Liebe von Meer zu Meer - Heike Denzau - E-Book

Liebe von Meer zu Meer E-Book

Heike Denzau

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Beschreibung

Ein herzerwärmender Roman über die vielfältigen Facetten der Liebe. Paula Ahmling bezieht mit ihren drei Kindern für ein Jahr ein Traumhaus auf Föhr. Damit möchte sie ein Versprechen einlösen, das sie sich selbst gegeben hat – die alte Kate am Deich zu finden, in der ihr verstorbener Mann als Kind so glücklich war. Eine turbulente Reise entlang der Nordseeküste beginnt, und während Paula sich ihren schmerzlichen Erinnerungen stellt, wächst in ihr eine Hoffnung, die sie nicht für möglich gehalten hätte: dass ihr Herz und ihre Seele heilen ...

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Heike Denzau, Jahrgang 1963, ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in dem kleinen Störort Wewelsfleth in Schleswig-Holstein. Bereits mehrfach preisgekrönt, ist sie Verfasserin zweier erfolgreicher Krimireihen und veröffentlicht außerdem bei Droemer Knaur humorvolle Liebesromane.

www.heike-denzau.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotive: shutterstock.com/ThomBal, shutterstock.com/s_oleg

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Julia Lorenzer

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-153-9

Roman

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für meine ganze große Familie.

Eins

Dort angespült werden, wohin die Wellen einen treiben …

Ein Himmel wie auf dem Gemälde von Vermehren, das im Pastorat hing. Tuffige, niedrig hängende Wolken vor einem hellen Blau. Sie hatte den Kunstdruck erst im letzten Jahr aufgehängt, wegen des strickenden Schafhirten, der in seiner geflickten Hose dastand und den Maler zu fragen schien: Was ist an mir denn bloß interessant?

Paula konnte sich nicht sattsehen an den Farben und Wolkenformationen des Föhrer Himmels und fühlte sich zum ersten Mal seit der Abfahrt aus Hamburg wirklich frei, während sie auf dem Fahrrad kräftig in die Pedale trat und dabei tief die salzige Nordseeluft einatmete.

Ein ganzes Inseljahr lag vor ihr. Noch fühlte es sich unwirklich an. Aus der Routine auszubrechen, Neues zu wagen, Vergangenes mitzunehmen in ein Abenteuer, um ein Versprechen einzulösen, das sie sich selbst gegeben hatte. Es Tom zu versprechen, dafür war keine Zeit gewesen. »Du bist bei mir«, sprach sie in den Vermehren-Himmel. »Ich finde das Haus für uns beide.«

Doch erst einmal mussten sie sich hier auf Föhr einrichten. Hoffentlich waren die vorab aufgegebenen Kisten und Kartons alle gut und vollzählig angekommen. Gleich würde sie es wissen, denn ein Blick auf das Smartphone-Navi zeigte, dass sie die verzweigten Greveling-Straßen bald erreichen würde. Ein kräftiges Motorengeräusch erklang. Im nächsten Moment stieg rechts neben ihr eine Cessna in den sonnigen Julihimmel. Es würde Mats gefallen, dass ihr Haus so nah an dem kleinen Inselflugplatz lag.

Auf dem Navi wurde der Golfplatz hinter dem Flugplatz angezeigt, doch Paula musste links abbiegen. Überglücklich betrachtete sie die reetgedeckten weißen Friesenhäuser in ihrer exponierten Lage am Meer. Jedes einzelne stand auf einer Warft und war von einem großen gepflegten Garten umgeben, abgegrenzt durch Steinwälle, in denen die ersten sattroten Früchte der Heckenrosen mit den pinkfarbenen Blüten um die Farbenpracht buhlten. Hier sollten sie wohnen? Ein ganzes Jahr lang? Das war ein Traum. Sie radelte den Weg entlang, bis die richtige Hausnummer auftauchte. Dr. Konradi hatte mit der Größenangabe nicht übertrieben. Es war ein Doppelhaus, aber jede Hälfte war riesig. Ihre war die linke. In der offenen Garage der Nachbarhälfte stand ein Campingmobil, davor ein weißer SUV.

Paula schob ihr Rad die gepflasterte Auffahrt hinauf und freute sich über den Schrei einer Möwe. Diese wunderschönen Vögel mit ihren markanten Rufen waren für sie der Inbegriff von Küste und Meer. Sie stellte das Rad ab und suchte in ihrem kleinen dunkelbraunen Lederrucksack, dem sie allen Handtaschen den Vorzug gab, nach dem Haustürschlüssel, als sich die Tür der rechten Haushälfte öffnete.

»Oh, hallo«, sagte der blonde Mann überrascht, der heraustrat. Mit einem Lächeln kam er auf sie zu. »Du bist sicherlich die von Manfred für heute angekündigte Jahresgästin.« Er hatte das letzte Wort mit den Fingern in Gänsefüßchen gesetzt.

»Guten Tag«, erwiderte Paula seine Begrüßung freundlich. Dass er sie mit einem Du begrüßte, ließ sie sich gefallen, obwohl sie typ- und berufsbedingt nicht dazu neigte, fremde Menschen gleich zu duzen. Vielleicht lag es aber auch an seinen Augen, die ihr völlig unerwartet einen winzigen Stich versetzten. Dieses Braun … Doch Paula hatte sich sofort wieder unter Kontrolle. »Ja, ich bin Paula Ahmling.« Sie reichte ihm die Hand. »Und du bist dann wohl der von Manfred Konradi viel gepriesene Hausnachbar mit den zwei rechten Händen.«

Er lachte. »Manfred ist bestimmt ein ausgezeichneter Kardiologe, aber was Haus und Hof angeht, greift er tatsächlich gern mal auf meine Hilfe zurück.« Er drückte ihre Hand fest, aber nicht zu fest. »Ich bin Henrik Kock. Wie mit Manfred besprochen, habe ich deine Lieferungen angenommen. Die Kisten stehen im Hausflur und in der Garage.«

»Das ist so nett. Herzlichen Dank dafür.« Paula spürte ihren Solarplexus erneut, während sie ihn ansah. War sie jetzt völlig irre? Ihr waren in den vergangenen Jahren ja nun weiß Gott auch andere Männer mit braunen Augen begegnet, ohne dass sie sich so gefühlt hätte wie jetzt gerade. Ein wenig atemlos.

»Ah, da kommt mein derzeitiger Mitbewohner.« Der Lufträuber deutete zur Straße, wo ein Mann auf einer cremefarbenen Vespa in die Auffahrt abbog. Er trug Shirt, Shorts und keinen Helm. Vermutlich, weil der nicht über den Kopf passte, der nur aus Haaren bestand.

Der Yeti musterte sie, als er den Motor abstellte und abstieg.

Henrik Kock übernahm die Vorstellung. »Paula, das ist mein guter Freund Richard Böhnke, ein begnadeter Journalist und Autor.« Er ignorierte das Grunzen seines Freundes und fuhr fort: »Richard, das ist unsere neue Nachbarin Paula Ahmling. Ich weiß gar nicht, ob ich dir erzählt habe, dass Manfred Konradi seine Haushälfte für ein Jahr untervermietet hat.«

Der Journalist murmelte etwas in den wuchernden Vollbart, das nach »Musst du vergessen haben« klang.

»Wie auch immer«, sagte Henrik Kock fröhlich. »Auf gute Nachbarschaft.«

Richard Böhnkes nächste Worte kamen deutlich über seine Lippen. »Als gutes Zeichen werte ich, dass Sie allein hier sind.«

Paula starrte ihn an. Braune Locken, an den Schläfen von erstem Grau durchzogen, hingen ihm lang und wirr über Stirn, Ohren und Nacken. Ein paar Insekten hatten sich im Fahrtwind darin verfangen.

»Als gutes Zeichen?«, wiederholte sie seine Worte. »Wie darf ich das verstehen?«

»Nun, ich halte mich bei meinem Freund auf, um Ruhe zu finden für ein Buchprojekt. Und wenn ich Ruhe sage, dann meine ich das genau so.«

»Richard hat bereits diverse Sachbücher veröffentlicht«, klärte Henrik Kock sie auf. »Jetzt betritt er Neuland, indem er sich an einem Roman versucht.« Er klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Es wird schon werden, Rich.«

Paula glaubte, Mitleid herausgehört zu haben, und anscheinend nicht nur sie, denn Richard antwortete gallig: »Spar dir das.«

Im selben Moment näherte sich ein Großraumtaxi. Mit einem Hauch Schadenfreude, für die sie sich ein wenig schämte, sah Paula zu, wie sich Richard Böhnkes Blick weiter verdüsterte, als das Taxi die Auffahrt hinauffuhr.

»Wer ist das?«, fragte er, als der Mercedes direkt hinter Paula hielt.

»Das sind meine Kinder.«

»Kinder?« Richard Böhnke hätte nicht entsetzter klingen können, wenn sich in einem Hochsicherheitslabor die Schleusentore gleichzeitig aufgetan hätten.

Der Taxifahrer stieg mit einem »Moin« für die Männer aus und öffnete die hintere Tür, während auf der Beifahrerseite ein junges Mädchen in Top und Shorts ihre langen, dünnen Beine aus dem Wagen schwang und dabei vorsichtig ein mit Stickern beklebtes Gitarren-Gigbag vor sich platzierte. Ihr Blick glitt abschätzend über das Haus. »Hatte ich mir irgendwie größer vorgestellt«, war ihr Kommentar, bevor sie die beiden Männer ansah und mit einem »Hi!« begrüßte.

Ob Maries Gruß erwidert wurde, bekam Paula nicht mit, weil der Hund bellte, den Mats an der Leine aus dem Taxi zu zerren versuchte. Boomer liebte es, Auto zu fahren, und die kurze Strecke vom Wyker Fähranleger bis hierher reichte ihm offenbar nicht.

