Liebe heilt alle Wunden - Arsalan Darvish - E-Book

Liebe heilt alle Wunden E-Book

Arsalan Darvish

4,9

Beschreibung

In dem Roman geht es um die Heilkraft der Liebe, es geht um eine selbstlose Liebe, die über gesellschaftliche Zwänge und Vorurteile erhaben ist. Sie bringt Opfer, sie ist aufrichtig und ergänzt, wo die geliebte Person nicht mehr weiter weiß. So spricht Samira zu Mustafa, in den sie sich trotz seines Status als Obdachlosen verliebt hat: "Du bist doch so jung Mustafa, sprichst aber wie ein alter Mann, der mit einem Bein schon im Grabe steht!!" "Jung!?", gab Mustafa verbittert zurück. "Zeige mir in dieser Großstadt einen einzigen Mann in meinem Alter, der wie ich nichts und niemanden hat; nicht einmal ein gesundes Herz!" "Du hast mich, Mustafa!", versetzte Samira leise. "Seitdem ich dich hier im Diwan zum ersten Mal gesehen habe, hast du jemanden; solange ich lebe!" Dieser Roman ist ein lebendiger Beweis dafür, dass wahrhaftige Liebe keine wirklichkeitsfremde Träumerei ist, sondern ein persönlicher Seelenzustand, den man sich erarbeiten muss.

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Ich widme diese Dichtung meiner Frau Nasrin, die niemals aufhörte an mich zu glauben, was mein literarisches Können anbelangt.

Des Weiteren möchte ich ganz herzlich Katharina Möbus, Rita Kashefipour und Massud Behzadi danken für ihre wertvolle Unterstützung bezüglich der Ausfeilung des Werkes.

Arsalan Darvish

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 1

Nicht weit von der westlichen Küste Syriens schlummerte das kleine Dorf Eynaltamor1 in der milden Frühlingssonne und ließ die Blüten seiner Plantagen von den Bienen befruchten.

Entlang der Hügel, am Rande des Dorfes plätscherte ein Bach und strömte in größter Eile aus Eynaltamor hinaus. Angeschwollen war er vom geschmolzenen winterlichen Schnee der fernen, hohen Berge im Nordosten. Und wie die vielen anderen Bäche, die aus denselben Höhen stammten, hatte auch er, wo er geflossen war, frühlingsgrüne Streifen an seinen beiden Ufern hinterlassen.

An diesem Bach bewohnte ein Landbesitzer, ein Herr namens Khan mit seinem Sohn und der Schwiegertochter ein Schloss. Dieses stand in der kahlen Gegend wie ein kleiner Fels mit dem Rücken zu den Hügeln und schaute aus seinen vielen kleinen Fenstern auf die Wüste hin, wo einzelne Dattelpalmen hie und da neue Blattknospen angesetzt hatten. Hinter dem Schloss, an den Hängen der Hügel hingen Weinreben in halbkreisförmigen Reihen in größter Fülle. Im hellgrünen Schatten ihrer breiten Weinblätter reiften jedes Jahr im Hochsommer Unmengen an saftigen Trauben, die süß und schön waren wie keine andere Frucht in dieser Gegend.

Im Hof des Schlosses stand ein Brunnen, aus dessen Tiefe man mit Hilfe eines hölzernen Rads Wasser heraufholte. An der östlichen Mauer des Hofes stand der Pferdestall und entlang der Hofmauern umrahmte ein breit angelegtes Beet voller Blumen den großen steinernen Hof. Die Blumen, in hundertfachen Farben und Formen aufgeblüht, standen bunt und lachend unter dem azurblauen Himmel. Sie blickten alle zum Himmel hinauf und sahen dankbar ihrem Gott, der Sonne, solange nach, bis diese sich langsam den Bergen im Westen näherte und bald die Blumen samt dem Dorf und alles was es umgab in ihr feurig rötliches Licht eintauchte. Sobald die Sonne hinter der golden glühenden Umrisslinie der Bergkämme unterging, wehte eine milde Brise von den hohen, steilen Hängen herab, zog durch die kleinen und großen Gassen Eynaltamors und überbrachte den Dorfbewohnern die kühle, duftende Botschaft des erfrischenden nächtlichen Hauches.

Es war kurz nach so einem Sonnenuntergang in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die frisch vermählte Gattin im Schloss die breiten, hölzernen Treppen vom Obergeschoss ins Parterre hinunterstieg und auf ihren Ehemann zusteuerte. Dieser saß auf einem dicken, orientalischen Teppich in dem großen Raum und ging mit der Schreibfeder in der Hand seiner Arbeit nach: Er übersetzte gerade die alte Dichtung eines persischen Klassikers ins Arabische.

„Entschuldige die Störung, Liebling“, sprach sie und streichelte sanft über das Haar ihres Mannes. „Mein Schwiegervater ist noch nicht da, ich wollte dir unter vier Augen etwas Wichtiges mitteilen.“

Da sahen die müden, leicht abwesenden Augen ihres Ehegatten zu ihr auf, sie setzte sich vor ihm nieder und sagte: „Jetzt weiß ich warum mein Herz gestern beim Abendessen so zu pochen begann, als ich die Nachtigall plötzlich singen hörte.“

Sie hielt inne und senkte den Blick. „Ich habe es heute Morgen im Bett, als der Sonnenschein meine Wange berührte, verspürt, jetzt bin ich mir ganz sicher, dass der liebe Gott uns beiden ein Kind bescheren will.“

Kaum sagte die Frau das letzte Wort, da rief ihr Mann mit glühenden Lippen: „Oh, Liebste, danke dir tausendmal! Nichts hätte mich wahrlich so sehr beglücken können wie diese Nachricht! Du warst schon immer die Königin meines Herzens, von nun an bist du ganz allein die Herrin des Hauses und meines Reiches. Was kann ich tun für dich, damit du noch glücklicher bist und dein Zuhause für dich und unser Kind noch schöner ist?“

Die Gattin, entzückt über die Worte ihres Mannes, sagte dankbar zu ihm: „Du bist für mich das Sonnenlicht des Hauses, die Wärme in meinem Herzen und stets eine Augenweide für das trübe Gemüt. Nun, mit dem kleinen pochenden Herz unter meiner Brust ist das Leben hundertfach schöner. Mein Leben ist voller Blüte, süßer denn je, mein Lieber. Aber einen Wunsch habe ich noch; einen Wunsch, der dich, mich und unseren Sohn betrifft. Du wunderst dich bestimmt, warum ich unseren Sohn sage. Ich träumte gestern Nacht von einem Säugling. Er lag in meinem Schoß auf dem Rücken und lachte einer kleinen Sonne gleich. Ein Junge war er, so sah ich ihn in meinem Traum.“

Der Gatte unterbrach sie und sagte übermütig zu ihr:

„Ein Wort von dir, so wird erfüllt, welchen Wunsch du auch immer im Herzen hegst.“

„Du sprichst in Eile und erwiderst zu früh!“, ermahnte ihn seine Frau. „Warte bitte und höre genau zu!“

Der gute Mann sagte nichts und wartete.

„Der Säugling lachte zuerst, dann aber weinte und weinte er“, fuhr sie fort. „Lange heulte der arme. Solange, bis seine feine helle Haut ganz trübe wurde; so trübe, dass ich ihn in meinem Schoß gar nicht mehr haben wollte. Ich legte ihn in seine Wiege zurück und legte mich mit einem Herzen voller Sorge und Bange wieder hin.“

Der Herr, bestürzt und verängstigt, sagte leise zu seiner Frau, sie möge sich beruhigen, Angst sei nicht gut für sie, weder für sie noch für das Kind.

Da sagte die Gattin zu ihm, der letzte Wunsch von ihr sei, er solle den Jungen selber großziehen, wie schlecht er auch sein möge: „Diesen Wunsch hege ich im Herzen, solange ich noch am Leben bin. Seitdem ich mit dir lebe, erfüllt Freude mein ganzes Wesen. Jetzt aber weiß ich ganz genau, dass Gott uns voneinander trennen will. Ich werde nicht lange leben, Liebster! Mit diesem Kind neigt sich mein Leben dem Ende zu.“

„Schweig!“, rief ihr Mann aufgebracht aus.

Die Gattin küsste ihre Fingerspitzen, drückte sie sanft auf seine bleich gewordenen Lippen und sagte nachdrücklich: „Nach mir darf keine Frau die Stelle seiner Mutter ersetzen, bis mein Sohn auf eigenen Füßen stehen und die Welt mit eigenen Augen betrachten kann; also bis er sechzehn ist.“

Der Mann sah seine Frau bestürzt an, während seine Hände zitterten. „Was um Himmels Willen gibt dir die Gewissheit, dass das Kind Unglück über unser Haus bringen würde!?“, fragte er zischend. „Ich habe keinen Zweifel, dass unser Leben, nun befruchtet durch ein Kind mehrfach schöner sein wird als zuvor. Wir sollen uns nur hingeben, dankbar sein und nichts fürchten, nicht mehr!“

Sie lächelte ihn an, fuhr mit der Hand zärtlich über seine Wange, stand auf und stieg schweigend die Treppe zum Obergeschoss hinauf. Er sah ihr nach, während seine Hände noch zitterten. Nachdem er einen tiefen Seufzer des Kummers ausgestoßen hatte, stand er auf und ging auf die Hofterrasse hinaus.

