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Ist Liebe Verliebtsein? Ist Liebe ein Gefühl? Beides ist sie und doch viel mehr: Sie ist der Grund unseres Seins. Das Buch zeigt aus neurobiologischer, philosophisch-theologischer und kulturgeschichtlicher Perspektive dass und inwiefern die wichtigsten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Innovationen der Menschheitsgeschichte aus einer menschlichen Motivation geschahen, welche dem letztlichen Grund aller großen Kulturen, Religionen und Philosophien - "Gott ist Liebe" - entspricht. Und dass daher durchaus Hoffnung besteht, dass die Menschheit in der Lage ist, auch ihre gegenwärtigen globalen Entwicklungsprobleme in diesem Sinne zu lösen.
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Seitenzahl: 162
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Gerald Hüther | Maik Hosang | Anselm Grün
Liebe ist die einzige Revolution
Drei Impulse für Ko-Kreativität und Potenzialentfaltung
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal
Umschlagmotiv: © traffic_analyzer - iStock
E-Book-Erstellung: Daniel Förster, Belgern
ISBN (E-Book) 978-3-451-80757-2
ISBN (Print) 978-3-451-32862-6
Zum ersten Mal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab. … Wenn wir lernen wollen zu lieben, müssen wir genauso vorgehen, wie wenn wir irgendeine andere Kunst, zum Beispiel Musik, Malerei, das Tischlerhandwerk oder die Kunst der Medizin oder die Technik lernen wollten.
Erich Fromm
Die Tontafeln, auf denen das Gilgamesch-Epos in Keilschrift eingebrannt wurde, sind über sechstausend Jahre alt. Niemand weiß, wie viele Jahrhunderte oder Jahrtausende vorher sich unsere Vorfahren diese Liebesgeschichte bereits weitererzählt hatten. Sie handelt von der Verwandlung eines blutrünstigen, gewalttätigen und das Leben der Menschen in der Stadt Uruk bedrohenden Wilden, Enkidu, durch die Liebe einer Frau. Viertausend Jahre später beschreibt eine andere große Menschheitserzählung das, was ein liebender Mensch vermag. Diesmal war es ein Mann, und die Liebe, die in seinem Handeln zum Ausdruck kam, überstieg damals bei Weitem die Vorstellungskraft seiner Zeitgenossen. Deshalb betrachteten sie ihn als Gottes Sohn, der die Liebe als göttliches Prinzip auf Erden verkörperte. Diese von Jesus Christus vorgelebte Nächstenliebe wurde zum zentralen Element einer religiösen Bewegung, die sich als Christentum über den ganzen Globus ausbreitete – lange vor dem Beginn der heute von uns als Globalisierung bezeichneten Entwicklung. Die Rücksichtslosigkeit, mit der dieser Ausbreitungsprozess vorangetrieben wurde, stand allerdings in eklatantem Widerspruch zu dem, was der Heiland dieser Bewegung in seinem Tun zum Ausdruck gebracht hatte, und wofür er ans Kreuz genagelt worden war.
Wie so oft im Verlauf der Menschheitsgeschichte wurde die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auch in diesem Fall nicht durch die Anpassung der Praxis, also durch einen von Liebe getragenen Umgang der Menschen mit sich selbst und mit anderen, überwunden. Erheblich leichter umsetzbar erwies sich die Anpassung des Anspruchs an die gängige Praxis. Bis heute haben die Theoriebildungen und endlosen Debatten darüber, was der Begriff »Liebe« eigentlich bedeutet, nicht aufgehört. Das, was unter »Liebe« zu verstehen sei, wurde endlos analysiert, klassifiziert und auf vielfältige Weise definiert. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist in den Bücherregalen unserer Bibliotheken in vielbändigen Enzyklopädien versammelt und inzwischen auch bei Wikipedia nachzulesen. In kaum einer Wissenschaftsdisziplin konnten einzelne Vertreter der Versuchung widerstehen, ihren Beitrag zu diesem Thema Liebe zu verfassen. Von Suchtforschern wird sie als eine Abhängigkeit erzeugende Bewältigungsstrategie beschrieben, von Theologen als universelles göttliches Prinzip. Soziologen betrachten die Liebe als eine besondere Ausprägungsform sozialer Beziehungen, für Hormonforscher ist sie Ausdruck der Ausschüttung bestimmter Hormone, insbesondere des »Liebeshormons« Oxytocin, und aus der Perspektive von Neurobiologen wird die Liebe durch die Aktivierung bestimmter neuronaler Netzwerke hervorgebracht. All diese unterschiedlichen Erkenntnisse oder Betrachtungsweisen wurden und werden über die Medien verbreitet und von einer staunenden Öffentlichkeit rezipiert.