»Ein Hund!«, erklang es erstickt neben ihr. Jetzt gesellte sich zur Schadenfreude doch ein wenig Mitleid mit dem Yeti.

»Aus, Boomer!«, rief Paula, als Mats es endlich geschafft hatte, den weiter kläffenden Mischling aus dem Wagen zu ziehen.

»Wer nimmt die Katze?«, fragte der Taxifahrer, während er zwei Koffer aus dem Kofferraum hievte und vor die Haustür stellte. »Für die Lütte ist der Korb zu schwer.«

Die Männer standen beide stumm da, als ein kleines Mädchen aus dem Taxi sprang und mit wippendem Pferdeschwanz angehüpft kam. »Das ist aber ein schönes Haus, Mama.«

»Ja, das ist es.« Paula strich über das Blondhaar ihrer Jüngsten, bevor sie zu dem Taxifahrer, der weitere Taschen neben den Koffern absetzte, sagte: »Ich nehme Mr. Stringer.« Sie stellte den Katzentransportkorb neben dem Wagen ab und suchte ihr Portemonnaie aus dem Rucksack heraus.

»Mats, komm bitte mit Boomer hierher«, bat sie ihren Sohn, nachdem sie den Taxifahrer entlohnt hatte. Dass der Hund gerade sein Bein an einem Rosenstämmchen des Nachbargrundstücks hob, ließ ihre Wangen heiß werden. »Sorry, das kommt nicht wieder vor«, wandte sie sich an Henrik Kock.

Sie trat zu ihren Kindern, die orgelpfeifenmäßig nebeneinanderstanden. »Darf ich vorstellen, das sind Marie, Mats und Lisbeth, das Liebste, was ich habe. Boomer ist unser bester Freund«, sie tätschelte den Hundekopf, »und Mr. Stringer ist unser Kater.« Sie hob den Korb, aus dem ein Fauchen erklang. »Er ist ein wenig gestresst.«

»Er ist ein wenig gestresst?« Richard Böhnke sah aus, als würde er sich am liebsten alle Haare einzeln vom Kopf reißen. Er starrte Paula an. »Ist das Ihr Ernst?« Dann wechselte sein Blick zu seinem Freund. »Ist das dein Ernst? Du hast mir versichert, ich kann hier in Ruhe schreiben. Wie bitte soll das jetzt noch möglich sein? Mit diesen Kindern und der Menagerie?«

»Was ist Menadingsbums?«, fragte Mats und sah seine Mutter an.

»›Menagerie‹ hat man früher zu einem Zoo gesagt«, antwortete sie ihm, während das Taxi die Auffahrt hinunterfuhr. Im nächsten Moment glitt ihr Blick hastig über das abgestellte Gepäck. »Wo ist Ratatouille?«

Schon lief Mats schreiend und winkend dem Taxi hinterher. »Halt! Stopp!«

»Gott, lass es ein eingetupperter Eintopf sein und nicht noch ein Viech«, würgte Richard hervor.

»Es ist kein Eintopf«, nahm Paula ihm die Hoffnung.

Das Taxi hatte gehalten, und Mats schwenkte einen kleinen Käfig, in dem seine Ratte hockte. »Er war noch im Fußraum.«

Richard Böhnke maß alle mit einem Blick, der direkt aus der Hölle kam.

Das fiel anscheinend auch Henrik Kock auf. »Jetzt reiß dich mal am Riemen, Rich. Du hast in den beiden Monaten, seit du hier bist, keine einzige Zeile geschrieben. Also tu bitte nicht so, als würde diese …«, er suchte nach den richtigen Worten, »lustige, nette Familie etwas ausbremsen, das sowieso noch nicht in Fahrt ist.«

»Das nennt man Schreibblockade!«, schrie Richard seinen Freund an. Mit wenigen Schritten war er an der Haustür. »Schreibblockade! Und ich war kurz davor, sie zu brechen!«, tobte er weiter und knallte die Tür hinter sich zu.

»Eine Schreiblockade wäre gerade wünschenswerter«, murmelte Henrik.

»Ist der irre?«, brachte Mats es auf den Punkt.

»Das ist eben so ein Inselbewohner«, gab Marie ihre Einschätzung ab. Ihr Blick lag weiter auf der zugeknallten Haustür. »Ich wusste ja, dass wir hier verloren sind.« Paula bekam einen genervten Blick zugeworfen.

Lisbeth war die Einzige, die den Ausbruch unkommentiert ließ. Mit glühendem Gesicht und strahlenden Augen fragte sie Paula: »Gehen wir jetzt zum Meer?«

***

Eine gute Stunde nach ihrer Ankunft machten sich Paula und die Kinder auf den Weg zum Strandabschnitt dreißig, der als Hundestrand ausgewiesen war und glücklicherweise direkt an den Greveling-Strand grenzte. Das Geräusch zirpender Grillen begleitete sie auf dem sandigen Weg, und Paula genoss es aus vollem Herzen, während der Strandhafer sich im leichten Wind wiegte. In dieser Idylle war es einfach, die Gedanken an das Chaos im Haus beiseitezuschieben. Sollte Kardiologe Dr. Konradi jetzt sein Heim betreten, würde er sich selbst am Herzen behandeln müssen, denn die Kinder hatten den Inhalt diverser Kartons und Taschen einfach auf dem Flurboden verteilt, um ihre Badeutensilien zu finden. Paulas Einwand, man könne heute ja vielleicht ausnahmsweise ohne das Zeug an den Strand gehen, war von Mats und Lisbeth empört abgeschmettert worden.

Paulas Brust wurde weit, als das Meer in Sicht kam. Die Nordsee zeigte sich zur Begrüßung von ihrer besten Seite und war da. Paula liebte auch das Watt bei Ebbe, aber als Einstand war der Anblick einfach perfekt. Die Bojen standen gerade, also hatte die Flut ihren Höchststand erreicht. Das nahe Wasser spiegelte glitzernd das Blau des Sommerhimmels wider, während die Wellen am Ufer sanft ausliefen. Der helle Strandstreifen hinter der geteerten Befestigung bildete einen wunderbaren Kontrast, und Paula konnte es nicht abwarten, den feinkörnigen Sand unter ihren nackten Füßen zu spüren.

Sogar Marie, für die Begeisterung momentan etwas Uncooles hatte, rief freudig aus: »Das feier ich hier, Mama, echt. Strandurlaub, aber noch krasser, weil wir so lange hier sein werden.«

Paulas Blick wanderte nach links, wo es in der Ferne keine Steine und keinen hässlichen Teer zu geben schien, dafür Strandkörbe und viele Menschen.

»Dahinten ist der Strand noch viel schöner«, stellte auch Marie fest.

»Für heute muss es hier reichen«, meinte Paula und deutete nach rechts, wo ein kleines Stranddreieck Einsamkeit versprach. »Schaut mal, das sieht aus wie eine Insel«, sagte sie den Kindern, und die stürmten drauflos. Sie gingen das Stück über den Asphaltweg, vorbei an einer Holzbank, auf der ein älteres Paar lächelnd grüßte.

Mats und Lisbeth hatten die geteerte Fläche schon hinter sich gelassen und rannten mit ihren Eimern und Schaufeln über den Sand Richtung Meer.

»Hinterher!«, meinte Paula zu Marie.

Am Strand schleuderte sie die Flip-Flops von den Füßen und sammelte sie auf, Maries gleich dazu, denn ihre Große wurde von dem hechelnden Boomer zum Wasser gezogen. Paula folgte ihnen zügig. Sie hatte Lisbeth zwar eingetrichtert, nicht ohne sie ins Wasser zu gehen, aber sicher war sicher. Doch Mats und Lisbeth hockten brav am Spülsaum und ließen das Wasser über ihre Beine gleiten.

»Ist das die ›Norderaue‹?«, fragte Mats und deutete auf eine weiße Fähre, die Kurs auf das nahe Amrum hielt.

»Nein, das ist eine andere«, antwortete Paula ihm. »Unsere Fähre ist direkt nach Dagebüll zurückgefahren und kann eigentlich noch nicht wieder hier sein.«

»Eine Muschel, Mama«, rief Lisbeth ihr zu und zeigte ihr eine kleine Herzmuschel.

»Die ist wirklich schön«, sagte Paula. »Du kannst ganz viele davon sammeln, während wir hier sind. Und später überlegen wir uns, was wir damit machen. Vielleicht kleben wir sie auf ein Bild, zusammen mit Sand, oder wir bohren ein Loch hinein und ziehen sie auf ein Band. Dann hast du eine Muschelkette.«

Lisbeth nickte dazu. »Oder ich werf sie zurück.«

»Das ist auch eine Möglichkeit«, gab Paula zu, als Lisbeth ausholte und die Muschel in einem Meter Entfernung in den Wellen versank.

Nachdem sie alle bis zu den Knien im Wasser gewesen waren, bestand Paula darauf, dass sie sich erst einmal einrichteten. Sie bauten die Strandmuschel vor einer kleinen Düne mit Strandhafer auf, platzierten Decke und Strandmatten und pusteten Lisbeths Schwimmflügel, Mats’ Wasserball und das Krokodil auf, das er bei einem Kirchenkinderfest in Hamburg gewonnen hatte. Mit hochrotem Kopf ließ Paula sich schließlich auf die zweite Strandmatte sinken – auf der anderen lag Marie mit geschlossenen Augen. Doch Lisbeth rannte schon ihrem Bruder und Boomer Richtung Wasser hinterher. »Komm, Mama«, rief sie im Laufen. »Baden!«

Paula erhob sich mit einem leisen Stöhnen und einem neidvollen Blick auf Marie. Einfach mal fünf Minuten daliegen … Doch als die leisen Wellen der Nordsee ihre Waden umspielten, war das Sehnen nach einem Moment der Ruhe vergessen. Es war ein herrlicher Sommertag.

