Dämonen der Speicherstadt - Heike Denzau - E-Book

Dämonen der Speicherstadt E-Book

Heike Denzau

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ein Krimi zwischen Mystery und Fantasy. Als die junge Hamburger Kommissarin Rahel Bathlevi am Tatort ihres neuen Falles eintrifft, ahnt sie noch nicht, dass ihr die Ermittlungen die Tür zu einer bisher ungekannten Welt öffnen. Sie wird mit der Tatsache konfrontiert, dass es Dämonen gibt – und nimmt mit einer Gruppe von skurrilen Jägern den Kampf gegen das ultimative Böse auf. Unterstützt wird sie von einem übernatürlichen Zwillingspaar, bei dem sie sich nicht sicher sein kann, auf wessen Seite es eigentlich steht. Und die Zeit drängt, denn der Blutmond naht …

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Seitenzahl: 694

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Heike Denzau, Jahrgang 1963, ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in dem kleinen Störort Wewelsfleth in Schleswig-Holstein. Bereits mehrfach preisgekrönt, ist sie Verfasserin zweier erfolgreicher Krimireihen und veröffentlicht außerdem bei Droemer Knaur humorvolle Liebesromane.

www.heike-denzau.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus FrenjaminBenklin/stock.adobe.com, dlohner/Pixabay.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-959-4

Mystery Krimi

Originalausgabe

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Das Böse ist das Fehlen des Guten.

Vor sechzehn Jahren

Mr. Minhs Laden war geheimnisvoll. »TRÖDEL« stand in verschnörkelten goldenen Buchstaben auf einem schwarzen Schild, das an einer Stange über der Tür befestigt war und hässlich quietschte, wenn der Wind durch die Straße fuhr. Heute hing es ruhig da.

Wie jeden Tag, wenn sie gemeinsam mit Sarah und Lennart von der Grundschule nach Hause ging, blieb Rahel ein paar Minuten vor dem Schaufenster stehen und betrachtete die wunderliche Auslage. Sie liebte den Laden, obwohl sie noch nie drinnen gewesen war. Schon das Schaufenster verlockte zum Geschichtenerzählen, und Rahel erzählte gern Geschichten.

»Der Rabe ist unheimlich«, sagte Sarah, die neben sie getreten war. »Darum kauft ihn auch keiner.«

Rahel wollte ihr nicht zustimmen. Sie mochte den schwarzen Vogel, an dessen oberem Schnabelteil ein Stück herausgebrochen war. Der Rabe saß meist so reglos auf der Stange in seinem hübsch verzierten Käfig, dass man meinen konnte, er wäre ausgestopft. Neben dem Käfig mit dem Raben hing ein weiterer Vogelkäfig, aber darin stand eine Figur aus Porzellan. Ein Drache mit verblichenen grünen Schuppen und Flügeln, die er eng an den Körper presste. Starr blickten die schwarzen Augen geradeaus.

Dann gab es noch den Käfig mit den Wellensittichen, die so hübsch bunt waren und um die Wette piepten. Aber Mr. Minh verkaufte nicht nur Vögel, sondern vor allem chinesischen Schnickschnack. Teekannen und Tierfiguren aus bemaltem Porzellan, Fächer mit exotischen Motiven, winzige Tischchen mit krummen Beinen, bestickte Decken, perlenverzierte Kästchen und vielerlei mehr.

»Jetzt kommt«, sagte Lennart, »wir müssen rüber.«

Rüber … Rahel drehte sich um und blickte zu dem vierstöckigen grauen Haus auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Das Kinderheim. Ihr Zuhause. Verschmierte Graffiti waren auf den bröckelnden Putz gesprüht worden. Rahel wusste: Wenn sie groß war, wollte sie nicht in einem Haus wohnen, auf das jemand »Fick dich« geschmiert hatte. Sie wollte ein Häuschen mit einem Garten voller Blumen, Schmetterlingen und einem Baum mit Loch im Stamm, in dem die Elfen wohnten.

Sie drehte sich noch einmal zum Schaufenster um, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Mr. Minh setzte gerade ein Püppchen auf einen samtbezogenen Hocker. Als er aufsah, trafen sich ihre Blicke.

Rahel kannte keinen einzigen Menschen, der ihm auch nur im Entferntesten ähnelte. Mr. Minh war ein kleiner Mann. Ein Männchen. Mit langen weißen Haaren und einem ebenso weißen spitzen Bart am Kinn. Obwohl er bestimmt hundert Jahre alt war, leuchteten seine Mandelaugen wie die eines Jungen. Er trug bunte Gewänder und ständig Sandalen, selbst im Winter. Das hatte sie beobachtet, wenn er die Mülltonnen zur Straße schob. Ihr Zimmer im Kinderheim lag zur Straßenseite, sodass sie den Laden immer sehen konnte, wenn sie sich ans Fenster stellte. Das tat sie oft. Besonders gern nachts, wenn sie wach wurde, weil der Mond ins Zimmer schien und seine Schattenwesen an die Wand warf.

Mr. Minh schenkte ihr ein Lächeln, und sie erwiderte es. Mit einem Winken drehte sie sich um.

Als Rahel nach Lennart und Sarah das Heim betrat, schlug ihr die übliche Geräuschkulisse entgegen. Eines der kleineren Kinder weinte, was aber an Lautstärke von dem Geschrei eines anderen Kindes übertrumpft wurde. Rahel kannte jedes Weinen, jedes Schreien, jede Stimme jeden Kindes. Dies waren eindeutig Marek und Cassidy. Wahrscheinlich hatte Cass Marek wieder ein Spielzeug weggenommen. Dass sie schrie, lag daran, dass sie sich gegen die Vorwürfe von Erzieherin Bettina verteidigte, deren ruhige Stimme ebenfalls zu hören war.

Rahel zog die Jacke aus und hängte sie an ihren Garderobenhaken. Es war der Haken mit der Schildkröte. Als sie hierhergekommen war, hatten die Farben des Panzers geleuchtet. Mittlerweile war er so abgeschabt, dass er kaum noch zu erkennen war. Genau wie Sarah und Lennart zog sie die Schuhe aus und stellte sie auf eine der stählernen Ablagen. Doch statt den beiden in den Gemeinschaftsraum zu folgen, huschte Rahel die Treppe hinauf, ging in ihr Zimmer, das sie sich mit Sarah teilte, und legte sich auf das Bett. Jetzt waren die Geräusche gedämpft, so, als hätte jemand einen Watteberg über die Streithähne gestülpt.