„Danke dir Gott für das Kind, das du uns bescheren willst!“, versuchte er betend sein unruhiges Herz zu beruhigen. Vergebens! Denn er hatte seine Frau niemals so bitter ernst und unnachgiebig sprechen hören. Dies bohrte ihm in die Seele, wühlte ihn auf und bereitete ihm Angst. Er sah mit trüben Augen zum Himmel hinauf, welcher vom Türkisblau ins milde Gelb und bald an den Kämmen der westlichen Berge ins glühende Rot überging. Er holte tief Luft, ging wieder hinein und stieg die Treppe zum Schlafzimmer hinauf, wo seine Frau sich bereits auf die große gemeinsame Wattematratze hingelegt hatte. Sie lag auf dem Rücken und starrte die Decke an. Er erwiderte ihren Blick nicht, als sie das Gesicht zu ihm wandte, der plötzlich im Türrahmen erschienen war. Er legte sich schweigend neben sie hin und sah zum Fenster hinüber, dessen kleine Scheiben der Himmel mit dem Türkis völlig gefüllt hatte. Die Gattin fuhr ihm sanft über die Brust, er erwiderte auch dies nicht und starrte weiterhin die Fensterscheiben an. Sie hörte aber mit dem Streicheln nicht auf, bis sie allmählich einschlief und ihre Hand auf seinem Brustkorb ruhte. Da legte er seine Hand auf ihre und drückte sie auf sein Herz. Dann wandte er den Blick der Schlafenden zu, deren Profil im schwachen Licht des Raumes ein wenig blass wirkte.

„Alles was du mir gesagt hast, ist pure Einbildung“, murmelte er leise vor sich hin. „Ein Kind ist eine Bescherung ohne gleichen, ein Grund für unendliche Freude. Ich freue mich darüber und bin äußerst dankbar dafür, dass nun unser Kind unter deinem Herzen zu wachsen beginnt. Ich lasse mir diese Freude gewiss nicht wegnehmen; von niemandem, nicht einmal von dir, Liebling!“

Er hielt kurz inne, freute sich plötzlich über seine Gedanken und ergänzte sogleich: „Unser Kind wird sicherlich an der Brust seiner eigenen Mutter saugen, aus ihrer Liebe Kraft schöpfen und im Schutze seines Vaters groß und stark werden. Das ist meine Vision der neuen Wirklichkeit. An dieser Vision darf niemand rütteln.“

Nun stieß er erleichtert einen Seufzer aus und dachte gleich an das Gelübde, das einer seiner Urväter vor etwa fünfhundert Jahren, also in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts abgelegt hatte. Aus diesem Gelübde war inzwischen eine Familientradition geworden, die man über Jahrhunderte hinaus von Generation zu Generation gepflegt und weitergegeben hatte. Dabei ging es allein darum, die Sprache und die Kultur derer, von denen man abstammte, im arabischen Umfeld nicht untergehen zu lassen. Dafür mussten die Väter sich verpflichten, mit eigenen Kindern auf Persisch zu sprechen und ihre Söhne in die Kunst der persischen Dichtung einzuweihen. Das genannte Gelübde war auf eine Massenflucht der Perser nach Syrien im dreizehnten Jahrhundert zurückzuführen, welche sich kurz vor der Invasion des berüchtigten Mongolenführers Tschengiskhan in den Iran vollzog.

Der gute Mann, der immer noch im Schlafzimmer neben seiner Gattin lag, machte sich also nun Gedanken darüber, sein noch nicht geborenes Kind in der persischen Sprache und Dichtung bestens zu unterrichten, auch wenn es ein Mädchen wäre; entgegen all dem, was seine Frau über das Kind vorausgesagt hatte.

Als das Ehepaar am nächsten Morgen im Bett das Tageslicht erblickte, sagte der Mann zu seiner Frau, er möchte nunmehr weder von ihren Träumen etwas wissen noch von ihren Voraussagungen. Daraufhin küsste er ihr die Hand und ergänzte beschwichtigend: „Unsere Freude in der Gegenwart ist die einzige Garantie für eine glückliche Zukunft. Wir lieben uns doch so sehr! Die Aussicht eines baldigen gemeinsamen Kindes hat unser Liebesglück umso wunderbarer ergänzt. Warum sollten wir den Blick auf eine finstere Zukunft richten und damit jegliche Freude aus der Gegenwart verbannen!?“

Während der Mann sprach, hörte seine Gattin schweigend zu. Am Ende sagte sie leise: „Es wird so sein, wie du begehrt, Liebster! Es tut mir leid, dass meine gestrigen Worte dir viel Kummer bereiteten. Du hast Recht! Mir sollte es nicht um eine befürchtete Zukunft gehen, auch nicht einmal um das Kind, sondern ganz und gar um dein Glück.“

Nunmehr sprach die Frau kein Wort mehr über das Kind und die Aussichten, die mit seiner Geburt verbunden wären. Hingegen setzte ihr Mann seinen Vater feierlich in Kenntnis, er bräuchte nur noch ein paar Monate zu warten, um Großvater zu werden. Daraufhin sammelten sich in Khans ungläubigen Augen Tränen der Freude und er sagte zu dem Sohn, wie sehr seine Mutter sich auf diese wunderbare Nachricht hätte freuen können, wenn sie noch am Leben wäre.

Somit vergingen Tage, Wochen und Monate, in denen der Schwiegervater und sein Sohn sich besorgter als zuvor um Samanda kümmerten. Unter ihrer Brust wuchs Tag für Tag ein kleines Herz heran, dessen feines Pochen sie später mit Freude im Innern verspüren konnte. Dennoch, je mehr das Kind in ihrem Bauch wuchs, umso blasser wurde ihr Gesicht und umso dunkler die Ringe um ihre Augen. Auf die beständige Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Verfassung reagierte der Schwiegervater gelassener als sein Sohn. Er versuchte ihm sogar die großen Sorgen um die Gattin wegzunehmen, indem er versicherte, dass Samandas Beschwerden bloß auf die Schwangerschaft zurückzuführen wären. Er meinte, er kenne diese Beschwerden sehr gut, und auch jeder andere Mann im Dorf würde sie auf die leichte Schulter nehmen. Trotzdem konnte Dariusch über die besorgniserregende Verfassung seiner Frau nicht hinweg schauen. Vor allem dann nicht, wenn eine neue Beschwerde Samandas ihn immer wieder an ihre finsteren Worte an jenem Abend zum Beginn der Schwangerschaft erinnerte. Dabei suchte er die Wirkung jener Worte zu verdrängen; dennoch, als ob sie ein Dämon wären, stiegen sie wieder aus dem Abgrund seiner Seele herauf und rissen ihn mit in die Tiefe.

Eines Tages überraschte ein großer Schmerz Samanda in der Bauchgegend. Da krümmte sie sich zusammen und rief mit einem vor Schmerz verzerrten Gesicht nach ihrem Mann. Dariusch sprang sofort die Treppe zum Obergeschoss hinauf.

„Hol die Hebamme…, so schnell du kannst…, es ist so weit!“, verlangte sie keuchend.

Er lief die Treppe so schnell er konnte hinunter. Wenig später waren die Hebamme und zwei weitere Frauen im Schloss. Sie halfen der im Flur Liegenden hoch und brachten sie ins Schlafzimmer. Es war Asr, im Arabischen der Zeitraum zwischen Spätnachmittag und Sonnenuntergang. Khan, der Schwiegervater, war noch draußen, wie viele andere Männer im Dorf zu diesem Zeitpunkt. Dariusch musste also die Qual des Mithörens von lauten Schreien seiner Frau ganz alleine ausstehen, welche bei jeder neuen Wehe noch lauter und schrecklicher wurden. Er zitterte bei jedem Wehschrei und fürchtete erneut, seine Frau zu verlieren. Er litt sehr darunter, anstatt seiner Liebsten zu helfen, einfach da stehen und warten zu müssen.

Nun wurde es im Schlafzimmer plötzlich still, ein Kreischen des Neugeborenen folgte aber nicht. Daraufhin vernahm er unruhige Frauenstimmen, die wirr und unkenntlich ineinander wirbelten. Da sprang er auf, um hineinzustürmen. Kurz davor hörte er auf einmal das Kreischen des Babys.

„Gott sei tausendmal Dank!“, sagte er erleichtert und ließ den Türgriff los.

Ein gutes Zeichen, dass das Kind heulte, aber warum hörte das unruhige Stimmengewirr der Frauen nicht auf, dachte er. Er drückte sein Ohr an die Tür und versuchte zu verstehen, was diese sich gegenseitig so hastig sagten. Vergebens! Er hämmerte mit der Faust gegen die Tür. Wenig später machte eine der Frauen die Tür auf und sagte durch den Türspalt, er möge warten.

„Ist was passiert? Warum seid ihr so unruhig?“, wollte er unbedingt wissen.

„Dem Kind geht es gut“, erwiderte die Frau knapp und schloss die Tür zu.

