Todesengel von Föhr - Heike Denzau - E-Book

Todesengel von Föhr E-Book

Heike Denzau

4,8

Beschreibung

Eigentlich wünscht sie Kyra nichts als einen Mann zu ihrem dreißigsten Geburtstag. Stattdessen stolpert sie über ein antikes Buch, das nur sie selbst sehen kann - und das ihr Unglücksfälle offenbart, die in drei Tagen tödlich ausgehen werden. Bei dem Versuch, die Unglücke zu verhindern, gerät Kyra in höchste Gefahr. Eine geheimnisvolle Gruppierung will das Buch um jeden Preis an sich bringen - und schreckt dabei vor Mord nicht zurück …

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Heike Denzau, Jahrgang 1963, ist verheiratet und hat zwei Töchter. Diverse Kurzgeschichten wurden in Anthologien veröffentlicht. Ihr Kriminalroman »Die Tote am Deich« war nominiert für den Friedrich-Glauser-Preis 2012 in der Sparte Debüt. Ihr Krimi »Marschfeuer« erschien im März 2012. »Tod in Wacken«, der dritte Krimi um die Itzehoer Kommissarin Lyn Harms, erschien im März 2013. Heike Denzau lebt und arbeitet in dem kleinen Störort Wewelsfleth in Schleswig-Holstein. Einen der Schauplätze dieses Romans – die Nordseeinsel Föhr – kennt die Autorin seit mehr als zwanzig Jahren, in denen sie dort ihren Urlaub verbrachte.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/Mella Umschlaggestaltung: Tobias DoetschISBN 978-3-86358-383-5 Mystery Thriller Originalausgabe

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Mors certa, hora incerta.

Der Tod ist gewiss, die Stunde ungewiss.

EINS

Den Deckel der Mappe vor sich langsam schließend, sah er auf. Seine Finger krallten sich um das feine Leder. Sein Blick umfasste die schweigenden Personen am Tisch, die ihn unverwandt ansahen.

Ein kollektives Zucken fuhr durch die Runde, als er die Mappe mit einem Wutschrei über den Tisch warf. »Wo, verdammt noch mal, wo ist sie? Wo steckt sie? Ja, jetzt glotzt ihr, aber neue Erkenntnisse schafft ihr nicht heran.«

Betreten sah die Runde sich an.

»Und wenn die Angaben der Ahnen doch falsch sind?«, wagte einer der Männer einen Einwand. »Vielleicht sind sie einem Irrtum erlegen und –«

»Nein!«, stoppte er den Redner laut. »Nein.« Das zweite Nein war ruhiger. Tief durchatmend sammelte er sich. »Sie haben sich nicht geirrt. Der Fehler muss bei uns liegen. Wir haben etwas oder, besser gesagt, jemanden übersehen. Überprüft alle Frauen und die Kinder noch einmal. Ich weiß, dass wir sie schon hundertmal überprüft haben«, fuhr er seinen Nachbarn zur Linken an, der zum Sprechen ansetzte. »Dann überprüft sie eben zweihundertmal! Verstanden?«

»Alle sind seit zwei Jahren unter ständiger Beobachtung«, wagte der Mann trotzdem Widerspruch. »Und es gibt nicht eine einzige Auffälligkeit. Bei keiner. Es wird dieses … dieses Kind sein. Wir werden nie etwas aus ihr herausbekommen. Also, warum tust du es nicht endlich?«

Er sah den Sprecher an. »Weil ich weiß, dass sie es nicht ist. Das Spiel wäre viel zu einfach, wenn es so wäre.« Er lachte höhnisch. »Und ein teuflisches Spiel ist niemals einfach.«

***

»Glück gehabt, Kätzchen«, murmelte Kyra, während sie den kleinen Zeitungsartikel noch einmal las. »Ohne die Feuerwehr hättest du bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf dem Baum gehockt.«

Sie fuhr zweimal mit dem Klebestift über die Rückseite des Artikels und klebte ihn mittig in die obere Hälfte der Tagebuchseite. Dann griff sie zu ihrem alten Füller und schrieb schwungvoll darunter:

28. Dezember 1999

Im Büro war heute der Teufel los. Schon wieder eine Überstunde.

Mittagessen mit Doro beim Italiener. Tiramisu war aus!!!

Abends beim Heimkommen über Gundel Gaukeley geärgert.

Soll sie das Treppenhaus doch selbst putzen!

Einziger Lichtblick heute: In der Glotze gibt’s Pastewka als Brisko Schneider.

Muss morgen unbedingt für die Party einkaufen. 35 Leute eingeladen!

Und keiner (!) hat abgesagt! Scheiße, wo lass ich all die Leute?

Kyra gähnte herzhaft und klappte das Tagebuch zu. Es hatte seinen Umfang seit der ersten Eintragung im Januar verdoppelt, denn sie hatte nicht nur jeden Tag einen positiven Zeitungsartikel hineingeklebt, sondern alles, was 1999 erinnerungswürdig gewesen war:

Die »Matrix«-Kinokarte wegen des süßen Keanu Reeves. Die »Zauberflöte«-Opernkarte. Den Nachruf auf Forrest Mars, den Erfinder des Mars-Riegels, und ein – natürlich leeres – Mars-Papier zu dessen Ehren. Das Tischkärtchen mit ihrem Namen von der Hochzeit einer Kollegin, obwohl die sie an den Sammelsuriumtisch zu den ungeliebten Familienmitgliedern, nervigen Nachbarn und dem Pastor gesetzt hatte. Den Bierdeckel aus ihrer Stammkneipe mit den zwölf Hennessy-Strichen. Und natürlich unzählige kleine Sam-Türzettelchen.