Wer so viele unterschiedliche Vorstellungen von dem, was die Liebe ist, in seinem Kopf hat, kann nicht nur vortrefflich mit allen anderen darüber debattieren, was unter Liebe zu verstehen sei, sondern er braucht sich, so scheint es vielfach, darüber hinaus nicht mehr darum zu kümmern, ob seine eigene Lebensgestaltung, seine Beziehung zu sich selbst, seine innere Einstellung, sein Weltbild und vor allem sein Handeln und seine Art der Beziehungsgestaltung zu anderen Menschen, auch zu anderen Lebewesen, tatsächlich von Liebe getragen sind oder nicht. Das viele Reden und Diskutieren über die Liebe ist so offenbar zu einer attraktiven Bewältigungsstrategie für all jene geworden, die auf irgendeine Weise spüren und zu begründen versuchen, dass sie selbst und die Beziehungen, die sie pflegen, längst aus der Liebe gefallen sind.
Die entscheidende Frage, mit der diesen Versuchen, von der Wirklichkeit der Liebe abzulenken, auf sehr wirksame Weise begegnet werden kann, lautet deshalb nicht, was die Liebe ist. Sondern die Frage lautet: Woran lässt sich erkennen, dass eine Person versucht, den Weg der Liebe zu beschreiten?
Nicht all das, was jemand über die Liebe weiß, ist interessant, sondern auf welche konkrete Weise er sich selbst als Liebender zeigt, was er also aus einer liebevollen Haltung heraus tut, wie er sich verhält. Darauf kommt es an, und darum geht es in diesem Buch.
Deshalb haben wir auch den etwas verstörenden Titel für dieses Buch gewählt. »Die Liebe ist die einzige (wirkliche) Revolution« ist eine Erkenntnis, die nicht aus unserem christlich-abendländischen Kulturkreis, sondern aus der Weisheitslehre der Veden, des Buddhismus und der indischen Yogis stammt und die von einem der wichtigsten und auch im Westen anerkanntesten Vertreter dieser Lehren, von Krishnamurti, so formuliert worden ist.
Auf den ersten Blick fühlt sich wohl jeder, der nicht mit dieser östlichen Denkweise vertraut ist, angesichts dieser Aussage etwas unwohl. Die Liebe mit den von Menschen gemachten Revolutionen in einen so unmittelbaren Zusammenhang zu stellen, ist in der Tat zunächst irritierend.
Was, so beginnt man sich zu fragen, kann die Liebe denn bewirken, wie müsste sie für jeden Menschen erlebbar werden, damit das, was wir bisher für Revolutionen gehalten haben, sich plötzlich als etwas erweist, was nur als eine Randerscheinung von Entwicklungen zutage tritt, zu denen es nur deshalb kommen kann, weil die eigentliche Revolution, die derartige Randerscheinungen verhindern könnte, noch nicht stattgefunden hat?
Ein Mensch, der sich – so wie er ist und nicht aufgrund seiner Leistungen – geliebt weiß, erlebt sich als bedeutsam. Er muss sich also nicht anstrengen, um von anderen Personen gesehen und wertgeschätzt, um von ihnen geliebt zu werden, er muss also nicht danach streben. Ein solcher Mensch braucht weder Reichtum noch Macht noch Anerkennung oder Einfluss. Er trägt deshalb auch nicht zur Ungleichverteilung von Besitztümern, von Macht- und Einflusssphären und der sich daraus entwickelnden Herrschaftsstrukturen bei. Ein solcher Mensch braucht deshalb auch keine repressiven Herrschaftsstrukturen, um seinen Besitz und seine Machtansprüche zu verteidigen.
