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Ein Brandstifter treibt sein Unwesen in der Wewelsflether Kleingartenkolonie. Als in einer der abgebrannten Hütten eine Leiche entdeckt wird, sind Oberkommissarin Lyn Harms und ihre Kollegen von der Kripo Itzehoe gefordert. Wer tötete den Bewohner der Gartenhütte? Und was hat das spurlose Verschwinden des Werftbesitzers Jacobsen damit zu tun? In den Fokus der Polizei gerät eine Gruppe Jugendlicher. Doch die Clique schweigt eisern. Bis der Fall eine ungeahnte Wendung nimmt...
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Seitenzahl: 354
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Heike Denzau wurde 1963 in Itzehoe geboren. Sie lebt mit Ehemann und zwei Töchtern in dem kleinen Störort Wewelsfleth in Schleswig-Holstein. Diverse Kurzgeschichten wurden in Anthologien veröffentlicht. Beim NordMordAward, dem ersten schleswig-holsteinischen Krimi-Preis, belegte sie mit einer Kurzgeschichte den dritten Platz. Im Emons Verlag erschien »Die Tote am Deich«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.de/almogon Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-066-7 Originalausgabe
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Für Dirk und Jens,
PROLOG
Sein Herz begann unkontrolliert zu rasen, als er die schäbige Kunststofftür vorsichtig aufzog. Das leichte Quietschen der rostigen Scharniere multiplizierte sich in seinem Kopf zu Sägenkreischen, und er verharrte einen Moment auf der Schwelle. Er lauschte in die Dunkelheit der kleinen Laube.
Er konnte ihn atmen hören. Schwer, aber gleichmäßig und ungestört. Erleichtert zog er die Tür– mit einem erneuten Quietschen– hinter sich zu. Dieses Mal verstummten die Atemgeräusche kurz, bevor sie Sekunden später wieder einsetzten.
Er wartete fünf Minuten. Unbewegt stand er vor der Tür und ließ seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen. Die Umrisse der spärlichen Einrichtung verloren ihre Schwärze, wurden zu anthrazitfarbenen Schatten. Die Kälte im Inneren der Hütte unterschied sich kaum von der Temperatur außerhalb der hölzernen Bretterwände. Anscheinend war der gasbetriebene Ofen seit Langem ausgestellt. Er schaltete die Mag-Lite an und machte zwei leise Schritte nach vorn. Der Lichtkegel fiel auf das schmale Bettgestell. Der Alte trotzte der kalten Aprilnacht mit einer gesteppten Decke, unter der sein Körper kaum auszumachen war. Zusätzlich schien er sich innerlich gewärmt zu haben. Der Alkoholdunst überlagerte den Muffgeruch der alten Baracke und ihres Inhaltes.
Seine behandschuhten Finger begannen zu zittern. Der Schweiß unter seiner schwarzen Wollmütze verursachte auf seiner Haut einen unerträglichen Juckreiz, aber er ließ nicht zu, dass seine Hände dem ein Ende bereiteten. Seine Hände hatten eine andere Aufgabe.
Er knipste die Taschenlampe wieder aus und wartete. So lange, bis sich seine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bis die Umrisse wieder an Klarheit gewannen. Er zog den kurzen Strick aus der Jackentasche und wickelte die beiden Enden fest um seine Handflächen. Er zitterte immer noch, aber er zögerte nicht. In Sekundenschnelle fuhr er mit dem Strick unter dem Kopf des Alten entlang bis zu dessen Hals, überkreuzte seine Unterarme und zog. Seine Armmuskulatur musste alle Kraft aufbieten, denn der im Schlaf Überraschte entwickelte ebenfalls Kräfte, mit denen er nicht gerechnet hatte. Doch der Widerstand des Alten war nur von kurzer Dauer.
Als der Körper vor ihm erschlaffte, zog er seine Hände langsam zurück. Wie von Sinnen fuhr er mit seinen Fingern unter die Wollmütze und scheuerte über seine juckende Haut.
Er war erlöst.
Aber der Anflug von Euphorie hielt nur Sekunden. Dies war erst der Anfang.
Hastig zog er die kleine Mag-Lite wieder aus seiner Jackentasche und drehte sie an. Mit einem Ruck zog er die Bettdecke zur Seite. Ein fleckiger, durchlöcherter Seemannstroyer über einer abgewetzten Cordhose kam zum Vorschein. Er ließ den Lichtkreis über das Gesicht des Alten gleiten. Leere Augen stierten ins Nichts. Der von grauen Bartstoppeln umrahmte, leicht geöffnete Mund zeigte ein lückenhaftes Gebiss. Im Oberkiefer fehlte ein Schneide-, im Unterkiefer ein Eckzahn. Die Hände waren schwielig, und die ungepflegten Fingernägel trugen einen gleichmäßigen schwarzen Rand. Seltsam fehl am Platz wirkte der breite silberne Ring am Ringfinger der linken Hand.