Samuel Bach, kurz Sam genannt, war Oberkommissar bei der Hamburger Kripo und wohnte seit knapp zwei Jahren auf derselben Etage des Mietshauses in der Itzehoer Lindenstraße, direkt Kyra gegenüber. Aber er war viel mehr als ein Nachbar. Er war ein Freund, quasi das männliche Pendant zu ihrer besten Freundin Doro.

»Ja doch«, brummte Kyra, als es an der Tür klingelte. Kurz-lang-kurz. Sam.

Kyra schlurfte zur Tür.

»Hallo, Kleine! Hier sind die Bücher, die du haben wolltest. ›Weit wie das Meer‹ von Sparks war leider vergriffen. Ich frage mich, was die Frauen daran finden.« Sam marschierte an ihr vorbei in den Wohnraum, warf die Bücher auf den kleinen Korbtisch und ließ sich in den alten Ledersessel fallen.

»Nimm doch Platz«, murmelte Kyra und riss ihm ihr Rotweinglas aus der Hand, das er gerade an seine Lippen setzte. »Ich hasse es, wenn jemand aus meinem Glas trinkt«, sagte sie. »Das weißt du ganz genau.«

»Bin ich jemand?«, fragte Sam gespielt beleidigt, stand aber auf und holte sich ein Glas aus dem alten Vertiko. Kyra schenkte ihm zwei Fingerbreit von dem Chianti Classico ein.

»Mehr gibt’s heute nicht. Bin hundemüde«, sagte sie und ließ sich auf das karierte Sofa fallen.

»Schlechte Laune? Der D-Day rückt näher, man merkt’s«, sagte Sam, griff sich die Flasche und schenkte sein Glas voll.

Kyra warf ihm einen giftigen Blick zu. »Ich werde in vier Tagen dreißig! Ich bin Single. Ich bin kinderlos. Eine Partnerschaft ist nicht in Sicht. Ein nerviger Nachbar säuft gerade meinen Rotwein leer. Da darf man doch wohl mal ein wenig genervt sein, oder?«

Sam lachte auf und rückte seine Brille zurecht. Dann sagte er ernst: »Ich liebe dich auch, wenn du dreißig bist.«

»Nur schade, dass der einzige Mann, der mich liebt, schwul ist«, murmelte Kyra.

»Ja, man kann nicht alles haben«, sagte Sam und griff nach der Fernbedienung. »Und jetzt wird ’ne Runde gelacht. In der Glotze gibt’s Brisko.«

Als Kyra am nächsten Abend nach Hause kam, unterhielt sich Sam im Treppenhaus mit Evelyn Kessow, die über ihnen in der dritten Etage des Mehrfamilienhauses wohnte. Als Evelyn Kyra die Treppe heraufkommen sah, verabschiedete sie sich mit einem Lächeln von Sam. Kyra wurde mit einem kühlen Nicken bedacht. Sie zog hinter Evelyns Rücken eine Fratze.

»Ich glaube, Gundel Gaukeley steht auf dich«, flüsterte sie Sam zu, während Evelyns schlanke Waden in den schwarzen Pumps langsam ihren Blicken entschwanden. »Du solltest ihr sagen, dass du in deinen Kollegen von der Spurensicherung verliebt bist.«

»Ich frage mich, was du gegen sie hast«, antwortete Sam. »Sie ist eine überaus kluge, kultivierte und gepflegte Frau.«

»Sie ist eine humorlose, kalte Hexe. Und sie hat diesen Blick. Ich habe immer das Gefühl, sie durchbohrt mich.«

Sam wirkte betreten, und Kyra betrachtete ihn. Er war ein attraktiver Mann. Kein Schönling, eher markant. Seine großen Ohren und die dominante Nase ließen ihn ein wenig wie den jungen Ben Kingsley aussehen.

»Hast du alles für deine Party zusammen?«, fragte Sam und nahm ihr eine voll bepackte Tüte aus dem Arm, damit sie ihre Tür aufschließen konnte.

»Ich hoffe. Allein das wäre ein Grund, unbedingt einen Mann im Haus zu haben. All die vielen Bierkisten, Sektkartons …«

»Entschuldige mal«, entrüstete Sam sich, »bin ich etwa kein Mann? Immerhin habe ich dir die Kisten gestern alle hochgebuckelt.«

Kyra lachte. »Entschuldige, Sam, ich nehme deine Hilfe wirklich als zu selbstverständlich hin. Aber du weißt schon, wie ich es meine. Ich möchte einen eigenen Mann. Einen, der mir gehört. Einen, der mich mit Haut und Haaren und Seele liebt.« Dann fügte sie schelmisch hinzu: »Wir wollen also beide das Gleiche. Nur dass ich nicht auf einen bestimmten Mann fixiert bin. Bist du denn noch immer keinen Schritt weiter bei deinem Kollegen?«

»Themenwechsel!«, sagte Sam ruhig, aber bestimmt und ging ins Wohnzimmer. »Hat Elvis heute schon seinen Drink bekommen?«

Kyra sah zu dem Kaktus, der in der Ecke beim Fenster stand. »Ups, nein, er sieht schon ganz verdurstet aus.«

Sam nahm den kleinen Porzellanfingerhut, der auf der Fensterbank lag, tauchte ihn in die Wasserschale daneben und goss den Inhalt mit einem »Prost!« in den Blumentopf.

