Liebe und andere Handicaps - Rona Cole - E-Book

Liebe und andere Handicaps E-Book

Rona Cole

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Beschreibung

Chris' Leben ist zu Ende – zumindest glaubt er das, seitdem er nach einem schweren Unfall im Rollstuhl sitzt. Als jedoch Ergotherapeut Hannes ihm nach einem Missgeschick im Treppenhaus zu Hilfe kommt, wird Chris' Welt erneut auf den Kopf gestellt. Denn Hannes kennt nicht nur einige Tricks, um ihm den Alltag zu erleichtern, er weckt auch Gefühle in Chris, die für ihn längst gestorben waren. Doch hat ihre aufkeimende Beziehung überhaupt eine Chance, wenn ein Partner so eingeschränkt ist?

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Deutsche Erstausgabe (ePub) März 2017

© 2017 by Rona Cole

Verlagsrechte © 2017 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Fürstenfeldbruck

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed VerlagCovergestaltung: Rona Cole

ISBN-13: 978-3-95823-633-2

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

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Klappentext:

Chris' Leben ist zu Ende – zumindest glaubt er das, seitdem er nach einem schweren Unfall im Rollstuhl sitzt. Als jedoch Ergotherapeut Hannes ihm nach einem Missgeschick im Treppenhaus zu Hilfe kommt, wird Chris‘ Welt erneut auf den Kopf gestellt. Denn Hannes kennt nicht nur einige Tricks, um ihm den Alltag zu erleichtern, er weckt auch Gefühle in Chris, die für ihn längst gestorben waren. Doch hat ihre aufkeimende Beziehung überhaupt eine Chance, wenn ein Partner so eingeschränkt ist?

Für Nathalie...

meine Mutter...

Ilona...

und alle anderen Superhelden...

Johannes

»Na, wach?« Martin steht frisch geduscht und nur mit einem Handtuch um die Hüften im Türrahmen. Ich hab ihn gar nicht kommen hören. Offenbar bin ich vom gleichförmigen Rauschen der Dusche aus dem Badezimmer auch noch mal eingeschlafen.

»Mehr oder weniger«, entgegne ich, richte mich ein wenig aus den dicken Daunenkissen auf, schiebe die Arme hinter den Kopf und unterdrücke dabei ein Gähnen. Ich bin nackt unter der warmen, schweren Decke. Und neben wohliger Wärme hüllt mich immer noch der Geruch von Sex ein und unserer gemeinsamen Nacht.

»Nachschlag?«, will er wissen und kommt mir für eine Sekunde verlegen wie ein Schuljunge vor. Dabei ist es vermutlich an die dreißig Jahre her, dass er eine Schule von innen gesehen hat. Er ist siebenundvierzig geworden letztes Jahr. Allerdings ist er, nicht nur dafür, verdammt gut in Form. Als wir uns über den Weg gelaufen sind, hat er behauptet, er sei erst neununddreißig. Und ich hab ihm geglaubt.

Kurz betrachte ich ihn, wie er immer noch dasteht und zu mir rübersieht. Sein Gesicht, seine fröstelnd zusammengezogenen, dunklen Nippel und ein paar letzte Wassertropfen auf seiner leicht definierten Brust, seine Schultern, die nicht sonderlich breit sind und beinahe ein wenig knochig wirken, die schlanken Arme und den flachen Bauch mit dem hübschen Nabel. Ich mag Bauchnabel, die komplett nach innen gehen, so wie er einen hat. Irgendwie hab ich die kranke Angewohnheit, das sexy zu finden. Jeder hat so seine Vorlieben. Ich steh auf seinen Nabel, auf Sex am Morgen und auf Sex mit ihm.

»Sorry, aber ich muss los, Patienten«, murmle ich trotzdem entschuldigend und setze mich dann, auch wenn's mir schwerfällt, auf. Eigentlich hätte ich wirklich nichts gegen einen Nachschlag.

Allerdings ist es schon fast neun, und obwohl ich heute erst später anfange, sollte ich längst nicht mehr hier sein. Um noch mal zu Hause vorbeizuschauen und mich umzuziehen, ist es sowieso schon zu spät.

»Natürlich.« In Martins Stimme klingt Bedauern. Aber ich weiß, dass er's mir nicht allzu übel nimmt.

»Krieg ich noch einen Kaffee?«, frage ich, streiche mir das Haar aus der Stirn und stehe dann endgültig auf. Trete vom warmen Lammfell, das als Bettvorleger dient, auf den rauen Dielenboden, drehe Martin den Rücken zu, strecke mich und gehe splitternackt durch den Raum, während Martins Blick über meinen Körper gleitet.

»Klar«, sagt er, als ich ihn und die Tür erreiche, und legt seine Hand dabei auf meine Schulter. Eigentlich steh ich nicht wirklich auf Zärtlichkeit am Morgen danach. Aber bei Martin geht das in Ordnung. Ich fühle mich wohl bei ihm und die Fronten zwischen uns waren von Anfang an geklärt. Wir hatten einen One-Night-Stand und eigentlich war er mir damals auch mit seinen angeblich neununddreißig schon zu alt. Aber der Sex war gut und der Kaffee am nächsten Morgen auch. Also hab ich ihn drei Tage später angerufen und seitdem führen wir eine Art Fick-Beziehung ohne Verpflichtungen. Vielleicht mittlerweile auch ein bisschen mehr. Wir sind so was wie Freunde. Manchmal unternehmen wir auch etwas zusammen, das nicht im Schlafzimmer stattfindet, und wenn ich könnte, würde ich mich in ihn verlieben, weil er alles hat, was es eigentlich dazu braucht. Er ist humorvoll, gebildet, gut aussehend und wirklich charmant. Wir mögen die gleichen Dinge, haben viel Spaß miteinander und darüber hinaus ist er außerdem ziemlich gut im Bett. Aber ich kann's nicht... Weil irgendwas fehlt... und ich nach dieser Sache mit Kai sowieso nicht mehr an Nickis romantischen Scheiß mit dem Richtigen glaube... Das einzig Richtige damals war, dass es richtig beschissen gelaufen ist... Aber ich komm schon klar...

»Seh ich dich morgen?«, höre ich Martin gerade fragen.

»Mal sehen«, antworte ich ausweichend. »Ist Monatsende. Viel zu tun mit der Abrechnung.«

»Verstehe...« Er nickt seufzend. »Tja, dann mach ich dir wohl mal deinen Kaffee.«

»Sorry«, nuschle ich, schiebe mich an ihm vorbei in den Flur und küsse ihn dabei flüchtig auf die Wange, bevor ich in Richtung Badezimmer verschwinde.

Eine ausgiebige Dusche und etwas, das man mit viel Wohlwollen eventuell als Frisur bezeichnen könnte, später schlurfe ich in die Küche.

Auf dem kleinen, runden Tisch steht ein randvoller Becher Kaffee. Ich weiß, er hat Milch reingetan. Und ein Stück Zucker. Meld dich. Zieh die Tür zu, wenn du gehst. M., steht auf dem kleinen Zettel, der danebenliegt. Offenbar beinhaltet Nachschlag nicht unbedingt Gesellschaft.

Ich setze mich auf einen der Küchenstühle und sehe durch die Scheibe der schmalen Balkontür und das schmiedeeiserne Gitter hinunter auf die Straße. Sie ist breit, den Gehsteig säumen alte Bäume. Ich glaube, es sind Platanen. Ist 'ne ziemlich gute Gegend, viel alte Bausubstanz. Auch das Haus, in dem Martin wohnt, ist ein Altbau. Es wurde 1905 erbaut, jedenfalls steht das in einen etwas größeren Stein gemeißelt über der Tür. Diese Sache mit uns läuft schon eine ganze Weile, irgendwann merke selbst ich mir so was.

Ich trinke einen Schluck, verbrenne mir beinahe die Lippen und schrecke zurück. Eigentlich ist mein Kaffee nie richtig heiß, weil ich am liebsten viel Milch nehme. Martin hat ihn wohl extra noch mal in die Mikrowelle gestellt.

»Fuck!«, fluche ich, aber der hellbraune, warme Fleck breitet sich längst auf meinem Hemd aus. Na super...

Ich seufze, halte die Tasse kurz in der Hand und spüre die Wärme, die vom Porzellan ausgeht. Nehme vorsichtiger einen weiteren Schluck und schließe noch einmal für einen Moment die Augen. Als ich sie wieder öffne, fällt mein Blick auf die Küchenuhr. So langsam sollte ich wirklich los. Mit der Baustelle dauert es fast eine halbe Stunde in die Praxis. Und Jonathan nimmt mir jede Minute, die ich zu spät bin, ziemlich übel. Aber erst mal brauche ich wohl was Neues zum Anziehen.

Ich nippe noch einmal an meinem Kaffee, kippe den Rest in die Spüle und lasse die leere Tasse dort stehen. Ich bin schon auf halbem Weg Richtung Schlafzimmer, als meine gute Erziehung sich durchsetzt und ich kehrtmache, um sie auszuspülen. Ich verzichte darauf, nach einem Küchenhandtuch zu suchen – so gut hat meine alleinerziehende Mutter den Erziehungsjob dann auch wieder nicht gemacht –, und stelle sie nass zurück in den Oberschrank. Hoffentlich hat Martin irgendwo ein zu großes T-Shirt. Alles andere dürfte ein bisschen eng werden...