Kurz streifte der Lichtkegel die wenigen Einrichtungsgegenstände. Ein kleines schäbiges Nussbaumbüfett, daneben, auf dem verdreckten fadenscheinigen Teppich, eine halb leere Flasche Oldesloer Korn. Ein zusammenklappbarer, vollgemüllter Campingtisch, zwei Hocker, ein Holzstuhl. Ein Gasofen. Ein Gaskocher. Wenig Geschirr. Ein kleines Bord mit Zwieback, Marmelade und auf einem Teller ein Stück Käse. In der Ecke zwei Eimer Wasser neben einer Kiste voll schrumpeliger Äpfel. Ein dritter Eimer neben dem Bett zeigte durch deutliche Spuren, wozu er diente.
Angeekelt wandte er den Blick ab. Hatte der Alte seine Scheiße draußen vergraben?
Er atmete tief durch. Es spielte keine Rolle. Das Feuer würde den Dreck heiß und gierig wegbrennen. Brennen. Brennen.
Wenn es nur erst brannte!
EINS
Lyn hob ihren Kopf von Hendriks Brust und hauchte einen Kuss auf seine Lippen.
»Ich muss …«, flüsterte sie und schob seufzend die Bettdecke von ihrem Körper.
»Gar nichts musst du«, erwiderte Hendrik mit einem Lächeln in der Stimme und griff nach ihr, als sie aufstand. Er zog sie zurück ins Bett, rollte sich auf sie und hielt ihre Hände mit seiner Linken über ihrem Kopf zusammen. Als seine Lippen unter ihrem Ohr begannen, sich hinunterzuarbeiten, seufzte sie wohlig.
»Hör auf, Hendrik, bitte … Ich muss los. Die Kinder warten«, sagte sie gequält, als er ihre Brüste erreichte.
Mit einem Ruck warf er sich auf die Seite. »Verdammt, Lyn!« Seine Augen waren dunkel vor unterdrückter Wut. »Wann sagst du es ihnen endlich? Seit Monaten hüpfst du zweimal die Woche nach Feierabend zu mir ins Bett, um nach einer Stunde aufzuspringen und zu verschwinden. Mein Gott, sie sind doch keine Kleinkinder mehr! Sie werden Verständnis dafür haben, dass ihre Mutter einen neuen Partner hat.«
Jetzt war er es, der die Decke zur Seite warf und aus dem Bett sprang. Nackt lief er zum CD-Player und hämmerte auf die Stopp-Taste. Die Adoro-Tenöre verstummten mitten im Song.
»Ich möchte, dass du in meinem Arm einschläfst und morgens darin aufwachst«, sagte er ruhig, nachdem er tief durchgeatmet hatte. »Wenigstens ab und zu. Ist das zu viel verlangt? Wir müssen ja nicht hier schlafen. Ich komme auch zu dir nach Wewelsfleth. Wir essen gemeinsam mit den Mädchen, sehen fern oder spielen Memory oder was weiß ich, was Kinder so spielen.«
Lyn hatte ihm stumm zugehört, aber jetzt lachte sie auf. »Memory! … Du hast wirklich keine Ahnung von pubertierenden Mädchen. Ich–«
»Wie denn auch?«, fiel Hendrik ihr ins Wort. »Du lässt mir ja keine Chance!«
Betretenes Schweigen breitete sich wie ein übler Geruch zwischen ihnen aus.
»Ich …«, setzte Lyn an, während sie nach Slip und BH griff und beides anzog, »also … ich bin einfach noch nicht so weit. Die Mädchen haben die Scheidung noch nicht verarbeitet. Sie vermissen ihren Vater. Und die Kollegen … ich möchte einfach nicht, dass die Kollegen wissen, dass du und ich … na ja, dass da etwas ist.«
»Dass da etwas ist?«
Lyns Schultern schoben sich unter seinem Blick nach oben. Enttäuschung und Trauer las sie in seinen Augen. In seinen wundervollen grauen Augen. Sie seufzte und ging auf ihn zu.