Rahel starrte an die Zimmerdecke und hoffte, dass Sarah noch ein wenig unten bleiben würde. Weil es schön war, mal allein zu sein. So schön. Wenn sie groß war und in ihrem Häuschen wohnte, würde sie dort ganz allein wohnen. Alle Räume würden nur ihr gehören. Und in allen würde es herrlich still sein.

Mit einem Lächeln betrachtete sie die Spinne in der Ecke über Sarahs Bett. Spinnen waren toll. Besonders die, die draußen lebten. In ihren Netzen, die so wunderschön gewebt waren, glitzerte der Tau wie funkelnde Diamanten. Das Netz über Sarahs Bett funkelte nicht. Man konnte es von hier aus nicht einmal sehen. Aber die Spinne würde es sowieso nicht zu Ende weben können, denn wenn Sarah sie entdeckte, würde das Geschrei auch hier losgehen.

Wie auf Kommando öffnete sich die Zimmertür, aber es war nicht Sarah, sondern Bettina.

»Na, mein Schatz, bist du vor dem Lärm geflohen?« Sie schloss die Tür hinter sich und strich sich eine Strähne ihres dunkelblonden Zottelhaars hinter das Ohr, während sie näher kam.

»Ja.« »Mein Schatz« genannt zu werden, war nichts Besonderes. Alle Kinder waren Bettinas Schätze, und dennoch hatte Rahel immer das Gefühl, dass Bettinas Stimme sich bei ihr anders anhörte, wenn sie es sagte.

Bettina setzte sich mit ihrem Warmer-Bollerofen-Lächeln zu ihr aufs Bett. Sie durfte das. Rahel kannte sie ihr Leben lang.

»Heute Nacht ist Vollmond«, sagte Bettina und spielte mit einer von Rahels langen Locken. »Wenn du aufwachst, dann tu mir einen Gefallen, Rahel: Lass Sarah schlafen. Sonst ist sie am nächsten Tag wieder unausstehlich.« Sie zwinkerte.

Rahels Bauch drückte. Es stimmte, sie hatte Sarah in den letzten beiden Vollmondnächten geweckt. Aber doch nicht ohne Grund!

Bettina zog eine Locke gerade und ließ sie wieder los. »Sie hat nicht deine Phantasie, mein Schatz.«

Phantasie? Das, was in Mr. Minhs Laden passierte, dachte sie sich doch nicht aus! Aber Rahel schluckte die Widerworte, die ihr auf der Zunge tänzelten, herunter. Stattdessen fragte sie: »Wer hat heute Nachtdienst?«

»Ich.« Bettina strich ihr über die Wange. »Aber ich möchte nur geweckt werden, wenn es etwas wirklich, wirklich Wichtiges ist.« Diesmal lächelte Bettina nicht. »Eine Geschichte ist nachts nicht wichtig, auch wenn sie ganz besonders aufregend ist. Geschichten höre ich mir gern am Morgen an. Sind wir uns da einig?«

Rahel nickte. Natürlich. Sie würde Bettina niemals für eine ausgedachte Geschichte wecken. Nur für die Wahrheit.

Hoffentlich war es bald dunkel.

Als Rahel in der Nacht die Augen aufschlug, war sie einen Moment lang darüber erstaunt, dass sie trotz der inneren Aufregung eingeschlafen war. Sie setzte sich im Bett auf und ließ ihre Augen sich an die Düsternis gewöhnen. Immer deutlicher wurden die Schatten, die das Mondlicht an die gegenüberliegende Wand malte. Es waren gleichzeitig bewegte wie starre Bilder. Da war der Abdruck der Fensterstreben, breit und grau, obwohl sie doch weiß und schmal waren. Darüber bewegte sich der Schatten des Vorhangs. Ihr Blick wanderte weg von den Schatten hinüber zum anderen Bett. Im Mondlicht hob sich gegen die helle Wand deutlich ein dunkler Maulwurfshügel ab – Sarah unter der Bettdecke.

Rahel stand auf und tappte zum Fenster. Würde es wieder zu sehen sein? Gespannt sah sie hinunter auf die Straße, zum Laden von Mr. Minh. Ihr Herz begann zu galoppieren. »Da bist du wieder, Feuer«, flüsterte sie aufgeregt, den Blick fest auf das Schaufenster gerichtet, das ein wenig im Dunkeln lag, weil die Laterne vor Mr. Minhs Laden nicht funktionierte.

Gebannt blickte sie auf die beiden winzigen Flammen, die sich im Schaufenster ganz leicht bewegten. Es war der Rabe. Seine Augen brannten in einem lichten Blau. Rahel wusste, dass es seine Augen waren, weil die beiden kleinen Flammen immer den gleichen kurzen Abstand zueinander hielten. Manchmal waren sie ein Stückchen weiter oben, mal weiter unten zu sehen. Je nachdem, ob der Rabe wohl auf der Stange hockte oder auf dem Käfigboden.

Mit klopfendem Herzen schaute Rahel dem Flimmern im Laden eine Weile zu, dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie tappte zu Sarahs Bett und zerrte an dem Maulwurfshügel. »Sarah! Sarah, wach auf! Es ist wieder da.«

»Hm«, kam ein ungnädiges Grummeln von Sarah. »Lass mich.«

Rahel rüttelte mit beiden Händen an der Bettnachbarin. »Steh auf! Das Feuer ist wieder da. Sarah!«

Und endlich war Sarah wach. Es störte Rahel nicht, dass sie »Bist du blöd?« fauchte und ihre Hände wegschlug.

»Das Feuer ist wieder da«, stieß Rahel noch einmal aus und flitzte zum Fenster zurück. Die kleinen blauen Flammen flackerten in der Dunkelheit. »Komm«, flüsterte sie aufgeregt, als Sarah aufstand.

»Da ist kein Feuer, du Spinnerin«, zischte Sarah, noch bevor sie am Fenster war. »Heute nicht und letztes und vorletztes Mal auch nicht.« Dennoch stellte sie sich neben Rahel ans Fenster und sah hinaus.