„Warum zeigte die Frau keinen Schimmer von Freude und war so besorgt, obwohl es dem Kind gut geht!?“, dachte Dariusch laut. Da schlugen seine Fäuste wieder gegen die Tür. Nach einer Weile hörte er der Schlüssel sich im Schloss drehen. Er nahm sich zusammen und wartete, bis die Tür sich langsam öffnete; dann erschien das verschwitzte Gesicht der Hebamme, die mit den hoch gekrempelten, mit Blut befleckten Ärmeln in der Türöffnung stand.

„Ich habe getan, was ich konnte“, sagte sie niedergeschlagen. „Deinen Sohn konnte ich gerade retten, seine Mutter aber nicht. Sie war zu schwach und ist bei der letzten Wehe ohnmächtig geworden. Ich habe deinem Kind beinah den Hals brechen müssen, um es endlich herausziehen zu können.“

Kaum hatte die Hebamme zu Ende gesprochen, da rief Dariusch den Namen Samanda aus und stürmte hinein. Er stürzte sich auf die Liegende und umarmte den kalten, reglosen Leib seiner Frau. Er drückte sie kräftig an sich, liebkoste ihr kreideweißes, lebloses Gesicht und rief schluchzend ohne Unterlass: „Wach auf Liebling! Wach auf!“. Dabei erwartete er verzweifelt eine kleine Regung auf ihrer toten Miene.

Nach einer Weile sah er mit blutdurchzogenen Augen zur Hebamme auf und fragte, wie es geschehen sei.

„Innere Blutung!“, antwortete die andere knapp.

„Manchen Frauen fehlt die Kraft, die Geburt eines Kindes zu überleben. Menschenschicksale liegen allein in Gottes Hand. Es tut mir sehr leid, mein Sohn!“

Sie fuhr mit der Hand liebevoll über sein Haar und verließ mit den anderen Frauen das Zimmer. Das Kind nahmen sie mit; eingewickelt in einer Decke.

Am selben Tag sandte Khan, der Schwiegervater, einen Boten zum Vater der Verstorbenen in Damaskus, dem Verleger von Dariuschs Dichtungen im Arabischen. Dieser liebte seine Poesie und Übersetzungen sehr und war stolz darauf, eine Tochter zu haben, die nicht nur lesen und schreiben konnte – damals als Frau eine große Ausnahme -, sondern sich sogar große Mühe gab, Dariuschs Dichtungen zu verstehen. Samanda war also in den Dichter bereits verliebt gewesen, bevor sie ihn gesehen hatte. Und Dariusch verliebte sich gleich in sie, während er sie eines Tages zu seiner großen Überraschung über die eigene Poesie sprechen hörte. Nun, zwei Tage nachdem der Bote losgeschickt worden war, trug er Samanda in einem offenen Sarg mit den anderen dorthin, wo sie auf ewig ruhen sollte.

Am Ende, nachdem man den letzten Spaten Erde über die im weißen Leinen eingewickelte Leiche geschüttet hatte, glitten folgende Worte unverhofft über Dariuschs zitternde Lippen:

„Geliebte Samanda, mein auf ewig verlöschtes Sonnenlicht,

du warst und bleibst bis zum Ende meines Lebens meine einzige Begleiterin, gleich ob du bei mir bist oder bei ihm, unserem Schöpfer. Nur er kann es genau wissen, wie sehr ich dich geliebt habe und immer noch liebe. Er weiß es genau, dass ich dir ergeben war und nun für immer vergeben bin; solange ich lebe. Auch du solltest wissen, dass mein Herz für dich einem See in den hohen Bergen glich, in dem nur du schwimmen durftest, an seinen Ufern nur du dich hinlegen durftest und in seiner milden nächtlichen Brise nur du ruhen durftest. Du bleibst liegend im silbernen Mondschein und wartest, bis ich dich tragend auf meinen Armen zu den Sternen hinaufbringe; liebkosend, Schritt für Schritt zum Ewigen, zu Gott, weit weg im Universum, wo die Engel um uns tanzen werden, bis sich am Horizont der erste Streifen der Morgenröte gegen den Himmel abhebt.“

Somit waren Dariuschs letzte Worte gesprochen. Er stand auf, verließ das Grab und kehrte nie wieder dorthin.

Die Tage, Wochen und Monate danach hielt er sich öfters am Ufer des Baches auf, der durch Eynaltamor floss. Er lief manchmal mit der Strömung weit aus dem Dorf hinaus, kehrte an seinem Ufer bei Sonnenuntergang zurück und warf beim Weggehen ab und zu einen Blick in sein rauschendes Wasser. Was er darin sah, war die Spiegelung eines Gesichtes, das Tag für Tag lebloser wurde und mit den neuen weißen Strähnen im langen Bart älter und älter wirkte. Unterdessen hatte Khan, sein Vater, dafür gesorgt, dass eine Frau als Amme ins Haus zog. Sie wohnte nicht in Eynaltamor, daher kam ihr Mann bald nach und blieb als Diener im Schloss. Den beiden ließ Khan im Hof eine kleine gemütliche Hütte bauen. Samandas Kind, das der Großvater Mustafa genannt hatte, wurde von der Amme betreut und hielt sich mit dem Ehepaar überwiegend in der Hütte auf.

Seit Samandas Tod waren indessen zwei Jahre vergangen. Der Bach hatte die schnell älter werdenden Spiegelungen von Dariuschs Gesicht Tag für Tag hinweg getragen. Sein Sohn war zu einem schönen Bub herangewachsen, Dariusch konnte sich aber kaum um ihn kümmern. Auch um seine Arbeit konnte er sich nicht mehr kümmern und hatte seine Dichtungen und Übersetzungen halbwegs liegen lassen. Manchmal saß er nach seinen täglichen langen Spaziergängen auf der Hofterrasse im Schloss, hielt den kleinen Mustafa im Schoß und sah mit entrückten Augen zum Himmel hinauf. Währenddessen lächelte er, ab und zu lachte er laut. Khan wusste inzwischen, dass der Sohn eher mit der Verstorbenen lebte als mit seinem Kind oder sonst jemandem. Eines Tages sah der Vater ihn zufällig, als er den Bach entlang im rötlichen Lichte des Sonnenuntergangs nach Hause kam. Er umarmte den Sohn und brach in Schluchzen aus: „Einst warst du meine einzige Hoffnung für die Zeiten des Altwerdens“, sagte Khan klagend zu Dariusch. „Für die Zeiten, wo ich alt und schwach geworden auf deine Aufmerksamkeit und Hilfe angewiesen bin und unser Land und Besitz auf deine Willenskraft. Was sehe ich jetzt aber vor mir!? Einen, der begraben unter der Last des Todes seiner Frau nicht einmal Vater sein kann für das eigene Kind, geschweige denn ein Herr für sein Gut und Besitz. Du bist krank und schwach. Die Menschen im Dorf scherzen und lachen über den Halbverrückten, der am Bach alleine mit sich selbst spricht und Gott anfleht, ihn zu sich zu nehmen, zur verstorbenen Gattin, besser gesagt zur Göttin!“

Da hob der Sohn den trüben Blick, sah seinem Vater eindringlich in die Augen und sprach: „Am frühen Morgen im Morgengebet bin ich der Liebe meiner Frau ergeben, tagsüber bis zum Schlaf will ich mich nur ihr hingeben. Fern vom Angesicht der Leute möchte ich langsam sterben und glückselig emporsteigen zu ihr, zur Herrin meines Herzens. Aber wenn du deinen Sohn, den Halbverrückten, aus deinem Haus hinauswerfen willst, ein Wort von dir genügt und ich werde schon heute nach dem Abendgebet das Haus und Dorf verlassen und nie wieder zurückkehren; damit ich keine Schande mehr für jene bin, die sich dessen schämen, meine Verwandte zu sein.“

Des Sohnes Worte erschütterten das Herz des Vaters. Er hatte ihn noch nie so sprechen hören. Nun wurde es ihm bewusst, dass der Sohn nicht geisteskrank war, sondern bloß in einer anderen Welt, in der Welt des Inneren lebte. Er sagte nichts mehr und ließ ihn vorsichtig in jener Welt zurück.

Zwei Monate nach dieser Begegnung fand Khan eines Tages den Sohn in seinem Zimmer tot auf. Er schien während des Gebets gestorben zu sein; in sitzender Haltung, den Blick vor sich hinstarrend, während er den heiligen Koran immer noch in den Händen hielt.

Bald trug man Dariuschs leblosen Leib in die Moschee und zwei Tage danach fand sein Begräbnis statt. Nach dem Wunsch des Vaters beerdigte man ihn nicht auf dem Friedhof, sondern unter einer einsamen Dattelpalme auf einem Hügel am Ende der Olivenplantage. Von hier aus pflegte Khan öfters den Anblick der untergehenden Sonne zu genießen.

Die Beerdigung verlief in großer Stille. Sobald der Geistliche seine Verse zu Ende gesprochen hatte, kehrten die Anwesenden ins Dorf zurück. Khan blieb aber und kniete vor dem frischen Grab des Sohnes nieder. Nachdem er Abschied nehmend seine letzten Tränen vergossen hatte, stand er auf und stieg auf zitternden Beinen den Hang hinunter. Währenddessen sah er am Trampelpfad eine zarte Blume, welche in der Brise nickte und im Weiß und Gelb zu ihm heraufschaute. Kaum ging er an der Blume vorbei, da hauchte sie ihm einen Gedanken in die Seele: „Warum so eilig!? Warte doch!“

Khan blieb plötzlich stehen, kehrte um und sah zu der Kamille hinab, die auf ihrem Stiel leicht wiegte. Er pflückte sie und stieg den Hügel wieder hinauf. Als er unter der einsamen Dattelpalme ankam, schämte er sich für das, was er getan hatte: einfach wegzugehen ohne zurückzusehen!! Er legte die Blume auf das Grab nieder, nahm daraus eine Faust Erde, roch sie und küsste sie; alsdann lief er eilig den Hang wieder hinunter.