»Du weißt schon, wie ich es meine«, flüsterte sie, und ihre Hand strich über seine nackte Brust, bevor sie ihre Arme um seinen Hals schlang und ihren Kopf an seinen Hals presste. Als er nichts sagte, strich sie mit ihrem Zeigefinger über seine Brustwarzen. »Die Mädchen schlafen morgen beide bei Freundinnen. Also kann ich nach dem Blaulichtfest mit zu dir kommen … Wenn du das möchtest.«
Seufzend legte Hendrik einen Arm um ihre Taille. Mit der Hand hob er ihr Kinn an. »Und ob ich das möchte. Ich liebe dich, Gwendolyn Harms. Vergiss das nicht.«
»Endlich kommst du«, empfing Sophie ihre Mutter auf dem schmalen Flur ihres kleinen Häuschens. »Ich habe Hunger.«
Lyn schmatzte einen Kuss auf die Wange ihrer zwölfjährigen Tochter und folgte ihr in die Küche.
»Ich habe Schnittchen für uns gemacht«, sagte Sophie und hielt Lyn einen liebevoll mit Tomaten und Gürkchen dekorierten Brotteller unter die Nase. »Weil du immer so lange arbeiten musst, Mama. Und gesaugt habe ich heute Nachmittag auch.«
Lyn schoss die Schamesröte in die Wangen. Mit Tränen in den Augen drückte sie ihre Tochter an sich. »Ach, Krümel, das … das ist so süß von dir! Danke, mein Schatz.«
Sie ließ Sophie los und sah sie an. »Aber du musst keine Hausarbeiten machen, für die ich zuständig bin. Wirklich nicht. Ich freue mich, wenn du den Geschirrspüler und den Trockner leerst. Wie wir es besprochen haben.«
Als Sophies Gesicht sich verdunkelte, griff Lyn nach einer Käseschnitte mit Tomate und schob sie in ihren Mund. »Awer cool is es trotschdem«, schmatzte sie mit vollem Mund, »dasch ich nich mehr schaugen un kochen musch.«
Lachend zog Sophie ihre Mutter ins Esszimmer.
»Wo steckt eigentlich Charlotte?«, fragte Lyn, als sie Sophie und sich Kakao in die Becher goss. »Das Taekwondo-Training ist doch um halb sieben zu Ende. Jetzt ist es fast halb acht.«
Sophie zuckte mit den Schultern und stapelte Salamischnittchen mit Gurke auf ihren Teller. »Vielleicht quatscht sie noch mit Jana. Von der erzählt sie doch jetzt immer.«
Lyn nickte. Dankbar erinnerte sie sich an den Tag vor etwa fünf Wochen, als Charlotte ihr von Jana berichtet hatte, die ebenfalls der Taekwondo-Sparte des TSV Wewelsfleth angehörte. Es war ein gutes Zeichen, dass Charlotte begann, Freundschaften zu schließen, nachdem sie sich über Monate in ihrem Zimmer eingeigelt hatte. Enttäuscht von den Eltern, insbesondere von der Mutter, die sie nach der Scheidung aus dem bayerischen Bamberg nach Schleswig-Holstein verschleppt hatte. In das Tausendsechshundert-Seelen-Kaff Wewelsfleth. In ein Häuschen direkt am Friedhof. Der Traumort für ein sechzehnjähriges Mädchen.
Lyn hatte wochenlang grässliche Angst ausgestanden, dass ihre Tochter sich doch noch für ihren Vater und damit Bayern entscheiden würde. Aber sie war geblieben. Widerwillig, aber sie war da.
»Die letzten Schnittchen lassen wir für Lotte«, sagte Lyn und stellte den Teller zur Seite. »Sie wird Hunger haben nach dem Training.«
Sophie machte sich lang und pulte die Gurken von den Brotscheiben.
»Krümel«, mahnte Lyn, »iss nicht die ganze Deko.«
Sophie stopfte die grünen Scheibchen in ihren Mund. »Lotte weiß doch nicht, dass welche drauf war.«
»Hi! Bin zu Hause«, tönte es in diesem Moment vom Flur. Das begleitende Geräusch gehörte eindeutig zu einer in die Ecke fliegenden Sporttasche.
»Die durchgeschwitzten Klamotten bitte gleich in die Waschmaschine und nicht wieder drei Tage in der Tasche lagern«, kommentierte Lyn die Aktion Richtung Flur.
Charlotte schlenderte ins Esszimmer und ließ sich auf den Stuhl fallen. »Dir auch einen schönen guten Abend«, sagte sie zuckersüß Richtung Lyn. Ihre Schwester ignorierte sie. »Für mich?« Sie zog den Brotteller zu sich heran und machte sich heißhungrig über die Schnittchen her.