Ich trete ins Schlafzimmer, öffne die obersten Knöpfe meines Hemdes, ziehe es mir über den Kopf und schiebe den Kleiderschrank auf. So richtig bewusst hab ich noch nie hineingesehen. Martins Hemden hängen ordentlich auf Bügeln, daneben Anzüge, darunter ein paar Hosen. Seine Jeans liegen links in einem Fach. Darüber seine Shirts. Er ist verdammt ordentlich. Aber das überrascht mich nicht. Er hat nicht allzu viele Klamotten. Wenn er nur körperbetonte Sachen hat, bin ich gearscht.

Ich nehme das oberste Shirt vom Stapel. Dummerweise ist es Größe M. Also ziehe ich den ganzen Stapel heraus und setze mich damit aufs Bett. Ich gehe die Größenetiketten durch und entscheide mich – wenig spontan – für das einzige Shirt in Größe L. Es ist grau und von The GAP. Na meinetwegen... Nickis letzte Geburtstagsfeier war eine Achtzigerjahre-Party. Ich hab also schon Schlimmeres getragen.

Ich schlüpfe hinein. Es spannt über meiner Brust und der Ärmelsaum schneidet in meinen Oberarm. Dafür riecht das Teil ziemlich angenehm nach Waschmittel.

Ich lege die restlichen Shirts möglichst ordentlich in den Schrank zurück, schließe ihn und mustere mich dann im Spiegel. Irgendwie sehe ich in Martins Shirt wesentlich muskulöser aus, als ich es tatsächlich bin. Die Nähte der Ärmel liegen irgendwo zwischen Hals und Schulter und natürlich sieht man dadurch ein kleines Stück der Tätowierung an der Innenseite meines Oberarms. Außerdem liegt der weiche Stoff so eng auf meiner Haut, dass man ein bisschen zu deutlich die Barbells in meinen Brustwarzen sehen kann.

Schöne Scheiße... Meine Mutter hat keinen Schimmer von den Piercings. Das Tattoo hab ich schon, seit ich zwanzig bin, und auch da war eigentlich der Plan, dass sie nie davon erfährt... hat echt wehgetan, so weit oben. Allerdings war der Plan scheiße und seit sie's vor ein paar Jahren dann doch entdeckt hat, versucht sie tapfer, drüber hinwegzukommen. Womöglich sollte ich mir also besser noch einen Pullover oder eine Kapuzenjacke leihen.

Ein paar Minuten später verlasse ich die Wohnung und ziehe artig die Tür ins Schloss. Zum Glück hab ich im Schrank tatsächlich eine Kapuzenjacke gefunden. Ohne wäre es mir unter meiner nicht allzu dicken Jacke wohl auch ein bisschen kalt geworden. Ich hab gestern auf dem Nachhauseweg schon im Hemd darin gefroren. Und zugelassen, dass Martin den Arm um mich legt.

Hab mir Sachen von dir geliehen, kriegst sie zurück. Melde mich. J., steht auf dem Post-it an Martins Schlafzimmertür. Ich hoffe, es klebt da noch, wenn er heute Abend nach Hause kommt.

Ich nehme die ersten Stufen der breiten Steintreppe, die sich in der hohen Eingangshalle um einen antiken Fahrstuhl windet. Wenn man Martin glaubt, ist er ziemlich neu, das alte Scherengitter ist nur Deko und die Glaskabine dahinter fährt tatsächlich. Ich selbst hab's noch nicht ausprobiert. Ich bin zwar nicht übermäßig klaustrophobisch veranlagt, aber irgendwie ist das Ding mir unheimlich und ich nehme lieber die Treppe.

Ich löse die Hand vom Geländer, springe die letzten beiden Stufen hinunter auf die kleinen schwarzen und weißen Kacheln, die sich in Rosettenmustern durch die Halle ziehen. Durch die breite Flügeltür gelange ich hinaus auf den kurzen Weg aus Sandsteinplatten, der zwischen ordentlich in Form gehaltenen Hecken bis zu einem geöffneten schmiedeeisernen Tor führt. Mein alter Golf parkt nur ein paar Schritte entfernt. An der Windschutzscheibe klebt ein riesiges, braunes Blatt. Keine Ahnung, wo es hergekommen ist, vermutlich hat es den Winter einfach irgendwo am Baum gehangen und ihn so überlebt. Es ist hübsch. Vielleicht sollte ich es mitnehmen und nachher Lynn zeigen.

Unter dem Scheibenwischer der Fahrerseite klemmt ein zusammengerollter Zettel. Na toll... Es ist kurz nach neun. Als ich den Wagen gestern hier abgestellt hab, war es auf jeden Fall schon nach zwanzig Uhr. Schön, dass die Politessen hier im Viertel jetzt keinen Feierabend mehr haben, weil die Stadt offensichtlich sehr nötig mein Geld braucht. Ich glaube, das ist für Anwohner hier. Wenn mich nicht alles täuscht, wären das dann fünfzehn Euro. Wenigstens hat Martin gestern das Essen bezahlt.

Ich ziehe den Zettel unter dem Wischerblatt hervor, zerknülle ihn und stecke ihn in meine Jackentasche, weil es wohl unhöflich wäre, ihn einfach an Ort und Stelle auf den Boden zu entsorgen. Nehme das Blatt behutsam von der Scheibe und krame in meiner Umhängetasche irgendwo unter meinem unordentlich hineingestopften Hemd nach den Autoschlüsseln.

»Hey, Hannes!«, ruft Ina mir im Vorbeigehen zu, als ich eine knappe halbe Stunde später die Praxis betrete. Die Uhr über der Anmeldung zeigt elf Minuten nach halb zehn.

»Morgen!«, grüße ich in die Runde und schlüpfe aus meiner Jacke. Nicht gut, wenn man hauteng und mit einer Kapuzenjacke, die sich nur mit Luftanhalten schließen lässt, unterwegs ist. Aber sie wieder anzuziehen, wäre jetzt auch irgendwie blöd.

Die beiden Patienten im offenen Wartebereich grüßen freundlich zurück. Ich kenne sie nicht, der eine geht an Krücken, vermutlich ist er drüben bei Kathi zur Physio.

Ich trete hinter den Tresen, schiebe Britta auf ihrem Bürostuhl ein Stückchen zur Seite und öffne die Schublade mit dem kleinen Aufkleber K-M schräg hinter ihr.

»Sexy«, bemerkt sie prompt und starrt dabei auf das zu enge Shirt unter der offenen Kapuzenjacke. So was sollte sich am Arbeitsplatz mal ein Kerl erlauben... Aber da meine Mutter mich noch vor meinem ersten Arbeitstag hier geoutet hat, gelte ich irgendwie nur temporär als Mann. Wenn ich in den Aufenthaltsraum will und sich grade eine meiner Kolleginnen umzieht, zum Beispiel.

»Sagst du mir, wer als Zweites drinsteht?«, frage ich sie und ignoriere sowohl ihren Blick als auch ihre Bemerkung, während ich mit den Fingerspitzen durch die Patientenakten blättere, die altmodisch in Schiebern hängen, um Jonathans zu finden.

Eigentlich mag ich Britta. Jedenfalls wenn sie mir nicht so penetrant auf die Nippel starrt...

»Ein Neupatient. Du hattest eine Stunde Lücke, weil Frau Bressel den Termin für Lynn abgesagt hat. Sie ist immer noch erkältet.«

»Oh...«, sage ich beinahe ein wenig enttäuscht. Und im selben Moment fällt mir ein, dass ich ihr Blatt unten auf dem Beifahrersitz vergessen habe. Letzten Herbst haben wir mit den Blättern, die sie für mich gesammelt hat, auf einen Bogen rosa Papier zwei Elefanten geklebt, die jetzt an der Wand über der Werkbank hängen. LYNN hat sie in Großbuchstaben in die Ecke geschrieben und daneben ein Herz gemalt. Und ich musste ihr meinen Namen vorschreiben. Also steht jetzt noch HANNESda.

»Okay. Was weißt du über ihn?«

»Nicht viel, hat Freitag wohl kurz vor Schluss hier angerufen. Musst deine Mutter fragen.«

»Ein Kind?«

»Keine Ahnung, wie gesagt, hat mit deiner Mutter telefoniert. Den Rest such ich dir gleich raus.« Sie schenkt mir ein Lächeln, für das ich ihr die sexuelle Belästigung beinahe verzeihe.

»Was würd ich nur ohne dich machen?«, hauche ich, stelle mich auf Zehenspitzen, um mich, möglichst ohne sie zu stören, irgendwie zwischen der Lehne ihres Bürostuhls und den Schubkästen mit den Akten durchzuquetschen, mache den Arm lang und greife nach Jonathans Mappe. Sie ist ziemlich dick, er ist schon seit seinem dritten Lebensjahr bei uns.

Ich gehe ein paar Schritte den Flur entlang. Im Gerätebereich hinter der mit milchigen Sichtschutzstreifen beklebten Glastür strampelt jemand auf dem Rad. Manchmal trainiere ich hier nach Feierabend. Auch wenn es nicht allzu viele Geräte für mich gibt.