Mats trug mit seinem Krokodil einen imaginären, scheinbar sehr heftigen Kampf im seichten Wasser aus, bei dem er wohl gerade seinen linken Arm an das Untier verloren hatte, denn er presste ihn auf seinen Rücken und rief: »Meinen rechten kriegst du nicht, Kroko-Kong! Du wirst jetzt ertrinken.« Er warf sich auf das Spielzeug und drückte den hellgrünen Gummikopf unter Wasser.

Lisbeth im Blick, die mit den Händen Wasser auf Boomers Rücken schaufelte, lauschte Paula den Geräuschen rings um sich und versuchte dabei zu filtern. Das feine Rauschen der Wellen, wenn sie sanft am Ufer ausliefen, war das herausragendste. Möwen schrien, und Kinder lachten in der Ferne am Strand. Dann vermischten sich die Laute der Möwen mit Lisbeths Kreischen, als Mats auf sie zurannte und rief: »Wah! Kroko-Kong zieht dich jetzt ins Meer!« Er liebte es, seine kleine Schwester zu ärgern, und Lisbeth liebte es auch, weil er es nie übertrieb.

Paula betrachtete ihren Sohn voller Zuneigung. Mats war mit seinen zehn Jahren manchmal schon fast zu vernünftig. Wäre das wohl auch so, wenn Tom noch leben würde? Eine Frage, die sie sich in den letzten fünf Jahren schon hundertfach in den verschiedensten Situationen gestellt hatte. Ein verstorbenes Elternteil … das prägte Kinder für das gesamte Leben.

Paula wusste, dass sie alles Menschenmögliche getan hatte, um Marie und Mats aufzufangen. Sie hatten geredet, wieder und wieder, und gemeinsam geweint und gelacht. Tom war noch da. Sie hielten ihn am Leben. Doch auch die schönsten Erinnerungen verloren an Farbe, ohne dass es aufzuhalten war. Und das war schrecklich. Der lebendige Tom wurde zu einem Polaroid, das langsam verblasste.

Im nächsten Moment schrie sie auf. Mats hatte ihr das nasskalte Krokodil auf den erhitzten Rücken geklatscht. »Na warte«, lachte sie und schnappte sich das Untier samt Halter. Letztendlich wälzten sie sich zu viert mit Boomer im flachen Wasser, denn auch Marie hatte sich zu ihnen gesellt.

Nach zweieinhalb Stunden Badespaß und Sandburgbauen mahnte Paula zum Aufbruch. »Ich möchte vor dem Abendessen gern noch das Chaos im Haus beseitigen, das durch eure Suchaktion entstanden ist.«

»Was gibt’s denn zum Abendbrot?«, fragte Mats, der unter Dauerhungeritis litt. »Bestellen wir uns Pizza?«

»Dr. Konradi hat uns netterweise den Kühlschrank für die ersten Tage befüllen lassen«, sagte Paula und schüttelte ihre Strandmatte ab. »Wurst, Käse, Butter, Brot, alles da. Wir machen uns Schnittchen.«

Mats verzog missmutig den Mund. »Blödes Brot.«

»Auch Gurke und Zwiebeln?«, hakte Lisbeth nach. Ihr Lieblingsgemüse durfte auf keiner Stulle fehlen.

»Finden wir es heraus.«

Der Rückweg erschien länger als der Hinweg, was wohl daran lag, dass sie alle von der Sonne und dem Toben ermattet waren. Mats trug Kroko-Kong auf dem Kopf, weil Paula keine Lust hatte, ihn ständig aufzupusten.

Als sie sich im Greveling ihrem Domizil näherten, bemerkten sie Bewegung auf dem Nachbargrundstück zur Linken. Zwei Männer bauten einen Pavillon auf, Tische und Stapelstühle wurden aus der Garage geholt und auf dem Rasen vor der Terrasse verteilt.

»Die grillen bestimmt.« Mats klang eindeutig neidisch.

»Falsch«, erklang eine fröhliche Stimme neben ihnen. Henrik Kock kam in kurzer Cargohose und Shirt und mit einem riesigen grünen Gartenabfallsack, den er hinter sich herschleifte, auf sie zu. »Frau Vormbeck gibt heute ihre monatliche Soiree.« Er lachte verhalten, während er sich ein paar feuchte Strähnen aus der verschwitzten Stirn strich. »Zumindest nennt sie selbst es so.«

»Aha«, sagte Paula, weil sie nicht wusste, was sie sonst Schlaues dazu sagen sollte. Auch sie fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar, das zwar wieder trocken war, doch sie gehörte nicht zu den Frauen, die selbst nach mehreren Tauchgängen im Salzwasser so aussahen, als wären sie gerade dem Olymp entstiegen. Ihr dicker blonder Zopf hing wie ein borstiger Tampen herunter.

Henrik stellte den Abfallsack ab. »Ihr seid auch eingeladen. Frau Vormbeck meinte, ich soll euch unbedingt mitbringen.«

Mats stieß ein begeistertes »Yeah!« aus. »Gibt’s da was zu essen?«

Henrik nickte.

»Was denn?«

»Kanapees.«

Mats sah ihn an. »Cool … Was ist das?«

»Schnittchen«, antwortete Paula und lachte, als sie die Miene ihres Sohnes sah. »Aber sie sind bestimmt hübscher garniert, als unsere Stullen es wären.«

»Es wären«, horchte Henrik auf und klang dabei erfreut. »Du kommst also mit?«, hakte er nach.

»Ja, wir kommen mit. Aber nur, weil Manfred Konradi mir empfohlen hat«, sie senkte die Stimme ein wenig, »eine Einladung von ›General‹ Vormbeck lieber nicht auszuschlagen, wenn ich mir das Leben hier nicht selbst schwer machen will.«

Henrik lachte laut auf. »Manfred hat dir einen guten Rat erteilt. Abmarsch ist um fünf vor sechs.«

Der Begriff »Abmarsch« hatte es perfekt getroffen, befand Paula, als sie um Punkt achtzehn Uhr das Gartengrundstück gegenüber betraten, auf dem sich bereits gut zwei Dutzend sommerlich gekleidete Menschen auf der Terrasse und dem Rasen tummelten. Als eine zierliche grauhaarige Dame mit ausladendem Strohhut und schickem taubenblauem Cocktailkleid im Stechschritt auf sie Kurs hielt, war klar, dass es sich um die Gastgeberin handelte.

»Gut gemacht, Henrik«, begrüßte die Endsiebzigerin Henrik zackig, während sie den Blick über Paula und die Kinder gleiten ließ. Sie reichte Paula die Hand. »Ich heiße Sie herzlich willkommen, Frau Pastorin. Ich bin Ruth Vormbeck. Manfred Konradi hat Sie in einem Telefonat avisiert, das wir vor einer Woche führten. Da mir Ihre Worte auf der Trauerfeier unserer guten Gudrun sehr gefallen haben, ist es mir ein Bedürfnis, Sie hier in die Gesellschaft einzuführen.«

»Herzlichen Dank«, sagte Paula. Sie wollte noch etwas anfügen, doch Frau Vormbeck ergriff bereits wieder das Wort.

»Ich umgebe mich gern mit intelligenten und gesitteten Menschen«, konstatierte sie. »Ihre Kinder sind mit Sicherheit wohlerzogen. Darum mache ich heute um Ihretwillen eine Ausnahme von meinem Grundsatz: Keine Kinder bei meinen Soireen.« Ihr Blick wanderte trotz der gewagten Wohlerzogen-Annahme kritisch über Marie, Mats und Lisbeth. »Guten Abend, ihr drei.«

Als die gezupften Augenbrauen der Gastgeberin sich dabei leicht zusammenzogen, fragte Paula sich, ob es an Maries bauchfreiem Shirt oder Mats’ verwuscheltem dunklem Schopf und dem mitgebrachten Fußball lag. Lisbeth konnte es eigentlich nicht sein, denn sie sah in ihrem fein geblümten Kleidchen wie immer zuckersüß aus.

»Hallo«, erwiderte Marie freundlich. Paula wusste, dass ihre Große lieber mit ihren Freundinnen gechattet hätte. Daher hatte sie nicht darauf bestanden, dass Marie sie begleitete, doch allein im neuen Zuhause zu bleiben, war ihr anscheinend nicht geheuer gewesen.

Lisbeth quetschte sich ein wenig verschüchtert an Paulas Seite, während ihr Blick über die vielen fremden Menschen glitt. Auch Mats sah sich um. »Wo ist denn der General? Hat der Orden?«

Gott! Flammende Röte schoss Paula in die Wangen. Er hatte es gehört!

»Welcher General, mein Junge?«, hakte Frau Vormbeck zu Paulas Bestürzung nach.

»Der uns eingeladen hat.«

»Mats …« Paula klang hilflos.

Die Rettung kam von Henrik Kock. »Da hast du dich verhört, Mats. Als deine Mutter und ich uns über die nette Einladung von Frau Vormbeck unterhielten, fiel das Wort ›generell‹, soweit ich mich erinnere. Generell keine Kinder …«

Er sah Paula an, die dankbar nickte. In akuten Notfällen durfte das achte Gebot auch mal großzügig ausgelegt werden.

Für Mats war die Sache damit glücklicherweise erledigt. »Ich geh bolzen«, sagte er mit Blick auf die weite Grasfläche, die sich hinter den Gästen offenbarte.