Auf dem Rückweg dachte er lange an den kleinen Enkelsohn Mustafa. Er schien sich auf einmal dessen bewusst geworden zu sein, dem Sohn seines Sohnes seit seiner Geburt wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht zu haben und ihn im Wirbel der großen Sorgen um seinen Vater vernachlässigt zu haben. So legte er mit Tränen in den Augen das folgende Gelübde ab:

„Mein kleiner Mustafa, mein süßes Enkelkind,

deine Mutter hast du nie gesehen, auch den Vater kaum, auch ich war wenig da für dich, du armes Kind! Von nun an werde ich dich großziehen wie ich deinen Vater großgezogen habe. Ab heute werde ich für eine Zukunft leben, die allein dir gehören wird. Mein Land und Gut, alles was ich besitze, wird allein dir gehören, dem Sohn meines Sohnes.“

Ab diesem Tag nutzte Khan jede Gelegenheit, um zuhause beim Enkelsohn zu sein. Er sprach im Persischen mit ihm, in der Sprache seiner Urväter. Er spielte mit ihm, er nahm ihn mit zu den Freunden und Verwandten und verbrachte seine Abende immer mit ihm.

So vergingen mehrere Jahre, in denen Mustafa Jahr für Jahr seinem Vater ähnlicher wurde. Er war im Gesicht das Ebenbild des Vaters, sein Leib wurde aber der Mutter ähnlich: Er bekam lange Beine, wirkte solide und hatte mit sechzehn die Größe eines Mannes erreicht. Bald erzählten sich die Frauen im Dorf, was für ein schöner Junge inzwischen aus dem Sohn Samandas geworden sei. So streiften Dorfmädchen hin und wieder am Schloss vorbei, in der Hoffnung seinen Anblick im Hof zu erhaschen und ihm, dem schönen, reichen Mustafa, ein kleines Hallo sagen zu können.

Es vergingen weitere zwei Jahre und der Großvater war glücklich darüber, dass nun die Zeit gekommen war, den Enkelsohn in die Großstadt Romeyseh zu schicken. Er sollte dort einen anständigen Beruf und dazu noch eine Kunst seiner eigenen Wahl erlernen. Somit ritt er eines Tages mit Mustafa nach Romeyseh zu einigen namhaften Handwerkern und Künstlern dieser Stadt. Er ließ ihn dort bei der Familie eines guten Freundes unterkommen und hinterließ für seine Miete, Verpflegung und Unterrichtsgebühr Geld für ein ganzes Jahr. Bevor er sich von Mustafa verabschiedete, steckte er ihm einige Geldscheine in die Hosentasche und sagte zu ihm, er bekäme sein monatliches Taschengeld von dem Freund, bei dem er jetzt wohne. „Ich vertraue dir nun wie ich einem Mann vertrauen würde“, fügte Khan hinzu.

„Trotzdem möchte ich, dass du mir einmal im Monat schreibst und mich darüber informierst, wie deine Ausbildung und die Musikstunden gelaufen sind.“

Mustafa nickte schweigend und umarmte den Großvater zum Abschied.

Seit diesem Tag vergingen drei Monate, Khan erhielt aber keinen einzigen Brief von der Stadt. Dafür gab er nicht Mustafa die Schuld; denn keine Karawane war indessen in Eynaltamor eingetroffen. Eines Tages, während er auf der Plantage mit den Arbeitern sprach, erblickt er am Horizont eine Staubwolke. Da sprang er unverzüglich auf seinen Hengst und galoppierte los. Wenig später erkannte er in jener Staubwolke die ersten Kamele an der Spitze einer langen Karawane. Sein Herz lachte sogleich und er beschleunigte den Gang seines Pferdes, indem er dem Reittier mit der Hand kräftig auf die Hüfte schlug. Sobald er an der Karawane ankam, erkannte er gleich deren Führer.

„Salamo Alaykom!“, grüßte er heiter.

„Alaykomo Salam, Bruder Khan!“ grüßte der andere zurück. „Wie geht es Ihnen?“

„Bin seit Wochen sehr besorgt“, klagte Khan unvermittelt. „Vor etwa drei Monaten habe ich den Enkelsohn zur Ausbildung in die Stadt geschickt. Seitdem habe ich keine einzige Zeile von ihm gelesen und weiß nichts über ihn. Vielleicht fällt mir heute mit einem kleinen Briefchen von ihm ein Stein vom Herzen.“

Der Mann sagte nichts und griff sofort nach einer ledernen Tasche, die am Sattel seines Kamels herunterhing. Er hielt Khan deren Öffnung entgegen und sagte:

„Nichts! Weder für Sie noch für sonst jemanden in Eynaltamor!“

Da betrübte sich Khans heitere Miene augenblicklich und er starrte den Mann verwirrt an. Nach einer Weile zog er gereizt den Zügel seines Hengstes so kräftig zur Seite, dass das Tier sich sofort umdrehte. „Wann brichst du auf?“, fragte Khan mit kalter, eiserner Stimme.

„Heute schon bei Sonnenuntergang“, gab der Karawanenführer zurück.

„Ich gebe dir ein wichtiges Schreiben mit“, sagte Khan.

„Es muss morgen früh ankommen.“

„Es geht in Ordnung!“, versicherte der Mann.

Khan schlug dem Pferd unversehens auf die Hüfte, es machte einen Sprung nach vorn und galoppierte in Richtung Eynaltamor los. Dabei tanzten Khans weiße Haare im Wind und er verschwand bald in der Staubwolke, die die Hufen seines Hengstes hinter sich aufwirbelten. In der Plantage sauste er an den Arbeitern vorbei, ohne ihnen einen Blick zuzuwerfen. Diese sahen ihm verwirrt nach, weil sie ihn noch nie so erlebt hatten.

Sobald er im Schloss ankam, schrieb er an den Freund, der Mustafa bei sich aufgenommen hatte, den folgenden Brief:

„Lieber Freund Muhammed Rahman,

ich schreibe dir diese Zeile mit zitternden Händen; denn mein Herz brennt gerade in Sorge um Mustafa. Nach unserer Vereinbarung sollte er mir monatlich über sein Wohlbefinden, seine Ausbildung und den Musikunterricht berichten. Heute aber, erst nach drei Monaten erfuhr ich, dass Mustafa der Karawane, die heute in Eynaltamor eingetroffen ist, nichts mitgegeben hatte. Bitte schreibe mir umgehend, wie es meinem Enkelsohn geht, was aus seiner Ausbildung und dem Musikunterricht geworden ist und mit wem er verkehrt.“

Nachdem Khan den Brief zusammengerollt und besiegelt hatte, fuhr er mit zitternden Fingern durch seine wirren Haare, stand auf und sah sich im Spiegel an. Da wurde er auf die vielen tiefen Falten aufmerksam, die sein hartes Schicksal auf seinem trüben Gesicht hinterlassen hatte. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und machte sich mit dem Schreiben in der Hand auf den Weg zur Moschee. Hier war der Karawanenführer vor kurzem angekommen und verrichtete am Hofbecken seine rituellen Waschungen zum Mittagsgebet. Khan störte ihn nicht und verweilte im Hof solange, bis der Mann den Gebetsraum nach dem Gebet verließ und sich in den Hof begab.

„Hier ist der Brief“, händigte ihm Khan das Schreiben aus und befahl: „Du bleibst bei Mohammad Rahman, bis er die Antwort geschrieben hat. Seinen Brief lässt du mir durch einen zuverlässigen Einzelreiter unverzüglich zukommen. Ich muss die Antwort möglichst bald haben.“

„Enscha Allah! – So Gott es will!“, erwiderte der Mann mit der rechten Hand auf der Brust.

Khan drückte ihm einige Geldscheine in die Hand, der andere verneigte sich dankbar und verließ sofort die Moschee.

Nach dieser Begegnung waren vier für Khan qualvolle Tage vergangen, als der Geistliche des Dorfes – der Imam – eines Abends zu ihm eilte. Er hatte über dem kleinen Steg kaum den Bach überquert, da sah er Khan gerade aus dem Hof seines Schlosses heraustreten.

„Na, macht sich unser Imam Sorgen, dass ich in der Moschee beim Abendgebet nicht hinter ihm stehe?“, scherzte Khan.

„Du kannst dein Gebet verrichten, wo immer du willst“, entgegnete der andere. „Hauptsache du betest; darum geht es mir. Hier hast du es!“ Er drückte Khan einen eingerollten Brief in die Hand. „Ein Reiter aus Romeyseh hat ihn eben gerade bei mir abgegeben. Ich wusste, dass du zum Abendgebet in die Moschee kommst. Trotzdem wollte ich dir deine Sorgen um Mustafa ein wenig früher wegnehmen.“

Khan zog die Augenbrauen zusammen und entfernte die Schnur, womit der versiegelte Brief zugebunden war.