»Habt ihr nach dem Training noch ein wenig zusammengehockt?« Lyn schob ihrer Tochter den Kakaokrug zu.
Charlotte nickte. »Wir war’n noch im Container.«
»Ah ja. Im Container … Was ist das für ein Container? Bananen, Hightech oder von Kinderhänden in Indonesien gefertigte Markenklamotten-Plagiate?«
Charlotte fletschte die Zähne. »Witzig, Mama. Hast du ‘n Clown gefrühstückt? … Der Container ist so ‘ne Art Jugendtreff. Steht auf dem Schotterparkplatz, gleich neben der Sporthalle. Jana hat mich bequatscht mitzukommen. Ein paar Leute waren ganz okay. Waren aber auch ein paar Asis dabei.«
Lyns Augenbraue zuckte nach oben. »›Asi‹ ist wieder eine deiner Pauschalverurteilungen.«
Als Charlotte genervt die Augen verdrehte, strahlte Lyn sie an. »Aber ich finde das richtig klasse, Lotte, dass du auch außerhalb der Schule ein paar neue Leute triffst. Das ist toll. Bring Jana doch mal mit.«
»Die hängt meistens mit ihrem Freund rum. Gonzo. Lernt Schiffbauer auf der Jacht-Werft in Beidenfleth. Nicht mein Fall. Der hat so ‘n fiesen Blick. Und ist anscheinend ständig pleite. Der hat mich doch glatt angehauen, ob ich ihm zwanzig Euro leihen kann.«
»Da hat er sich ja die Richtige ausgesucht«, klinkte Sophie sich ins Gespräch ein. »Ich krieg noch die zehn Euro, die ich dir letzte Woche geliehen habe.«
»Noch eine, die ‘n Clown zum Frühstück hatte.« Der Blick, den Charlotte ihrer Schwester zuwarf, ermunterte die, ihren Mittelfinger zu strecken.
»Wie sieht’s aus«, schaltete Lyn sich ein, um Eskalationen zu vermeiden, »wollen wir nächste Woche ins Kino? Der neue mit Johnny Depp läuft doch. Vielleicht Dienstag? Da kommen wir für fünf Euro rein.«
»Oh ja, klasse!«, freute sich Sophie. »Wir können Opa fragen, ob er mit–«
»Ich kann nicht«, fiel Charlotte ihrer Schwester ins Wort, »am Dienstag ist Großkampftag beim Container angesagt. Wir müssen putzen. Vorher alles rausräumen. Bedingung des Bürgermeisters, wenn wir den neuen Anstrich haben wollen. Das wird ‘ne Scheiß-Arbeit, aber ich hab Jana versprochen mitzumachen. Haben wir irgendwo Putzzeug, das ich mitnehmen kann?« Sie stand auf und öffnete den Unterschrank der Spüle.
»Lotte Hollwinkel greift freiwillig zum Feudel! Das muss für die Nachwelt festgehalten werden.« Lyn sprang auf und malte auf dem Familienplaner an der Wand ein fettes rotes Kreuz in Charlottes Dienstag-Spalte und schrieb daneben: Wunder geschehen!
Diesmal hob Charlotte ihren Mittelfinger.
Noch bevor Lyn die Augen öffnete, wusste sie, dass sie nur geträumt hatte. Von Hendrik. Und sich. Es war ein bedrückender Traum gewesen. Sie war neben ihm eingeschlafen und hatte ihre Kinder vergessen. Einfach vergessen. Erst sein Wecker hatte sie geweckt. Mit einem grässlichen, immer lauter werdenden Heulton.
Lyn öffnete die Augen. Die Traumbilder waren verschwunden, der Heulton nicht. Sie tastete nach ihrer Nachttischlampe und knipste sie an, während das Heulen abebbte. Vier Uhr elf.
»Scheiß Brandstifter!«, stieß Lyn giftig aus, als der Sirenenton vor ihrem Schlafzimmerfenster erneut anschwoll. »Es gibt Leute, die müssen arbeiten! Fackel die Hütten doch tagsüber ab!«
»Mama …?« Sophies Kopf erschien in der Schlafzimmertür.
Lyn hob die Bettdecke an.
»Das ist unheimlich«, meinte Sophie, nachdem sie sich in den Arm ihrer Mutter gekuschelt hatte. Allerdings klang sie nicht wirklich ängstlich, sondern eher angenehm erregt.