Ich gehe weiter, nehme im Vorbeigehen den Magneten mit meinem Foto von der Tafel und hefte ihn dann auf den Bewegungsraum. Offensichtlich ist meine Mutter heute Morgen nicht da. Vielleicht macht sie Hausbesuche. Oder sie hat, wie so oft, diese Sache mit dem Magneten einfach vergessen. Liegt bei uns in der Familie. Und ich stelle mal wieder fest, dass ich mir dringend ein neues Bild besorgen sollte. Irgendwie sehe ich auf dem Foto echt bescheuert aus. Dabei bin ich sonst eigentlich ganz zufrieden. Ich sehe meinem Vater ziemlich ähnlich, vermutlich sehr zum Leidwesen meiner Mutter. Die beiden sind geschieden und haben nicht das beste Verhältnis. Er hatte eines, da war ich sechs und Basti, mein Bruder, acht. Knapp zwei Jahre später hat er, als meine Eltern geschieden waren, dieses Verhältnis dann geheiratet. Mittlerweile hab ich zwei Halbgeschwister. Ich glaube, es sind zwei Mädchen, aber ich bin nicht sicher. Ich hab, wenn wir schon bei Verhältnissen sind, zu meinem Vater nämlich gar keines. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hab, war ich ungefähr zehn.

Ich gehe weiter bis zum Ende des Ganges und bleibe vor der Tür mit der Aufschrift Privat stehen. Artig klopfe ich an, und als nach drei Sekunden keine Reaktion kommt, drücke ich die Klinke.

»Kann ich?«, frage ich und stecke vorsichtig den Kopf durch den Spalt. Wenn man ausschließlich weibliche Kollegen hat, ist das manchmal ein guter Plan. Der Raum ist leer, also trete ich ein, lege die Akte auf den Ikea-Tisch und beeile mich, meine Tasche und die Jacke in den Spind zu hängen. Kurz überlege ich, Martins Kapuzenjacke auch gleich auszuziehen, aber dafür ist das Shirt definitiv zu eng.

Mit Jonathans Akte in der Hand gehe ich hinüber in den Bewegungsraum. Offensichtlich hat heute noch niemand dort behandelt, denn die Matten sind alle noch ordentlich neben der Sprossenwand aufgestellt.

Ich beginne, den Raum vorzubereiten, lege den Sitzsack hin und schiebe zwei der Matten unter die große Tellerschaukel. Beinahe komme ich ins Schwitzen, denn die Heizung ist voll aufgedreht und es ist ziemlich warm im Raum. Ich drehe sie runter, kippe das Fenster, ziehe Martins Jacke nun doch aus und lasse sie auf der dicken Weichbodenmatte liegen. Ich hab noch drei Minuten, bis Jonathan kommt, elf bis zu seinem Termin. Seine Mutter kommt immer etwas früher, weil er noch im Wartezimmer sitzen will. Acht Minuten. Immer auf demselben Stuhl. Ich hab ein paarmal probiert, ihn vor zehn zu holen, aber dann weigert er sich mitzukommen und mittlerweile hab ich's aufgegeben. Das ist eben Jonathan. An solchen Dingen orientiert er sich und sie geben ihm Sicherheit.

»Hannes?« Ich zucke zusammen, als die Tür sich plötzlich öffnet und ich die Stimme meiner Mutter höre.

»Hm?« Ich drehe mich um und bereue es sofort. Martins GAP-Shirt ist nicht unbedingt ein Mutter-kompatibles Outfit.

»Wegen des neuen Patienten...« Sie stockt und mustert mich. Gott, shit, starrt sie grade auf meine Nippel? Oh fuck!

»Britta hat's mir gesagt«, entgegne ich, versuche entspannt auszusehen, verschränke meine Arme dabei allerdings ziemlich unentspannt vor meiner Brust. Als sie die Tätowierung damals entdeckt hat, hat sie erst mal geheult. Und die eignet sich nicht mal für Sex-Spielchen...

»Gut. Ich hab's bei dir reingeschrieben, weil du eine Lücke hattest, aber gleich gesagt, dass wir ihn wahrscheinlich noch einem anderen Behandler zuordnen. Ist ein Schlaganfall. Relativ akut. Vielleicht kann Eva es übernehmen oder ich sehe mal, ob ich's irgendwo einschieben kann.«

»Klar«, sage ich nickend und versuche weiterhin, entspannt zu wirken, während sie noch einmal prüfend in Richtung meiner Brustwarzen sieht. Shit! Ich bin ziemlich sicher, dass sie die Piercings wohl bemerkt hat. Nicht mein Tag heute... wirklich nicht...

»Hey! Hallo, Jonathan! Schön, dass du da bist.« Ich gehe vor seinem Stuhl, den Britta extra für ihn hingestellt hat, weil er einmal den ganzen Laden zusammengeschrien hat, als er besetzt war, in die Knie und sehe ihn an.

Wie immer beachtet er mich nicht. Stattdessen rollt er immer wieder ein kleines, abgegriffenes Matchbox-Auto auf seinem Oberschenkel vor und zurück und bewegt dabei den Oberkörper leicht im selben Rhythmus.

Ich bleibe vor ihm hocken und warte, bis er Blickkontakt zu mir herstellt. Je nach Tagesform kann das dauern. Heute geht es relativ schnell.

»Hannes«, sagt er mit dumpfer, verhältnismäßig tiefer Stimme und lässt mich für diese Therapieeinheit in seine Welt. Eine Welt, in der er besser zurechtkommt als in unserer...

»Hallo, Jonathan«, sage ich noch mal und berühre vorsichtig mit der Hand sein Knie. Er lässt es zu, weicht meinem Blick kurz aus, schafft es dann aber, wieder zurückzukommen. Seine Mundwinkel heben sich. Seine Augen blicken mich weiterhin an und doch ein wenig durch mich hindurch. Aber ich weiß, das ist seine Art zu lächeln. Die er sich abgeschaut hat von der Welt da draußen, die er nicht wirklich versteht.

»Kommst du?« Ohne sein Knie loszulassen, stehe ich auf und bleibe gebückt vor seinem Stuhl stehen.

»Bis später, mein Schatz«, verabschiedet sich seine Mutter leise und streicht ihm übers Haar, als er sich von der Sitzfläche gleiten lässt.

»Später«, sagt er, ohne den Kopf in ihre Richtung zu drehen, und lautiert das Wort auf seine Weise typisch falsch, indem er das Ä in die Länge zieht und das T wie ein D spricht. Er presst mir das Spielzeugauto in die Hand, hält es fest in seiner und schafft so eine Verbindung. Ich fühle seine kleinen Fingerkuppen an meiner Handfläche. Es hat lange gedauert, bis ich ihn anfassen durfte. Denn für jemanden wie Jonathan ist diese winzig kleine Berührung ein verdammt großer Schritt.

Christopher

»Alles gut?« Ich fühle Torstens Hand auf meiner Schulter. Sie fühlt sich an wie immer. Nicht besonders... Genau so, wie sie sich auch vor diesem Tag angefühlt hat, der mein Leben in zwei Hälften teilt. Ein Leben davor und eines danach. Das danach verbringe ich ziemlich oft an diesem beschissenen Fenster. Und ich glaube, wenn es dieses danach nicht gegeben hätte, könnte ich mich an seine Hand nicht mal mehr erinnern.

Auch jetzt sitze ich hier und sehe hinaus auf die Straße. Sie ist nicht sonderlich belebt, also gibt es nicht viel zu sehen.

Es ist kurz nach neun. Ich bin wach seit sechs. In meinem beschissenen Leben danach kann ich nämlich, obwohl da kein Wecker mehr ist, nicht besonders gut schlafen. Außerdem träume ich, wenn ich schlafe, irgendwelchen Scheiß, also weiß ich nicht, ob Schlafen wirklich besser ist. Und wenn ich aufwache, ist da immer noch diese kleine Sekunde, in der ich einfach vergessen hab, was passiert ist und an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Dabei hat mein Gehirn mit dem, was noch von mir übrig ist, streng genommen jetzt ja nur noch halb so viel zu tun...

Es sind gute Momente. Diese Sekunden, in denen ich ein bisschen glauben kann, alles wäre wie früher und ich wäre noch ich. Aber es dauert nie lange, bis meine neue Realität mich einholt. Vielleicht sollte ich doch mal eine oder zwei der Tabletten nehmen, die mein völlig überforderter Hausarzt mir neulich aufgeschrieben hat. Oder auch mehr. Aber ich glaube, der Scheiß ist rein pflanzlich, nutzt also nichts...

Der Friseurladen unten im Nachbarhaus öffnet erst um zehn. Ab dann kommen die Kunden. Meistens zu Fuß, es ist schwer, in der Straße hier einen Parkplatz zu ergattern. Aber heute gibt es kein Vorher-Nachher von fetten Hausfrauen. Heute ist Montag, da hat der Laden zu. Und ich bin wohl nicht mehr in der Position, mich darüber lustig zu machen.

Schräg gegenüber ist eine kleine Fabrik, von der ich, weil ich in meinem Leben danach unglaublich viel Zeit hab, in der ich in meiner Wohnung sitze, mittlerweile sogar weiß, was sie dort herstellen. Ich hab's gegoogelt. Ich google ziemlich viele Sachen, die mich nicht interessieren, und in der Zeit, in der ich nicht google, frage ich mich manchmal, was solch bemitleidenswerte Kreaturen wie ich eigentlich vor dem großen, weiten Internet gemacht haben.