„Mein teurer Freund Khan“, hatte Rahman zurückgeschrieben. „Entgegen deinem Wunsch, dem Boten die Antwort auf dein Schreiben gleich mitzugeben, musste ich ihn zunächst einmal wegschicken, um mich bei den beiden Meistern zu erkundigen, wie Mustafa sich seit dem Beginn der Ausbildung und des Musikunterrichts aufgeführt hat. Darüber kann ich dir leider nichts Gutes berichten. Seine Meister sagten beide, Mustafa hätte die ersten zwei Wochen interessiert an den Stunden teilgenommen, die Hälfte der dritten Woche auch, danach hätten sie ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Der Musikmeister sagte noch, Mustafa wäre an einem Nachmittag außerhalb der üblichen Stunde bei ihm aufgekreuzt, er wäre betrunken gewesen und wüsste nicht richtig, warum er bei ihm überhaupt erschienen war. Du sollst noch wissen, dass ich auch ihn betrunken erlebt habe. Mustafa ist mittlerweile nicht mehr mit der Höhe des Taschengeldes zufrieden. Ab dem zweiten Monat seines Aufenthalts bei uns verlangte er mehr Geld. Ich sagte nein und er wurde laut. Er schien betrunken zu sein. Ich gab also nach, weil ich eine Familie habe und Frieden in meinem Haus will. Wenn er nicht der Enkelsohn eines Freundes wäre, den ich sehr schätze, würde ich ihn bei uns gewiss nicht länger haben wollen. Aber dir zuliebe dulde ich ihn noch, bis du auftauchst und die Dinge neu regelst.“

Da faltete Khan den Brief mit dem kreidebleichen Gesicht und den zitternden Händen zusammen und steckte es in seine Hemdtasche.

„Offensichtlich habe ich dir damit keine Freude gemacht, nicht wahr?“ fragte der Imam, der ihm seit der Kindheit ein guter Freund gewesen war.

Khan zog das Schreiben geistesabwesend aus der Tasche heraus und hielt es ihm entgegen, ohne ein Wort zu sagen. Nachdem der Geistliche es gelesen hatte, legte er dem Freund tröstend die Hand auf die Schulter und die beiden liefen grübelnd auf die Moschee zu.

Während jenes Abendgebets vermochte Khan sich kaum zu konzentrieren und in der Nacht darauf konnte er bis morgen kein Auge zutun. Am frühen Morgen in der Moschee, nachdem die Gläubigen den Gebetsraum verlassen hatten, sagte er zum Imam, er würde sich gleich auf den Weg nach Romeyseh machen. Da sagte der Freund, er bräuchte noch ein wenig Zeit, um sich reisefertig zu machen. Khan sah ihn verdutzt an und meinte, er würde ihm die Begleitung nie zumuten.

„Der Weg nach Romeyseh ist nicht ungefährlich“, entgegnete der Imam. „Außerdem ist dein Aussehen noch ein Grund, warum ich mit reiten will. Schau dich doch im Spiegel an! Du bist alles andere als gesund. Wie soll ich dich denn in dieser Verfassung alleine reiten lassen!?“

Khan senkte den Blick; nach einer Weile sah er auf und nickte nachgiebig.

„Gut so!“, erwiderte der andere heiter. „Du bleibst in der Moschee, bis ich wieder da bin.“

Er ging eilenden Schrittes nach Hause. Nach etwa dreißig Minuten erschien er auf seinem Pferd am Ende der Gasse wieder und winkte zu Khan herüber, der mit dem Zügel seines Hengstes in der Hand am Eingang der Moschee auf ihn wartete.

Die Freunde ritten im Galopp los, nachdem sie die letzte Gasse des Dorfes hinter sich gelassen hatten. Weit hinter ihnen am Horizont hatte die Morgenröte bereits ihre ersten purpurroten Streifen am Himmel gezogen.

Sie ritten zunächst beinah ohne Rast und ruhten sich bloß während der Verrichtung ihrer Tagesgebete aus. Um die Pferde nicht allzu großen Strapazen auszusetzen, führten sie sie hin und wieder am Zügel. Mit dem Anbruch der Dunkelheit dösten sie auf ihren Rücken durch die dunkle Nacht hindurch und ließen die Hengste im Lichte der Sterne einfach dem Reitweg folgen. Es war kurz nach Mitternacht, als sie vom Trommeln der Pferdehufe auf dem steinernen Boden wach wurden. Da wussten die Männer gleich, dass sie am Gebirge angekommen waren. Sie stiegen sofort ab und führten die Pferde am Zügel; denn der schmale Reitweg, der abwärts durch die felsigen Berge hindurch nach Romeyseh führte, lief hin und wieder dicht an den gefährlichen Abhängen vorbei, welche schroff in die tiefen Schluchten abfielen.

Die aufgehende Sonne hatte Romeyseh samt seinen vielen Dattelpalmen, die aus den Lehmhäusern herausragten, gerade in ihr feurig rötliches Licht eingetaucht, als die Freunde die letzte Felswand des Gebirges hinter sich ließen und links in der Tiefe auf einmal die Großstadt erblickten. Diese hatte sich unten im Flachland weit und breit in alle Richtungen ausgebreitet.

Sie war noch nicht ganz aufgewacht, als die Reiter in sie hinein trabten und der Trommel ihrer Pferdehufe durch ihre menschenleeren Straßen und Gassen zu hallen begann. Erst nachdem sie an Rahmans Haus angekommen waren, vernahmen sie plötzlich die Rufe des Allaho-Akbars – Gott ist allmächtig -, welche die Luft über der Stadt rasch erfüllten. Diese, ausgerufen von den Türmen der Moscheen in verschiedenen Stadtteilen, weckten die Gläubigen und luden sie zum gemeinsamen Morgengebet ein.

Nun griff Khan nach dem Türklopfer und klopfte kräftig an der schweren, hölzernen Haustür. In Bälde machte Muhammad Rahman selbst die Tür auf.

„Salamo Alaykom, Bruder Khan!“, grüßte er warm und umarmte seinen Freund. „Ich wusste, dass du es bist!“

„Hier ist unser Imam und mein bester Freund in Eynaltamor seit über fünfzig Jahren“, stellte Khan seinen Begleiter vor.

„Die Tür meines Hauses ist auch für deine Freunde offen“, sagte Rahman, schüttelte dem Imam freundlich die Hand und führte die beiden mit ihren Pferden in den Hof hinein. Dort musterte er die Ankömmlinge und fragte: „Ihr seid den ganzen Weg ohne Rast geritten, nicht wahr!?“

„Ausgeruht haben wir uns nur während des Gebets“, erwiderte Khan und fragte unvermittelt: „Ist Mustafa zuhause?“

„Darüber reden wir, nachdem ihr euch ausgeruht habt“, entgegnete Rahman. „Zuerst zeige ich euch die Gästestube.“

Da hielt Khan gereizt den Arm seines Freundes und sprach mit zitternder Stimme: „Ich habe Mustafa wie meinen eigenen Sohn großgezogen; achtzehn Jahre lang! Ich muss alles über ihn wissen!“

„Na schön“, sagte der Freund beschwichtigend. „ Ehrlich gesagt, Mustafa ist nachts nie zuhause. Er taucht nur spätnachmittags auf, bleibt ein paar Stunden, dann geht er wieder. Wohin? Weiß nur der Gott.“

Khan senkte niedergeschlagen den Blick zu Boden. Nach einer Weile sah er wütend auf und sagte: „Na gut, wir schlafen jetzt. Dennoch wecke uns bitte, bevor Mustafa auftaucht! Ich will ihn in seiner Stube überraschen.“

Rahman nickte bestätigend, bat seine Gäste ins Haus hinein und zeigte ihnen ihre Stube. Daraufhin machte er sich auf den Weg zur Moschee.

An jenem Tag arbeitete er nicht wie üblich bis zum Anbruch der Dunkelheit. Schon am Asr, der Zeitraum zwischen Spätnachmittag und Sonnenuntergang, überließ er das Geschäft dem Lehrling, seinem jungen Vetter, und ging eilenden Schrittes nach Hause. Als er zuhause ankam, sagte seine Frau zu ihm, Mustafa tauche normalerweise um diese Zeit auf. Er eilte sofort zur Gästestube im Obergeschoss und weckte Khan. Während er die Stube auf leisen Schritten mit ihm verlassen wollte, murmelte der Imam: „Nicht ohne mich!“

Sie warteten draußen vor der Tür, bis der Freund sich anzog und herauskam. Alsdann gingen sie unverzüglich zu dem Zimmer hinüber, wo Mustafa normalerweise wohnen sollte. Rahman schloss mit einem zweiten Schlüssel die Tür auf und sie traten hinein. Das kleine Zimmer wirkte nicht unsauber. Rahmans Frau hatte es regelmäßig gekehrt und die Bettwäsche alle paar Tage gewechselt. Bald ging Rahman aus dem Zimmer hinaus, um seinem kleinen Sohn zu sagen, er möge ihm sofort Bescheid geben, sobald Mustafa auftauche. Als er im Flur links einbog, um die Treppe zum Erdgeschoss hinunterzusteigen, da sah er Mustafa mit gesenktem Blicke gerade die Treppe heraufsteigen. Geschwind kehrte er ins Zimmer zurück und teilte dies den anderen mit. Kurz darauf hörten die Männer das Rascheln eines Schlüssels im Schloss. Mustafa, verwundert darüber, dass die Tür nicht abgeschlossen war, trat hinein. Als er Khan mit den anderen im Zimmer stehen sah, wurde er sogleich kreideweiß im Gesicht. Er starrte verwirrt mit ungläubigen Augen den Großvater an, dann ging er auf unsicheren Beinen auf ihn zu, um ihm wie üblich die Hand zu küssen. Da gab Khan ihm plötzlich eine kräftige Ohrfeige und er taumelte beiseite, hielt aber das Gleichgewicht, kurz bevor er gegen die Wand knallte. Der andere ging auf ihn zu, hob die Hand, um wieder auf ihn einzuschlagen. In diesem Moment hielt der Imam seine Hand fest und flüsterte: „Es reicht, beherrsche dich!“

Khan holte tief Luft und seine gehobene Hand sank sachte herab. Der Freund ließ ihn los, blieb aber dicht neben ihm.