»Da!« Rahel deutete zu Mr. Minhs Laden, wo die winzigen Flammen bläulich flackerten. »Das ist der Rabe.« Im selben Moment wurde sie von Sarah zur Seite geschubst.

»Jetzt hol ich Bettina.« Sarah stampfte zur Tür. »Die hat gesagt, ich soll sie wecken, wenn du wieder rumlügst.«

»Aber ich lüge doch nicht«, schrie Rahel ihr hinterher. Sie folgte Sarah durch die Zimmertür. »Ich …«, sie betonte jedes Wort einzeln, während sie es über den Flur schrie, »lüge … nicht!« Und dann konnte sie nicht mehr aufhören, es zu schreien. Sie schrie die Worte hinaus und trampelte dazu mit den Füßen auf den Boden, bis sich nach und nach alle Zimmertüren öffneten und die anderen Kinder auf den Flur traten, in ihren Pyjamas, müde, verschlafen, und sie aus großen Augen anstarrten. Einige pressten ein Kuscheltier an sich. Asra und Timothy begannen zu weinen.

Schon kam Bettina die Treppe hinaufgeeilt. Mit ihrem Gewittergesicht. Die Augen blitzten, und ihre Stimme donnerte über den Flur. »Rahel!«

»Ich lüge nicht!«, schrie Rahel ihr entgegen. »Ich … lüge … nicht!«

»Du bleibst hier auf dem Flur«, fuhr Bettina Sarah an, die ihr gefolgt war. Dann packte sie Rahel am Arm, zog sie ins Zimmer und knallte die Tür zu. Sie zog sie zum Fenster und deutete hinaus. »Das ist kein Feuer, Rahel! Da ist … nichts!«

Rahels Lippen zitterten, als sie den freien Arm hob und mit dem Finger zu Mr. Minhs Schaufenster deutete. »Aber … Da!« Sie begann zu weinen, sodass die kleinen Lichter verschwammen und noch mehr flimmerten.

Rahel hörte Bettina schwer atmen, während sie schluchzte. Dann löste sich die Hand von ihrem Arm. Bettina legte einen Arm um ihre Schultern und lenkte sie Richtung Bett. Als sie beide saßen, nahm Bettina ihren Kopf in beide Hände und sah sie an. »Das geht so nicht weiter, Schatz. Wir beide werden morgen früh Mr. Minh einen Besuch abstatten.«

***

»Siehst du?«, sagte Bettina, als sie am Samstagmorgen vor dem Schaufenster standen. »Der Rabe hat schwarze Augen, wie jeder Rabe. Wie in Gottes Namen sollen denn seine Augen brennen?«

Rahel blickte den schwarzen Vogel an. Es sah aus, als sehe auch er sie mit seinen glänzenden Knopfaugen an, als er seinen Kopf ruckartig bewegte. »Tagsüber brennen seine Augen doch auch nicht«, erklärte sie Bettina genervt, weil sie es schon hundertmal gesagt hatte. »Immer nur nachts. Wenn Vollmond ist.«

Mit einem dicken Seufzer legte Bettina ihr die Hand auf die Schulter und lotste sie zu den ausgetreten Steinstufen, die in Mr. Minhs Laden führten. »Geöffnet« zeigte ein Schild hinter der Scheibe der Ladentür an. Das war nicht selbstverständlich. Mr. Minh hatte eigenartige Öffnungszeiten. Nie vor elf Uhr morgens, dafür aber manchmal bis in die Nacht. Und oftmals war der Laden wochenlang geschlossen. Eine alte Frau kam dann, um die Vögel zu füttern – Rahel hatte es aus ihrem Zimmerfenster beobachtet.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Endlich würde sie den Laden einmal von innen sehen. Sie hatte sich nie hineingetraut, weil es ihnen verboten war, nach der Schule in ein Geschäft oder dergleichen zu gehen. Und es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich nicht an die Regeln des Heims zu halten.

Ein eigenartiges Geräusch erklang, als Bettina die Ladentür aufdrückte und sie eintraten. Ein melodisches Klackern. Obwohl die Wellensittiche zwitscherten, war es deutlich zu hören.

»Was ist das?«, fragte Rahel mit Blick zur Decke. Dort baumelte ein kleines Blechdach, an dem an Bändern hölzerne Stangen hingen, die sich sachte hin und her bewegten. Als Bettina die Tür schloss, erklang die Melodie wieder.

»Das ist ein Windspiel aus Bambus«, erklärte Bettina. »Die Röhren sind hohl und erzeugen diese hübschen Töne.«

»Das ist schön!«, rief Rahel begeistert. Dann eilte sie zu dem Schaufenster, in dem die drei Käfige hingen. In dem linken Käfig mit den Wellensittichen herrschte buntes Gewusel und Gepiepe. Ganz rechts hing der Käfig mit dem Porzellandrachen. Zwei seiner Rückenschuppen waren abgestoßen. Der Rabe tappte im mittleren Käfig auf der Stange hin und her und hielt ihr den Rücken zugewandt. Rahel fuhr zusammen, als er ein dunkles »Krah« ausstieß.

»Mr. Minh?«, rief Bettina in den hinteren Teil des Geschäfts. Nichts rührte sich.

Rahel sah Bettina an, und die zuckte mit den Schultern. Sie gingen beide stumm durch den Laden, der nach hinten hin immer dunkler wurde. Rahel konnte sich nicht sattsehen. Sie hatten eine bunte, schillernde, geheimnisvolle Welt betreten, in der es eigenartig, aber nicht unangenehm duftete. Große und kleine Fransenteppiche, in die Bilder gewebt waren, lagen auf dem schäbigen Holzboden. Wahllos verteilt standen darauf Schränkchen und Kommoden, Stühle, Hocker und kleine Tische, auf denen wiederum Dinge lagerten. Öllampen, bunte Deckchen, Tierfiguren aus Porzellan und Holz, perlenverzierte Schachteln, goldene Löffel … In einem Schrank mit geöffneten Türen lagen seidige Stoffballen. Daneben hingen an einem vielarmigen Garderobenständer Tücher und Schals. Ein riesiger alter Koffer enthielt Gürtel und Beutel aus Leder. Rahel schnupperte. Das Leder hatte seinen Anteil am Geruch im Laden.