»Hm«, mache ich, weil ich weiß, dass Torsten seine Hand nicht wegnehmen wird, bevor ich ihm irgendetwas antworte. Auch wenn ich keine große Lust dazu hab. Aber an einem Wort, das eigentlich keines ist, sterbe ich nicht. Schade eigentlich... Stattdessen sitze ich hier rum und starre aus dem Fenster. Weil ich in der zweiten Hälfte meines Lebens nicht mehr ganz so viele Alternativen wie in der ersten hab...

»Willst du es nicht mal auspacken?«

»Was?«

»Na ja, das Paket aus den USA. Liegt schon da, seit du wieder hier bist.« Ich hab's mir aus New York geschickt, weil ich keinen Platz mehr im Koffer hatte.

»Später vielleicht.« Irgendwie hatte ich bisher keine Lust darauf, damit zu spielen. Keine Ahnung, wieso es ihn überhaupt stört.

»Ich mach dann mal Frühstück«, höre ich Torsten leise hinter mir und ich mache mir nicht die Mühe, vor Ende dieser doch recht einseitigen Konversation noch etwas darauf zu erwidern. Ich hab keinen Hunger. Aber dafür einen Kerl, der meine Wohnung okkupiert und sich an ungeöffneten Paketen stört. Der seine geschmacklosen Klamotten so rücksichtsvoll, dass mir beinahe die Tränen kommen, jedes Mal, wenn ich es sehe, in den oberen Fächern meines Schrankes verstaut hat und mir morgens Frühstück macht. Kaffee, frische Brötchen vom Bäcker, Orangensaft mit so viel Fruchtfleisch, dass man kotzen muss, und auch sonst das volle Programm.

Mein Frühstück davor bestand, wenn überhaupt, aus einer Zigarette danach. Allein. Und das einzig wirklich Erfreuliche an dieser beschissenen Unfall-Sache ist – jedenfalls wenn man meine Mutter fragt –, dass ich im Krankenhaus gezwungenermaßen mit dem Rauchen aufgehört hab. Vielleicht kann ich das Geld, das ich dadurch spare, für Behinderte spenden. Dann hätte ich wenigstens was davon...

Erleichtert spüre ich, wie Torsten endlich seine Hand löst, und höre seine Schritte hinter mir, als er den Raum verlässt, um in die Küche zu gehen. Ich bleibe sitzen und starre weiter auf die Straße. Starre so lange, bis sie unscharf wird und schließlich vor meinen Augen verschwimmt.

Mittlerweile ist es Februar. Als ich die Wohnung verlassen hab an diesem letzten Tag davor, war es Anfang Oktober. Ich hatte grade ein echt geiles Wochenende in New York verbracht. Ich weiß aus Erzählungen, dass wir einen Tag vorher endlich ein wichtiges Projekt beendet hatten. Und ich erinnere mich, dass ich überlegt hab, an diesem Tag früher Schluss zu machen und vielleicht die letzte Runde des Jahres mit dem Bike zu drehen. Dass ich, weil es ein sonniger Morgen war, meine enge, graue Jeans getragen habe, meine Gucci-Sonnenbrille und diese unglaublich geile, helle Lederjacke, die ich geliebt hab von der ersten Sekunde, als ich damals vor einer halben Ewigkeit in Toronto in diesem kleinen Laden hineingeschlüpft bin. Sie hat mich überallhin begleitet. Und ich glaube, ich bin in ihr nie bei jemandem abgeblitzt, den ich ficken wollte.

An mehr erinnere ich mich nicht. Aber wenn man sich die Fotos der Jacke im Unfallbericht der Polizei so ansieht, ist das vielleicht nicht allzu verwunderlich. Und ich bedauere sehr, dass die ganze Sauerei nicht wieder rauszubekommen ist. Auch wenn ich fürchte, sie käme sowieso nicht mehr ganz so gut zur Geltung.

Vermutlich wäre sie mir mittlerweile ohnehin zu groß. Ich hab seit dem Unfall fast zehn Kilo verloren. Muskelmasse. Hübsch definierte, versteht sich. Ich hatte ziemlich hart dafür gearbeitet. In meinem Leben davor hab ich mir ganz schön was drauf eingebildet.

Und gleich noch mal so viel auf meinen Arsch. Ich mochte mein Leben davor. Wirklich, es war ziemlich in Ordnung. Dummerweise kann man das von meinem Leben danach nicht gerade behaupten.

Halbherzig greife ich nach der Fernsteuerung, starte den Hubschrauber, den ich vorhin auf dem Schreibtisch gelandet habe, und lasse ihn wieder unter die Decke steigen. Lasse ihn dort auf der Stelle schweben, bevor ich ihn kurz auf der Sofalehne lande, Anlauf nehme und einen halbwegs ordentlichen Spin versuche, der mir beinahe misslingt. In letzter Sekunde verhindere ich einen Absturz, lasse den Heli wieder aufsteigen und fliege hinüber zum Regal, wo ich ihn ein paar Mal um Superman und Wonder Woman trudeln lasse und dann auf einem Stapel CDs lande, weil er mich langweilt. Vielleicht sollte ich doch mal den Falconauspacken.

In der Küche klappert Geschirr. Ich höre das Geräusch des Kaffeeautomaten und Torstens Schritte. Unten auf der Straße fährt ein silberner Audi TT vorbei.

»Kommst du frühstücken?« Ich weiß, dass Torsten wieder in der Tür steht. Höre ihn durch den Raum gehen und wie er hinter mir stehen bleibt.

»Sekunde«, sage ich, lege die Fernsteuerung zur Seite und verkneife mir ein Ich stehe gleich auf. Weil das definitiv nicht sein Humor ist. Und weil ich's nicht mehr kann...

»Kein Problem«, sagt er. Ich könnte den Krankenhauspsychologen immer noch dafür umbringen, dass er mit ihm geredet hat.

»Ich hab mit Ihrem Partner gesprochen, Herr Krämer. Ich hoffe, das war in Ordnung.« Nein, war es nicht, du Arsch!

»Was Ihnen passiert ist, ist ein großer Einschnitt in einer Paarbeziehung.«

Den Einschnitt hatte ich schon mitbekommen. Immerhin hab ich, gleich als ich zu mir gekommen bin, meine Beine und den Rest ein paar Zentimeter unterhalb meines Nabels nicht mehr wirklich gespürt. Da war einfach nichts mehr, ich kann's nicht anders beschreiben. Und ich wusste, obwohl ich mich nie damit beschäftigt hatte, dass das vermutlich auch so bleibt. Was ich allerdings nicht wusste, war, dass Torsten sich in meiner komatösen Abwesenheit zu meinem Freund ausgerufen hat, jetzt wohl denkt, wir hätten eine Partnerschaft, und auch geblieben ist. Und wenn ich mich an eines ganz sicher erinnern kann, dann dass wir vorher alles andere hatten als das. Im Grunde waren es nur ein paar Ficks. Auch wenn sie gar nicht mal so übel waren. Allerdings scheidet da weitermachen, wo wir vorher aufgehört haben, dummerweise aus, weil ein paar Zentimeter unterhalb des Nabels leider meinen Schwanz mit einschließt. Also führe ich jetzt eine Partnerschaft.

»Möchtest du Rühreier?«

»Nein«, sage ich. Ich hasse Rührei und ein bisschen finde ich es lächerlich, wie schlecht er seinen selbst gewählten festen Freund kennt. Aber nach zwei Monaten Rumgevögel, ohne davor oder danach viel zu reden, und einer Woche Händchenhalten, dem ich mit einem Schlauch im Hals auf der Intensivstation nicht widersprechen konnte und die darüber hinaus ebenfalls wenig kommunikativ verlaufen ist, kann man das wohl auch nicht erwarten. Seine Besuche in der Klinik und der anschließenden Reha zählen nicht. Mir war auch da nicht nach Reden. Ist mir generell nicht. War es auch vorher schon nicht. Macht also, im Gegensatz zum Rest, keinen wirklichen Unterschied zu danach...

Im Grunde kennen wir uns kaum. Liegen seit etwas mehr als vier Wochen einfach nebeneinander in meinem Bett, in dem ich früher lieber alleine geschlafen hab, und weil ich mich manchmal beschissen fühle, ertrage ich es. Weil ich ihn brauche, für so ziemlich alles in meinem neuen, beschissenen Alltag. Und weil es am Ende wohl immer noch besser ist, als meine Mutter zu ertragen, die sich, im Gegensatz zu mir, mittlerweile total in ihn verknallt hat.

»Na komm schon, Chris«, sagt er, greift nach den ausgeklappten Griffen des Stuhls und dreht mich dann vom Fenster weg. Er rollt mich vorbei an der breiten Schiebetür meines Schlafzimmers, durch mein altes Leben und das große Wohnzimmer, hinaus in den Flur und hinüber in die Küche. Der Frühstückstisch ist gedeckt. Irgendwo – vermutlich an der Tanke – hat er eine Rose aufgetrieben, die jetzt zwischen dem Geschirr in einer schmalen Vase steht. Letztere hat er wahrscheinlich aus dem Krankenhaus mitgehen lassen. Meine ist es jedenfalls nicht.