Ruth Vormbeck sah ihm nach, als er davonrannte. »›Bolzen‹? Was ist das für ein Wort? Er wird doch nicht meinen Rasen zuschanden machen?«

»Er kickt nur ein wenig den Ball hin und her, Frau Vormbeck«, trat Henrik erneut für Mats ein. »Ihrem perfekt dichten Rasen kann er mit seinen leichten Schuhen keinen Schaden beifügen.« Er wandte sich an Paula. »Frau Vormbecks Rasen konkurriert mit Wimbledon.«

»Henrik, ich merke, wenn Sie übertreiben«, hielt Ruth Vormbeck ihm vor und wedelte mit dem Zeigefinger. »Aber nun kommen Sie, meine Liebe, ich möchte Sie meinen Gästen vorstellen.« Sie nahm Paulas Arm und steuerte die Terrasse an.

Paula bemerkte erleichtert, dass sie keinen Soiree-Fauxpas begangen hatte, indem sie hutlos erschienen war. Bis auf drei weitere Seniorinnen trug keine der anwesenden Frauen eine Kopfbedeckung. Sie hatte erwartet, dass sie von Gruppe zu Gruppe geführt werden würde, doch Ruth Vormbeck klatschte in die Hände und wartete, bis alle ruhig waren.

»Liebe Gäste, ich möchte Ihnen und euch diese bemerkenswerte junge Frau vorstellen: Frau Pastorin Ahmling. Ich durfte bei dem Trauergottesdienst für unsere liebe Gudrun Konradi in Hamburg erleben, wie sie der Trauergemeinde, allen voran unserem lieben Manfred, mit klaren und wohltuenden Worten geholfen hat, Gudrun in höchst würdiger Weise zu verabschieden.«

Paula kam nicht dazu, sich für diese Worte zu bedanken, denn Frau Vormbeck machte keine Redepause.

»Frau Pastorin Ahmling ist verwitwet und wird mit ihren drei Kindern ein Jahr lang Manfred Konradis Haus bewohnen. Es ist ein Dankeschön, wie der gute Manfred mir berichtete, denn Frau Ahmling hat Gudrun auf ihrem langen und schmerzhaften Weg des Abschieds in wohl herausragender Weise bis zu ihrem Tod begleitet – so seine Worte. Also, heißen Sie sie bitte herzlich willkommen auf unserer schönen Insel.«

Paula bedauerte nicht, dass Frau Vormbeck es in wenigen Sätzen perfekt auf den Punkt gebracht hatte. Jetzt musste sie nicht jedem Anwesenden erklären, welcher Umstand sie in das Konradi-Haus verschlagen hatte. Dass Manfred Konradi einer der besten Freunde ihrer Eltern war und zurzeit mit ihnen durch Nordamerika und Kanada tourte, hatte die Nachbarin nicht erwähnt, obwohl Manfred es ihr mit Sicherheit erzählt hatte. Aber es gab auch keinen Grund, es hier auszuposaunen.

»Lieben Dank, Frau Vormbeck«, sagte sie darum mit einem herzlichen Lächeln. Dann wandte sie sich an alle. »Meine Kinder und ich sind glücklich, hier zu sein, und wir freuen uns auf ein besonderes Jahr, das vor uns liegt.«

Ruth Vormbeck packte Paulas Arm fester und zog sie mit sich. Nach einer halben Stunde sirrte Paula der Kopf vor lauter Gesichtern, Namen und Berufen. Darum war sie mehr als dankbar, als Henrik Kock sie aus einer Gruppe heraus ans Büfett entführte, das die Gastgeberin vor einer Viertelstunde freigegeben hatte. Die Kanapees, die auf Porzellanetageren und silbernen Servierplatten angerichtet waren, sahen hervorragend aus.

»Der einzige Grund, warum ich selten eine Soiree verpasse«, murmelte Henrik ihr zu und nahm sich eines der runden Krabbenschnittchen mit Remouladen-Dill-Garnierung und einen Ei-Lachs-Happen. Mehr Platz boten die Goldrandteller in Untertassengröße auch nicht.

Paula langte ebenfalls zu, nachdem feststand, dass die Kinder sich bereits selbst versorgt hatten. Marie saß allein am Ende des großen Grundstücks an einem gepflegten Teich mit Schilfgras und Seerosen, die langen, dünnen Beine überkreuzt, aß und chattete am Handy. Lisbeth hatte es sich mit einem Teller auf dem Schoß zwischen zwei Frauen auf der Hollywoodschaukel gemütlich gemacht und erteilte gerade die Anweisung »Doller!«, woraufhin eine der Frauen der Schaukel lachend mehr Anschwung gab. Mats kam mit einem leer gefutterten Teller über den Rasen gestürmt.

Paula entschied sich für Forelle und Matjes. Da auf einigen Matjeshäppchen keine Zwiebeln waren, sah sie zur Schaukel. Hoffentlich hatte Lisbeth sie nicht überall runtergepult.

»Finden Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit, Frau Pastorin?«, erklang Ruth Vormbecks Stimme neben ihr, kaum dass Paula das Forellenhäppchen probiert hatte.

»Ja, vielen Dank. Es ist lecker und so delikat angerichtet. Sagen Sie dem Caterer mein Kompliment.«

»Ich bereite die Kanapees selbst zu«, warf Frau Vormbeck sich in die Brust, während ihr Blick auf Mats fiel, der sich am zusehends magerer werdenden Büfett erneut bediente und die appetitlichen Häppchen auf dem kleinen Teller stapelte.

Hatte er den Adlerblick gespürt? Er wandte Frau Vormbeck das Gesicht zu und sagte mit vollem Mund: »Sonst muss ich ja so oft laufen. Die Teller sind zu klein.«

Paula freute sich, dass ein paar der Umstehenden wagten zu nicken.

»Er ist ja noch formbar«, meinte Frau Vormbeck und legte Paula tröstend die Hand auf den Arm. »Maßhalten werden Sie ihn schon noch lehren.«

Paula verzichtete auf eine Erwiderung, entzog ihr aber den Arm. »Entschuldigen Sie mich bitte. Ich möchte nach meinen Töchtern schauen.«

»Nur zu.« Frau Vormbeck sah Henrik an. »Wo bleibt denn eigentlich Richard? Ich möchte mit ihm über den Wohltätigkeitsbasar reden. Ah, da kommt er ja.« Mit den Worten »Mein Lieber, ich habe Sie schon vermisst!« eilte sie auf Richard Böhnke zu, der Shirt und Shorts gegen Jeans und Hemd getauscht hatte.

Verblüfft sah Paula der Gastgeberin hinterher.

Henrik lachte auf, dann sagte er leise: »Kaum zu glauben, dass der General so einen Narren an Richard gefressen hat, was? Aber er ist tatsächlich ganz dicke mit ihr.«

»Wahrscheinlich, weil sie auch Haare auf den Zähnen hat«, rutschte es Paula heraus. Leichte Hitze stieg in ihr auf. »Sag ihm bloß nicht, dass ich das gesagt habe.«

»Was kriege ich dafür?« Henriks Lächeln war so offen, dass Paula ihm die Frage nicht übel nehmen wollte, doch er hatte wohl bemerkt, dass sich ihr Lächeln verlor, denn er fügte schnell hinzu: »Entschuldige bitte. Ich wollte nicht aufdringlich sein, aber bei tollen Frauen geht es manchmal einfach mit mir durch. Pastorin hin oder her.«

Seine Offenheit war erfrischend, und das war ein wenig verwirrend. Es war lange her, dass sie sich über ein Kompliment gefreut hatte. »Alles ist gut«, versicherte sie ihm. »Aber für die Kinder und mich ist es jetzt an der Zeit, sich zu verabschieden. Es war ein langer Tag mit sehr vielen Eindrücken, und die ersten Taschen wollen noch ausgepackt werden.«

»Natürlich.« Er lächelte und hob sein Weißweinglas. »Auf eine wunderbare Nachbarschaft.«

Paula nahm ihr Wasserglas, das sie auf dem Tisch abgestellt hatte, und stieß damit an seines. »Auf gute Nachbarschaft.«

Im selben Moment erklang Ruth Vormbecks Stimme hinter ihr. »Frau Pastorin, haben Sie denn schon Richard Böhnke kennengelernt? Falls nicht, würde ich Sie gern miteinander bekannt machen.«

Richard Böhnke sagte verblüfft: »Pastorin?«

Paula wandte sich zu ihm um. »Ja. Haben Sie damit auch ein Problem?«

Während Ruth Vormbeck irritiert von einem zum anderen sah, trat Richard Böhnke ans Büfett. »Die Kirche interessiert mich genauso wenig wie ein Vogelschiss in Kirgisistan.« Er nahm einen Teller und stapelte vier Kanapees übereinander.

»Aber Richard!«, tadelte Frau Vormbeck ihn entsetzt. »Was führen Sie denn für eine Sprache? Dafür erwarte ich eine Entschuldigung von Ihnen. Frau Pastorin Ahmling ist mein Gast!«

Richard biss von einem Camembertschnittchen ab, kaute und sah Paula dabei an. Dann schluckte er den Bissen runter und sagte: »Sorry, war nicht gegen Sie persönlich.«

Paula nickte. Er war ein Ekel, aber sie spürte, dass seine Entschuldigung nicht der Aufforderung von Frau Vormbeck geschuldet war.

Ruth Vormbeck war nicht so leicht zu besänftigen. Sie klang immer noch erbost. »Wenn ich nicht wüsste, was für ein gutes Herz Sie haben, Richard …«

Richard hakte die alte Dame unter. »Lassen Sie uns zu Ihrem Bridge-Team gehen, Ruth, und besprechen, was für den Basar noch zu erledigen ist.« Er nickte Paula und seinem Freund zu, dann zog er Ruth Vormbeck zu der Gruppe silberhaariger Seniorinnen mit Hut.

»Er darf sie Ruth nennen?«, fragte Paula Henrik.