Auch Bettina schien beeindruckt. Immer wieder blieb sie stehen, um ein Möbelstück zu betrachten oder mal hier, mal da über eine Figur zu streichen.

»Schau, Bettina!« Rahel deutete auf einen dunklen Balken, an dem an Haken Marionetten hingen und ein Windspiel, wie am Eingang. Nur dass dieses sich nicht bewegte, weil kein Luftzug herankam. »Kann ich es kaufen?«, fragte sie. »Ich hab doch mein Taschengeld gespart. Über zehn Euro hab ich noch.«

Bettina trat näher und betrachtete das winzige Preisschild, das mit einem Faden an dem Windspiel befestigt war. »Nein, mein Schatz, es ist viel zu teuer. Vielleicht ein Weihnachtsgeschenk.«

Rahel nickte. Es würde ganz oben auf ihrer Wunschliste stehen.

Im hinteren Bereich, dort, wo es am schummrigsten war, führte eine Wendeltreppe nach oben. Und es gab einen hölzernen Verkaufstresen, dessen Oberfläche von Kratzern und Ritzen und Wurmlöchern übersät war. Eine altmodische Kasse stand darauf. Die Wand dahinter bestand aus wohl hundert kleinen Schubkästen mit Knöpfen, die verschiedener nicht sein konnten: Man konnte die Schubladen an winzigen goldenen Drachenköpfen aufziehen, an farbigen Porzellanknöpfen oder an Holzknöpfen, auf die ein chinesisches Zeichen gemalt war.

Auf dem Verkaufstresen gab es noch Kästen mit Glasdeckeln, unter denen auf dunklem Samt matte, teils grünlich schimmernde Broschen, Ringe und Kettenanhänger lagen.

»Antiker Schmuck«, sagte Bettina ehrfürchtig, während Rahels Blick schon gierig weiterwanderte. Könnte sie doch hier wohnen! Tausend Märchengeschichten würden ihr einfallen. Zu jedem Gegenstand eine. Sie sah nach oben, wo von der Decke zwei schlittengroße Schiffe an Bändern über dem Tresen baumelten. »Was für komische Segel die Boote haben.«

Genau wie Bettina schrak sie zusammen, als neben ihnen eine Stimme erklang. »Das sind chinesische Schiffe, kleines Fräulein mit dem Kupferhaar. Man nennt sie Dschunken.«

Rahels Kopf schoss herum. Mr. Minh stand dort. Er musste die gewundene Treppe geräuschlos heruntergekommen sein. Er trug wieder Sandalen und eine weite graue Hose. Das senffarbene Gewand darüber reichte ihm bis an die Knie und war an der Herzseite mit schwarzen Knöpfen geschlossen. Der Kragen lag eng an, aber Rahel vermutete, dass der Faltenfächer in seinem Gesicht sich an seinem Hals wohl auch wiederfand. Am interessantesten aber war die silberne Kette, die er trug. Mit großen Augen betrachtete Rahel den Anhänger daran, einen silbergrauen Drachenkopf, dessen Augen blaue Edelsteine waren. Das Maul des Drachen war weit aufgerissen, und die spitzen Zähne hielten mittig eine Art Münze, die ein wenig schäbig aussah. Ein Geldstück war es wohl nicht, denn die Münze hatte ein viereckiges Loch in der Mitte. Um die Aussparung herum waren merkwürdige Zeichen zu sehen.

Rahel hob den Blick erst, als Mr. Minh einen Schritt auf sie zutrat. Er schob die goldfarbene Brille mit den runden Gläsern auf seiner Nase ein Stückchen höher und versenkte seinen Blick in ihrem. »Jadeaugen«, wisperte er. »Wunderschön.«

Rahel wurde warm in der Brust. Sie hatte keine Ahnung, was Jade war, aber im Heim war sie die Einzige mit grünen Augen, und sie hatte Sarah immer um deren helles Blau beneidet.

Mr. Minhs Lippen sahen aus, als würden sie jeden Moment zerbröseln wie gebrauchtes Backpapier, aber er hatte ein schönes Lächeln. Wie ein Strahlenkranz lagen die Fältchen um die Augen herum und ließen die Sonne aus ihren dunklen Tiefen scheinen.

Automatisch erwiderte Rahel das herzliche Lächeln, worauf Mr. Minh hinter seinen Ladentisch trippelte und von ihr zu Bettina sah. »Ich wünsche einen wunderbaren Tag. Womit kann ich dienen?«

»Äh, ja, Ihnen ebenfalls einen wunderbaren Tag«, stammelte Bettina. Vermutlich war sie auch über die Stimme des alten Mannes erstaunt, die ungewöhnlich hell klang und doch so kratzig war, als hätte er schon tausend Jahre damit gesprochen. »Wir möchten nichts kaufen.«

»Oh, bitte, sehen Sie sich gern einfach nur um.« Mr. Minh machte eine weit ausholende Bewegung. »Schöne Dinge sind dazu da, um betrachtet zu werden, um angefasst zu werden. Nichts, absolut nichts aus Kunststoff werden Sie hier finden. Nur Holz und Metall, Stein, Porzellan und Glas oder was die Natur uns schenkt.« Er hob ein Kännchen aus Ton an, dessen Griff geflochten war, und hielt es in die Höhe: »Ich habe Tee gekocht. Möchten Sie ein Tässchen?«

Rahel nickte heftig. Bettina würde bestimmt ablehnen, weil sie zurück ins Heim mussten, aber sie sagte: »Äh, danke, gern.«

Mr. Minh ließ goldenen Tee in zwei henkellose Becher fließen. »Sehen Sie sich um, berühren Sie«, sagte er. Während er ihnen die Becher auf dem Tresen zuschob, sah er Rahel an. »Spüre der Wärme von Holz nach, kleines Jademädchen, betrachte den Schimmer der Perlen. Jede ist einzigartig. Jedes einzelne Stück hier hat seine Geschichte.«

Rahel sah ihn mit großen Augen an. Mr. Minh war toll. »Ich erzähle immer Geschichten«, sagte sie, während sie nach dem Becher griff und am Inhalt roch. Es waren auch die Kräuter, die für den Geruch im Laden verantwortlich waren. Der Tee hatte genau die richtige Temperatur und schmeckte köstlich. Obwohl das Porzellan hauchzart war, verbrannte man sich nicht die Finger daran.