»Musst du nicht zur Arbeit?«, frage ich hoffnungsvoll, während er mich an meinen neuen Platz schiebt. Den Küchenstuhl, der eigentlich dorthin gehört, hat er entsorgt. Früher hab ich, wenn überhaupt, rechts an der Heizung gesessen. Aber das funktioniert jetzt nicht mehr. Zu wenig Platz, selbst mit meinem neuen, angeblich ach so tollen Aktivrollstuhl, in dem ich sowieso nicht vom Fleck komme. Meine Küche ist nicht die größte, also hab ich keine Chance. Vielleicht nach dem Umbau in ein paar Wochen, wenn der Idiot von der Firma mal seinen Arsch hierher bewegt. Bis dahin sitze ich, so wie ich es hasse, weiterhin mit dem Rücken zur Tür.

Vielleicht könnte ich mit Mühe ein Bein auf die Sitzfläche ziehen, wie früher. Zigarette, die Zeitung und eine Tasse Kaffee, bevor ich dann rüber ins Wohnzimmer gehe, mich auf den großen Drehsessel lümmle, den Laptop anwerfe und mich einlogge, um zu arbeiten. Aber ich fürchte, es würde nicht dort bleiben. Also sollte ich's, wenn ich nicht will, dass Torsten mich vom Boden aufhebt, wohl besser gar nicht erst versuchen. Ich hab ja ohnehin mit dem Rauchen aufgehört...

Der Rest der Wohnung ist eigentlich in Ordnung. Die Zimmer sind geräumig und die Türen breit genug. Es ist eine Altbauwohnung. Mit mehr als hundertvierzig Quadratmetern eigentlich eine Nummer zu groß für mich, aber ich kann es mir leisten und es war Liebe auf den ersten Blick. Passiert mir ansonsten eher selten. Um ehrlich zu sein, überhaupt nicht. Und in meinem Leben davor war auch nicht wirklich irgendwas eine Nummer zu groß für mich...

Das Haus hier hat einen Fahrstuhl. Und wenn man es mit einer gewissen Ironie betrachtet, könnte man beinahe behaupten, dass ich damals die optimale Wohnung für mein Leben danach gekauft hab. So, als hätte ich es geahnt... Aber das hab ich nicht. So was passiert nur den anderen, nicht mir. Falsch gedacht...

Die Chancen stehen ganz gut, dass ich, mit ein paar entsprechenden Umbauarbeiten, erst mal hier wohnen bleiben kann. Auch wenn ich noch dabei bin, das mit meinen Eltern auszudiskutieren. Meine Mutter hätte am liebsten, dass ich wieder bei ihnen einziehe. Aber da kommen wir nicht wirklich ins Geschäft. Der Umbau ist auch gar nicht das Problem. Schon mit der Summe der Unfallversicherung, die mein Spießervater für mich abgeschlossen hat, als ich noch ein Kind war, weil sich früh abgezeichnet hat, dass ich ein Adrenalinjunkie werde, könnte ich die notwendigen Veränderungen fast aus der Portokasse bezahlen.

Außerdem ist es auf dem Weg zur Arbeit passiert. Ist also BG, und der Physiotherapeut in der Reha, der sich selbst fürchterlich witzig fand, meinte, das wäre das Beste, was einem passieren kann. Mir wären da ehrlich gesagt zwei, drei noch bessere Dinge eingefallen. Ihm den Hals umzudrehen, zum Beispiel. Aber da ich nicht rangekommen bin, hab ich ihm nur gesagt, dass er ein echter Wichser ist und mich mit seinem Gelaber in Ruhe lassen soll. Hat er mir irgendwie übel genommen.

Die letzten paar Tage, bevor ich den Laden auf eigene Verantwortung verlassen hab, hat dann seine Kollegin ihr Glück mit mir versucht. War auch nicht besser... ich konnte noch nie gut mit Frauen. Wenigstens hat Torsten mich, als ich dann irgendwann in diesem beschissenen Klinikbett gelegen und wie ein Baby geheult hab, tatsächlich nach Hause gebracht. Und am Abend gleich mal ausprobiert, ob mein Schwanz noch funktioniert. Tut er aber dummerweise nicht. Jedenfalls nicht richtig. Und selbst wenn er es würde und ich hart genug wäre zum Ficken, wäre es relativ witzlos, einfach dazuliegen, während Torsten auf mir rumreitet und sich dabei einen runterholt. Denn obwohl die zertrümmerten Teilchen meiner Wirbelsäule, die sich in mein Rückenmark gebohrt haben, es wohl nicht komplett durchtrennt haben, fühle ich da unten nichts.

Über das Schmerzensgeld, das die Spedition, deren LKW mich umgenietet hat, mir zahlen muss, verhandeln wir noch. Aber laut meinem Anwalt ist da ziemlich wahrscheinlich auch eine neue Lederjacke mit drin. Und wenn ich die Summe und das Geld von der Versicherung einigermaßen gut anlege, muss ich mir in der mir durchschnittlich verbleibenden Zeit nicht mehr allzu viele Sorgen darüber machen, wie ich meine Rechnungen bezahle. Die mache ich mir dann einfach darüber, wie ich diese Zeit aushalten soll. Absitzenbekommt da eine ganz neue Bedeutung. Ich wette, das Physio-Arschloch hätte jetzt behauptet, dass es viele Leute gibt, die froh wären, wenn sie noch sitzen könnten, und es auch total geil sein kann, wenn einem irgendwer dämlich ins Ohr pustet. Durchaus möglich, interessiert mich aber nicht.

»Erst später«, beantwortet Torsten, der mittlerweile auf dem Platz neben mir sitzt und sich eines der Brötchen schmiert, meine Frage, ob er heute noch mal ins Büro verschwindet. »So gegen elf, aber nur für zwei Stunden. Den Rest mache ich von zu Hause.«

Zu Hause. Damit meint er dann wohl das hier. Meine Wohnung, mein Leben... Ich beiße mir auf die Zunge, um nichts darauf zu erwidern.

»Jetzt iss doch was«, fordert er mich auf, bevor er selbst den ersten Bissen nimmt und genüsslich kaut. Ein Krümel klebt in den Bartstoppeln an seinem Kinn und ich zwinge mich, nicht hinzusehen.

»Hm.« Mürrisch greife ich nach einem Brötchen und lege es artig auf meinen Teller. Was gäbe ich jetzt für eine Zigarette... Stattdessen greife ich mit der anderen Hand nach dem Messer, nehme das Brötchen und steche hinein. Schiebe es tief ins weiche Innere und schneide es auf.

»Ich bin so gegen eins zurück«, sagt Torsten kauend. Das Bedürfnis, den beschissenen Krümel von seinem Kinn zu wischen, weil ich sonst unentwegt hinsehen muss, quält mich beinahe. Und vielleicht würde ich ihn, wenn ich mich zur Seite lehnen würde, tatsächlich erreichen. Aber ich lasse es. Mir ist nicht nach Berührung. Stattdessen schiebe ich das Messer so tief in mein Brötchen, dass ich die abgerundete Spitze der Klinge deutlich an der Innenseite meiner Handfläche spüren kann. An meinem Oberschenkel kann ich das nicht mehr. Ich kann nur sehen, dass es irgendwann anfängt zu bluten.

Torsten hat mich ins Krankenhaus gebracht. Sie haben es genäht. Mit zwei Stichen. Ohne Betäubung. Sie spüren es ja sowieso nicht. Sieben Euro und fünf Cent, die man der Versicherung, bei dem, was ich sie für den Rest meines Lebens noch kosten werde, ja schon mal sparen kann.

Zum Glück wollten sie mich nicht über Nacht dabehalten. Noch mal ein Klinikbett und ich wäre wohl durchgedreht...

»Chris, hörst du mir zu?«

»Bitte? Klar...« Den Inhalt der Besteckschublade hat er nach dieser Sache in den Oberschrank geräumt. Der Messerblock steht daneben.

»Also, wo liegt das Rezept?« Endlich streicht Torsten sich den Krümel vom Mund und sieht mich fragend an.

»Keine Ahnung«, sage ich, weil ich nicht den blassesten Schimmer habe, von welchem Rezept er überhaupt spricht, und lege die beiden Brötchenhälften vor mir auf den Teller. »Hat die Tante, die gestern hier war, um mich zu waschen, vielleicht mitgenommen.«

»Hat sie?«

»Keine Ahnung, falls ja, musst du wohl ein neues organisieren. Schätze, die kommt so schnell nicht mehr wieder und bringt es zurück.«

»Bis später.« Torsten bückt sich noch einmal und haucht mir einen Kuss hin, bevor er sich wieder aufrichtet und auf mich hinabsieht. Eigentlich ist er kleiner als ich und musste sich die wenigen Male, die wir uns außerhalb des Bettes geküsst haben, auf Zehenspitzen stellen. Jetzt muss er das nicht mehr...

»Bis später«, erwidere ich.

»Ich hol deine Sachen in der Apotheke und bin dann so schnell wie möglich wieder zurück.« Er hält das Rezept, das die Tussi wohl doch dagelassen hat, hoch und lässt es dann in seiner Manteltasche verschwinden.

