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Trost und Rat mit Weisheit und Witz: noch mehr Geschichten über das Leben unter Mitmenschen, Männern und Kindern. Liebe macht blind - das macht sie auch so schön. Weil man nachsichtig wird, wenn man nicht weiter sieht als bis zu der rosaroten Brille, die sie einem aufsetzt, oder bis zu den Gurkenscheiben, die man vor Augen hat, damit die Liebe auch schön frisch bleibt. Aber die Welt jenseits davon ist natürlich voller Ecken und Kanten, voller Hindernisse und Hürden. Wer den Blick dafür verliert, stolpert dann bald durch ein Leben zwischen Haushalt und Beziehungskisten, zwischen Ehealltag und Kinderkram. Christine Nöstlinger erzählt Geschichten aus diesem Leben, über die sie gestolpert ist, und sie tut das, wie es keine andere kann: mit klarem Blick, bissig, ironisch, aber immer auch liebevoll.
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Seitenzahl: 54
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Liebe macht blind –
manche bleiben es
Teil 2 Liebe Papas und Mamas
Herausgegeben von Hubert Hladej
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
www.residenzverlag.at
© 2012 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg – Wien
Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!
ISBN ePub (Einzelgeschichte):978-3-7017-4320-9
ISBN ePub (Gesamtausgabe):978-3-7017-4302-2
ISBN Printausgabe:978-3-7017-1600-5
Der Xandi und der Michi sitzen in der Schule hinter einem Pult und mögen einander sehr gut leiden. Und die Lehrer haben allerhand zu klagen über die beiden. Von Störung des Unterrichts ist da die Rede, von frechem Verhalten, von Unkonzentriertheit und dergleichen allseits bekanntem negativem Verhalten.
Die Mama vom Xandi ist über die Beschwerden der Lehrer nicht bloß beunruhigt, sie weiß auch sehr genau, woran es liegt, dass sich ihr braver Xandi in letzter Zeit so ungut verändert hat. Am Pultnachbarn Michi liegt es! „Das ist der schlechte Einfluss, den der Kerl auf ihn ausübt“, sagt sie. „Dauernd verführt er den Xandi zum Schlimmsein!“
Die Mama vom Michi weiß auch ganz genau, warum ihr braver Bub plötzlich den Unwillen der gesamten Lehrermannschaft erregt. „Das ist der Einfluss von diesem Xandi“, sagt sie. „Der verführt meinen Michi zu all diesen Dummheiten!“
Und nun haben die beiden Mamas – jede für sich – beschlossen, in die Schule zu gehen und um Versetzung ihrer „Unschuldslämmer“ zu ersuchen, auf dass die nicht mehr verführt und schlecht beeinflusst werden können.
Die Annahme, dass sowohl der Xandi als auch der Michi auf den neuen Sitzplätzen wieder neben Verführern landen werden, ist einigermaßen berechtigt. Es gibt halt eine gewisse Sorte von Mamas, die mit totaler Blindheit geschlagen ist, wenn es um ihren geliebten Nachwuchs geht. Da mag es noch so viele Indizien, ja sogar Beweise dafür geben, dass das eigene Kinderl kein „reiner Engel“ ist, diese Mamas können das einfach nicht sehen und zur Kenntnis nehmen. Da können Jahrzehnte vergehen, ohne dass diese Mamas sehender werden! Zur ersten Zigarette wird den Xandi und den Michi auch garantiert irgendein böser Bube verführen. Und zum ersten Kuss irgendein „frühreifes, abgefeimtes“ Mädchen. Denn so Unschuldslämmer wie der Xandi und der Michi, die würden doch von selbst gar nicht dahinterkommen, dass man rauchen und küssen kann. Bis ins allerhöchste Alter lässt sich so eine blinde Mütterlichkeit durchhalten. Erklärte mir doch glatt eine betagte Mama über ihren 65-jährigen Sohn, welcher die Angewohnheit hat, für sein Sonntags-Kleinformat bloß 5 Cents in die Kasse am Ständer zu werfen, bekümmert: „Von selber wär’ mein Ruderl nie auf die Idee gekommen! Aber seit er in der Renten ist und im Kaffeehaus immer so einen komischen Kerl trifft …“
Ob die hochbetagte Mama wohl demnächst im Kaffeehaus vorspricht und den Kaffeesieder bittet, den Ruderl zu „versetzen“?