»Ich konnte es auch nicht fassen. Ich wohne hier seit zehn Jahren, aber mir hat sie noch nicht angeboten, sie bei ihrem Vornamen zu nennen. Das Spannende ist, dass niemand weiß, nach welchen Kriterien sie ihre Gunst verteilt.« Er grinste. »Nicht dass es wichtig wäre, aber irgendwie lauert doch jeder aus ihrem Bekanntenkreis darauf, in die nächsthöhere Kategorie aufzusteigen.«

Paula lachte. »Dein Freund wird ja vielleicht wieder degradiert. Sie war absolut not amused über seinen Vogelschiss-Vergleich.«

Henrik musterte sie. »Du gehst erstaunlich locker damit um. Trifft es dich als Pastorin nicht, wenn Menschen so über die Kirche oder ihren Glauben sprechen?«

»Zuerst einmal unterscheide ich bei anderen zwischen Kirche und Glauben«, sagte sie, während sie das letzte Käseschnittchen von einer Platte nahm. Dann sah sie Henrik wieder an. »Und ich missioniere nicht. Ich biete in meinen Gottesdiensten an, was in mir ist und hinausmöchte. Was ich gebe, ist immer ein Geschenk, ein Angebot, und ich freue mich über jeden, der es so versteht und daraus etwas für sich mitnimmt.«

»Mama?« Lisbeth stand neben ihr und griff nach ihrer Hand. »Wann gehen wir nach Hause?«

»Jetzt, Libby.« Paula steckte sich den letzten Bissen in den Mund und nickte Henrik zu. »Tschüs, und herzlichen Dank für den netten Empfang.«

»Schlaft alle gut. Und du weißt ja …«, Henrik lächelte, »das, was man in der ersten Nacht im neuen Heim träumt, geht in Erfüllung.«

Ob sie etwas träumen würde? Paula dachte darüber nach, während sie mit Lisbeth an der Hand den weitläufigen Rasen zu Mats und Marie hinunterging. Sie hielt ihr Gesicht der warmen Abendsonne entgegen und genoss den Geruch von Salz und Watt, den der leichte Wind mit sich führte. Es war wohl gut, dass man Träume nicht erzwingen konnte, und doch wünschte sie sich, es wäre anders, denn Tom hatte sich davongestohlen aus ihren Träumen. Viel zu selten besuchte er sie noch darin.

»Komm heute Nacht zu mir«, murmelte sie lautlos, den Blick in den Himmel gerichtet. »Heute ist der erste Tag unserer Reise.«

Zwei

Es bedarf keiner Schatzkarte, um Freunde zu finden, nur eines offenen Herzens.

Fröhlich radelte Paula am Freitagmorgen die Wyker Gmelinstraße entlang, darauf achtend, dass die Großpackung Klopapier am Lenker nicht ständig gegen ihr Knie schlug. Auf dem Rücken trug sie einen Rucksack, im Fahrradkorb lag die vollbepackte Einkaufstasche. Das dichte hellgraue Wolkenmus am Himmel tat ihrer guten Laune keinen Abbruch, denn im Westen zeigte sich schon das erste Kornblumenblau. Sechs Tage waren vergangen, seit sie auf der Insel angekommen waren, und in dem wunderschönen Friesenhaus hatten sie sich schon ein wenig eingelebt. Da Dr. Konradis Vorräte aufgebracht waren, hatte Paula sich zum Großeinkauf aufgemacht. Inzwischen waren zwar auch die Fahrräder der Kinder da, doch alle drei hatten keine Lust gehabt, sie zu Edeka Knudsen zu begleiten. Marie hatte angeboten, auf die kleinen Geschwister aufzupassen, und so hatte Paula nicht zweimal gefragt. Einen Moment nur für sie allein gab es selten, und sie hatte ihn erweitert, indem sie am Sandwall zehn Minuten auf einer Bank gesessen, aufs Meer geblickt und einem alten Holzboot mit braunem Segel nachgesehen hatte.

Doch als sie im Greveling in die Auffahrt zum Haus bog, bereute sie die kleine Freiheit, denn aus dem hinteren Garten hörte sie Mats laut weinen. Mit klopfendem Herzen stieg sie vom Rad und lehnte es gegen die Hauswand, wurde aber im selben Moment ruhiger, denn zu dem Weinen kam ein gritziges Schreien. Mats weinte also nicht vor Schmerz, sondern vor Wut, was per se schon mal gut war. Sie eilte außen ums Haus herum. Ein flüchtiger Blick zur Seite zeigte, dass Lisbeth einen adäquaten Ersatz für die nicht vorhandene Sandkiste gefunden hatte: das Blumenbeet. Tiefe Löcher und Erdhäufchen auf den Terrassenfliesen zeugten von ihrer Liebe fürs Buddeln.

Die beiden Mädchen standen neben Mats auf der Terrasse von Henrik Kock, direkt vor Richard Böhnke, der von Mats gerade einen Fußtritt gegen das Schienbein bekam.

»Freundchen!«, mahnte Richard Böhnke scharf und hielt ihn an der Schulter auf Abstand, weil Mats weitertrat. Mit der freien Hand zeigte er über Mats Schulter nach hinten. »Da kommt deine Mutter. Der werde ich jetzt erzählen, was für ein Früchtchen du bist.«

»Mats!« Paula eilte hin. »Was ist hier los?« Sie zog ihren Sohn an sich und sagte »Ruhig, Mats, alles wird gut«, ohne dass sie davon ausging, dass es bei ihm ankam. Wenn er erst einmal einen seiner Wutanfälle hatte, dauerte es, bis er wieder ansprechbar war. Ihr Blick wanderte daher zwischen Marie und Richard Böhnke hin und her.

Allerdings kam Lisbeth den beiden zuvor. Mit ihrem schmutzigen Zeigefinger deutete sie auf Richard. »Der Mann hat Mats den Ball geklaut und in sein Haus gebracht.«

Richard musterte den empörten Blondschopf unter zusammengezogenen Brauen. »Dann erzähl deiner Mutter aber auch, warum der Mann den Ball geklaut hat.«

»Weil du böse bist.«

»Ja, schon klar«, grummelte Richard. »Schön, dass du nicht parteiisch bist.« Dann sah er Paula an. »Die Kröte«, er deutete auf Mats, »hat mir mit Absicht den Ball an den Kopf geworfen. Darum habe ich den Ball einkassiert, mit der Ansage, dass er ihn morgen zurückbekommt, wenn er sich entschuldigt. Seitdem schreit er wie ein Berserker und versucht, mein Schienbein zu zertrümmern.«

Paula seufzte, denn ein Seitenblick zu Marie zeigte, dass die zu Richards Worten nickte. »Wir klären das«, sagte sie zu Richard und zog ihren Sohn mit sich, denn in Anwesenheit des Mannes würde Mats sich nicht so schnell beruhigen. Die Mädchen folgten ihnen ins Haus.

»Mats, jetzt krieg dich bitte wieder ein«, sagte Paula ruhig und führte ihn in die große Küche, wo der Duft der am Vortag eingekochten Erdbeermarmelade noch in der Luft hing. Sie setzte sich auf den Stuhl und nahm ihn in die Arme. »Du weißt doch, dass wir alles besprechen können, und das funktioniert nur, wenn du dich beruhigst. Möchtest du einen Schluck Wasser?«

Marie eilte schon zum Wasserhahn. Sie waren ein eingespieltes Team bei Mats’ Wutanfällen, die zum Glück immer weniger wurden, je älter er wurde. Im Gegensatz zu früher fruchteten Argumente jetzt zumeist.

»Ich würde gern von dir hören, ob du Herrn Böhnke den Ball wirklich mit Absicht an den Kopf geworfen hast.«

»Hab ich«, schluchzte er. »Weil der gesagt hat, ich soll nicht so rumschreien, wenn er draußen arbeitet. Aber der hat da gar nicht gearbeitet, das hab ich beobachtet. Der hat da nur am Tisch rumgesessen und gar nix gemacht. Und darum bin ich zu ihm hin und hab ihm das gesagt. Und dann hat er gesagt, ich bin ein kleiner Klugscheißer.« Mats schniefte herzhaft. »Da hab ich geworfen.«

»Ach, Schatz.« Paula drückte ihn an sich. »Du darfst niemandem den Ball an den Kopf werfen. Auch nicht, wenn du wütend bist. Wenn man sich über jemanden ärgert, kann man das anders lösen, das weißt du doch. Wir haben schon so oft darüber gesprochen.«

»Man muss darüber reden«, wiederholte Mats wie auswendig gelernt das, was sie ihm immer wieder erklärte. »Aber das fällt mir dann nicht ein!«, begehrte er weinerlich auf. »Da hab ich den Ball ja schon geworfen.«

Paula seufzte. »Das ist das Problem, mein Schatz. Aber es ist ja schon viel besser geworden.« Sie gab ihm einen herzhaften Kuss auf die heiße Stirn. »Und das ist doch toll.« Sie wischte ihm die Tränen von den roten Wangen und hob sein Kinn. »Weil man alles mit Worten klären kann, gehen wir zu Herrn Böhnke, wenn du so weit bist, und dann holen wir deinen Ball.«

»Muss ich ›Entschuldigung‹ zu dem sagen?«

»Natürlich.«

»Aber der hat mir den Ball geklaut. Der muss sich auch bei mir entschuldigen.«

»Boah, Matsi, der muss sich nicht bei dir entschuldigen!«, funkte Marie dazwischen, die mit Lisbeth auf der Eckbank saß und das Gespräch zwischen Mutter und Bruder verfolgte. »Der hat das ja nur gemacht, weil du ihm den Ball an den Kopf geballert hast. Wenn du das nicht getan hättest, hätte er ihn dir auch nicht geklaut. Capito?« Sie patschte sich an die Stirn.