»Ich habe heute mit meiner Mutter telefoniert«, rief Kyra aus der Küche. »Sie kommt erst am Neujahrstag. Das Reinfeiern will sie uns Jungen überlassen. Schön, nicht? Sie findet mich jung.«

»Sie ist ja auch deine Mutter«, rief Sam laut zurück. »Mütter finden einen immer jung und toll und brillant.« Ein Murmeln aus der Küche, das verdächtig nach »Arschloch« klang, lockte ein Lächeln auf Sams Lippen. Mit dem Zeigefinger fuhr er über eine Reihe bunter Buchrücken, die auf einem Holzregal in Reih und Glied standen. »Wird sie dir ein neues Tagebuch mitbringen?«, rief er noch einmal laut Richtung Küche und zuckte zusammen, als Kyra neben ihm sagte:

»Schrei nicht so. Ich bin doch nicht taub. … Na, das will ich doch hoffen, dass sie mir das Tagebuch für das neue Jahr schenkt. Das macht sie immerhin seit zwölf Jahren.« Kyra blickte nun ebenfalls zum Holzregal. Zwölf dicke Tagebücher von völlig unterschiedlichem Aussehen zeugten von ihrer Schreiblust.

»Und, welchen Artikel klebst du heute ein?«, fragte Sam und griff nach der Zeitung, die Kyra auf den Esstisch geworfen hatte.

»Den da«, antwortete Kyra, schlug eine Seite auf und deutete auf eine kleine Anzeige unter der Rubrik Flohmarkt.

»Das ist eine Verkaufsanzeige, kein Artikel«, sagte Sam. »Ich denke, du klebst nur positive Zeitungsberichte ein?«

»Diese Anzeige ist in der Tat kein Artikel, aber sie steht in der Zeitung und ist überaus positiv. Sehr positiv sogar.«

»Toll«, sagte Sam nur mäßig begeistert, nachdem er den Text gelesen hatte. »Jemand verkauft seine Micky-Maus-Hefte.«

»Nicht irgendwelche Hefte, mein lieber Sam. Er verkauft die Taschenbücher aus den Siebzigern. Ich habe ihn gleich angerufen. Er hat Band sechzehn, der mir noch fehlt. ›Donald in Tausendundeiner Nacht‹. Er wird ihn mir zusenden.«

»Wie viel zahlst du für den Schund?«

»Das, was es mir wert ist, Herr Oberlehrer! Nur weil du der Reich-Ranicki unter Hamburgs Polizeibelegschaft bist, muss ich noch lange nicht nur Nobelpreisträger-Schinken lesen. Ich mag nun mal diese PENG-BUMM-KNALL-Sprechblasen. Hier!«, Kyra warf Sam eines der Comic-Heftchen zu, die zu einem großen Haufen getürmt neben dem Sofa lagen, »da kannst du dir die Original-Hexe Gundel Gaukeley angucken. Das ist die schwarzhaarige Ente, die auf Onkel Dagoberts Goldtaler scharf ist.«

»Man könnte meinen, du wirst nicht dreißig, sondern dreizehn«, sagte Sam kopfschüttelnd.

***

»Und, graut dir schon vor Mitternacht?«, fragte Dorothea Niclas, während sie mit einem knallgrünen Plastikspieß erst eine Weintraube, dann ein Käsequadrat aufpickte und beides zusammen in den Mund steckte. Sofort bestückte sie den Spieß erneut und stellte ihn diesmal auf eine gläserne Platte, auf der bereits fünfzig weitere Exemplare thronten.

»Du bist eklig, Doro«, rief Kyra aus. »Du kannst doch nicht deinen angesabberten Spicker noch mal benutzen!« Sie nahm den Spieß wieder herunter, steckte ihn der Freundin in den Mund und warf das leere Stäbchen anschließend in den Mülleimer.

»Weiß doch keiner«, schmatzte Doro achselzuckend.

»Ich weiß es. Und das genügt. Und, um auf deine Frage zurückzukommen: Nein, mir graut nicht vor Mitternacht. Denn ich bin froh, wenn ich endlich dreißig bin. Dann hört das dumme Gefrage auf.«

»So, fertig«, sagte Doro und stellte die Platte zu den Brothäppchen auf den Tisch, ohne auf Kyras Kommentar einzugehen, den diese mehr als laut von sich gegeben hatte. »Hast du noch Luftschlangen oder Luftballons zum Dekorieren?«, fragte sie stattdessen. »In zwei Stunden kommen deine Gäste.«

»Shit, hab ich vergessen«, murmelte Kyra. »Ich hab nur Papphütchen besorgt. Aber warte mal, irgendwo in der Rumpelkammer müssten noch Luftballons von einem Pfadfinder-Flohmarkt in der Nieblumer Kirche rumliegen.«

Die Rumpelkammer, die ihrem Namen alle Ehre machte, wurde augenblicklich von Kyra durchforstet. Nach ein paar Minuten, die sie brauchte, um über Putzutensilien, Kisten, Bücherstapel, zweckentfremdete, dick befüllte Mülltüten und ausgediente Kleinmöbel in die hintere Raumecke zu gelangen, schwenkte sie triumphierend eine alte Bananenkiste. »Hier müssten sie drin sein«, rief sie Doro zu und kämpfte sich durch das Gerümpeldickicht zurück.

Kyra kippte den Inhalt der Kiste kurzerhand auf den Küchenfußboden und durchwühlte die alten Sachen, zum größten Teil Bücher, bis sie die Tüte mit den Luftballons fand. Doro schnappte sich einen roten Ballon und blies ihn auf. »KEINEM VON UNS IST GOTT FERN« prangte in fetten Lettern auf der prallen Birne.

»Ich sagte ja: Kirche!«, grinste Kyra und räumte die Bücher wieder in die Kiste, während Doro den roten Ballon im Wohnzimmer an die Lampe band.