»Allerdings tust du das«, sagte Bettina mit fester Stimme. Sie schien sich gerade bewusst geworden zu sein, dass sie nicht zum Teetrinken hergekommen waren. »Mr. Minh, wir sind hier, um etwas zu klären.«

»Ja?« Die helle Stimme des alten Mannes klang interessiert.

Bevor Rahel etwas sagen konnte, sprach Bettina schon weiter. »Rahel glaubt, in Ihrem Schaufenster etwas zu sehen, was völliger Blödsinn ist. Ich möchte Sie bitten, ihr zu sagen, dass –«

»Rahel heißt du also«, unterbrach Mr. Minh Bettina, als interessiere es ihn gar nicht, was sie ihm erzählen wollte. Er lächelte Rahel an. »Phantasie ist etwas Wunderbares, mein Kind, und niemals Blödsinn. Was siehst du denn? Vielleicht kann ich es ja auch sehen?«

»Sie sieht Feuer«, übernahm Bettina wieder das Wort. Mit einem entschuldigenden Lachen fügte sie hinzu: »Sie behauptet, die Augen des Raben würden brennen.«

Rahels Wangen wurden heiß. Bestimmt würde Mr. Minh sie jetzt auslachen. Als sie ihn ansah, war das Lächeln allerdings aus seinem Gesicht verschwunden. »Was sagen Sie da?« Sein Blick ruhte auf Rahel.

»Ich lüge nicht«, verteidigte Rahel sich umgehend. »Der Rabe hat Feueraugen, oder? Immer wenn Vollmond ist.«

Mr. Minh sagte kein Wort. Er starrte sie nur an. Und das war ein wenig unheimlich, weil es sich anfühlte, als wolle er mit seinem Blick in sie hineinkriechen.

»Bitte sagen Sie ihr, dass sie sich das einbildet«, bat Bettina und legte eine Hand auf Rahels Schulter. »Sie macht jedes Mal das ganze Heim verrückt.«

»Heim?« Sein Kopf ruckte hoch.

»Ja. Wir kommen aus dem Kinderheim schräg gegenüber.« Bettina deutete hinter sich. »Rahel kann aus ihrem Zimmer direkt auf Ihren Laden blicken. Ich bin dort angestellt.«

Mr. Minh kam ganz langsam um den Tresen herum, wobei er Rahel nicht aus den Augen ließ. Ohne ein Wort zu sagen, trippelte er an ihr vorbei Richtung Schaufenster. Bettina hob die Schultern und stellte ihren Teebecher ab. »Komm«, flüsterte sie Rahel zu, und sie folgten ihm.

Mr. Minh blieb vor dem Fenster stehen und deutete – wieder mit ausladender Geste – über die Käfige in der Auslage. »Du siehst also ein Feuer, Rahel. Interessant.« Seine Augen wurden noch schmaler, als er sie musterte. »Ein hübsches rotes Feuerchen also.«

Rahel schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist blaues Feuer. Und es sind zwei, nicht eins.« Sie deutete auf den Raben. »Es sind seine Augen.«

Mr. Minh stand wie eine Eisskulptur da.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Bettina.

Er sah zu ihr auf. »Wie? Oh, ja, ja.«

»Dann sagen Sie ihr bitte, dass es Unsinn ist und die Augen des Raben nie gebrannt haben und auch niemals brennen werden.«

»Aber sie tun es, wenn Vollmond ist!«, rief Rahel verzweifelt. »Du musst ihr die Wahrheit sagen, Mr. Minh! Sag es Bettina.«

Der alte Chinese musterte sie lange. Dann spürte Rahel seine Hand auf ihrem Haar. Langsam strich er darüber. »Rahel, es ist die Wahrheit, die ich dir jetzt sage: Die Augen des Raben brennen nicht. Niemals. Auch nicht bei Vollmond.«

»Da hörst du es«, sagte Bettina. Sie klang furchtbar zufrieden. »Vielleicht kannst du ja jetzt Ruhe geben?«

Rahel schossen heiß die Tränen in die Augen. Sie starrte Mr. Minh an und wusste im selben Moment, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Grenzenlose Enttäuschung flutete ihre Brust, in der ihr Herz heftig klopfte.

»Entschuldigen Sie vielmals die Störung«, sagte Bettina. »Und vielen Dank für den Tee.«

Mr. Minh hatte sein Lächeln wiedergefunden. »Ich würde Ihnen beiden gern noch ein Kunststück vorführen. Ist es erlaubt?«

Bettina sah ihn verwirrt an. »Na gut.«

Mit eiligen Schritten ging Mr. Minh zum Tresen zurück und bückte sich dahinter. Es dauerte einen Moment, bis er zurückkam.

Rahel sah ihm erwartungsvoll entgegen. Vielleicht war Mr. Minh ja ein Feuerschlucker? Oder ein Schlangenbeschwörer? Ja, bestimmt. Das, was er in der Hand hielt, sah aus wie eine schwarze Natter. Aber als er vor ihnen stand, sah Rahel, dass es eine Peitsche war. Der Griff war geflochten. Das gräulich schwarze Leder sah uralt aus.

Und dann zuckte sie erneut zusammen, weil seine rechte Hand hochschnellte und er die Peitsche knallen ließ.

»Du meine Güte!«, stieß Bettina entgeistert aus, während sie fasziniert zusahen, wie Mr. Minh die Peitsche über den Boden und durch die Luft führte. Es knallte und sirrte nur so, und Rahel glaubte, dass Funken sprühen müssten, so schnell agierte der alte Mann mit dem dunklen Leder.

»Möchtest du auch mal?«, fragte er Rahel, während er weiter durch die Luft wedelte.

Rahel streckte begeistert die Hand aus. »Ja!« Und im selben Moment schrie sie auf. Die Peitsche hatte sie getroffen. Ein roter Striemen auf dem Handrücken zeigte, wo das Leder sich in die Haut gegraben hatte.

»Es tut mir so leid!«, rief Mr. Minh aus. Er griff nach ihrer Hand.

Rahel weinte. Es tat so weh!