»Jetzt werden wir erst einmal gemeinsam die Einkäufe verstauen. Im Fahrradkorb ist auch noch eine Einkaufstasche«, lenkte Paula ab und streifte den schweren Rucksack von den Schultern. »Hatte Ratatouille schon sein zweites Frühstück?«, fragte sie ihren Sohn, der für die Ratte zuständig war, da sich Paula und Marie die Versorgung für Boomer und Mr. Stringer teilten. Anscheinend nicht, denn er flitzte die Treppe in sein Zimmer hinauf.

»Bring ihn mit runter, wenn er satt ist«, rief sie ihm hinterher. Seit Ratatouilles Gefährte Feivel vor vier Wochen tot im Käfig gelegen hatte – im gesegneten Rattenalter von fast dreieinhalb Jahren –, hatte sie ständig ein schlechtes Gewissen. Es war einfach nicht artgerecht, eine Ratte allein zu halten.

Im nächsten Moment stutzte sie und sah die Mädchen an. »Hört ihr das auch?«

Im Obergeschoss pfiff jemand eine Melodie, und es war eindeutig nicht Mats.

»Ach, das ist die Putzfrau«, sagte Marie und machte Platz für Mr. Stringer, der in die Küche getappt kam und mit einem Satz auf die Eckbank sprang.

Paula starrte sie an. »Die was?«

»Die Putzfrau.«

»Ich habe dich schon verstanden, aber wir haben keine Putzfrau.« Ungläubig fügte sie hinzu: »Ihr lasst einfach fremde Leute ins Haus?«

»Nee, die hat einen Schlüssel«, sagte Marie.

Paula eilte die Treppe hinauf. Die Tür zu Mats’ Zimmer, das er sich mit Lisbeth teilte, stand offen. Er hielt die Futtertüte in Händen und sprach auf die Ratte ein, die im Käfig auf ein Leckerli wartete. Paula ging vorbei und folgte dem vergnügten Pfeifen bis in ihr Schlafzimmer. »Guten Tag«, sagte sie reserviert. Eine kleine, mollige Frau um die fünfzig war dabei, das weit geöffnete Sprossenfenster zu putzen. »Wer sind Sie, bitte?«

»Ah!« Die Frau strahlte sie an. »Die Mama! So hübsch wie die Kinder.« Sie warf den Lappen in den Eimer, wischte die Hände an ihren Hüften ab und trat vor. »Guten Tag. Bin ich Danka Mazur.«

»Guten Tag.« Paula war immer noch verwirrt, als sie die dargebotene, noch leicht feuchte Hand ergriff. »Ich bin Paula Ahmling. Und Sie sind die Haushaltshilfe von Dr. Konradi?«, hakte sie nach.

»Ja, ich bin.«

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Frau Mazur, aber wie es aussieht, hat Dr. Konradi vergessen, Ihnen zu sagen, dass wir hier für ein Jahr wohnen. Und ich werde selbst putzen.«

Danka Mazur winkte ab. »Doktor hat erzählt mir. Du nix putzen. Ich putzen wie immer.« Fröhlich dreinblickend fügte sie hinzu: »Du kannst sagen Danka. Ich sage Paula. Das einfach.«

Das Duzen war nicht Paulas Problem. »Nun«, sie wand sich ein wenig, »ehrlich gesagt kann ich mir eine Haushaltshilfe nicht leisten. Darum …«

Danka fiel ihr auflachend ins Wort. »Du musst bezahlen nix. Macht Doktor. Hat gesagt, ich soll kommen wie immer zweimal in Woche.«

Paulas Augenbrauen spannten sich wieder. »Frau Mazur … Danka«, verbesserte sie sich und sagte ruhig, aber bestimmt: »Dr. Konradi ist ein furchtbar netter Mensch, aber haben Sie bitte Verständnis dafür, das möchte ich nicht auch noch annehmen. Ich werde heute mit ihm telefonieren und das klären.«

Der guten Laune der Putzhilfe tat dieser Entschluss keinen Abbruch. »Doktor wird sagen, dass du keine Abwehr hast für seine Entscheidung. Weiß ich, kenn ich Doktor. Ich Freitag wiederkomme.«

Paula gab für den Moment auf. »Wenn Sie nachher unten sind, schreiben Sie mir doch bitte Ihre Telefonnummer auf, Danka. Ich melde mich dann bei Ihnen.«

Als Paula wieder in der Küche war, stand Ratatouille auf dem Küchentisch. Er hielt ein Stückchen Honigmelone in den winzigen Pfoten, das Mats anscheinend aus der von ihr mitgebrachten Frucht herausgeschnitten hatte, denn die lag massakriert auf der Spülablage. Paula zog das riesige Fleischmesser, das in der Melone steckte, heraus. »Ich freue mich, dass ihr den Korb reingeholt habt«, sagte sie, »aber bitte lass mich nächstes Mal die Melone schneiden, Mats. Ich mag dich am liebsten mit zehn Fingern. Ich darf gar nicht darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn du mit der Schneide von der harten Schale abgerutscht wärst.«

Ob er sie gehört hatte, war nicht klar, denn er sagte: »Können wir jetzt den Ball holen?«

»Du und dein Ball«, sagte Paula lächelnd. Sie war mehr als dankbar, dass Mats kein Stubenhocker, sondern ein Draußenkind war.

Als alle Lebensmittel verstaut waren, ging Paula ins Esszimmer und sah hinaus. Richard Böhnke saß auf Henriks Terrasse am Tisch, vor sich eine manuelle Schreibmaschine, die ihr vorhin gar nicht aufgefallen war. Mitleid für ihren Sohn überfiel sie, denn Richard Böhnke starrte Löcher in die Luft. Kein Wunder, dass Mats gedacht hatte, dass er nichts tat. Nachzudenken gehörte für Mats nicht in die Kategorie »Arbeit«.

»Komm, mein Schatz«, rief sie Richtung Flur, wo Mats sich rumdrückte, nachdem er Ratatouille zurück in den Käfig gesperrt hatte. »Je eher daran, je eher davon.« Einer der Lieblingssprüche ihrer Mutter.

»Mats möchte sich gern bei Ihnen entschuldigen«, baute sie für ihren Sohn eine Brücke, als sie gleich darauf vor Richard Böhnke standen.

Er musterte sie beide. »Das freut mich.«

Dann sag das mal deinem Gesicht, dachte Paula mit Blick auf seine mürrische Miene, doch sie behielt ihr freundliches Lächeln bei und drückte Mats mit der Hand leicht nach vorn.

»Entschuldigung«, kam es leise über die Jungenlippen.

»Es heißt: Ich bitte um Entschuldigung. Denn entschuldigen kann nur der Geschädigte, nicht der Verursacher. Aber was rede ich …« Richard Böhnke nickte Mats zu. »Ist okay. Du kriegst den Ball morgen wieder.«

»Morgen?«, rief Mats entrüstet aus. »Aber ich hab mich doch entschuldigt!«

Böhnke nickte. »Der Deal war, dass du das tust und den Ball morgen wiederbekommst.«

Mats lief rot an. »Sie sind ein …«

Paula gelang es gerade noch, ihre Hand auf seinen Mund zu drücken. »Du willst doch nicht, dass der Ball eine Woche lang im Nachbarhaus schmort?«, fragte sie, obwohl ihr selbst auch ein passendes Wort für Richard Böhnke eingefallen wäre.

Mats riss sich los und rannte schimpfend zurück ins Haus. »Erwachsene sind scheiße«, war dabei noch eine der harmloseren Bemerkungen.

»Sie hätten nett sein können«, wandte Paula sich an Richard Böhnke.

»Ich bin nett. Diese kleine Lektion schadet Ihrem Sohn nicht. Im Gegenteil. Beim nächsten Mal überlegt er sich vielleicht vorher, ob er jemandem einen Ball ins Gesicht wirft.«

»Einen schönen Tag für Sie«, sagte Paula und wandte sich ab, wurde dann aber zurückgehalten. Von Henrik Kock, der in der Terrassentür stand.

»Paula! Habe ich doch richtig gehört.«

Sie wandte sich um. Er strahlte sie an, und ihr Solarplexus flatterte. »Hallo.«

»Ich wäre sonst noch rübergekommen«, sagte er und trat näher. »Ich möchte dich einladen. Heute Abend erwarten Richard und ich zwei, drei Gäste. Komm doch auch dazu, wenn du das mit deinen Kindern hinkriegst.«

»Das ist wirklich nett, aber nein, das geht nicht. Ich kann die Kinder nicht allein lassen.«

»Es sind doch nur ein paar Meter«, blieb Henrik hartnäckig. »Du könntest ja immer mal gucken gehen.«

Das Nein tänzelte erneut auf ihrer Zunge, doch Paula hörte sich sagen: »An welche Uhrzeit hast du gedacht?«

»Neunzehn Uhr dreißig. Rich und ich kochen.«

Paula sah zu Richard, der schweigend dasaß und anscheinend auch nicht vorhatte, das zu ändern.

»Also gut«, wandte Paula sich an Henrik. »Ich bin dabei.«

Auf dem Rückweg zu ihrer Haushälfte war sie von einer Vorfreude erfüllt, als hätte sie eine Weltreise gebucht.

***

Der Kleiderschrankspiegel im Schlafzimmer zeigte, dass sie so losgehen konnte. Paula hatte überlegt, was sie anziehen sollte, und sich letztlich für ein cremefarbenes Sommerkleid mit Blütendekor entschieden. Halbhohe cremefarbene Sandalen komplettierten das Outfit. Die Pigmentstörung unterhalb ihres rechten Knies fiel durch die Sommerbräune ein wenig mehr ins Auge, die kleinen Besenreiser an den Innenseiten der Waden hingegen weniger. Viel auffälliger war aber das Lächeln, das auf ihren Lippen lag und mit dieser Erkenntnis sofort verschwand. Doch sie konnte es vor sich selbst nicht leugnen: Ihre Vorfreude, einen Abend mit Henrik Kock zu verbringen, ließ sich nicht wegdenken.