Kyra wollte die Kiste in die Kammer zurückstellen, als ihr Blick noch einmal über die Buchrücken der aussortierten Exemplare glitt. Auf einem dicken ledernen Einband blieb ihr Blick haften. Sie griff nach dem Buch und stutzte. Es hatte keinen Titel. Es gab keine Beschriftung, keinen Autor.

»Komisch«, murmelte sie. Sie konnte sich nicht erinnern, es aussortiert, geschweige denn überhaupt besessen zu haben. Als sie es flüchtig von hinten durchblätterte, blitzten ihr nur unbeschriebene Seiten entgegen. Sie schlug das Buch zu und betrachtete es noch einmal von allen Seiten. Das raue braungraue Leder sah irgendwie antik aus, aber die Buchseiten wirkten taufrisch. Kyra überlegte noch einmal. Sie musste es auf dem Flohmarkt aus Versehen eingesteckt haben. Vielleicht hatte es einem der Kinder gehört, mit denen sie in der Föhrer St.-Johannis-Kirche den Stand betrieben hatte.

»Muss ich alle Ballons allein aufpusten?«, rief Doro aus dem Wohnzimmer. »Das schaffe ich nicht. Ich bin schließlich Raucher.«

»Wie? Ja … entschuldige«, rief Kyra zurück und sprang auf. Sie strich noch einmal mit der Hand über das leicht raue Leder des Buches. Es war zu besonders, um in der alten Bananenkiste zu schmoren.

Ein künstlicher Hustenanfall im Wohnzimmer ließ sie auflachen. »Ich komme ja schon«, rief sie fröhlich, legte das Buch auf das kleine Küchenregal über dem Kühlschrank und eilte ihrer Freundin zu Hilfe.

Gegen dreiundzwanzig Uhr war die Party in vollem Gange, aber es trafen immer noch Gäste ein.

»Hi, Kyra, du Ärmste! Hoffentlich erlebst du deinen Geburtstag noch.« Mit diesen Worten stürzte eine aufgetakelte Brünette auf Kyra zu und umarmte sie kurz.

»Warum sollte sie ihren Geburtstag nicht mehr erleben?«, hakte Sam irritiert nach, der neben Kyra stand.

»Na, ihr wisst schon«, kreischte die Brünette in die Runde. »Millennium! Der Weltuntergang! Also, mich gruselt’s ein bisschen, wenn ich all diese mystischen Dinge höre.«

»Trink einen Cocktail, Babsi, und mach halblang«, sagte Doro stockernst. »Das einzig Mystische, was ich kenne, ist die Klospülung in Kyras Bad. Kettenzug mit Plastikgriff!«

Die Runde brach in helles Gelächter aus.

»Ich mag meine Ziehkette«, verteidigte Kyra ihr Spülsystem. »Es ist doch herrlich altmodisch.«

»Ja, aber vor allen Dingen ist dein Griff morgen voller Bakterien«, flüsterte Sam Kyra ins Ohr und deutete in die Menge. »All diese vielen Leute! Und ihre Hände waschen sie erst nach dem Spülen.«

»Iih«, kreischte Kyra los und knuffte ihren Ellenbogen in Sams Seite. »Du bist fies. So empfindlich bin ich nun auch wieder nicht. Du übertreibst immer so schrecklich.«

»Ich übertreibe?«, lachte Sam. »Wer putzt denn seine Fliesenfugen mit der Zahnbürste?«

Kyra bedachte Sam mit einem vernichtenden Blick, antwortete aber nicht, da Babsi sie gerade kichernd anstupste: »Ich glaube, Doro ist voll. Sie tanzt gerade mit einem Kaktus zu ›Love Me Tender‹.«

»Was? Sie tanzt mit Elvis?«, kreischte Kyra los.

»Nun, es ist sein Lied«, sagte Sam trocken. »Also, warum soll er nicht tanzen?«

Aber Kyra war schon auf der kleinen Tanzfläche, nahm Doro den Kakteentopf ab und stapfte damit Richtung Schlafzimmer.

»Ein bisschen plemplem ist unser Geburtstagskind schon, oder?«, fragte Babsi Doro, als die sich wieder in die kleine Runde gesellte. »Sie tut ja fast so, als wäre dieser komische Kaktus ein Mensch.«

»Nun, die Pflanze ist immerhin der wiedergeborene Elvis«, grinste Doro. »Zumindest hat das Kyras Tante behauptet. Tante Almut hatte die ganze Wohnung voller Grünzeug, und sie war fest davon überzeugt, dass jede ihrer Pflanzen ein wiedergeborener Mensch ist.«

»Musst du jedem diesen Schwachsinn erzählen?«, fiel Sam Doro ins Wort, aber die plapperte munter weiter.

»… merkwürdigerweise tummelten sich in Tante Almuts Blumentöpfen aber nur amerikanische Stars. Lustig, nicht?«

»Mach dich nicht immer über Tante Almut lustig«, wandte sich Kyra, die die letzten Worte gehört hatte, mit einem schiefen Lächeln an Doro. »Sie war eine sehr liebenswürdige alte Dame mit einem kleinen Spleen.«

»Kleiner Spleen?«, kreischte Babsi los. »Für mich klingt das nach handfester Psychose. Sie ist doch bestimmt in der Klapse gelandet, oder?«

»Nein, das ist sie nicht«, sagte Kyra ernst, »denn sie hatte einen wundervollen Ehemann. Nach sehr unfruchtbaren medikamentösen Therapien hat er sie einfach so genommen, wie sie war. Er hat sie geliebt, auch wenn sie sich mit ihren Pflanzen unterhalten hat.«

»Und wieso ist dieser Elvis jetzt bei dir?«, kam die Frage von der kichernden Babsi.