»Ach herrje! Komm her, mein Schatz.« Bettina zog sie in die Arme. Mr. Minh erntete einen bösen Blick.

Rahel blickte auf die Peitsche in Mr. Minhs Hand, die er langsam aufrollte. Blödes Ding! Und das alte Leder stank auch noch eklig.

»Ich habe ein Pflaster«, sagte Mr. Minh. Er sah allerdings nicht auf ihre Wunde, sondern in ihre Augen.

»Nein, wir gehen jetzt rüber«, sagte Bettina. »Ich gebe ihr dort ein Pflaster.«

»Ist es gestattet, dass ich dem Kind zur Wiedergutmachung eine Freude bereite?« Mr. Minh lächelte Bettina an. »Ich würde ihr gern etwas schenken.«

Bettina zögerte einen Moment. »An was haben Sie gedacht?«

Und zu Rahels Überraschung sagte er: »Such dir etwas aus, kleines Jademädchen.«

»Aber das geht doch nicht«, sagte Bettina. »Wer weiß, was sie sich –«

»Ich möchte auch so eine Kette, wie du hast, Mr. Minh«, rief Rahel auch schon freudig aus, die Tränen von den Wangen wischend. »Hast du noch eine?«

»Es tut mir leid, Rahel.« Mr. Minhs fleckige Hand legte sich auf den blauäugigen Drachenkopf. »Aber dieses Schmuckstück ist einzigartig.«

»Ich habe zehn Euro.« Sie musste es einfach versuchen, denn die blauen Edelsteinaugen erinnerten an die Flammen, die sie bei Vollmond sah. »Aber bestimmt willst du deine Kette nicht verkaufen, oder? Ich würde sie auch nicht verkaufen, wenn sie mir gehören würde.«

»Sie ist in der Tat unverkäuflich«, erwiderte Mr. Minh. »Denn durch einen Verkauf würde sie ihren unermesslichen Wert verlieren. Aber bestimmt gefällt dir noch etwas anderes in meinem Laden, mein Kind.«

Rahels Augen leuchteten auf, während das Brennen auf dem Handrücken kaum noch zu spüren war. »Dann möchte ich das Windspiel.«

»Eine gute Wahl«, nickte Mr. Minh. »Komm, wir holen es.« Er reichte Rahel die Hand und sagte zu Bettina: »Wir sind gleich wieder da.«

Aufgeregt folgte Rahel ihm zu dem Balken, wo das Windspiel neben den Marionetten hing. Mr. Minh holte einen kleinen Tritt, kletterte hinauf und hob die Schlaufe vom Nagel. Das Windspiel klackerte eine Melodie, als er es ihr reichte.

»Danke schön!« Freudestrahlend nahm Rahel das klingende Geschenk entgegen.

»Versprich mir, dass du niemals aufhören wirst zu lächeln, Rahel«, sagte Mr. Minh. »Niemals. Ein Lächeln, das von Herzen kommt, ist eine der kostbarsten Waffen gegen das Übel der Welt. Es erwärmt die Herzen derer, die es erhalten.«

Rahel löste ihren Blick von dem Windspiel. Warum klang Mr. Minh so ernst? Natürlich würde sie niemals aufhören zu lächeln.

»Aber«, seine helle Stimme wurde leiser, »gegen das wahre Böse hilft kein Lächeln. Du wirst kämpfen und dich selbst überwinden müssen, Rahel, um es auszumerzen.«

Verständnislos sah sie ihn an. Was redete er denn da?

»Rahel«, rief Bettina von vorn, »kommst du jetzt bitte?«

Mr. Minh ging auf die Knie und strich über ihr Haar. »Vertraue deinen wundersamen Kräften, Rahel. Nur weil die anderen das blaue Feuer nicht sehen können, bedeutet das nicht, dass es nicht da ist.«

1

Mit flinken Fingern tippte Rahel: »Der Zeuge Gregor Kempowski beschreibt den Mann, der den Hausflur betrat, als schwarzhaarig. Er trug ein Basecap (schwarze Haarspitzen lugten darunter hervor) und Bluejeans.«

Sie löste den Blick von der Tastatur und sah auf ihr Notizheft, in dem sie Details der Befragung festgehalten hatte. Oberkommissar Lars Harberg und sie hatten Kempowskis Aussage zwar aufgezeichnet, aber es war eine Angewohnheit, einiges mitzuschreiben.

»Bathlevi.«

Rahel fuhr mit dem Zeigefinger über die Mitte des Heftchens, um ein Wort besser lesen zu können, das über die Naht hinausging. Was hatte sie da geschrieben? »Hunde«? Ach nein. Das Gekrakel hieß »Hoodie«. Der Typ hatte einen Kapuzenpullover getragen.

»Bathlevi!«

Sie sah auf. Lars Harberg stand neben ihrem Schreibtisch. »Ja? Was ist?«, fragte sie und rollte mit dem Schreibtischstuhl ein Stück zurück, weil bei dem Kollegen das Deo mal wieder versagte.

Er hockte sich auf die Schreibtischkante. »Wie bringst du es nur fertig, in diesem Affenstall so konzentriert zu arbeiten?« Er deutete um sich, bevor er ihren Lippenstift aus der Stifteschale nahm, öffnete und die cremige dunkelrote Spitze hoch- und runterdrehte.

Erst jetzt nahm Rahel die Stimmen ihrer Kollegen und Kolleginnen wahr, hörte, wie telefoniert wurde, wie PC-Klaviaturen ihre eintönigen Melodien gegen die Stellwände des Großraumkommissariats warfen.

»Ich kann Lärm nun mal gut ausblenden«, antwortete sie. »Alte Gewohnheit … Was gibt’s denn?«, hakte sie nach und riss ihm den Lippenstift aus der Hand.

Er warf ihr die Kappe zu und stand auf. Aus der Hosentasche zog er den Autoschlüssel für den Dienstwagen. »In der Hafencity gibt’s ’ne Leiche am Strandkai. Also schwing die Hufe, Bathlevi.«

»Warum sagst du das nicht gleich?« Sie stand abrupt auf, griff nach ihrer Tasche und steckte das Notizheft hinein. »Sind die Spurensicherer schon informiert?«, fragte sie, während sie das Büro verließen und über den Flur Richtung Ausgang eilten.

