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Nach der Kontroverse um das Familienpapier der EKD
Was bedeutet die Körperlichkeit des Menschen für die Theologie und für die kirchliche Praxis? Wie können ethische Orientierungen aussehen angesichts des radikal gewandelten Verhältnisses zur Sexualität in der Gesellschaft? Und schließlich: Kann und – wenn ja – wie kann Kirche heute noch zur Ehe ermutigen? Isolde Karle bringt theologische Denktraditionen mit soziologischen, kulturtheoretischen und philosophischen Konzepten ins Gespräch. Ein moderner praktisch-theologischer Entwurf reformatorischer Beziehungs- und Ehetheologie.
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Seitenzahl: 399
Die Liebe versteht sich nicht mehr von selbst. Es gibt in der Gegenwart konkurrierende Vorstellungen davon, was die Liebe ausmacht, wie sie zu erleben ist, welche Rolle die Sexualität für sie spielt und ob und inwiefern Liebe auf Ehe verweist. In Zeiten, in denen Liebesbeziehungen und Ehen brüchiger geworden sind, scheint die Sehnsucht nach Vertrauen, nach Geborgenheit und Verlässlichkeit gleichwohl ungebrochen zu sein, wie empirische Untersuchungen zeigen. Das vorliegende Buch geht dieser Sehnsucht nach und schließt deshalb nicht zufällig mit einem Kapitel über die Ehe ab. Die Ehe erweist sich bei näherem Hinsehen als deutlich anpassungsfähiger und weit weniger überholt als viele ihrer Kritiker meinen. Sie verbindet die Liebe mit dem Eros der Bindung »in guten wie in schlechten Tagen« und lädt zu einem besonders riskanten und zugleich besonders beglückenden Weg lebenslanger Liebe und Treue ein. Die Kirche hat deshalb allen Grund, zur Ehe zu ermutigen. Sie sollte sich zugleich dafür einsetzen, dass die Ehe und kirchliche Trauung allen zu gewähren ist, die sie begehren, auch den gleichgeschlechtlichen Paaren.
Von der Ehe unabhängig wird dem Thema Sexualität viel Platz eingeräumt. Im Hinblick auf die sexuellen Lebensformen ist die Verunsicherung in den Kirchen und in der Theologie besonders groß. Das gesellschaftliche Klima bezüglich Sexualität hat sich in den letzten Jahrzehnten tiefgreifend gewandelt. Das fordert dazu heraus, die gesellschaftliche Situation soziologisch differenziert wahrzunehmen und zu analysieren und zugleich zu theologisch brauchbaren ethischen Orientierungen zu kommen. Die Kirchen werden dabei zu einem entspannteren Umgang mit Sexualität ermutigt. Gleichzeitig wird ein »sexueller Kapitalismus« (Eva Illouz), der die Liebe mit Kosten-Nutzen-Kalkülen verbindet und die Beziehungsfähigkeit untergräbt, kritisch hinterfragt.
Über Sexualität kann theologisch nicht angemessen nachgedacht werden, ohne das Verständnis von Körperlichkeit zu klären. Deshalb befasst sich das erste Kapitel mit der Körperlichkeit des Menschen. Sie hat in der Theologie der Moderne erstaunlich wenig Berücksichtigung gefunden. Das Kapitel geht mit soziologischen, philosophischen und theologischen Überlegungen der Frage nach, was unter Körperlichkeit zu verstehen ist. Dabei zeigt sich, dass die moderne Gesellschaft paradoxerweise durch eine gleichzeitige Körperverdrängung und Körperaufwertung gekennzeichnet ist. Den Herausforderungen, die sich damit für die religiöse und kirchliche Praxis stellen, geht das Kapitel unter Bezugnahme auf biblische wie dogmatische Traditionen ausführlich nach.
Alle drei Kapitel bauen aufeinander auf und können zugleich je für sich gelesen werden. Kennzeichnend ist für das gesamte Buch, dass soziologische, kulturtheoretische, philosophische und theologische Denktraditionen zusammengeführt, in ein interdisziplinäres Gespräch miteinander gebracht und sozialethisch und praktisch-theologisch ausgelotet werden.
Ein Buch über die Liebe lässt sich bei allem Bemühen um wissenschaftliche Verobjektivierung nicht unabhängig vom eigenen subjektiven Erfahrungshorizont schreiben. Ich widme das Buch deshalb gleich drei Personen, die mich das Lieben in besonderer Weise gelehrt und zugleich zu meiner Wertschätzung der Ehe beigetragen haben. Das sind erstens meine verstorbenen Eltern Rudolf und Martha Karle. Sie haben eine besonders glückliche Ehe geführt und eindrücklich vorgelebt, was Hingabe und liebende Verschwendung bedeuten können. Zweitens widme ich dieses Buch voller Dankbarkeit Christoph Dinkel, mit dem ich seit über 20 Jahren verheiratet und im ständigen Gespräch bin. Für mich war und ist diese Beziehung der größte Glücksfall meines Lebens. Ohne sie wäre dieses Buch nicht entstanden.
Zu diesem Buch haben neben den bereits genannten viele weitere Menschen beigetragen. Nur wenige kann ich explizit erwähnen. Herzlich danke ich meinem Lehrstuhlteam, das mit großem Engagement, erstaunlicher Umsicht und Akribie die Manuskripte redigierte, kommentierte und Korrekturen anregte. Namentlich sind das Kristina Cyroll, Katja Dubiski, Elis Eichener, Niklas Peuckmann und Antonia Rumpf. Tatjana Geddert-Steinacher danke ich für hilfreiche Beratung in juristischen und verfassungsrechtlichen Fragen. Ein besonderer Dank geht an Bernd Oberdorfer, der das Buch in atemberaubender Geschwindigkeit las und mir auf der Zielgeraden noch wertvolle Hinweise gab.