Wären alle Menschen so aufgewachsen, dass sie sich bedingungslos geliebt fühlten, gäbe es keine repressiven Herrschaftssysteme. Und ohne diese gäbe es auch keinen Grund für Proteste und Aufstände, also das, was wir als »Revolutionen« kennen. Dann wäre das Zusammenleben der Menschen von der Sorge um das Wohlergehen anderer und von dem Bemühen gekennzeichnet, die anderen bei der Entfaltung ihrer Potenziale, also der in ihnen angelegten Talente und Begabungen, zu unterstützen. Dieser Prozess, der es einer wachsenden Zahl von in unsere Welt Heranwachsenden ermöglichte, sich um ihrer selbst willen als geliebt zu erfahren und sich damit selbst und auch andere Menschen sowie die Natur unseres Planeten lieben zu können, wäre dann tatsächlich die einzige Revolution, derer es bedürfte.
Wenn diese Entfaltung des Potenzials der Liebe in vielen Einzelnen gelänge, bekäme vielleicht sogar der Gedanke einer entsprechenden Veränderung unserer gesamten Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur einen realen Sinn. Denn wenn Menschen in verschiedensten Bereichen nicht mehr primär aus Angst und Konkurrenz, sondern im besten Sinne des Wortes ko-kreativ zusammenwirken, wird vieles möglich, wovon bisherige Gesellschaften nur zu träumen wagten.
Wie das gelingen kann, wird ein Einzelner niemals beschreiben können. Dazu bedarf es der Zusammenführung von Erfahrungen, die Menschen in unterschiedlichen Bereichen als mögliche Antworten auf diese Frage gesammelt haben.
Mit diesem Buch wollen wir versuchen, aus den Erkenntnissen von zumindest drei Disziplinen den Grundstein dafür zu legen: der Religionswissenschaft (Anselm Grün), der Sozialphilosophie (Maik Hosang) und der Neurobiologie (Gerald Hüther). Da diese drei Wissenschaftsbereiche traditionell sehr verschiedene Begriffe und Denkmuster zur Beschreibung ihrer jeweiligen Ausschnitte der Wirklichkeit verwenden, war es gar nicht so leicht, sie jeweils aus der Perspektive der letztlich alles durchdringenden Energie Liebe zu rekonstruieren; doch es zeigt sich, dass es trotz verschiedener Erscheinungsformen und Begriffe dieselbe grundlegende kreative Liebe ist, die alle Bereiche und Schichten der Evolution bewegt und erfüllt und die in uns Menschen zum Bewusstsein ihrer selbst kommen kann.
Das Buch beginnt mit Ausführungen Gerald Hüthers über die entscheidende Bedeutung der Liebe für die Menschwerdung des Affen. Danach beschreibt Maik Hosang, inwiefern Liebe auch der ausschlaggebende Impuls für die spannendsten Innovationen der Menschheitsgeschichte in Vergangenheit und Zukunft war und ist. Woraufhin dann Anselm Grün den Bogen schließt mit grundsätzlichen Gedanken dazu, warum Liebe der tiefste Grund und schönste Sinn des Seins generell ist und wie die Menschheit sich dessen in Religionen und Philosophien zunehmend bewusst wird.
Wir laden Sie, liebe Leserinnen und Leser, herzlich ein, uns bei dieser Zusammenführung von Erkenntnissen, wie die volle Entfaltung des Potenzials der Liebe in unserer heutigen Welt gelingen kann, zu begleiten.
Wir beherrschen bereits die Energie des Windes, der Meere und der Sonne. Doch an dem Tag, an dem der Mensch mit der Energie der Liebe umzugehen weiß, wird diese Erkenntnis so wichtig sein wie die Entdeckung des Feuers.