»Kyra hat ihn geerbt. Weil Tante Almut von einem Lastwagen überfahren wurde«, übernahm Doro wieder das Gespräch. »Diese Geschichte ist so unglaublich, ich muss sie einfach erzählen. Ich darf doch, Kyra?« Allerdings wartete sie Kyras Antwort gar nicht ab. »Tante Almut ging mit ihrem Mann spazieren, als ein Lastwagenfahrer die Kontrolle über sein Gefährt verlor. Er erwischte Tante Almut frontal. Sie war sofort tot. Und mit ihr starben Rock Hudson und Marilyn Monroe, die sie in einem Korb bei sich hatte, um ihnen ein wenig frische Luft zu gönnen.«

Babsi hatte mit offenem Mund zugehört. Dann tippte sie sich grinsend mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Ihr wollt mich doch verarschen! Und ich falle fast noch darauf rein.« Sie drehte sich um, ging hüftschwingend zur Tanzfläche und suchte sich einen Tanzpartner.

»Man kann’s ihr nicht verübeln, dass sie es nicht glaubt«, murmelte Sam. »Aber das Leben schreibt nun mal die besten Geschichten.«

Kyra war dankbar, dass das Thema Psychose abgehandelt war. Es bereitete ihr Unwohlsein, weil es Tage gab, an denen sie fürchtete, wie Tante Almut zu enden. Tage, an denen sie Dinge verzweifelt suchte, von denen sie glaubte, genau zu wissen, wohin sie sie gelegt hatte. Nächte, in denen wirre Träume sie heimsuchten und schweißgebadet erwachen ließen.

Natürlich hatten auch Tausende andere Menschen Alpträume, in denen sie sich verfolgt oder beobachtet fühlten, aber hatten diese Menschen auch den fremden Geruch in der Nase, wenn sie erwachten? Kyra seufzte. Die Alpträume hatten im vergangenen Jahr an Häufigkeit zugenommen.

»Alles klar bei dir?« Sam sah sie forschend an.

Kyra nickte. »Alles bestens.« Sie würde sich nicht ihre Party von trübseligen Gedanken verderben lassen. »Auf geht’s, Sam! Du sieht aus, als würdest du unbedingt eine Polonaise anführen wollen.« Das Würgegeräusch aus seinem Mund ignorierend, schob sie ihn zur Musikanlage.

Um vier Uhr dreißig geleitete Kyra ihre beiden letzten Gäste zur Tür. Doro und Sam.

»Danke für euer Angebot, aber ich habe keine Lust mehr auf Aufräumen. Lieber steh ich morgen eine Stunde früher auf«, sagte sie gähnend.

»Wohl eher drei Stunden«, meinte Sam, nachdem er noch einen Blick auf das Chaos in der Wohnung geworfen hatte.

»Schlaf schön, du Dreißigjährige«, verabschiedete Doro sich und schmatzte zwei feuchte Küsse auf Kyras Wangen. »War ’ne tolle Party.« Dann wandte sie sich Sam zu, nahm seinen Kopf in beide Hände, drückte ihm einen dicken Kuss auf die Lippen und sagte bedauernd: »Schade, dass du schwul bist, Sammylein, sonst hätte ich dich jetzt noch vernascht.« Schließlich trollte sie sich mit einem lauten »Frohes neues Jahr!« Richtung Treppe.

Sam blickte ihr kopfschüttelnd hinterher. »Noch ein Grund, der für das Schwulsein spricht.«

Kyra gab ihm lachend einen Kuss und schob ihn zu seiner Wohnungstür. Nachdem er aufgeschlossen hatte, drückte sie sich an ihm vorbei und betrat noch vor ihm seine Wohnung. Sam blickte ihr irritiert hinterher. »Ähm, willst du mich jetzt auch vernaschen?«

»Keine Sorge, mein Liebster«, kam es gedämpft aus dem Schränkchen unter der Spüle, in dem Kyras Kopf jetzt steckte. »Ich suche nur etwas zum Desinfizieren. Mein Sagrotan ist leer, und ich muss noch meinen Klogriff putzen.«

Drei Minuten später stand Kyra wieder in ihrer Wohnung. Ohne Spray und mit Sams Kommentar im Ohr: Es gibt Menschen, die auch ohne Desinfektionsmittel überleben.

Sie drehte den Schlüssel ihrer Wohnungstür herum und lehnte sich einen Moment gegen das lackierte Holz. Dann ging sie mit langsamen Schritten zu dem CD-Player und würgte Lou Bega und seinen »Mambo No. 5« ab. Die ersehnte Stille wurde durchbrochen von einem leisen, aber kontinuierlichen Geräusch. Kyra folgte dem Laut. Jemand hatte ein Bierglas auf der Fensterbank abgestellt und umgestoßen. Der Gerstensaft tröpfelte auf die Dielenbretter. Kyra starrte auf die Lache. Das leise Plopp-Plopp strapazierte ihre Gehörgänge mehr als die laute Partymusik. Mit langsamen Schritten lief sie durch ihre Wohnung, von Raum zu Raum.

Ein Laut wie das Winseln eines Welpen zwang sich durch ihre Kehle, während ihr heiß die Tränen in die Augen schossen. Es war so still. Selbst der Bierrest auf der Fensterbank hatte sein monotones Ploppen eingestellt. Das Gefühl der Einsamkeit ließ Kyra nach Luft schnappen.