»Das ist jetzt das vierte Mal, seit wir hier wohnen, oder?« Sophie hielt es nicht mehr im Bett. Sie trat an das auf Kipp geöffnete Fenster. »Hörst du das Knallen, Mama? Das war beim letzten Mal auch so.«
Lyn nickte. »Das sind die Eternitplatten auf den Gartenlauben. Die Hitze lässt sie bersten. Das ist jetzt das vierte Mal innerhalb von …«, sie überlegte kurz, » …fünf Monaten. Die Abstände werden kürzer. Ich hoffe, sie kriegen den Typ bald. Sonst ist die Wewelsflether Kleingartenkolonie in nächster Zukunft hüttenlos.«
»Wenigstens steckt er keine Häuser an«, murmelte Sophie.
Lyn stand auf und trat zu ihrer Tochter ans Schlafzimmerfenster, als die Sirenen der Feuerwehrfahrzeuge durch die dunkle Aprilnacht hallten. »Das ist das Problem, Krümel. Wie lange wird er sich noch mit Blech- und Holzhütten zufriedengeben?«
»Guck doch, Mama! Man sieht den Qualm!« Sophie deutete aufgeregt über die hohe Hecke, die den Friedhof umgab, auf dessen Gelände ihr Häuschen stand. Deutlich zeichneten sich hellgraue Rauchschwaden am dunklen Nachthimmel ab. Die Kleingartenkolonie war nicht weit entfernt vom Friedhof. Die Grundschule und der Kindergarten standen dazwischen.
»Die Feuerwehr wird den Brand schnell löschen«, sagte Lyn und schloss das Fenster. »Geh wieder schlafen, Krümel. Wir müssen früh raus.« Sie schmatzte einen Kuss auf Sophies Scheitel und öffnete die Schlafzimmertür. »Ab!«
Sophie riss sich vom Fenster los, sprang in das Bett ihrer Mutter und zog sich die Decke bis ans Kinn. »Bitte, Mama! Hier schlafe ich viel schneller ein … Allein hab ich Angst.«
Lyn verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich glaube dir alles, Sophie Hollwinkel, aber das nicht. Angst existiert doch gar nicht in deiner Gefühlswelt.«
Sophies Kopf verschwand unter der Bettdecke.
»Na gut«, murmelte Lyn und legte sich neben ihre Tochter, »schließlich bist du bald schrecklich groß. Dann willst du nicht mehr in mein Bett.«
Hand in Hand schliefen sie ein.
ZWEI
Das Klingeln des Weckers holte Margarethe Jacobsen aus tiefen Träumen. Schlaftrunken hievte sie sich auf ihre linke Seite, griff nach dem Wecker und stellte den monotonen Piepton aus. Sechs Uhr dreißig. Schwer ließ sie sich in ihr Kissen zurückfallen und wandte den Kopf nach rechts.
Die andere Betthälfte war leer. Hinrich war– wie jeden Morgen– schon seit einer halben Stunde auf den Beinen. Kaffeeduft drang durch die nur angelehnte Schlafzimmertür.
Margarethe schwang ihre Beine stöhnend aus dem Bett. Sie öffnete die Nachttischschublade und holte die Weinlaubcreme heraus. Mit sanften Bewegungen rieb sie ihre Waden, deren Krampfadern sich wie kleine Gebirgszüge darauf verteilten, von unten nach oben damit ein.
Das Geräusch klappernder Teller im Erdgeschoss verriet, dass Hinrich den Frühstückstisch deckte. Die kleine vierundsiebzigjährige Frau brauchte beide Hände, um ihre fünfundachtzig Kilo aus dem Bett zu stemmen. Sie schlüpfte in ihre weichen ledernen Pantoffeln, zog ihren geblümten Morgenrock an und holte aus dem Kleiderschrank eine einzelne Garnitur Bettwäsche.
Die gleiche geblümte Ware, die jetzt aufgezogen war. Sie zog Kopfkissen, Decke und Laken auf der Seite ihres Mannes ab und raffte alles zusammen, um es in den Wäschekorb zu legen. Wie jeden Freitag. Ganz kurz hielt sie ihre Nase an die gebrauchte Wäsche.
»Na, so was«, sprach sie mit sich selbst, und ihre Stimme klang noch heiser vom Schlaf. Noch einmal roch sie an der Bettwäsche. Kopfschüttelnd zog sie die frische Garnitur auf. Sie griff nach dem Pyjama, der wie immer akkurat über der Rückenlehne des Stuhls hing, und roch daran.
»Komisch«, murmelte Margarethe Jacobsen.
Unten klappte die Haustür. Hinrich machte sich auf den Weg zum Glückstädter Stadtbäcker und holte die Brötchen. Zwei Stück. Ein einfaches für sie, ein Roggen für ihn. Wie jeden Morgen.
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