Paula setzte sich auf das Doppelbett aus Kirschholz. Auf welcher Seite hatte wohl Gudrun Konradi geschlafen? Bezogen waren beide Hälften, genauso wie sie es in ihrem Bett im Pastorat hielt. Auch Manfred Konradi musste sich jetzt daran gewöhnen, dass seine Finger keine Hand mehr fanden. Da, wo leises Atmen gewesen war, vielleicht auch ein Räuspern oder ein leises Schnarchen, war nun Stille.

Mit einem Seufzer öffnete sie die Nachttischschublade. Neben dem Wecker, der sein Dasein dort fristete, weil sie das Ticken in der nächtlichen Lautlosigkeit nicht ertrug, lag das abgegriffene Foto, das sie letztlich nach Föhr gebracht hatte. Sie nahm es heraus und betrachtete den kleinen braunhaarigen Jungen, der neben seiner Großmutter auf einer Bank unter einem knorrigen Apfelbaum saß. Dass er in die Kamera strahlte, offenbarte nur ein genaues Hinsehen, denn der Fotograf hatte wohl vor allem die alte Reetdachkate einfangen wollen, vor der sich Margeriten und rote Rosen von der weiß getünchten Hauswand abhoben. Den grünen Hintergrund bildete ein Deich, auf dem Schafe das kurze Gras knusperten.

»Ich weiß nicht, wann ich anfangen kann, Tom, und ich weiß vor allem nicht, wie ich anfangen soll«, sprach sie mit dem kleinen Jungen. »Es erschien alles so greifbar, als Dr. Konradi mir dieses tolle Haus anbot, aber«, sie lachte unfroh auf, »es wird ja nicht einfacher, wenn man von einer Insel starten muss.« Heiß schossen ihr die Tränen in die Augen. »Ich wünschte, du wärst hier. Vielleicht kannst du uns ja ein wenig himmlische Hilfe schicken?«

Ihr Blick wanderte von dem kleinen Tom zu dem gerahmten Foto auf dem Nachttisch. Eng umschlungen lachten Tom und sie in die Kamera. Das Foto hatte Marie ein Jahr vor seinem Tod aufgenommen. Die Füße waren abgeschnitten, aber Paula liebte diese Aufnahme, weil sie zeigte, wie glücklich sie gewesen waren. Mats hatte als einziges der Kinder Toms braunes Haar geerbt, die Mädchen waren beide blond. Aber Toms braune Augen hatte wiederum nur Lisbeth. Paula nahm den Rahmen in die Hand und strich zart über den Männerkopf. »Wir vermissen dich so.«

Mit einem Seufzer stellte sie das Bild auf den Nachttisch und legte das alte Foto in die Schublade zurück. Der Wecker mahnte mit der Uhrzeit. Sie musste los, wenn sie pünktlich sein wollte, doch etwas, das sich nicht gut anfühlte, hielt sie auf dem Bett zurück.

Sie sah wieder zum Bild.

»Ja, natürlich weiß ich, was wir beide als Pastor und Pastorin einer anderen Frau gesagt hätten, wenn sie in meiner Lage gewesen wäre. Fünf Jahre sind eine lange Zeit. Wenden Sie sich wieder dem Leben zu, wenn der Zeitpunkt für Sie gekommen ist. Das schmälert nicht die Erinnerung an Ihren Mann und schon gar nicht Ihre Liebe für ihn. Und im umgekehrten Fall hätte ich mir für dich so sehr gewünscht, dass du wieder glücklich wirst, aber …«

Ja, was war das Aber? Es war einfach so, dass der Gedanke an Henrik Kock ihr Gewissen aktivierte.

»Mama!«, erklang von unten Maries Stimme. »Musst du nicht los?«

Paula stand auf. »Ich komme.«

»Das Kleid steht dir toll«, meinte Marie, als Paula das Wohnzimmer betrat. »Heidi Klum hätte heute ein Foto für dich.«

»Oh, danke!«, freute Paula sich über das Kompliment. »Noch eine halbe Stunde«, wandte sie sich an Mats und Lisbeth, die auf dem Ledersofa saßen, auf einer Decke, die Paula daraufgelegt hatte, weil sie ständig in der Angst lebte, die Kinder könnten das edle Mobiliar beflecken. Ausnahmsweise durften die beiden vor dem Zu-Bett-Gehen noch eine Folge »Paw Patrol« gucken. Für die Kindersendung war Mats, wie er ständig behauptete, eigentlich schon viel zu groß, und er tat immer sehr gnädig, wenn Lisbeth eine Folge mit ihm gucken wollte, doch Paula wusste, dass er es im Stillen genoss. »Dann bringt Marie euch zu Bett, und ihr tut, was sie sagt. Versprochen?«

»Und wenn sie sagt, dass wir uns die Ohren abschneiden sollen?«, fragte Mats und fügte schnell hinzu, als er Paulas Miene richtig deutete: »Jaja, wir hören auf Marie. Aber wenn ich groß bin, bin ich der Bestimmer, und alle hören auf mich.«

»Wenn du groß bist, bin ich schon Model und hänge in Mailand oder New York ab«, meinte Marie, die dabei war, sich auf dem Stressless-Sessel die Fußnägel anzumalen. »Aber Libby kannst du dann rumkommandieren.«

»Leg dir bitte was unter die Füße«, ermahnte Paula ihre Große. »Sonst geht deine erste Modelgage für einen neuen Sessel für Dr. Konradi drauf.«

»Ich mach gar nicht, was du sagst«, bekam Mats von Lisbeth sein Fett weg, obwohl sie zum Fernseher sah.

Paula seufzte. »Kann ich denn jetzt gehen?«

Keiner sah sie an, aber alle nickten. Marie griff sich die »Harper’s Bazaar«, die sie sich von ihrem Taschengeld gekauft hatte, legte sie unter den Fuß und lackierte weiter. Dann sah sie kurz auf. »Viel Spaß, Mama.«

»Danke, mein Schatz.«

Paula ging in die Küche und nahm die Flasche Weißwein, die sie extra gekauft hatte, weil sie sich nicht aus Dr. Konradis Weinkühlschrank bedienen wollte. Vor dem Flurspiegel musterte sie sich noch einmal. Sie war kein eitler Mensch, aber heute mochte sie es, dass ihr sattblondes Haar einen schönen Kontrast zu ihrer sonnengebräunten Haut bildete. Kurz hatte sie überlegt, ihr Haar offen zu tragen, doch die lange Mähne gefiel ihr zum Zopf gebändigt einfach besser. Sie lächelte sich im Spiegel an. Ihre Augen leuchteten wie lange nicht mehr.

»Mein Handy ist auf laut gestellt, falls was ist«, rief sie ins Wohnzimmer und öffnete die schwere Haustür.

»Wie du bereits hundertmal sagtest«, lautete Maries Antwort.

Paula klingelte nebenan und dankte Henrik für die Einladung, als er ihr die Tür öffnete und sie herzlich begrüßte. Sie reichte ihm den Wein. »Ein kleines Mitbringsel.«

»Super, danke, ich stelle ihn kalt.« Er deutete den Flur entlang zu einer offen stehenden Tür. »Rich ist im Wohnzimmer. Ich brauche noch ein paar Minuten in der Küche.«

Paula gefiel, dass er sich ein kariertes Geschirrhandtuch als Schürzenersatz in den Bund seiner Jeans gesteckt hatte. Er war so natürlich und unkompliziert, dass sie sich gleich wohlfühlte. »Kann ich noch was helfen?«, bot sie an.

»Nein, lass dir von Rich einen Wein einschenken. Ich bin gleich bei euch. Es kommt auch nur noch ein weiterer Gast, meine Schwester. Die anderen beiden, ein Freund von mir und seine Frau, haben abgesagt. Anscheinend ein akutes Magen-Darm-Problem.« Er verzerrte die Lippen, dann verschwand er mit einem Winken in die Küche, aus der es unglaublich lecker und würzig duftete.

Paula ließ den Blick über die blau gerahmten Bilder an der Flurwand schweifen, während sie langsam die offen stehende Tür ansteuerte. Henrik hatte ein Faible für maritime Motive, insbesondere für Segelschiffe.

»Hallo«, sagte sie, als sie das kombinierte Wohn- und Esszimmer betrat, in dem ein imposanter Kachelofen mit Sitzbank der Hingucker war.

Richard Böhnke stand am Tisch und war dabei, ein Weinglas zu befüllen. Entgegen der erwarteten ruppigen Erwiderung kam ein gut gelauntes »Hallo, Paula«. Er drückte ihr das beschlagene Glas in die Hand und griff zu einem Bierglas. »Wir sollten in Sachen Nachbarschaft noch mal anfangen.« Er hob sein Glas. »Ich bin Richard.« Er stieß gegen ihr Glas und trank.

Paula war so perplex, dass ihr nichts dazu einfiel. Was war mit Rübezahl passiert?

»Da liegt übrigens der Ball.« Richard deutete über ihre Schulter auf ein Sideboard in heller Eiche. »Wenn du später zu deinen Kindern schaust, kannst du ihn ja gleich mit rübernehmen.«

»Prima, danke.« Paula wusste nicht, was sie von dieser plötzlichen Freundlichkeit halten sollte. Eine unangenehme Gesprächspause trat ein, und Paula war dankbar, als es klingelte.