Diedrich Steen vom Gütersloher Verlagshaus danke ich für die äußerst vertrauensvolle und angenehme Zusammenarbeit. Der Ruhr-Universität Bochum danke ich, dass sie es mir durch ein Forschungssemester ermöglichte, dieses Buch zu schreiben.
Stuttgart, im Mai 2014
Isolde Karle
Der Körper hat Konjunktur. Schon seit Jahrzehnten befassen sich Genderforschung und Sozialwissenschaften intensiv mit der Frage, inwiefern das Verständnis und das Erleben von Körperlichkeit gesellschaftlichen Einflüssen unterliegen. Auch die Theologie entdeckt das Thema wieder für sich. Die exegetischen Disziplinen betonen gegenüber einer platonischen Interpretation schon seit längerem, dass die biblischen Überlieferungen keinen Leib-Seele-Dualismus kennen, dass dem Leib vielmehr eine eigene Würde zukommt. Leiblichkeit und Menschsein gehören für die biblischen Überlieferungen untrennbar zusammen. Die Systematische Theologie hat die Leiblichkeit im Anschluss an die Philosophie anthropologisch reflektiert. Aus jüngerer Zeit sind die Arbeiten von Eilert Herms hervorzuheben, der sich insbesondere mit den Phänomenen des Sports und der Sexualität befasst hat.1 Ansonsten überrascht es, dass die neueren sozialwissenschaftlichen Diskurse zum Thema Körperlichkeit in der Systematischen und Praktischen Theologie bislang weitgehend unrezipiert geblieben sind.2
Inwiefern ist Körperlichkeit ein Thema für die Theologie? Was bedeutet es, dass der Mensch ein körperliches Wesen ist? Für die Theologie ist es unter den Bedingungen der späten Moderne notwendig, diese Frage nicht nur im Kontakt mit der Philosophie, sondern auch mit der Soziologie zu reflektieren. Denn der Körper versteht sich in der funktionsdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr von selbst. Er zerfällt entsprechend der unterschiedlichen Kommunikations- und Funktionsbereiche in viele plurale Körper: Er wird als sexueller Körper in der Liebe, als trainierter Körper im Sport, als kranker Körper im Medizinsystem, als ästhetischer Körper in den Medien, als toter Körper im Bestattungswesen und als modisch in Szene zu setzender Körper in der Bekleidungsindustrie wahrgenommen. Körperlichkeit ist trotz der Materialität des Körpers nicht einfach objektiv vorgegeben. Im Folgenden soll deshalb zunächst die sozio-kulturelle Imprägnierung des Körpers in der Gegenwartsgesellschaft fokussiert werden, bevor in Auseinandersetzung mit den biblischen Überlieferungen und der theologisch-philosophischen Tradition ein Körper- bzw. Leibverständnis entfaltet und präzisiert wird, auf dessen Grundlage sich eine ethische und praktisch-theologische Orientierung gewinnen lässt.
In den Sozialwissenschaften ist es insbesondere die Genderforschung, die die enge Kopplung von Körper und Kultur in den letzten Jahrzehnten intensiv erforscht hat. Sie hat sich nicht nur mit den unterschiedlichen kulturellen und historischen Konzeptionen von weiblichen und männlichen Körpern befasst, sondern auch die Auswirkungen von Konvention und Habitus auf den menschlichen Körper untersucht. So schreibt sich die Kultur tiefgreifend in unsere Körper ein, in der Regel ohne dass wir das bewusst wahrnehmen oder reflektieren. Dabei ist an das ganze Ensemble habitualisierter Körperbewegungen und -haltungen zu denken, das Frauen und Männer auf je unterschiedliche Weise lernen und das zugleich so stabil zu unseren jeweiligen Ausdrucksmöglichkeiten gehört, dass wir ihre Künstlichkeit nicht mehr wahrnehmen, z. B. die Art und Weise, wie Frauen Blicke werfen, wie Männer und Frauen jeweils gehen, essen, den Kopf bewegen, den Körper halten etc.3
Der Körper ist entgegen naiven Natürlichkeitsannahmen »eine gesellschaftlich mitbeeinflußte Größe [ ...]. Wie Menschen mit ihren Körpern umgehen, wie sie gehen, laufen, schlafen und essen, wie sie sich im Raum bewegen, wie Körper aktiviert oder ruhiggestellt werden, erfolgt immer schon unter dem Einfluß gesellschaftlicher Rahmenbedingungen.«4 Auch relativ »harte« Fakten wie die Hormonausschüttung variieren je nach sozialer Situation und Konvention. Selbst Stimmhöhe und Intonation werden kulturell beeinflusst und gehen nicht monokausal auf anatomische Unterschiede zurück. »Je nach Kultur werden bestimmte Stimmregister für Männer und Frauen als ›normal‹ eingespielt.«5 So sprechen Frauen in China sehr viel höher als das bei Frauen in der westlichen Kultur, z. B. in den USA (Tracy Chapman), üblich ist. Die Form der Tonhöhenbewegung ist schließlich gänzlich kulturell bedingt: Dass Frauen in der westlichen Kultur viel stärkere Tonhöhenbewegungen produzieren, die Töne länger ausgleiten lassen und stärker behauchen, hat mit Anatomie nichts zu tun. Auch die Körperkraft ist nicht einfach eine unverrückbare Größe, sondern, wie jedes Fitnessstudio beweist, erstaunlich wandelbar und hängt in hohem Maße von kulturellen Gewohnheiten, von Ernährung und Bewegung ab.
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