Pierre Teilhard de Chardin
Dieses Buch hat nicht nur einen revolutionären Titel. Es enthält auch eine revolutionäre Botschaft. Deshalb will ich mit meinem Beitrag nicht lange um den heißen Brei herumschreiben. Lassen Sie mich also – wie es so bezeichnend heißt und wie es von Revoluzzern ja auch erwartet wird – gleich »mit der Tür ins Haus fallen«.
Die Überschrift meines Beitrags macht ja bereits deutlich, worum es geht: um diesen ziemlich komplizierten Entwicklungsprozess, der sich in einer langen Kette aufeinanderfolgender Generationen innerhalb der letzten 100 000 Jahre vollzogen hat und der als Zwischenergebnis das hervorgebracht hat, was wir heute sind: Zauberlehrlinge, die permanent etwas in Gang setzen, was ihnen anschließend über den Kopf wächst.
»Der Übergang vom Affen zum Menschen, das sind wir«, so hat der nobelpreisgekrönte Verhaltensforscher Konrad Lorenz unseren gegenwärtigen Entwicklungsstand treffend definiert (Lorenz 1968). Und wenn wir uns heutzutage in unserer Welt umschauen, bleibt nur zu hoffen, dass es uns möglichst bald gelingt, diesen Übergang noch zu schaffen. Ansonsten werden wir wohl als »Irrläufer der Evolution« (Koestler 1978) in die terrestrischen Annalen eingehen. Das von uns selbst proklamierte Zeitalter des Anthropozän hätte dann durch unseren selbstverschuldeten Untergang ein natürliches Ende gefunden, und unser wunderbarer blauer Planet wäre auf die einfachste Art von der größten, seinen Fortbestand gefährdenden Plage erlöst. Zurück auf die Bäume zu klettern und uns selbst wieder zum Affen zu machen, ist definitiv keine Option mehr für uns. Nur wenige der Milliarden in unseren Megastädten zusammengepferchten Menschen sind noch in der Lage, in der freien Natur zu überleben. So bleibt uns also nur der Weg in die andere Richtung. Hin zu dem, was Menschsein wirklich bedeutet. Aber was ist es, was uns zu Menschen macht? Was könnte uns helfen, diesen Übergang zu schaffen?
Friedrich Engels, der gelehrte Unternehmer und überzeugte Kommunist, treuer Weggefährte von Karl Marx, war der Meinung, es sei die Arbeit. Sehr überzeugend dargelegt hat er das in seiner 1876 verfassten Schrift »Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen«. Deshalb ging es ihm und Karl Marx auch um die gerechte Verteilung der durch arbeitende Menschen erzeugten Produkte und der durch ihren Verkauf erzielten Gewinne. Ihre Forderung zur Schaffung dieses Zustandes wurde zum Auslöser für einen das gesamte 20. Jahrhundert prägenden Klassenkampf. Den Übergang vom Affen zum Menschen haben diese Auseinandersetzungen jedoch kaum befördert. Selbst dort, wo die Anführer dieser Arbeiterbewegungen die Macht übernommen, die Arbeit befreit und die alten Produktionsverhältnisse umgestürzt hatten, ist eine spürbare und nachhaltige Entwicklung hin zu etwas mehr Menschlichkeit ausgeblieben.
So ging es also nicht. Das war keine revolutionäre Transformation menschlichen Zusammenlebens, sondern die Fortsetzung der bis dahin entwickelten Beziehungsmuster unter dem Vorzeichen veränderter Machtverhältnisse. Das heißt nicht, dass sich Marx und Engels mit ihrer Analyse geirrt hatten. Zweifellos kommt der Arbeit, also dem Tätigsein, dem Erwerb von Wissen und Können und der Entwicklung der Produktivkräfte ein wichtiger Anteil an der Herausbildung all dessen zu, was bisher von Menschen geschaffen worden ist. Aber die Arbeit hat uns nicht zu dem gemacht, was wir sind, und sie ist auch nicht das, was darüber bestimmt, ob uns der Übergang zum Menschen gelingt.