Heutige Kinder haben, wenn sie in halbwegs wohlsituierten Familien aufwachsen, ein recht erstaunliches Leben. Was sie wissen und was sie nicht wissen, was sie können und was sie nicht können, verwundert den Menschen, der vor gut einem halben Jahrhundert Kind gewesen ist, enorm.
Da wohnt zum Beispiel in Wien, im 1. Bezirk, die achtjährige Anna. Diese Anna besucht eine Privatschule im 9. Bezirk. Im 19. Bezirk hat sie jeden Montag Klavierstunde. Jeden Dienstag hat sie Gymnastik-Kurs im 13. Bezirk. Am Mittwoch findet im 8. Bezirk ihr Tanzkurs statt. Schwimmkurs hat sie jeden Donnerstag im 17. Bezirk, jeden Freitag ist sie im 3. Bezirk bei ihrer Freundin zum Spielen. Am Samstag ist sie bei der einen Oma im 6. Bezirk und am Sonntag bei der anderen Oma im 14. Bezirk. Sagt man zu dieser Anna aber, wenn sie zufällig einmal daheim ist: „Geh, sei so lieb und hol zwei Semmeln vom Bäcker!“, dann schaut die Anna zwar willig, doch recht hilflos drein und fragt: „Wie finde ich dorthin?“
Der Bäcker ist zwar nur „dreimal um die Ecke herum“, aber die Anna kennt sich dort, wo sie wohnt, halt überhaupt nicht aus. Sie kennt sich auch dort, wo die Omas und die Freundin wohnen, überhaupt nicht aus. Und über die Gegend, wo sie lernt, tanzt, schwimmt, Klavier übt und turnt, weiß sie erst recht nicht Bescheid.
Die Anna wird ja immer „mit dem Auto gebracht“ und „mit dem Auto abgeholt“. Für die Anna ist ihre Heimatstadt unentdecktes Land, ist ein „weißer Fleck auf der Landkarte“, durchsetzt mit winzigen bekannten Inselchen. Der Anna wird nicht gestattet, sich ihre Heimat Stückchen für Stückchen und von Jahr zu Jahr immer mehr zu erobern, so wie wir als Kinder das konnten. Die Anna wird ins Auto verfrachtet und dort ausgeladen, wo sie gerade hingehört, und wieder eingeladen, wenn ihr „Termin“ vorbei ist.
Heutigen Kindern macht man es eben leicht!
Schwer werden sie sich bloß tun, ein bisschen Heimatgefühl zu entwickeln, denn Heimat hat man nur dort, wo man sich auskennt. Die Heimat muss man sich erobern. Auf eigenen kleinen Füßen! Vom Fond eines Mittelklasse-PKW aus wird das nur schwer möglich sein!
Aber höchstwahrscheinlich gibt es für die kleine Anna demnächst noch einen „Termin“, den sie irgendwo unterzubringen hat. Den Kursus für „Erlernung eines Heimatgefühls“. Vielleicht findet der dann im 21. Bezirk statt?
Die treu sorgende Mama wird die arme Anna ganz gewiss auch dorthin chauffieren. Und ganz stolz darauf sein, was sie alles für ihr Kind tut.
Angeblich gibt es Kinder, die sich im Fond eines Mittelklassewagens pudelwohl fühlen und auch nach einer 1000-km-Non-Stop-Fahrt keinerlei Unmutsäußerungen von sich geben.
Angeblich gibt es auch Kinder, die nichts lieber tun, als stundenlang hinter ihren lieben Eltern blauweißen oder rotgrünen Markierungen nachzugehen, und die, wenn sie am Ziel der Wanderung angekommen sind, enttäuscht fragen: „Sind wir schon da?“
Angeblich gibt es auch Kinder, die begeistert durch ausländische Kirchen und Museen schreiten und ergriffen Seitenaltäre anstarren und beglückt vor barocken Gemälden verweilen.
Angeblich gibt es sogar Kinder, die genussvoll fremdländische Speisen verkosten und beim Kauen von Polypen Entzückensschreie ausstoßen. Diese Kinder reagieren auf extravagante ausländische Kost auch nie mit einer Verstimmung ihres Verdauungstraktes.
Ich habe zwar so ein Kind noch nie kennengelernt, aber ich habe schon sehr viele Eltern kennengelernt, die mir eidesstattlich versicherten, dass ihre Kinder diese angenehmen Eigenschaften vom Babyalter an besäßen. Glückliche Eltern!