Wo war der Mann, mit dem sie jetzt über das aufgeweichte Konfetti in den halb vollen Sektgläsern lachen konnte? Der sich über den Gestank der überquellenden Aschenbecher, die ihre Freunde hinterlassen hatten, aufregte. Der ihr half, die Chipsreste aus der Sofaritze zu pulen. Der all das nicht tat, sondern sie einfach über seine Schulter warf und zum Bett trug, um sie leidenschaftlich zu lieben. Wo war er?

Tränenblind ging Kyra zu ihrem kleinen Sekretär und öffnete die obere Schublade. Sie nahm ihr Tagebuch zur Hand und schlug die nächste leere Seite auf. Es würde die letzte Eintragung in diesem Buch sein. Die letzte Eintragung für 1999. Das neue Jahr hatte zwar schon begonnen, aber es war noch keine Zeit gewesen, um einen Eintrag zu machen und den Artikel vom 31.12., den sie am Morgen ausgesucht hatte, einzukleben.

Mit dem Handrücken wischte sie die Tränenspuren von ihren Wangen und fixierte den kleinen Bericht, ohne ihn noch einmal zu lesen.

Während sie mit dem Füller das Datum in die obere rechte Ecke schrieb, liefen die Tränen erneut. Sie bemühte sich nicht, sie zurückzuhalten. Im Gegenteil, es brach förmlich aus ihr heraus. Sie weinte laut und heftig, und ihre Hand zitterte, aber sie schrieb. Sie musste einfach schreiben.

30 Jahre! Und ich bin so einsam wie nie. Oder: wie immer. Was ist nur los?

Bin ich so anders als die anderen Frauen? Ich verstehe es einfach nicht.

Ich möchte doch nur einen Menschen, der zu mir gehört. Zu dem ich gehöre.

Kyra wischte über die feuchten Flecken, die ihre Tränen auf dem Papier hinterließen. Die krakeligen Zeilen verschwammen vor ihren Augen. Sie stand abrupt auf und ging zu dem kleinen Tisch, auf dem die Weinbrandflasche stand. Sie setzte einfach die Flasche an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Der Hennessy brannte sich durch ihre Kehle. Dann ging sie zum Fenster und riss es weit auf. Die frische Luft jagte einen Schauer über ihren Nacken, aber sie blieb stehen und atmete tief ein und aus. Gedämpfte Musik war zu hören. Irgendwo wurde noch gefeiert. Kyra schloss das Fenster erst wieder, als die Kälte sie schüttelte. Die Tränen waren versiegt. Sie ging zurück an den Sekretär und las die Zeilen, die sie bereits geschrieben hatte. »Es reicht!«, brummelte sie, ließ einen kleinen Absatz und schrieb weiter:

Vorsatz für 2000: Ich werde Sex haben! Ich werde mit einem Mann schlafen.

Und wenn ich mir einen kaufen muss! Ich will nicht mehr anders sein.

Und dann wird der Bann gebrochen sein. Ich werde einen Freund haben. Ich werde geliebt werden. Ich werde heiraten. Ich werde fünf Kinder haben.

Kyra stieß einen hoffnungsvollen Seufzer aus. Sie fühlte sich erleichtert. Alles würde gut werden. So ein Jahrtausendwechsel musste doch zu etwas gut sein.

Sie las noch einmal den letzten Absatz und machte aus der Fünf eine Zwei. »Wir wollen doch nicht übertreiben, Kyra Althoff«, sagte sie lächelnd in die Stille und klappte das Tagebuch zu. Sie legte es nicht in die Schublade des Sekretärs zurück, sondern schob auf dem Regal über dem Sekretär die Donald-Duck-Spardose, die als Buchstütze diente, zur Seite und reihte das Buch in die Flotte der anderen beschriebenen Tagebücher ein. Sie drückte Donalds mit Fünf-Mark-Stücken prall gefülltes Entenhinterteil wieder dagegen und stand gähnend auf.

Auf der Suche nach einem sauberen Glas tapste sie in die Küche und füllte, als sie keines fand, ihren Kaffeebecher mit Mineralwasser. Während sie in kleinen Schlucken trank, fiel ihr Blick auf das Buch aus der Rumpelkammer, das sie auf dem Küchenregal abgelegt hatte. Sie griff danach und schlug den Deckel auf. Dann die erste Seite. Überrascht starrte sie auf das Papier. Die Seite war nicht leer. Ein Zeitungsartikel prangte in der Mitte. Ein Artikel, der genauso aussah wie die, die sie jeden Tag aus der »Nordschau« ausschnitt. Aber der Artikel in dem dicken Lederbuch war nicht von der Art, die Kyra bevorzugte. Ganz im Gegenteil. Es war der Bericht über einen Unglücksfall:

VIER TOTE BEI ZUGUNGLÜCK IN DER SCHWEIZ

Kyra las den Text auf die Schnelle quer. Aufgrund einer defekten Signalanlage war ein Güterzug in einen voll besetzten Personenzug gerast.

»Schrecklich«, murmelte sie und blätterte durch die anderen Seiten, aber die waren leer. Sie klappte das Buch zu und betrachtete es nachdenklich. Wem mochte es gehört haben? Noch einmal strich sie mit der Hand über das leicht raue Leder und legte es dann gähnend zurück auf das Küchenregal, um ungewaschen und todmüde in ihr Bett zu sinken.

***

Kyra brauchte mehrere Sekunden, um das Geräusch, das sie geweckt hatte, einordnen zu können. Sie setzte sich senkrecht im Bett auf, als es erneut an der Tür klingelte. Ihr Blick glitt automatisch zum Wecker. Zwölf Uhr achtundzwanzig. Gähnend schlurfte sie zur Tür und warf dabei missmutige Blicke von einer Ecke zur anderen. Es gab noch viel zu tun, bevor ihre Mutter um sechzehn Uhr eintreffen würde.