„Willst du mich umbringen, du Schwein!?“, brüllte er Mustafa an, während seine Hände zitterten und seine Lippen völlig bleich geworden waren. „Ist das dein Dank dafür, dass ich dir achtzehn Jahre lang sowohl Vater als auch Großvater gewesen bin!? Beinah vier Monate lang hast du mich auf ein paar Zeilen von dir warten lassen!! Vier verdammte Monate, die mich um mehr als vier Jahre älter gemacht haben! Mich, den Khan, der nach siebzig Jahren harten Lebens sich endlich zur Ruhe setzen sollte, um die restlichen paar Jahre seines Lebens im Frieden zu verbringen.“

Während Khan brüllte, stand Mustafa mit gesenktem Blick vor ihm. Er schwieg und blieb solange in dieser Haltung, bis er merkte, dass sein Großvater alles gesagt hatte. Alsdann sprach er leise: „Es tut mir leid, Opa! Am Anfang lief alles gut, dann konnte ich aber nicht mehr lernen; weder in der Werkstatt noch beim Musikmeister.“

„Und warum zum Teufel nicht!?“

Mustafa dachte ein wenig nach, dann antwortete zaghaft: „Weil ich mich nicht konzentrieren konnte.“

„Und warum das nicht!?“

„Weil ich mich verliebt hatte.“

„Heiliger Abdullah!!“, rief Khan aus. „Kann das denn der Grund dafür sein, dass ein Mann seine Ausbildung in der fremden Stadt einfach umschmeißt!? Von was willst du denn später die Frau deiner Träume ernähren, he!? Von der Luft oder von einem erlernten, anständigen Beruf!?“

„So einfach ist es nicht, Großvater!“, entgegnete Mustafa.

„Oh doch! So einfach ist es! Es sei denn, die Sache hat einen Haken.“

„So ist es!“, gestand Mustafa.

„Welchen Haken?“

Mustafa dachte ein wenig nach und antwortete: „Sie ist älter als ich.“

„Wie viel?“

„Acht Jahre.“

„Das lässt sich regeln. Du brauchst mich bloß zu ihrer Familie zu bringen; den Rest erledige ich.“

„So einfach ist es wirklich nicht, Opa! Gib mir bitte Zeit und lass mich selber die Sache regeln!“

„Und woher kommt die verdammte Trinkerei?“

„Vom Kummer. Das wird aber nicht mehr vorkommen.“

Nun sahen sich die Männer still an, während Mustafa immer noch mit gesenktem Blicke zu Boden schaute.

„Und wie lange darf es so weiter gehen?“, fragte Khan noch.

„Ich kläre es bald. So kann ich auch nicht mehr weiterleben“, erwiderte Mustafa.

„Und wie lange brauchst du Zeit, bis du dein Leben wieder in die Reihe bekommst?“

„Ich weiß es wirklich nicht, Opa! Aber ich kläre es bald.“

„Ich weiß es aber!“, versetzte Khan. „In zwei Wochen klärst du das Problem, dann reitest du mit der nächsten Karawane nach Hause und lässt mich wissen, ob die Sache vergessen ist oder ob ich mit ihrer Familie Kontakt aufnehmen soll. Wenn du aber nach zwei Wochen noch nicht zuhause bist, dann komme lieber nie wieder! Bei mir hast du kein Zuhause mehr!“

Nun wandte Khan den Blick zu Mohammad Rahman und sagte: „Der Frühling hat die Erde geweckt, die Arbeit in den Plantagen lässt nicht lange auf sich warten. Wir reiten heute schon bei Sonnenuntergang zurück.“

Rahman nickte und die Männer ließen Mustafa in seinem Zimmer allein. Sobald sie die Treppe ins Parterre hinunterstiegen und sich in die Gästestube begaben, brachte ihnen Rahmans Sohn Tee mit Datteln und Schischa. Bevor der Knabe die große Stube verließ, sagte der Vater zu ihm, er möge seiner Mutter sagen, den Gästen Lebensmittel einzupacken, denn sie würden schon bei Sonnenuntergang aufbrechen.

„Darf ich dich um einen Gefallen bitten?“, fragte Khan seinen Gastgeber.

Rahman nickte und sagte entgegenkommend: „Enscha Allah – so Gott es will! -“

„Finde heraus, wer diese Frau ist und schreibe mir möglichst bald, ob Mustafa weiterhin trinkt. Habe Geduld mit ihm und behalte ihn noch bei euch, auch wenn er nach zwei Wochen nicht nach Hause gekommen ist. Geld hast du ja noch genug bei dir. Gib ihm so viel er will, bis er keins mehr hat. Dann möchte ich sehen, wie er danach für seine erste große Liebe aufkommen will. Dann wird er zurückkommen müssen. Nachdem er der Wirklichkeit in die Augen geschaut hat, werde ich wohl wissen, was mit ihm zu machen ist.“

„Du sprichst mir aus der Seele, Khan“, bestätigte der Freund. „So kann es nicht weiter gehen. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen und schnell handeln, bevor es zu spät ist. Ansonsten wird der Junge in den gefahrvollen Gassen der Großstadt untergehen.“

Khan fuhr mit den Fingern besorgt durch seine weißen Haare und sagte zu dem Freund, er wüsste seine Freundschaft sehr zu schätzen.

In diesem Augenblick kam Rahmans Sohn mit einem Tuch unter dem rechten Arm herein. Nachdem er das Tuch ausgebreitet hatte, deckte er es mit dem Reis und Gulasch in einem runden Tablett aus Messing. Diese ergänzte er noch mit dem dünnen, weißen Brot, mit Kräutern verschiedener Art, mit dem Joghurt und dem frischen Wasser. Nach der Mahlzeit rauchten die Freunde wieder Schischa zusammen, tranken Tee und verrichteten bei Sonnenuntergang gemeinsam das Abendgebet. Danach verließen Khan und sein Begleiter mit ihren Reittieren das Haus, ohne sich von Mustafa zu verabschieden.

Nachdem Mustafa unten in der Gasse das Trommeln der Pferdehufe auf dem Boden gehört hatte, ragte er den Kopf aus dem Fenster heraus und sah den Reitern nach, bis sie in die Nebengasse einbogen und aus seinem Blickfeld verschwanden. Danach verließ er sofort sein Zimmer, schloss die Tür ab und eilte die Treppe hinunter. Rahman, seine Frau, die beiden kleinen Töchter und der Sohn befanden sich noch im Hof. Mustafa grüßte sie flüchtig ohne aufzuschauen und verließ geschwind das Haus. Da sank der Vater vor dem Sohn auf die Knie und sagte leise zu ihm: „Verfolge Mustafa und lass ihn nicht aus den Augen, bis du herausgefunden hast, in welches Haus er reingeht. Du sollst dir das Haus ganz genau merken, mein Sohn! Das ist für Papa sehr wichtig.“

Der Knabe nickte bestätigend und schoss aus dem Haus hinaus.

Nach etwa einer Stunde betrat der Junge den Hof wieder und rief keuchend nach seinem Vater. Rahman kam aus dem Haus heraus und eilte auf den Sohn zu.

„Ich habe es Papa!“, rief der Junge.

„Pscht!“, ermahnte ihn sein Vater. „Sprich leise! Niemand darf wissen, dass du Mustafa verfolgst.“

Der Junge nickte und wisperte gleich: „Ich habe mir ganz genau gemerkt, wo er reingegangen ist.“

„Kannst du das Haus wieder erkennen?“

„Klar kann ich das, Papa!“

„Hast du auch gewartet, bis er wieder rauskommt?“

„Ja, Papa! Aber er ist nicht rausgekommen.“

„Gut gemacht, mein Sohn! Morgen und übermorgen machst du das Gleiche. Jedes Mal bleibst du solange, bis du sicher bist, dass er auch in dem Haus bleibt.“

Inzwischen hatten Khan und sein Freund den bewaldeten Teil des Gebirges erreicht. Es wirkte nun anders als im gestrigen Lichte des Sonnenaufgangs. Diesen Unterschied konnten die Freunde kaum wahrnehmen, weil sie in Gedanken gänzlich mit Mustafa beschäftigt waren; mit seiner Zukunft und all dem, was ihn in der Großstadt erwarten würde. Den Weg bis hierhin hatten sie schweigend geritten. Jetzt brach Khan die Stille, indem er seinen Freund fragte, wie er die Sache aus seiner Sicht sehe.