»Das ist Henriks Schwester Lena«, sagte Richard. »Sie ist Flugbegleiterin, daher wird es wahrscheinlich ein kurzweiliger Abend, denn sie hat immer etliche Anekdoten im Gepäck.« Als zwei weibliche Stimmen zu hören waren, fügte er hinzu: »Anscheinend hat sie ihre Freundin Dorle mitgebracht.«

»Hallo, zusammen«, erklang gleich darauf eine fröhliche, ungewohnt dunkle Frauenstimme hinter ihnen.

Paula wandte sich um und wurde von einer großen Blondine angelächelt, deren Ähnlichkeit mit Henrik unverkennbar war. Dann änderte sich der Gesichtsausdruck der Mittdreißigerin.

»Große Güte, Rich! Du siehst grauenhaft aus. Machst du immer noch dieses Blockade-Haar-Dings?« In wenigen Schritten war sie bei ihm und zog nicht gerade zaghaft an seinem Wuschelbart. Sein »Au!« beeindruckte sie nicht. »Dir ist schon bewusst, dass das unter Zwangshandlung fällt, oder?« Sie zupfte gleichzeitig an Kopf- und Barthaar, dann drückte sie ihre roséfarben geschminkten Lippen zu Paulas Erstaunen auf Richards Mund, und gar nicht mal so kurz. So widerwärtig schien der Bart also doch nicht zu sein.

»Hallo, ich bin Lena Kock, Henriks Schwester«, wurde Paula schließlich begrüßt. »Und du bist die Pastorin, die nebenan eingezogen ist. Wo sind die Kiddies?« Sie sah sich um.

Paula fühlte sich ein wenig überfahren. »Du bist ja bestens informiert.« Sie reichte Lena die Hand. »Paula Ahmling … Und meine Kinder sind zu Hause.«

»Ach, schade. Ich liebe Kinder.«

Dann berichtete Lena Richard etwas über einen gemeinsamen Bekannten, und Paula nutzte die Zeit, um sich umzusehen. Das Mobiliar war nordisch kühl gehalten, und es gab wenig Nippes und für Paulas Geschmack eindeutig zu wenig Kissen und Decken. Eine komplette Wand bestand aus hellen Regalen, die bis unter die Decke mit Büchern gefüllt waren. Paula ging hin und las einige Titel. Es waren ein paar schöne Stücke aus dem Antiquariat dabei.

»Wie in einer Buchhandlung, nicht?«, erklang eine weitere Frauenstimme neben ihr. »Henrik ist ein Bücherwurm.«

Paula wandte sich um und spürte einen kleinen Stich. Eine rotblonde Frau, vielleicht Ende zwanzig, hatte ihren Arm um Henriks Taille gelegt.

Henrik stellte ihr Dorle Petersen als Freundin von Lena vor. Dann deutete er auf die Bücherwand. »Ich weiß ja nicht, ob du Krimis und Thriller magst, Paula. Falls ja, darfst du dich jederzeit gern bedienen.«

»Mein Kater heißt nicht umsonst Mr. Stringer«, sagte sie mit einem Lachen.

»Was für ein witziger Name«, meinte Dorle. »Aber was hat er mit Krimis zu tun?«

»Damit wäre dann klar«, schaltete Richard sich ein, »dass du kein Miss-Marple-Fan bist, Dorle.«

»Ach, diese hässliche alte Detektivin aus den Schwarz-Weiß-Filmen?« Dorle lächelte. »Dann hatte die also einen Kater, der so hieß?«

Richard sah Paula an. »Sie hat keine Antwort verdient, oder?«

Innerlich gab Paula ihm recht. Wie konnte man die geniale Margaret Rutherford als hässlich bezeichnen? Und wie konnte man nicht wissen, wer Mr. Stringer war? Aber es konnte ja nicht jeder ihre Vorliebe für Krimis teilen. Darum klärte sie Dorle auf. »Mr. Stringer ist der gute Freund von Miss Marple. Ein alter Herr, der ihr bei ihren Mordrecherchen hilfreich zur Seite steht. Zumindest im Film. In den Büchern von Agatha Christie kommt er nicht vor.«

»Ach so.«

»Schau mal, Paula.« Henrik zog ein Buch aus der Regalmitte. »Lady Audley’s Secret. Inhaltlich nicht mein Favorit, aber es ist trotzdem das Schmuckstück meiner Büchersammlung. Eine Erstausgabe von 1862. Ich habe sie bei einem London-Trip auf dem Petticoat Lane Market entdeckt. Und weißt du, was ich dafür bezahlt habe? Grandiose drei Pfund.«

Bevor Paula das Buch nehmen konnte, hatte Dorle ihm den Krimi schon aus der Hand gezogen, allerdings mit einem Gesichtsausdruck, als hätte das Buch die Pocken. »Puh, ja …«, sie blätterte kurz mit spitzen Fingern darin. »Ein altes Buch eben. In dem wer weiß wer geblättert hat, mit Fingern, an denen wer weiß was gehaftet haben könnte.« Sie reichte es Paula. »Ich lese nur neue Bücher. Aber meistens guck ich Netflix.«

Als sie ihren Arm wieder um Henrik legen wollte, trat er einen Schritt zurück und sagte: »Rich, hilfst du mir in der Küche? Ihr Ladys legt bitte noch ein Gedeck auf, dann geht es gleich mit der Vorspeise los.«

Während Lena Teller, Besteck und eine Leinenserviette mit Hummermotiv für Dorle auf dem Tisch arrangierte, wurde Paula von den beiden ungeniert ausgefragt. So wussten die Frauen nun, dass sie seit zwei Wochen neununddreißig Jahre alt und ihre Haarfarbe echt war. Die nachfolgenden Tischgespräche waren lebhaft, und Paula erfuhr, dass Henrik Immobilienmakler war und größtenteils im Homeoffice arbeitete, aber auch ein Büro in der Wyker Mittelstraße hatte. Richard hatte Politikwissenschaften und Neuere Geschichte studiert, bevor es ihn journalistisch in die weite Welt gezogen hatte. Seine kleine Wohnung in Rostock nutzte er laut eigener Angabe nur selten. Dass die beiden Männer sich als Dreizehnjährige bei einem Pfadfinderlager in Dänemark kennengelernt hatten und ihre dort entstandene Freundschaft immer enger geworden war, je älter sie wurden, erschien Paula unglaublich.

»Obwohl ihr in zwei verschiedenen Pfadi-Gruppen wart, habt ihr euch dort gefunden und nicht wieder verloren? Das ist ungewöhnlich und wirklich schön.«

»Er rennt mir einfach immer hinterher«, sagte Henrik launig, und alle lachten. Inklusive Richard.

Auch Paula erntete Gelächter, als sie von ihrem Telefonat mit Dr. Konradi berichtete. Sie hatte ihn gebeten, Danka Mazur zu sagen, dass sie die Hilfe der Reinigungskraft nicht benötigte. Letztendlich hatte er nicht nur das konsequent abgelehnt, sondern ihr zudem mitgeteilt, dass einmal im Monat auch noch ein Gärtner kam.

Das Essen schmeckte mehr als lecker. Richard war für die Vorspeise zuständig gewesen und hatte es sich einfach gemacht: Schinken auf Melone. Henrik hingegen hatte sich beim Kochen des Hauptgerichts selbst übertroffen. Das zarte Rinderfilet im Parmesankörbchen mit dem Lauch-Kartoffel-Gratin war ein Gedicht. Nach dem Dessert, einem fruchtigen Himbeersorbet, mit dem Richard gepunktet hatte, stand Paula auf.

»Ich bin gleich wieder da. Ich möchte kurz nach den Kindern schauen.« Marie hatte schon zwei WhatsApp-Nachrichten geschickt – im Auftrag von Mats, der unbedingt wissen wollte, was es zu essen gab.

Als sie zurückkam, war der Esstisch abgeräumt. Henrik führte sie nach draußen, wo die anderen bereits in Loungesesseln aus Outdoorgeflecht um einen passenden Tisch auf der Terrasse saßen. Das Weißweinglas an ihrem Platz war wieder gefüllt. Sie beschloss, es unangetastet zu lassen, denn sie trank selten Alkohol und merkte die anderthalb Gläser, die sie zum Essen gehabt hatte.

»Na, sind alle im Bett?«, hakte Lena nach.

»Die Kleinen schlafen tatsächlich schon. Marie natürlich noch nicht. Sie ist fünfzehn.« Obwohl sie es leicht dahingesagt hatte, verspürte Paula Stolz und Freude. Sie hatte tolle Kinder.

»Dann setz dich schnell«, meinte Lena. »Wir sind dabei herauszufinden, was wir schon immer tun oder haben wollten, aber nie getan oder gekriegt haben.«

»Der erste Beitrag war von mir«, sagte Henrik. »Ich möchte unbedingt mal einen Lindy-Hop-Kurs mitmachen. Ich hoffe, dass die VHS irgendwann einen anbietet, weil ich unmöglich ständig aufs Festland fahren kann.«

Paula entschied, ehrlich zu sein, auch wenn sie sich womöglich blamierte. »Ich habe keine Ahnung, was Lindy Hop ist.«

»Der Vorläufer des Swing«, klärte Henrik sie auf. »Ich tanze total gern.«

»Das erklärt, warum ich es nicht kenne«, meinte Paula. »Ich kann nicht tanzen.«

»Jeder kann tanzen«, behauptete Lena, ging aber nicht weiter darauf ein. »Ich wollte immer einen Hund haben, aber unsere Eltern waren dagegen. Jetzt bin ich lange erwachsen und habe einen Job, den ich liebe, der aber nicht zulässt, dass ich einen Hund halten kann. Ein Dilemma, für das ich keine Lösung sehe.«

»Das ist wirklich schade«, antwortete Paula. »Aber aus Erfahrung kann ich sagen, dass man für einen Hund wirklich Zeit braucht. Unser Boomer ist …«