»Danke«, sage ich, auch wenn es mir schwerfällt. Beinahe so schwer, wie ihn oder sonst wen um etwas zu bitten.

»Wenn was ist, erreichst du mich auf dem Handy.«

»Ja, ich weiß.« Ich nicke.

»Ich bring uns was zum Essen mit.« Er geht den letzten Schritt zur Tür, öffnet sie und bleibt kurz auf der Schwelle stehen. »Also, bis dann.« Er schenkt mir ein Lächeln, das mich befürchten lässt, dass er mich gleich Schatz nennt. Was für mich möglicherweise Motivation genug wäre, das mit dem Aufstehen doch noch mal zu probieren, um ihm eine reinzuhauen. Aber glücklicherweise erspart er mir den demütigenden Misserfolg und tritt endlich ins Treppenhaus.

»Bis später«, sage ich noch einmal, um unseren rührseligen Abschied abzukürzen, fasse nach den Greifreifen und rolle ein Stück zurück in den Flur.

»Ruf an, wenn was ist«, höre ich ihn ein letztes Mal sagen, während er die ersten Stufen nimmt. Ich lausche seinen Schritten, die im Treppenhaus hallen. Die sich anhören, wie meine sich mal angehört haben... und ich hätte nie gedacht, dass ich dieses belanglose Geräusch mal vermisse.

»Ja, mache ich«, sage ich halblaut. Mache ich... ganz bestimmt nicht.

Kiss the Cock

Hannes

»Hey, Hannes!« Nicki begrüßt mich mit angedeuteten Küsschen rechts und links auf die Wange.

»Hey!« Ich öffne meine Tasche, hole zwei Bücher heraus, die sie mir vor Urzeiten geliehen hat, und drücke sie ihr in die Hand.

»Bevor ich sie wieder vergesse.« Ich lächle schuldbewusst.

»Wär nicht so eilig gewesen.« Achtlos legt sie die Bücher auf der Kommode neben der Tür ab. »Ich hoffe, es war hilfreich.«

»Hm«, sage ich und nicke. »Danke noch mal.«

»Gern geschehen. Magst du reinkommen?« Sie macht eine einladende Geste.

»Aber nur kurz«, wiegle ich ab.

»Hast du noch was vor?« Sie hebt die Augenbrauen.

»Nichts Besonderes.« Ich folge ihr in die Wohnung. »Ist Liv nicht da?« Suchend sehe ich mich in dem kleinen Wohnzimmer um. Es ist gemütlich eingerichtet. Vielleicht ein bisschen viel Lila für meinen Geschmack, aber das Sofa ist verdammt bequem.

»Nein, sie hat Spätdienst. Sie kommt heute erst gegen halb elf.« Liv ist Krankenschwester in der Klinik, in der Nicki als Ergotherapeutin arbeitet. Seit zwei Jahren sind die beiden ein Paar.

»Grüß sie von mir«, sage ich und lasse den Blick über die Fotos schweifen, die auf dem halbhohen Regal neben dem Sofa stehen und die sie beide, meist gemeinsam, zeigen.

»Mach ich. Wieso bleibst du nicht, wenn du nichts Besseres zu tun hast? Du hast die Wahl zwischen Erdnüssen und Salzstangen. Und ich glaube, irgendwo müssten noch Nachos sein.«

»Lass mal«, sage ich abwehrend. Schließlich wollte ich wirklich noch kurz – oder vielleicht auch ein bisschen länger – bei Martin vorbei.

»Dann nicht.« Sie zuckt die Schultern. »Was trinkst du?«

»Was hast du?«

»Wasser, Cola, Apfelsaft, Bier und wenn du mich nicht verrätst, dann hab ich auch Arizona Tea. Grünen. Entweder mit Ginseng und Honig oder mit Pomegranate. Was immer das ist...« Sie lacht.

»Uh...« Ich verziehe das Gesicht. Keine Ahnung, was das sein soll.

»Das Bier muss übrigens weg. Ist noch vom Sommer, vom Grillen, als du den Balkon abgefackelt hast.«

Fuck, ich hatte gehofft, das hätte sie mittlerweile verdrängt.

»Ich hab nur die Pflanze abgefackelt«, erinnere ich sie. »Und ein bisschen von der Matte.« Dummerweise habe ich das bisschen mit einer der Plastikmargeriten erwischt. Die Dinger sorgen für ziemliche Rauchentwicklung.

»Weil du Vollidiot ja unbedingt mit dem Fön grillen musstest.« Sie verdreht die Augen.

»Ein Fön erhöht die Luftzufuhr«, erkläre ich. Aber das hat sie auch die letzten beiden Male schon nicht verstanden. Allerdings war sie da, jedenfalls einmal, mit Löschen beschäftigt.

»Ja, das war total super, wie du damit die Luftzufuhr erhöht hast. Vor allem, als du die Stichflamme an mein Balkongeländer gepustet hast.«

»Es tut mir leid, Nicki.«

»Will ich dir auch geraten haben. Also, was trinkst du?«

»Das Bier«, sage ich artig. Wenn ich ablehne, fällt ihr vielleicht wieder ein, dass ich ihr immer noch eine Plastikmargerite schulde. Nicki hat es bei ihrer Deko gerne symmetrisch.

Ansonsten war besagter Grillabend ziemlich gelungen. Die Abende, die ich mit Nicki verbringe, sind es meistens. Wir kennen uns schon eine Ewigkeit, wir waren in einer Klasse während unserer Ausbildung. Damals war sie noch mit einem Kerl zusammen, der zwar attraktiv, aber ein echter Idiot war. Als sie ihn endlich los war, war sie lange mit überhaupt niemandem zusammen. Irgendwann hat sie mir und unseren gemeinsamen Freunden dann Liv präsentiert und mich gefragt, wie man seinen Eltern am besten sagt, dass man lesbisch sei.

»Bitte.« Nicki stellt eine Flasche Becks vor mir auf dem Couchtisch ab und setzt sich mit einem Glas Cola in der Hand neben mich.

»Danke!« Ich nehme einen Schluck. »Habt ihr noch was vor heute?«, frage ich dann. Immerhin ist Freitag und das Viertel, in dem Nickis Wohnung liegt, ist in den letzten Jahren recht szenig geworden.

»Eher nicht«, sagt sie und nippt noch einmal an ihrem Glas, bevor sie es abstellt. »Liv ist nach einer Woche Spätdienst meist zu kaputt, um abends noch um die Häuser zu ziehen. Außerdem fährt sie übers Wochenende zu ihrer Schwester.« Sie grinst ziemlich eindeutig. »Vermutlich werden wir uns also Pizza bestellen, auf dem Sofa kuscheln und ein paar Folgen White Collar ansehen. Du?« Ich wusste gar nicht, dass ein paar Folgen White Collar ansehen bei Lesben die Umschreibung für Sex ist.

»Keine Ahnung. Mal sehen, ob ich heute Abend auch noch ein Sofa finde... zum Kuscheln«, antworte ich und grinse ebenfalls eindeutig.

»Erzähl!« Sie rückt ein Stück näher und sieht mich auffordernd an.

»Nichts Neues. Ich schau nachher vielleicht noch auf einen Sprung bei Martin vorbei.«

»Martin? Immer noch der Martin? Mit dem du angeblich nur Sex hast.« Missbilligend sieht sie mich an.

»Ich habe nur Sex mit ihm«, sage ich.

»Erzähl's deiner Mutter.«

»Lieber nicht...« Nicht mal im Ansatz. »Und wirklich, da ist sonst nichts.«

»Schade.« Sie seufzt. »Dachte schon, du hättest vielleicht jemanden kennengelernt.«

»Nein, da muss ich dich leider enttäuschen. Und eigentlich bin ich ganz zufrieden, so wie es ist.«

»Aha«, sagt sie, und ich kann ihrem Tonfall entnehmen, dass sie mir sowieso nicht glaubt. Also ist es ziemlich sinnlos, zu versuchen, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

»Wenn du mich fragst, bist du in ihn verliebt«, stellt sie prompt fest.

»Nein, bin ich nicht«, widerspreche ich. »Wir verstehen uns gut und haben ab und an Sex. Das ist alles.«

»So was nennt man eine Beziehung, Schätzchen.« Mitleidig sieht sie mich an.

»Bei euch vielleicht.«

»Du klingst despektierlich«, tadelt sie.

»Und du klingst klugscheißerisch.«

»Das hat nichts mit klugscheißerisch zu tun«, setzt sie mich in Kenntnis. »Ich meine, wie lang schläfst du denn jetzt schon mit ihm?«

»Keine Ahnung, ein paar Monate vielleicht.« Ich zucke die Schultern. Ich kann wirklich nicht auf den Tag genau sagen, wann diese Sache mit Martin und mir angefangen hat.

»Und schläfst du mit anderen? Oder er?«

»Nein... und... Keine Ahnung.« Woher soll ich denn wissen, wie Martin die Nächte verbringt, in denen wir nicht zusammen sind?

»Und würdest du mit einem anderen schlafen?«

»Was soll das hier werden, Nicki?«

»Ich versuche nur, dir klarzumachen, dass es eine Beziehung ist. Du magst ihn doch, oder? Wieso bringst du ihn nicht mal mit, wenn wir uns das nächste Mal treffen?«

Mit uns meint sie unseren Freundeskreis. Wir treffen uns in losen Abständen alle zwei bis drei Wochen. Und ich werd den Teufel tun, meinen fast zwanzig Jahre älteren Fick da anzuschleppen.