„Das Ganze hat einen Haken“, antwortete der Imam.

Khan spitzte die Ohren.

„Der Haken liegt nicht im Altersunterschied“, fuhr er fort, „sondern darin, dass Mustafa öfters bei der geliebten Frau übernachtet. Rahman sagte, Mustafa wäre nachts fast nie zuhause gewesen. Ich frage mich, ob eine anständige Familie einen unverheirateten, jungen Mann, der in ihre Tochter verliebt ist, bei sich überhaupt übernachten ließe. Die Frau kann also nur eine Witwe sein, die es sich leisten kann, alleine zu leben.“

„Vielleicht schläft er bei einem Freund“, wandte Khan ein.

„Aber doch nicht so oft!“

Khan stieß einen tiefen Seufzer aus und schwieg.

In etwa einer Stunde ritten die einsamen Reiter allmählich in die Abenddämmerung hinein, wo aus den Felsen und Bäumen um sie herum bald riesige Schatten wurden, die sich in der Dunkelheit nach und nach auflösten. Was sie jetzt vor sich sahen, war nur noch der Reitweg, welcher im Lichte der Sterne schwach schimmerte.

Den beiden wurden die Augenlider vom langsamen, eintönigen Dahintraben ihrer Pferde allmählich schwer und Imams leises Schnarchen wurde bald hörbar. Dagegen ließ Khan sich vom Schlaf nicht überwältigen; denn die Pferdehufe trommelten immer noch auf den festen, steinernen Boden des Weges, der an den tiefen Schluchten vorbeischlängelte. Hinzu kamen noch die Gefahren, die das Gebirge in sich barg. Später, als das Trommeln allmählich verstummte und die Pferde die zahlreichen Biegungen und Unebenheiten des Weges hinter sich ließen, freute sich Khan aufs Flachland und gab erleichtert den Kampf gegen seine sinkenden Augenlider auf. Dennoch war er kaum eingeschlafen, da weckte ihn plötzlich ein beißender Schmerz in der Herzgegend. Er nahm ihn zuerst auf die leichte Schulter; der Schmerz wurde aber zunehmend größer und er konnte durch die ganze Nacht kein Auge zutun. Bis zum Sonnenaufgang rieb er sich sein Herz mit einem vor Schmerz verzogenen Gesicht, ohne darüber zu klagen. Später, nachdem die ersten, rötlichen Sonnenstrahlen der aufgehenden Sonne Imams geschlossene Augenlider berührten, wurde er davon wach. Da fragte er sofort den Freund, was mit ihm los sei: „Warum hast du das Gesicht verzogen!? Wozu reibst du dir die Brust!?“

„Das tue ich schon seit dem Anbruch der Dunkelheit“, murmelte Khan leise. „Ein großer Schmerz im Herzen plagt mich, seitdem wir die Berge verlassen haben.“

„Kein Wunder für einen Mann in deinem Alter!“, entgegnete der andere. „Jede Menge Kummer, Sorge und Aufregung wegen Mustafa, dazu noch zwei Tage Ritt ohne Rast. All das ist viel zu viel für dein müdes, siebzigjähriges Herz!“

Somit ritt Khan mit dem besorgten Freund fünf weitere qualvolle Stunden, bis die Hügelspitzen Eynaltamors an der Horizontlinie langsam zu erscheinen begannen. Dies teilte der Imam seinem Freund unverzüglich mit und ergänzte tröstend, sie wären bald zuhause und alles würde gut gehen. Als sie nach etwa einer Stunde in die erste Gasse des Dorfes einbogen, konnte Khan sich nur noch unter größter Anstrengung auf dem Pferd halten. Dies war dem Imam bewusst, daher ritt er dicht neben ihm, um gleich einzugreifen, falls der Freund seitlich kippen würde. Sobald er Khans Schloss endlich am Bach erblickte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus und half dem Kranken von seinem Hengst herunterzusteigen. Dann schob er sich unter seinen Arm und ließ ihn sich auf seine Schulter stützen. Khan konnte nicht aufrecht gehen und lief gekrümmt. So führte der Imam ihn beinah tragend ins Haus hinein und machte ihm im Parterre geschwind sein Bett. Daraufhin versicherte er ihm, er käme bald mit dem Dorfarzt wieder.

Nun entspannte sich Khan allmählich und seine Augenlider wurden schwerer, bis er im Reich des Schlafes endlich seinen plagenden Herzschmerzen entkommen konnte.

Zur selben Zeit in Romeyseh, jenseits dieser Aufregung wachte Mustafa in den Armen seiner geliebten Laila auf; teils wegen der Mittagshitze, teils wegen der leichten Kopfschmerzen vom gestrigen, nächtlichen Wein.

„Wach auf Laila! Ich muss dir etwas Wichtiges mitteilen“, sprach er im ernsten Ton.

„Muss das denn jetzt sein, Mustafa!?“, klagte Laila schlaftrunken. „Kannst du mir das nicht nach dem Frühstück sagen!? Mein Bauch knurrt so vor Hunger!“

Mustafa streichelte ihr sanft das schwarze, lockige Haar und küsste es. „Darf ich dir heute das Frühstück machen?“, fragte er unverhofft.

Da hob Laila plötzlich ihr rundes, hübsches Gesicht, stützte sich auf den rechten Ellbogen und sah Mustafa ungläubig an. Dann küsste sie ihm auf die Nase und sagte lächelnd: „Das ist sogar die Belohnung dafür.“

Nachdem Mustafa das Frühstückstuch ausgebreitet und bunt gedeckt hatte, verneigte er sich feierlich vor Laila und fragte: „Darf ich jetzt die Königin meines Herzens ans Tuch bitten?“

Laila, verdutzt und auch angenehm berührt, trat hervor und sagte: „Du kannst aber süß sein! Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ein Mann mir das Frühstück machen würde!“

Mustafa legte die rechte Hand auf die Brust und verneigte sich wieder tief vor ihr. Während die beiden frühstückten, sah er hin und wieder zu Laila auf und genoss ihren Anblick beim Essen. Nach dem Frühstück brach er die Stille: „Die Königin rührt sich nicht vom Fleck, ich räume auf.“ Das tat er auch. Danach setzte er sich vor ihr nieder und sprach mit leiser Stimme: „Ich liebe dich Laila! Ich liebe dich so sehr, dass ich mir ein Leben ohne dich kaum vorstellen kann. Das war der Grund, warum ich in der Werkstatt, wo ich meine Schreinerausbildung machen sollte, mich kaum konzentrieren konnte; ich wollte einfach bei dir sein. Jede Minute, die ich hier mit dir verbringe, erfüllt mein Leben mit unendlicher Freude. Seitdem ich dich kennengelernt habe, bin ich glücklich wie noch nie. Willst du meine Frau werden, Laila? Immer mit mir sein, für den Rest meines Lebens?“

Da wurde Lailas Gesicht auf einmal bleich, sie senkte sachte den Blick und starrte besorgt den bunten Teppich an, worauf sie saßen. Nach einer Weile sah sie auf und sagte: „Ich werde dich nicht heiraten, Mustafa! Das kann ich dir nicht antun!“

Kaum hatte Laila ihren ersten Satz zu Ende gesprochen, da stieg Mustafa das Blut ins Gesicht. Er rief verwirrt aus: „Warum denn nicht!? Was willst du mir nicht antun!?“

Er hielt kurz inne und dachte nach; dann beantwortete selber seine Frage: „Ach so! Du willst mich nicht heiraten, weil du eine Prostituierte bist. Du denkst, du würdest damit meinem Namen Schande machen, nicht wahr? Aber ich habe dich doch nie als eine Prostituierte angesehen! Ich schwöre bei Allah, dass ich dich liebe, Laila! Wir werden doch weit weg von hier zusammenleben; in einem schönen Schloss in Eynaltamor. Wer will dich denn dort wieder erkennen!?“

Laila wartete still ab, bis Mustafa sein Herz ausgeschüttet hatte. Daraufhin ging sie auf leisen Sohlen auf die Zimmertür zu, öffnete sie und sah nach, ob sich jemand im Hof hinter der Tür befand. Dann riegelte sie die Tür wieder zu, kam zurück und sagte beinah flüsternd: „Ich war keine Prostituierte, ich bin es nicht und werde es auch nie sein. Und der Zuhälter, der mich hier schon seit einem halben Jahr festhält, gab sich damals als Geschäftsmann aus, als er eines Tages in unser Zelt kam und meinen Vater um meine Hand bat. Ich stamme aus einer Nomadenfamilie. Wir Nomaden sind gutmütige, leichtgläubige Menschen. Er meinte, er hätte einen Laden in der Stadt. Mein Vater glaubte ihm alles und wir feierten drei Tage danach unsere Hochzeit. Er blieb noch ein paar Tage bei uns und versuchte, zu uns allen sehr nett zu sein. Dann brachte er mich hierher nach Romeyseh. Dabei hatte er meinem Vater eine andere Stadt genannt, wo wir leben sollten; eine Stadt, nicht weit von der Stelle, wo meine Familie unsere Ziegenherde hütete. Dafür landete ich aber hier in diesem Gott verdammten Haus.“