»Aber die Intelligenz«, werden Sie sagen. »Ist sie es nicht, die uns als vernunftbegabte Wesen von allen Tieren unterscheidet?« Nur Gemach. Mit der Klugheit und dem Denken geht es uns ähnlich wie mit der Arbeit oder auch mit der Sprache oder der Kreativität: All das sind wichtige Fähigkeiten, die wir Menschen entwickelt haben. Aber werden wir, indem wir sie nutzen und weiterentwickeln, tatsächlich auch menschlicher?
Diebe, Terroristen, Verbrecher und was es sonst noch für Personen geben mag, die ein friedliches und konstruktives menschliches Zusammenleben immer wieder untergraben und jede Entwicklung zu etwas mehr Menschlichkeit oft schon im Keim ersticken, nutzen doch auch die Vernunft, arbeiten, kommunizieren und entwickeln kreative Ideen, um andere Menschen für ihre Zwecke zu benutzen, sie zu unterdrücken, auszubeuten und sie für ihre Absichten zu instrumentalisieren. Fast alle menschlichen Fähigkeiten, die wir so gern als Herausstellungsmerkmale unserer Spezies betrachten, lassen sich in dieser Weise missbrauchen. Wenn wir also nach etwas suchen, was wirklich entscheidend für den Prozess der Menschwerdung ist, so werden wir das nur auf einer Ebene finden können, die ausschlaggebend dafür ist, wofür wir all diese Fähigkeiten entwickeln und einsetzen. Es müsste also etwas sein, das unserem Denken, unserem Handeln und unserem Fühlen eine Richtung verleiht – nicht weg, sondern hin zu mehr Menschlichkeit. Wir müssten uns also fragen, was Menschen dazu bringt, mit anderen zusammenzuarbeiten, sich mit ihnen auszutauschen, voneinander zu lernen und ihr Leben miteinander zu gestalten und zwar so, dass niemand, auch keine andere Gemeinschaft, dadurch unterdrückt, geschädigt und in ihrer jeweiligen eigenen Entwicklung behindert wird.
Jeder Mensch ist einzigartig. Zu allen Zeiten, in allen Weltgegenden und allen Kulturkreisen haben Menschen unterschiedliche Erfahrungen gemacht, spezifisches Wissen erlangt und besondere Fähigkeiten erworben. Sie haben ihre jeweiligen Erfahrungen, ihr Wissen und Können innerhalb ihrer Gemeinschaften mit anderen geteilt und an ihre Nachkommen weitergegeben. Niemals im Lauf der Menschheitsgeschichte gab es zwei Menschen, auch keine eineiigen Zwillinge, die genau die gleichen Erfahrungen machten, die über identisches Wissen und Können verfügten und all das auch in identischer Weise in Form entsprechender neuronaler Netzwerke und Verschaltungsmuster in ihren Gehirnen verankert hatten. Deshalb ist jeder Mensch einzigartig.
Aber all das Wissen und Können und all die unterschiedlichen Erfahrungen konnten von jedem einzelnen Menschen nur deshalb erworben und in seinem Gehirn verankert werden, weil es andere Menschen gab, die ihm ihr jeweiliges Wissen und Können zur Verfügung gestellt und ihm gezeigt und ihn gelehrt haben, wie etwas funktioniert, worauf es ankommt und was zu tun ist, um sich im Leben zurechtzufinden. Ohne diese anderen und das von ihnen übernommene Wissen und Können wäre kein Mensch zu dem geworden, was sie oder er heute ist. Deshalb ist jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit immer ein soziales Gebilde und sein Gehirn ein soziales Konstrukt. Genauso wenig, wie es ein Gehirn ohne den dazugehörigen Körper gibt, kann es ein einzelnes Gehirn ohne die in der Beziehung zu anderen Menschen gemachten Erfahrungen geben. Wir sind also in viel stärkerem Maß als bisher angenommen soziale Wesen, die ihre Einzigartigkeit der Einzigartigkeit der von uns in unseren jeweiligen sozialen Beziehungen gemachten Erfahrungen verdanken.
