. So sehr ich mich auch bemühte, gelang es mir nur, einzelne Wortfetzen aufzufangen. Danach trat Stille ein. Sekunden später hörte ich klar und deutlich meinen Vater nach mir rufen. Erleichtert stellte ich fest, dass seine Stimme immerhin nicht ärgerlich oder gar zornig klang. Ich drückte langsam die Türklinke, öffnete vorsichtig die Türe, mit hochrotem Kopf und jagendem Puls betrat ich das Wohnzimmer. In einem Meter Abstand, sicher war sicher, blieb ich mit gesenktem Kopf vor ihm stehen. Auf alles gefasst. Er begann, auf mich einzureden. Wie gewohnt, versuchte er es bei mir zuerst mit Güte. Beteuerte sein großes Verständnis für mich. Seine Stimme klang ruhig und sanft. Langsam begann die in mir aufgestaute Angst abzuflauen. Das erwartete Schlimmste schien heute nicht einzutreten. Vater fragte mich, ob es mir im Kindergarten nicht gefallen würde. Und wenn, dann weshalb? Wahrheitsgemäß, vielleicht etwas zu trotzig, dafür aber mit leicht weinerlicher Stimme, wohlwissend, dass ich ihn auf diese Weise noch am ehesten nachsichtig stimmen konnte, antwortete ich ihm: „Die sitzen nur in einem Kreis. Spielen mit Murmeln und kleinen Kugeln. Ich möchte aber mit meinen Kameraden Cowboy und Indianer und schwäbische Eisenbahn spielen und mit meiner Rennmaschine die alte Weinsteige hinunterrasen.“ Ohne seine Stimme zu verändern, redete Vater noch minutenlang voller Güte auf mich ein. Ich jedoch hatte meinen „Empfänger“ bereits abgeschaltet. Nichts von all dem, was er mit so viel Milde und mit so viel Verständnis zu mir sprach, fand mein Interesse, noch mein Einsehen. Hätte er anstatt mit mir mit der Wand im Wohnzimmer gesprochen, das Ergebnis wäre dasselbe geblieben.
Einige Tage später war es mir im Kindergarten dann zu dumm. Während der Pause suchte ich heimlich das Weite. Damit scheiterte ein weiterer Versuch, mich zu „resozialisieren“. Dahingehend äußerte sich zumindest das Fräulein meinen Eltern gegenüber, als sie sie am darauffolgenden Tag zu sich bestellen ließ. Meine Eltern warfen mir Widerborstigkeit und meinen Dickkopf vor, als sie danach völlig aufgelöst die Wohnung betraten und mich bereits im Flur zu einer Aussprache zitierten. Zwischen meiner Mutter und mir entbrannte eine überaus hitzige Diskussion über Sinn und Unsinn des Kindergartens. Tagelang sprachen wir kein Wort miteinander. Mein Vater zog es dagegen vor, sich schon früh am Morgen, still und klammheimlich, zu Kundenbesuchen zu verabschieden. Beharrlich hatte ich ihm gegenüber darauf bestanden, zu meinen Spielkameraden zurückkehren zu dürfen. Angesichts von so viel halsstarrigem Widerstand kapitulierten am fünften Tag letztlich beide. Mit einem dankbaren, scheuen Lächeln nach außen, einem bis dahin nicht gekannten Gefühl des Sieges und des Triumphes nach innen, „galoppierte“ ich zum Wigwam meiner Kameraden. Zu meiner übergroßen Überraschung war jedoch von denen weit und breit keiner zu sehen. Nach einer Stunde brach ich die Suche nach ihnen ab. Völlig verstört kehrte ich heim zu Muttern. Total frustriert erstattete ich ihr Bericht. „Du wirst dir schon neue Spielkameraden suchen müssen!“, war ihre Antwort darauf. Ihre Stimme klang immer noch sehr verärgert und auch äußerst beleidigt. Das hielt mich nicht davon ab, mir schon am nächsten Tag neue Freunde zu suchen. Ein Zurück in den Kindergarten kam für mich auf keinen Fall infrage! Das hatte ich mir fest vorgenommen.