Laila seufzte tief, wischte sich eine Träne vom Auge und fuhr fort: „Kurz nachdem wir hier angekommen waren, sagte er mir, warum er mich hierher gebracht hatte und was ich für ihn tun musste. Da habe ich ihn gleich im Gesicht gekratzt und bin auf ihn gesprungen. Danach hat er mich so geprügelt und so gepeitscht, dass ich zwei Wochen lang im Fieber brannte und mich im Bett kaum drehen konnte, weil mir die blauen Flecken am Körper überall wehtaten. Bevor er mich dann halbtot geprügelt im Zimmer allein ließ, sagte er zu mir, es hätte keinen Sinn von hier wegzulaufen, hier sei ein Vergnügungsviertel und kein Mensch würde einer Frau aus dieser Gegend ein einziges Wort glauben, er würde mich dann finden und mir die Kehle durchschneiden. Nachdem er gegangen war, wollte ich einfach nicht mehr leben; denn meine Familie war weit weg von mir, inzwischen waren sie bestimmt auch weitergezogen. Wir Nomaden ziehen immer dorthin, wo unsere Ziegen weiden können. Ich habe mich also entschieden, solange nichts zu essen, bis ich sterbe. Nachdem ich drei Wochen lang nichts gegessen hatte, drohte er mir mit weiteren Schlägen. Als er aber merkte, dass ich sehr geschwächt war und Gewalt keinen Sinn mehr hätte, wurde er weich und schlug mir ein gemeinsames Geschäft vor. Er meinte, er würde für mein Essen und ein Dach über meinem Kopf sorgen, dafür nähme er 70 Prozent der Einnahmen für sich, den Rest könnte ich für mich behalten. Danach habe ich so getan, als ob sein Angebot mich tatsächlich interessiere. Seitdem spare ich Geld und warte auf eine günstige Gelegenheit, aus dieser Hölle zu entkommen.“

Mustafa hörte sich Lailas Geschichte zutiefst berührt an. Anschließend seufzte er und sagte: „Dieses Schwein könnte ich ohne Reue umbringen. Ich wusste schon von Anfang an, dass ich mich in eine anständige Frau verliebt hatte. Das, was du mir eben erzählt hast, hat das bestätigt, es hat aber meine Frage nicht beantwortet, warum du mich nicht heiraten willst.“

„Ich will dich nicht heiraten, nicht weil ich dir und deiner Familie damit Schande bringen würde “, ergänzte Laila unnachgiebig „sondern weil ich dich einfach nicht so liebe wie du mich. Ich habe manchmal das Gefühl, dass du in meinen Armen eine Art Mutter suchst. Ich mag dich Mustafa! Sehr sogar! Aber das reicht nicht aus, um einen Mann glücklich zu machen. Ich würde deinem Namen nur dann Schande machen, wenn ich dich heiraten würde, ohne dich von ganzem Herzen zu lieben. Begreifst du jetzt, warum ich dir das nicht antun will?“

Da stieß Mustafa einen tiefen Seufzer aus und nickte. Dann fragte er beinah verzweifelt: „Was soll ich tun, damit du mich liebst?“

„Dafür kann man nichts tun, Mustafa!“, versetzte sie. „Einmal fragte ich meine Mutter neugierig, was die Liebe sei. Sie sagte, Liebe sei Schicksal. Sie sei wie eine Flut, die einen mitreißt, sobald sie da ist. Dagegen kann man nichts tun. Dies habe ich später am eigenen Leibe erlebt, wusste aber nicht, dass die Flut, die mich mitgerissen hat, in einen Alptraum münden würde.“

Mustafa starrte den Teppich an und fuhr mit Fingerspitzen traurig über seine Fasern. Nach einer Weile blickte er auf und fragte: „Willst du, dass ich jetzt gehe und nie wieder komme?“

„Ja, das will ich! Auch wenn ich das ungern sage“, antwortete Laila. „Eine einseitige Liebe bringt nur Unglück. Schau doch bloß, wie sie deine Ausbildung kaputt gemacht hat! Und sie wird dir auch die Möglichkeit wegnehmen, eines Tages die Frau deines Lebens kennenzulernen. Gehe lieber und vergiss mich für immer!“

„Wie soll ich das tun, wo ich jetzt weiß, dass ein Monster dich hier gefangen hält!? Kann ich dir denn nicht irgendwie zur Flucht verhelfen?“

„Nein, mein Lieber! Dieses Monster ist zu allem fähig. Wenn er nur herausfindet, dass du hinter meiner Flucht stehst, würde er nicht ruhen, bis er dich mit eigenen Händen erwürgt hat. Er denkt, dass ich mich hier mittlerweile aufs Geldverdienen freue. Er vergisst manchmal die Haustür zu verschließen. Und ich werde ihn in diesem Glauben lassen, bis die Zeit zur Flucht reif ist; so reif und süß wie eine saftige Frucht.“

Mustafa stieß wieder einen Seufzer aus und sprach:

„Ich verspreche nicht, dass ich dich nie mehr besuchen werde. Ich glaube nicht, dass ich es kann.“

Da stand er unversehens auf und verließ das Zimmer. Im Hof begegnete er dem Zuhälter. Er wollte schnell an ihm vorbeigehen, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. In diesem Augenblick fragte der andere unverhofft: „Kommst du heute Abend wieder? Soll ich sie für dich frei halten?“

Mustafa blieb wie erstarrt vor ihm stehen. Sein Herz raste wie verrückt. Am liebsten würde er auf ihn springen und ihn in Stücke reißen. Er beherrschte sich, verzerrte seine Lippen zu einem gezwungenen Lächeln und sagte mit unterdrückter Stimme: „Heute Abend bekomme ich Besuch, morgen Abend komme ich wieder.“

„Ich verlasse mich drauf!“, entgegnete der andere.

„Das Geschäft muss ja fließend laufen!“

Mustafa biss sich auf die Lippen und verließ geschwind das Haus. Er ging schweren Herzens nach Hause und versuchte zu schlafen. Vergebens! Kummer und tausendfache Gedanken und Sorgen um Laila überfluteten ihn gleich. Unruhig wälzte er sich lange im Bett von einer Seite auf die andere, bis die glühenden Lichtstrahlen der untergehenden Sonne die Wände des Zimmers rötlich färbten. Es war nicht mehr so warm und die Luft roch nach Asr, im Arabischen der Zeitraum zwischen dem Spätnachmittag und Sonnenuntergang.

Er dachte, er würde gewiss vor Kummer platzen, wenn er mit all seinen Sorgen und Ängsten im kleinen Zimmer bliebe. Da überwältigte ihn ein heftiges Verlangen nach frischer Luft und einer Flasche Wein. Er sprang auf und verließ eilig das Haus. Dabei beobachtete ihn Rahmans Frau vom Wohnzimmer aus. Sie blinzelte ihrem Sohn zu und der Junge schoss sofort aus dem Hof hinaus. Nachdem er Mustafa für eine Weile verfolgte hatte, stellte dieser zwei Passanten eine Frage. Jene erklärten ihm etwas, er lief geradewegs bis zum Ende der Gasse und bog nach links in Richtung des Christenviertels ab. Als Mustafa in dem Viertel ankam, fragte er einen weiteren Passanten etwas. Dieser zeigte links auf eine Haustür hin und verschwand. Mustafa eilte auf die Tür zu, griff nach ihrem eisernen Türklopfer und klopfte laut. Wenig später ging der rechte Flügel der Tür nach innen auf, er sprach mit jemandem, ging dann hinein und kam nach einer Weile mit einer Stofftüte in der Hand heraus. Der Junge dachte, Mustafa würde nun wieder zum selben Haus gehen, wo er gestern hingegangen war. Er blieb aber auf der breiten Gasse und ging solange aufwärts, bis die Häuser immer weniger wurden und bald in die kahle, trockene Landschaft übergingen. Mustafa hatte den Stadtrand erreicht und steuerte sogleich auf einen Hügel zu, dessen Spitze einen herrlichen Panoramablick auf die gesamte Großstadt bot. Sein kleiner Verfolger wagte nun keinen Schritt weiter und rannte geschwind nach Hause. Am Abend, als sein Vater vom gemeinsamen Abendgebet nach Hause kam, erzählte er ihm alles, was er gesehen hatte.

„Aha, jetzt wissen wir schon, wo Mustafa sich seinen Wein besorgt“, sagte Rahman heiter zu seiner Frau.

„Wein kann man ja auch nirgendswo kaufen als im Christenviertel.“

„Ist es denn wirklich wichtig zu wissen, in welchem Stadtviertel er sich seinen verdammten Wein besorgt!?“, wandte seine Frau aufgebracht ein. „Haben wir denn nicht alle seit unserer Geburt im Schutze des heiligen Korans und seiner Lehren gelebt!? Wie lange müssen wir denn diese Schande dulden!? Du weißt es nicht, wie ekelhaft sein Zimmer riecht, wenn er es verlässt!“

„Ich verstehe dich gut“, gestand ihr Mann beschwichtigend. „Und es tut mir sehr leid, dass ich der Grund für deine Aufregung bin. Aber Mustafas Großvater kenne