»Na sicher. Hat der Chef bereits erledigt.« Lars grinste. »Müsstest du doch eigentlich wissen. Du bist doch so dicke mit ihm.« Er steckte den Daumen durch die Finger der geballten Faust.

»Leck mich.«

»Würde ich ja gern mal. Aber als Oberkommissar steh ich anscheinend in der Wer-Rahel-ficken-darf-Hierarchie zu weit unten.«

Eigentlich nicht. Er war nur ausgeschieden, weil er ständig nach Schweiß stank. Rahel behielt ihren schnellen Schritt bei und bereute einmal mehr, mit Sönke Bender geschlafen zu haben. Ihr Chef würde seine Indiskretion noch bereuen.

»Am Strandkai?«, fragte sie draußen auf dem Weg zum Parkplatz. »Welches Gebäude?«

»Der Dönerspieß.«

Rahel wusste, dass der Marco Polo Tower gemeint war, den die Hamburger aufgrund seiner eigenwilligen Architektur umgetauft hatten.

Drei Rettungswagen, drei Notärzte und zwei Streifenwagen standen vor dem Wohnkomplex, als Rahel Bathlevi und Lars Harberg eintrafen. Die Kollegen von der Spurensicherung schienen noch nicht da zu sein. Während sie mit dem Fahrstuhl in den achten Stock fuhren, zog Rahel Überschuhe und Einweghandschuhe aus ihrer Tasche und reichte auch Lars je ein Paar.

»Miss Perfect hat wieder an alles gedacht«, sagte er. Normalerweise wurde ihnen der Schutz von den Kollegen der Spurensicherung übergeben, aber die steckten wohl im Stau.

»Das gehört zu meiner Grundausrüstung«, antwortete Rahel. »Oder willst du Spuren zerstören?« Und Spuren gab es schon an der Wohnungstür. Zweifellos war sie aufgebrochen worden.

Der Umstand, dass die Spurensicherer noch nicht da waren, gefiel Rahel. Es war dieser besondere, dieser erste Moment, wenn sie einen Tatort betrat … Auch heute richteten sich die Härchen auf ihren Armen auf. Die Gänsehaut breitete sich mit jedem Schritt, den sie in die Wohnung setzte, weiter aus, zog bis über die Schultern in den Nacken, sodass es sie fast unmerklich schüttelte. So war es immer. Als hätte der Mörder etwas hinterlassen. Einen unsichtbaren Schleier, ein Wabern.

Dass dieses Gefühl heute um ein Vielfaches verstärkt war, erschreckte Rahel. Ihr Herz begann zu rasen, während ihr der kalte Schweiß ausbrach. Der Brustkorb wurde eng, die Luft knapp. Es fiel ihr schwer, die Hektik und die Stimmen der Sanitäter und der Notärzte auszublenden, etwas, das ihr sonst immer gelang.

»Alles gut, Bathlevi?«, drang Lars’ Stimme zu ihr durch. »Du bist ganz blass.«

»Alles gut«, log sie und holte tief Luft.

Sie befanden sich in einem Wohnzimmer mit Blick auf den Grasbrookhafen. Segler, Barkassen, Schlepper, Container- und Traumschiffe … hier kamen sie alle vorbeigeschippert auf dem Weg zu Deutschlands größtem Umschlagplatz für Touristen und Waren aus aller Welt. Vor einer Tür mit Glaselement, die auf einen mit bepflanzten Blumenkübeln bestückten Balkon führte, kämpften Notarzt und Sanitäter um das Leben einer Frau, deren Bluse in Brusthöhe blutrot war. Eine blutige Schere lag neben ihr.

Ein weiteres Rettungsteam hockte um einen Mann mit ungepflegtem Vollbart, der bei Bewusstsein war und vor Schmerzen stöhnte. Er trug Lederhandschuhe und einen dunklen fleckigen Parka, den die Sanitäter geöffnet hatten, um eine Bauchwunde versorgen zu können. Sein bleiches Gesicht war blutbesprenkelt. Neben seinem Bein lag ein Fleischmesser, das bis über die breite Klinge hinaus blutgetränkt war.

Rahel wurde schwummrig. Es lag nicht am Blut. Etwas Unheimliches, das sie nicht benennen konnte, drückte von außen auf ihren Brustkorb, stärker, immer stärker. Sie begann flacher und heftiger zu atmen.

Aus einem Nebenzimmer waren weitere Stimmen zu hören. Das musste das dritte Rettungsteam sein. Rahel floh aus dem Wohnzimmer, bog auf dem Flur links ab und folgte den Stimmen ins hinterste Zimmer. Ein Schlafzimmer. Vor einem Boxspringbett lag ein Mensch. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, denn Kopf und Oberkörper waren eine einzige blutig-fleischige Masse. Doch die Statur, eine gestreifte Pyjamahose und lederne Herrenpantoffeln ließen vermuten, dass es ein Mann war. Die Sanis packten gerade zusammen, während der Notarzt telefonierte. Der Tote war abgeschlachtet worden. Rot glänzende Spritzer und Schlieren zogen sich über Bett und Teppichboden, Wände, Schrank und Spiegel. Rahel konnte das Blut riechen, und dennoch – der dunkle Nebel erschien ihr hier nicht so präsent wie im Wohnzimmer.

Ihr Blick wanderte durch den Raum. Wie im Wohnzimmer war auch hier das Mobiliar erlesen. Auf dem rechten Nachttisch standen einige Medikamentenpackungen neben einer Flasche Mineralwasser und einem halb vollen Glas. Das Hamburger Abendblatt lag aufgeschlagen auf dem Nebenbett.

Der Notarzt verabschiedete sich von seinem Gesprächspartner und sah sie an. Rahel zückte ihren Dienstausweis. »Der Mann war tot, als Sie eintrafen?«

»Das war eine rhetorische Frage, oder?« Der Arzt deutete mit gerunzelter Stirn auf den massakrierten Toten.

»Ja. Aber ich musste sie stellen.« So war sie eben.