Wenig später stehe ich tatsächlich vor Martins Wohnung. Eigentlich wollte ich bis zu unserem nächsten Treffen noch ein bisschen Zeit ins Land gehen lassen. Aber ich muss ihm ja sowieso seine Sachen zurückbringen.

»Hey, Hannes, komm rein.« Martin öffnet einladend die Tür und einmal mehr fällt mir auf, dass er wirklich viel jünger aussieht, als er ist.

»Hi«, entgegne ich vom Treppensteigen ein wenig außer Atem. »Schickes Outfit«, füge ich hinzu und mustere mit hochgezogenen Augenbrauen seine Kiss the Cook-Küchenschürze, die er umgebunden hat. Über dem Cook steht das Wort Cock. Cook ist, als wäre es ein Schreibfehler, durchgestrichen. Ich will gar nicht wissen, von wem und zu welcher Gelegenheit er das Ding bekommen hat. Wenn er hetero wäre, würd ich glatt auf einen hochpeinlichen Junggesellenabschied tippen.

»Bin ich zu spät?« Ich lächle schuldbewusst. Meine Armbanduhr zeigt bereits kurz nach halb neun. In der SMS, die ich ihm vorhin bei Nicki geschrieben hab, stand, ich käme so gegen acht. Vielleicht hätte ich sie, als er geantwortet hat, dass er zu Hause ist, nicht nach meinem Handy grapschen lassen sollen.

»Er kocht für dich und du hältst es nicht für eine Beziehung?«, hat sie theatralisch geseufzt, nachdem sie seine Nachricht gelesen hatte. »Schon mal drüber nachgedacht, ob er vielleicht in dich verliebt ist?«

»Er ist nicht in mich verliebt, Nicki.«

»Ja sicher«, hat sie gesagt und dabei die Augen verdreht. Dummerweise war die Diskussion damit natürlich längst nicht beendet.

»Nein, alles gut, Essen ist gleich fertig. Ich dachte, ich fang schon mal an.« Martin legt die Hand auf meine Schulter und küsst mich zur Begrüßung kurz auf die Wange, bevor er einen Schritt zur Seite tritt, um mich hineinzulassen. Aus der Küche riecht es lecker nach Essen. Und mit einem Mal hab ich ziemlichen Hunger.

Ich gehe rüber zur Garderobe und beginne, mich aus meiner Jacke zu schälen. Und irgendwie höre ich in meinem Kopf Nickis Gefasel von Beziehung.

»Ist das eigentlich eine Aufforderung?«, frage ich, während ich mich wenig später durch den Türrahmen in die Küche schiebe, um Martin Gesellschaft zu leisten.

»Hm?« Er schaut irritiert von seiner Pfanne auf, in der Gemüse in irgendeiner Flüssigkeit vor sich hin köchelt.

»Deine Schürze.«

»Oh... Nein, wobei... warum nicht?« Er grinst vielsagend, greift dann nach dem Pfannenstiel und rüttelt die Gemüsewürfel ein wenig durcheinander. Hinter ihm im Backofen schmort Fleisch. In einem anderen Topf auf dem Herd schwimmen, soweit ich das sehe, Knödel. Martin ist ein guter Koch. Wobei er immer sagt, dass das mit diesen Boxen, die er sich drei Tage die Woche inklusive Anleitung nach Hause liefern lässt, jeder kann. Und es ist wirklich ganz cool gemacht, mit Bildern und genauen Zeiten. Trotzdem konnte ich mich noch nicht dazu durchringen, es auch mal auszuprobieren. Für mich alleine wäre mir das zu viel Aufwand. Um ehrlich zu sein, ist es deutlich bequemer, sich durchfüttern zu lassen. Im Falle von Martin ist es außerdem auch noch ziemlich lecker.

»Kann ich mich irgendwie nützlich machen?«, biete ich an. Auch wenn ich keine allzu große Hilfe wäre. Wobei, seit diese Sache zwischen uns läuft, kann ich immerhin Gemüse schnippeln.

»Hm...« Er überlegt. »Eigentlich nicht. Bin fast fertig. Falls du magst, könntest du den Tisch decken und schon mal den Wein aufmachen.«

»Und... hat's dir geschmeckt?«, fragt Martin, während ich einen der letzten Bissen im Mund verschwinden lasse.

»Absolut. Man könnte glatt meinen, du planst, dass ich mich in dich verliebe«, sage ich in möglichst spaßigem Tonfall.

»Lieber nicht«, entgegnet Martin, nachdem er sich beinahe an einem Bissen verschluckt hat. »Ich hoffe, du planst das ebenfalls nicht.«

»Nein, keine Sorge. Ich finde, es ist ganz okay, so wie es ist.« Irgendwie bin ich erleichtert. Liebe macht solche Sachen wie das mit Martin und mir äußerst kompliziert. Vor allem dann, wenn sie einseitig ist.

»Ich auch.« Erleichtert nimmt Martin einen Schluck Rotwein. »Weißt du, für Beziehungen bin ich irgendwie nicht der Typ.«

»Ich auch nicht«, behaupte ich. Auch wenn das so an und für sich nicht stimmt. Ich war nur schon lange nicht mehr verliebt und meine letzte Beziehung ist nicht allzu gut gelaufen.

»Außerdem wäre es grade nicht der klügste Zeitpunkt.«

»Was meinst du?«

»Na ja, ich hab Montag der Geschäftsführung Bescheid gesagt, dass ich ab April nun doch für eineinhalb Jahre nach Buenos Aires gehe.«

»Buenos Aires... Wow...«

Martin ist Ingenieur. Die Firma, bei der er arbeitet, baut hauptsächlich Staudämme und Entsalzungsanlagen für Meerwasser.

Wir reden nicht wirklich viel über unser Berufsleben. Von Buenos Aires höre ich heute das erste Mal. Allerdings hat er irgendwann mal erwähnt, dass er schon mal für zwei Jahre in Malaysia war.

»Schätze also, du verliebst dich besser in jemand anderen...« Er lächelt milde. »Weißt du, Hannes, ich mag dich. Ich genieße den Sex mit dir. Du hast einen tollen Körper und du bist wirklich süß. Aber ich fürchte, das mit uns, für eine Beziehung ist das nicht genug.«

Gott, denkt er etwa echt... Fuck... nicht wirklich jetzt... »Nachtisch?«, frage ich also schnell, um keinen Zweifel am Grund meines Besuchs zu lassen.

»Nichts dagegen.« Er nimmt seinen leeren Teller und bringt ihn zurück in die Küche. Ich nehme meinen und folge ihm.

»Netter Arsch!«, sage ich, als ich die Küche erreiche. Martin räumt das Geschirr in die Spülmaschine und beugt sich dabei nach unten. Der Stoff seiner dunklen Jeans spannt sich über seinen Hintern und ich kann nicht anders, als meinen Teller neben dem Herd abzustellen und mit meinen Händen danach zu greifen, bevor ich meinen Schritt daran reibe.

»Hannes...« Martins Stimme klingt abwehrend. Aber dann überlegt er es sich anscheinend anders, richtet sich auf und schmiegt sich gegen mich.

»Nachtisch...«, raune ich, lasse meine Hände unter sein Hemd wandern und küsse seinen Hals, während ich seine Brustwarzen zwischen meinen Fingern reibe.

»Nachtisch«, entgegnet er, windet sich halb aus meiner Umarmung und dreht sich zu mir.

»Was stand noch mal auf deiner Schürze?«, frage ich halb im Spaß, während ich mich aus der Küche zurück ins Wohnzimmer schieben lasse.

»Hab ich vergessen«, raunt er. Seine Hände nesteln am Saum meines Shirts, während meine nach seinem Gürtel tasten, um ihn zu öffnen. Ich lasse mich aufs Sofa fallen, ziehe ihn mit mir und hebe die Arme, damit Martin mir das Shirt über den Kopf streifen kann. Hart presst er die Lippen auf meine und drängt seine Zunge in meinen Mund.

Blind taste ich nach der Knopfleiste seines Hemdes, öffne es und schiebe den Stoff beiseite. Seine Hände massieren meinen Hintern. Ich löse mich von seinen Lippen, berühre einen seiner Nippel mit der Zunge und umkreise ihn dann, während seine Hände nun ebenfalls meine Brust finden und mit dem Metall der Barbells spielen. Ich ächze verzückt, löse mich von ihm und lasse mich, weil er halb auf mir liegt, umständlich zu Boden gleiten.

Auf Knien rutsche ich etwas näher an ihn und das Sofa heran, meine Hände umfassen seine Seiten, ich ziehe ihn zu mir, spüre seinen schmalen, festen Körper unter meinen Handflächen. Mittlerweile hat er die Augen geschlossen und den Nacken auf der Sofalehne abgelegt.

Ich kann seinen Adamsapfel sehen, der ein wenig unter der gespannten Haut seines Halses hervortritt, und seine Brust, die sich beim Atmen leicht hebt und senkt. Meine Hände streichen über seinen angespannten Bauch weiter zu seinem Hosenbund und dann, dieses Mal ein wenig fester, über seinen Reißverschluss. Deutlich zeichnet sich darunter seine Erregung ab.