»Mama!«, stieß Kyra überrascht aus, als sie die Tür öffnete.

»Ich habe einen früheren Zug genommen«, sagte Ellen Althoff lächelnd und drückte ihrer Tochter einen abgedeckten Kuchenteller in die Hand. Dann nahm sie ihre Tasche und ein in knallrotes Geschenkpapier gewickeltes Päckchen vom Boden auf und trat ein.

Kyra strahlte. Sie hob die Alufolie ein Stückchen vom Kuchenteller, schnupperte genießerisch und fragte hoffnungsvoll: »Apfel-Streusel?«

»Natürlich, mit Föhrer Äpfeln«, sagte Ellen. Die beiden Frauen lächelten sich an. Dann legten beide aus den Händen, was sie darin hielten, und umarmten sich lange. »Herzlichen Glückwunsch, mein Liebling«, sagte Ellen Althoff und drückte Kyra einen Kuss auf die Stirn. »Ich wünsche dir alles erdenklich Liebe für dein neues Lebensjahr. Mögen sich alle deine Wünsche für das Jahr 2000 erfüllen.«

Zwei Stunden nach Ellen Althoffs Ankunft sah Kyras Wohnung aus, als hätte nie eine Party stattgefunden.

»Ach, Mama, du bist doch die Beste.« Kyra ließ sich zufrieden auf das Sofa plumpsen. »Ohne dich hätte ich noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Dafür lade ich dich heute Abend schick zum Essen ein. Vier Gänge. Ich habe uns einen Tisch im ›Dückerstieg‹ reserviert.«

»Ich hatte gehofft, dass du dich nicht selbst an den Herd stellst«, sagte Ellen, »denn wenn ich mich recht entsinne, sind das Einzige, was du überhaupt kochen kannst, Spaghetti mit Tomatensoße. Oder hast du dein Repertoire inzwischen erweitert?«

»Na, hör mal«, stieß Kyra empört aus. »Ich kann noch Spiegeleier und Bratwurst und … und bestimmt noch mehr, wenn ich nur einmal Zeit zum Kochen hätte.«

»Ersetze das Wort ›Zeit‹ durch ›Lust‹, dann glaube ich dir«, sagte Ellen lächelnd. »Aber nun pack endlich dein Geschenk aus. Ich bin gespannt, was du sagst.«

Kyra sprang auf, holte das Päckchen und stellte es vor sich auf den gelaugten Kieferntisch. Als der Schleifenknoten Widerstand leistete, griff sie kurzerhand zur Schere und durchtrennte die Satinschleife mit einem schnellen Schnitt.

Ellen Althoff schüttelte bedauernd den Kopf. »Typisch«, sagte sie. »Die schöne Schleife! Du hättest sie noch einmal verwenden können.«

Kyra sah sie nur verständnislos an und warf das rote Geschenkpapier zusammengeknüllt neben den Tisch.

»Oh Mama, das ist wirklich schön. So edel.« Kyra hielt ein Kosmetiktäschchen aus weichem cremefarbenen Leder in der Hand und betrachtete es mit einem Lächeln.

»Öffne es«, sagte Ellen gespannt. »Es ist noch etwas drinnen.«

Kyra zog den Reißverschluss auf und holte einen Umschlag und ein weiteres, kleines Päckchen heraus. Sie entfernte die Silberfolie des Päckchens, öffnete die Verpackung und drehte den Verschluss des Parfümflakons auf. »Hmm, Chanel No. 5«, sagte sie genießerisch und verteilte eine großzügige Menge über Handgelenke und Dekolleté. »Danke, Mama.«

»Nun öffne doch endlich den Umschlag, Kind«, sagte Ellen lachend. »Darin ist doch das Hauptgeschenk.«

Kyra öffnete neugierig das Kuvert, zog die Karte heraus und las den Text. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie ihre Mutter ansah. »Eine Woche Rom? Für zwei Personen? Ach, Mama, du musst mir doch nicht so viel schenken. Das … das ist doch viel zu viel!«

Ellen Althoff setzte sich neben Kyra auf das Sofa und nahm sie in den Arm. »Warum nicht, mein Schatz? Geld ist doch nicht alles. Außerdem ist es ein runder Geburtstag. Man wird nicht alle Tage dreißig. Und eins sage ich dir gleich: Die zweite Person werde nicht ich sein. Nimm mit, wen du möchtest. Doro oder Sam oder Mister XY. Hauptsache, du hast deinen Spaß.«

Es kostete Kyra einige Mühe, die Tränen niederzukämpfen, die nach den Worten ihrer Mutter erneut in ihre Augen geschossen waren. Wenn es Mister XY doch nur geben würde!

Einen Moment war sie versucht, sich in die Arme ihrer Mutter zu werfen, zu sagen: Ich bin so allein, Mama! Aber sie tat es nicht. Ihr Kummer würde auch Ellens Kummer werden. Und warum sollte sie noch jemanden unglücklich machen? Also lächelte sie und sagte: »Sam nehme ich lieber nicht mit. Der schnappt mir all die süßen Italiener vor der Nase weg. Warum willst du nicht mitkommen? Wir hätten bestimmt eine schöne Zeit in Rom. Und du bist doch auch Single, genau wie ich.«

Ellen Althoffs Gesicht nahm eine zarte Röte an. Sie griff verlegen nach ihrem Wasserglas und drehte es in den Händen, ohne einen Schluck zu trinken. »Das … äh, stimmt nicht so ganz, mein Schatz. Ich wollte es dir gerade erzählen. Es gibt da … Hermann.«

Kyras Augenbrauen ruckten nach oben. »Hermann? Wer ist Hermann?«

»Hermann Potsiek«, kam es fast ängstlich aus Ellens Mund. »Du kennst ihn. Die Potsiek-Räucherfisch GmbH in Wyk.« Sie blickte Kyra an, und nach einem Moment des Zögerns setzte sie hinterher: »Wir … wir sind zusammen.«

Kyra starrte ihre Mutter an. Ellen nahm die Hand ihrer Tochter und sagte leise: »Sei mir nicht böse, Schatz. Aber Agnes und dein Vater, sie sind schon so lange tot. Und ich war so allei–« Ellen Althoff kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn Kyra brach von einer Sekunde zur nächsten in Tränen aus.