Diese aus den Erkenntnissen der Hirnforschung ableitbare Schlussfolgerung beginnt sich nun auch zunehmend in anderen Disziplinen, vor allem in den Sozialwissenschaften, auszubreiten. In unserem westlichen Kulturkreis, in dem seit der Aufklärung die Individualität des Menschen so stark in den Mittelpunkt gerückt ist, stößt sie aber noch immer auf erhebliche Widerstände. Und in der Tat fällt es hier vielen schwer, sich mit der Erkenntnis anzufreunden, dass es »den Menschen« als Einzelwesen gar nicht gibt, dass er nur in unserer Vorstellung als geistiges Konstrukt existiert.
Aber der Umstand, dass unsere Einzigartigkeit aus der Einzigartigkeit unserer sozialen Beziehungserfahrungen erwächst, heißt eben nicht, dass der einzelne Mensch oder sein Gehirn als passive Knetmasse zu betrachten ist, die durch diese sozialen Erfahrungen geformt wird. Wer das glaubt, hat nicht verstanden, dass jeder Mensch bereits bei seiner Geburt als einzigartiges Wesen auf die Welt kommt. Bereits vorgeburtlich entwickelt sich aus der befruchteten Eizelle ein einzigartiger Körper, denn wir alle sind mit unterschiedlichen genetischen Anlagen ausgestattet und durchlaufen vor der Geburt einen hochkomplizierten Entwicklungsprozess, in dessen Verlauf sich die Organanlagen und Organe unseres Körpers erst herausbilden – in jeweils einzigartiger Weise. Und weil sich die ersten Verknüpfungen im sich entwickelnden Gehirn anhand der aus diesem Körper zu den verschiedenen Hirnbereichen weitergeleiteten Erregungsmuster stabilisieren, sind die so herausgeformten Vernetzungen im Gehirn auch optimal an die jeweiligen körperliche Beschaffenheit eines jeden Kindes angepasst. Es verfügt also schon, bevor es auf die Welt kommt, über ein einzigartiges Gehirn.
Deshalb verhalten sich auch alle Neugeborenen bereits so unterschiedlich. Der eine reagiert stärker auf dieses, der andere auf jenes. Die eine bringt Vorlieben für dieses mit, die andere für jenes, für den einen ist dieses bedeutsam, für den anderen etwas anderes. Und das alles hat sich bereits in dieser einzigartigen Weise herausgeformt, bevor ein Kind seine ersten Erfahrungen mit seinen Eltern macht. Deshalb reagiert auch jedes Kind auf seine besondere Weise auf all das, was es dann in der Beziehung zu seinen jeweiligen frühen und späteren Bezugspersonen erlebt. Sein Hirn ist alles andere als eine durch diese Beziehungserfahrungen verformbare Knetmasse.
Von Anfang an verfolgt jedes Kind eigene Absichten, hat eigene Vorlieben, lässt sich auf manches leichter ein als auf anderes, ist also ein intentionales Wesen mit einem eigenen Willen. Und jetzt erst, im weiteren Verlauf seiner Hirnentwicklung, entstehen diese frühen Prägungen, die später zu eigenen Vorstellungen und Überzeugungen, zu bestimmten Vorlieben und Abneigungen führen. Aber die entstehen nicht durch die auf das Kind einwirkenden äußeren Einflüsse oder Ereignisse, sondern als Ergebnis des eigenen Abgleichs dieser äußeren Einwirkungen mit den bereits im kindlichen Gehirn verankerten eigenen Erwartungen, Vorstellungen, Überzeugungen und den daraus abgeleiteten Intentionen. Oder einfacher: Unser Gehirn wird nicht von anderen geformt, es konstruiert sich vielmehr selbst anhand der mit anderen Menschen gemachten Erfahrungen und zwar immer auf der Grundlage der bisher bereits entstandenen, durch vorangegangene Erfahrungen strukturierten neuronalen Verschaltungsmuster.