Ich öffne den oberen Knopf seiner Jeans und dazu die beiden nächsten. Ergeben hebt Martin das Becken und hilft mir, die Hose über seinen Hintern zu ziehen. Er schiebt sie weiter bis in seine Kniekehlen, während ich mit den Fingern in seine Pants fahre und seinen harten Schwanz umschließe. Er stöhnt unterdrückt, während ich beginne, meine Hand in eher gemächlichem Tempo an seinem Schaft auf und ab gleiten zu lassen.

Ich ziehe seine Pants so weit wie möglich nach unten und für einen Moment mache ich noch weiter mit der Hand. Sehe zu, wie sie an seinem Schwanz auf und ab gleitet und genieße den Anblick, komme dann ein wenig näher und stippe mit der Zungenspitze an seine Eichel. Lecke über die Stelle, an der sie in den Schaft übergeht, lasse meine Zunge dann kreisen und verteile dabei die Feuchtigkeit. Martin ächzt, hebt mir sein Becken entgegen, gräbt die Finger in mein Haar und keucht erregt.

Ich schließe die Augen, genieße seinen Geschmack, lecke erneut über seine Spitze und nehme sie schließlich in den Mund. Streiche mit der Hand über die Innenseite seines Schenkels und kann fühlen, wie die Haut sich dort zusammenzieht. Lasse ihn tiefer in meinen Mund gleiten und schmecke ihn an meinem Gaumen.

»Gott... Hannes...«, presst Martin hervor, während er sich mir ein wenig heftiger entgegenbäumt. Ich schlucke. Entlasse ihn kurz aus meinem Mund, lecke über seinen Schaft, benetze meinen Finger und kreise noch einmal um seine Eichel, bevor ich ihn wieder aufnehme. Seine freie Hand umschließt seine Hoden, meine gleitet unter seinen Hintern und vorsichtig streiche ich zu seinem Eingang, der sich unter meinem Finger verengt.

Er ächzt angetan, ich erhöhe das Tempo, umkreise ihn ein paarmal, streiche dann ein letztes Mal darüber, überwinde den Widerstand, der sich mir bietet, und schiebe meine Fingerkuppe in ihn, während ich, angetrieben von seinem Stöhnen, seinen Schwanz noch ein wenig tiefer in meinen Mund nehme.

»Hannes...« Beinahe grob spüre ich Martins Hand, die mich zwingt, meine Lippen zu lösen. Seine Finger legen sich auf meine und mit ein paar fahrigen Bewegungen bringt er es zu Ende. Kurz stippe ich mit meiner Zunge noch einmal gegen seine Eichel, bevor er mit einem erlösenden Laut schließlich kommt.

»Kleenex?«, frage ich, als es vorbei ist. Jedenfalls für Martin. Immer noch hat er die Augen geschlossen und sein Atem geht schwer.

»Drüben«, sagt er und deutet lasch mit der Hand in Richtung Küche. Schätze, er meint dann wohl Küchenrolle.

»Nicht bewegen«, sage ich, rapple mich auf und öffne den oberen Knopf meiner Jeans, die sich noch immer unangenehm über meinen Schwanz spannt. Aber ich schätze, da kümmern wir uns später im Schlafzimmer drum.

»Okay...« Träge öffnet Martin die Augen und schenkt mir ein Lächeln. Eines, das deutlich macht, dass er unser kleines Vorspiel ziemlich genossen hat. Ich setze mich in Bewegung und gehe hinüber in die Küche, wo ich ein paar Blätter Küchenrolle abreiße, ehe ich zurückgehe und sie ihm reiche.

»Wow«, sagt er immer noch ein wenig außer Atem, während er beginnt, sich sauber zu machen. Kurz sehe ich auf ihn hinab, bevor ich mich abwende, hinüber zum Tisch gehe und nach den Weingläsern greife, um sie in die Küche zu bringen.

»Lass...«, ruft er mir leise nach und klingt dabei ziemlich erledigt.

»Kein Problem«, sage ich zufrieden und setze mich in Bewegung. »Immerhin hast du gekocht.«

Zitterpartie

Chris

»Nein... Ja. Okay, schick mir das, dann schau ich's mir an... Nein, ist schon in Ordnung... Kein Problem, wirklich. Ich fahr eben den Laptop hoch und seh's mir an. In einer halben Stunde hast du's zurück... Nein, kein Thema... Doch... doch, ziemlich gut eigentlich. Alles bestens. Gut, dann bis die Tage... Wir sehen uns...«

Ich unterbreche die Verbindung, bevor Hauke am anderen Ende der Leitung es tut, und lege das Telefon neben mir auf dem Schreibtisch ab. Ich muss Torsten sagen, dass er die Ladestation so platzieren soll, dass ich sie erreichen kann. Früher wäre ich einfach von meinem Stuhl aufgestanden und hätte den Arm ausgestreckt... Früher...

Wir sehen uns. Verfickt beschissene Floskel. Ich hab keinen aus der Agentur seit dem Unfall gesehen. Keiner der Jungs hat mich im Krankenhaus besucht. Und das lag nicht nur daran, dass ich, nachdem ich runter von der Intensiv war und es wieder konnte, gesagt hab, ich wolle niemanden sehen. Ich verstehe, warum sie nicht gekommen sind. Weil man nicht weiß, wie man damit umgehen, was man sagen soll, wenn man betreten an einem Krankenhausbett steht und jeder weiß, dass ein Das wird schon wieder gelogen ist. Und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich gekommen wäre, wenn es statt mir einen der anderen erwischt hätte. Weil ich weiß, das wäre ich nicht.

Sie sind Freunde. Jedenfalls sind sie es mal gewesen. Als wir die Firma vor sechs Jahren gegründet haben, hab ich noch studiert. Wir waren zu viert. Severin, Hauke, Alex und ich. Jung, dynamisch, ohne Privatleben. Haben mit innovativen Ideen ein paar für Rookies wirklich gute Deals an Land gezogen und uns damit in der Branche schnell einen Namen gemacht. Der Laden lief gut. So gut, dass die Headhunter nicht lange auf sich haben warten lassen. Und am Ende bin ich dem schnöden Mammon gefolgt und hab für ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte, einen festen Posten bei Priesshoff übernommen. Jeder will hin... ich bin schon da, so lief das früher.

Seither bin ich in der Agentur nur noch Teilhaber. Und war, weil angestellt, an diesem Morgen auf dem Weg ins Büro versichert. Die Jungs in der Agentur sind es nicht. Jedenfalls waren sie's nicht, inzwischen sind sie's vermutlich. Aber mein Altruismus geht nicht so weit, dass ich froh bin, dass es ausgerechnet mir passiert ist. Natürlich würde ich keinem meiner Freunde wünschen, er wäre an meiner Stelle gewesen. Das ist jedenfalls die offizielle Version. Über die inoffizielle hab ich mir noch keine wirklichen Gedanken gemacht. Denn die Frage, ob ich tauschen würde, wenn ich könnte, stellt sich mir nicht.

Trotzdem frage ich mich in der Zeit, die ich seitdem absitze, oft, wieso es gerade mir passiert ist. Was gewesen wäre, wenn ich mir an diesem Morgen noch Zigaretten geholt oder, wie eigentlich meistens, dekadent das Auto genommen hätte. Wenn ich nur eine dieser nervigen SMS-Nachrichten von diesem Kerl aus dem Club, den ich zwei Wochen zuvor flachgelegt und dessen Namen ich längst vergessen hatte, mit einem Verpiss dich beantwortet hätte. Wenn ich, aus welchem Grund auch immer, einfach diese zehn oder zwanzig Sekunden später gewesen wäre. Oder wenigstens nicht so viel Glück gehabt hätte, diesen Scheiß zu überleben, und man mich, wie meine Lederjacke, vom Pflaster gekratzt hätte. Glück ist in diesem Falle ein sehr relativer Begriff. Ich verstehe darunter ganz offensichtlich etwas ziemlich anderes als irgendwelche Ärzte oder meine Mutter.

Wo ist bitte mein Laptop? Auf dem Schreibtisch schon mal nicht. Ich versuche mich zu erinnern, wann ich ihn das letzte Mal benutzt habe, aber ich bin nicht sicher. Vielleicht ist er in der Küche.

Ich lehne mich ein wenig nach hinten und umschließe die Griffräder. Schiebe sie möglichst gleichmäßig rückwärts und setze mich so in Bewegung. Rolle ein Stück zurück und schaffe es dann, beinahe ohne an den Hocker zu stoßen, tatsächlich zu drehen. Dass die Türöffnung nicht parallel zu meinem Rollstuhl ist, ist nicht grade hilfreich. Vielleicht sollte ich doch auf all die Leute, die es ja nur gut mit mir meinen und mich damit rund um die Uhr nerven, hören und wenigstens zur Ergotherapie gehen.

Nach ein paar Manövern habe ich es schließlich geschafft, den Rollstuhl durch die Tür zu lenken. Immerhin hab ich mir dieses Mal nicht die Finger am Türrahmen eingeklemmt. Ich fahre durch den Flur in die Küche und sehe mich suchend um. Aber der Laptop liegt weder auf der Arbeitsplatte noch auf dem Tisch. Fuck!