»Schatz, es tut mir so leid«, stotterte Ellen. »Wenn ich gewusst hätte, dass es dich so aufregt …«

»Ach, Mama«, lachte Kyra unter Tränen und riss ihre Mutter in die Arme. »Ich bin dir doch nicht böse. Das … das ist doch herrlich! Ich freu mich so für dich. Ich freue mich wirklich. Endlich hast du jemanden gefunden, der dein Leben teilt. Mein Gott, das ist so schön, Mama.«

Erleichtert ließ sich Ellen Althoff in die Kissen zurücksinken. »Deine Tränen haben mich etwas irritiert.«

»Na, hör mal«, tat Kyra entrüstet, während sie mit den Handrücken über ihre feuchten Wangen wischte. »Bei so einer Nachricht werde ich doch mal Gefühle zeigen dürfen. Ich bekomme einen Stiefvater. Noch dazu einen stinkreichen. Gehört dem nicht halb Föhr? Richte ihm meine allerliebsten Grüße aus. Er ist mir herzlich willkommen, wenn er mir ab sofort wöchentlich eine Ladung Räucheraal liefert. Natürlich unentgeltlich.«

»Du bist unmöglich«, lachte Ellen Althoff auf. »Aber nett unmöglich. Ich freue mich, dass du so reagierst.«

Jetzt sah Kyra ihre Mutter ernst an. »Du bist seit zwölf Jahren allein, Mama. Es gibt nichts, was ich dir mehr gönne als einen neuen Partner. Und ich bin sicher, dass Aggi und Papa sich mit uns freuen. … Heute Abend spendiere ich eine Flasche Champagner!«

»Boah, das war wieder mal herrlich«, schwärmte Kyra und rieb sich den Bauch, als sie wieder in der Wohnung waren. »Die glacierte Meeräsche war exzellent. Ich werde sie in meinem Tagebuch erwähnen.«

Ellen starrte Kyra an. »Tagebuch«, sagte sie bestürzt. »Ich habe dir gar kein Tagebuch geschenkt. Wie konnte ich das vergessen?«

»Du hast mir diese wunderschöne Rom-Reise geschenkt, Mama«, tröstete Kyra sie. »Da werde ich mir wohl mal selbst ein Tagebuch kaufen können. Obwohl … vielleicht muss ich mir gar keines kaufen. Ich habe vorgestern in der Rumpelkammer ein leeres Buch entdeckt. Das wäre ein perfektes Tagebuch. Es hat so einen schönen antiken Ledereinband.«

»Wenn du meinst«, sagte Ellen und schüttelte den Kopf, während sie in die kleine Küche ging, um die leeren Gläser in die Spüle zu stellen. »Dass mir das passiert! Ich schenke dir immer ein Tagebuch.«

»Bring mir das Buch aus der Kammer doch gleich mit«, rief Kyra ihrer Mutter hinterher. »Es liegt auf dem kleinen Regal, direkt neben der Teekanne.«

»Hier liegt kein Buch auf dem Regal«, rief Ellen Althoff einen Augenblick später Richtung Wohnzimmer, »und auch sonst sehe ich hier kein Buch.« Sie kam zurück ins Wohnzimmer.

»Ist egal«, sagte Kyra gähnend. »Dann hole ich den Eintrag nach, wenn ich das Buch gefunden habe. Komisch, ich hätte geschworen, dass ich es auf das Küchenregal gelegt habe.«

Sie schlurfte ins Bad, das ungute Gefühl, wieder einmal etwas verlegt zu haben, verdrängend. Morgen war schließlich auch noch ein Tag zum Suchen. Ein weiterer Tag in ihrem ereignislosen Leben.

ZWEI

»Sei heute Nacht bei mir. Schenke mir deine Gedanken. Nicht ihr. Bitte, wenigstens für diesen Moment.« Die Arme der Frau schlangen sich von hinten um den Bauch des Mannes. Sie presste ihre Lippen auf seinen nackten Rücken, ließ ihre Zunge langsam sein Rückgrat hinaufwandern, während ihre Finger gierig über seinen Körper strichen.

Er rührte sich nicht, sondern starrte aus dem schmalen Fenster in die sternenklare Nacht. Auf das im Mondlicht glitzernde Wasser des Flusses. Die Hitze ihrer nackten Brüste nahm er genauso wenig wahr wie ihr Hände.

»Ich will nicht glauben, dass unsere Informationen falsch sind«, stieß er aus und hieb seine Faust an die Fensterlaibung. »Sie muss dort gewesen sein. Wir müssen sie finden! Ich will sie. Ich will sie so sehr!«

Langsam wandte er sich um, sah der Frau vor sich in die dunklen Augen. »Ich träume davon, wie sich ihr warmer Körper unter mir windet, während ich es aus ihr herausstoße. Und dann wache ich auf, und mir wird bewusst, dass ich diese Lust niemals ausleben darf. Dass ihr Leib tabu ist, solange wir nicht zurückgeholt haben, was unserem Herrn gehört.«

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