»Der Rechtsmediziner, der ihn obduziert, wird was zu zählen haben«, sagte der Arzt. »Das müssen um die vierzig Einstiche sein.«

»Stiche also?«

»Ob von einem Messer oder sonstigem Gegenstand, kann ich natürlich nicht sagen, aber Einschüsse sind es definitiv nicht.«

Rahel nickte, obwohl sie kaum noch zuhörte. Ihre Aufmerksamkeit galt dem schwarzen Vogel, der gerade auf dem Balkongeländer gelandet war und mit seinen glänzenden dunklen Augen zu ihnen hereinstarrte. »Das kann nicht sein«, stieß sie aus, während ihr Herz zu schlagen begann.

»Was ist los?« Der Arzt drehte sich zum Balkon um.

»Der Rabe!«

»Was ist damit?«

Der Vogel flog davon. Rahel sah den Arzt an. »Nichts, ich … ich dachte, ich hätte ihn schon mal gesehen. Als Kind.«

»Die sehen doch alle gleich aus«, sagte der Arzt.

Rahel blieb stumm. Ja, die Kolkraben sahen alle gleich aus, aber bei wie vielen mochte ein Stück des oberen Schnabels abgebrochen sein? Sie verdrängte den Gedanken, weil Stimmen auf dem Flur erklangen. Die Kollegen der Spurensicherung waren da.

Als Rahel aus dem Schlafzimmer trat, verließ ein Rettungsteam gerade mit einer Trage das Wohnzimmer. Der Notarzt hielt eine Blutkonserve in die Höhe, und die Kollegen machten Platz, damit sie vorbeikonnten. Es war die Frau, die darauf lag. Sie war bei Bewusstsein. Ihre Lippen waren weiß, während sie stammelte: »Mein Mann … mein Mann …« Sie starrte Richtung Schlafzimmer, dann waren sie auch schon draußen.

Rahel besprach sich mit dem Leiter der Spurensicherung, als keine fünf Minuten später das andere Sanitäterteam den Mann mit der Bauchwunde aus dem Wohnzimmer trug. »Er ist so weit stabil und wird umgehend operiert werden«, sagte der Arzt zu Rahel.

Lars fragte: »Wann wird er vernehmungsfähig sein?«

»Besprechen Sie das mit dem zuständigen Kollegen in St. Georg. Wir bringen die Verletzten dort in die Asklepios-Klinik.«

Eine Stunde lang versuchten Rahel und Lars, den Kollegen der Spurensicherung und der Rechtsmedizin nicht in die Quere zu kommen. Dann stand fest, dass es sich bei dem Toten um David Lamprecht handelte, Juniorchef der alteingesessenen Hamburger Privatbank Lamprecht. Die verletzte Frau war dessen Ehefrau Ilona. Der Mann mit der Bauchwunde war noch nicht identifiziert. Er hatte keine Papiere bei sich gehabt.

»Willst du ins Krankenhaus fahren?«, fragte Lars. »Wir brauchen so schnell wie möglich die Fingerabdrücke unseres Unbekannten.«

»Okay.« Rahel war sofort einverstanden. Ein Abgleich der Fingerabdrücke mit der Datenbank würde schnell zeigen, ob der Unbekannte vielleicht doch ein alter Bekannter war.

In der Klinik erfuhr sie allerdings, dass sich beide Schwerverletzten noch im OP befanden. Vor dem frühen Abend würde es keine Fingerabdrücke geben.

»Kommst du mit mittagessen, Bathlevi?«, fragte Lars, als sie ins Büro zurückkam. »Ich will zum Inder.«

Rahel schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen, und fuhr den PC hoch.

»Du mich auch«, brummte Lars und rief einer anderen Kollegin zu: »Melle, Bock auf Chicken Makhan?«

Rahel war dankbar, dass er sich trollte, ohne Kollegin Melanie, die wohl ihre Mittagspause auch lieber mit Antitranspirant-Nutzern verbrachte. Sie rief das Foto des Unbekannten auf, das die Spurensicherung gemacht hatte, und betrachtete es.

»Was wolltest du bei den Lamprechts?«, murmelte sie. »Geld und Schmuck?« Das war natürlich naheliegend. Aber am helllichten Vormittag? Wahrscheinlich war er davon ausgegangen, dass die Eheleute bei der Arbeit waren. Oder hatte er gewusst, dass er beide zu Hause antreffen würde, und darum genau diesen Zeitpunkt gewählt? Um beide zu töten? Die Auffindesituation der beiden Verletzten und des Toten ließen darauf schließen, dass eher die erste Annahme richtig war. Er war ein Einbrecher und von David Lamprecht überrascht worden. Daraufhin hatte er David Lamprecht mit dem Fleischmesser getötet und das Gleiche bei dessen Frau versucht. Die hatte sich gewehrt. Mit der Schere. Dass Ilona Lamprecht ihren Mann abgeschlachtet hattet, war natürlich auch möglich, aber eher unwahrscheinlich. Die Obduktion, vor allem aber die Aussage von Ilona Lamprecht würde es letztendlich offenbaren.

Während Rahel sich ein Glas Wasser einschenkte und darüber grübelte, wie der ungebetene Gast überhaupt in den Wohnbereich des Marco Polo Towers hineingelangt war, klingelte das Telefon. Es war der Pförtner. »Frau Bathlevi, können Sie bitte mal runterkommen? Hier ist jemand für Sie, der etwas abgeben möchte.« Er klang ein wenig genervt. »Nur Ihnen persönlich.«

»Ich komme.« Besucher durften das Präsidium nicht betreten.

Auf dem Flur begegnete ihr Kommissariatsleiter Sönke Bender. Seine schmalen Lippen, die so gern an ihrer Haut sogen, verzogen sich zu einem breiten Lächeln. »Rahel … hallo.«

»Hallo.«

»Gehst du in die Mittagspause?«

»Nein.«

Als sie an ihm vorbeiging, hielt er sie am Arm fest. »Schlechte Laune? Wir könnten schnell in mein Büro gehen, um sie aufzubessern.« Er senkte seine Stimme. »Hart, so wie du es gernhast.«

»Damit du dich wieder vor den Kollegen damit brüsten kannst? Nein, danke.« Sie riss sich los und ging weiter. Und mit jedem Schritt, den sie sich von ihm entfernte, vergrößerte sich das Gefühl des Triumphes. Obwohl seine wenigen Worte ausgereicht hatten, sie zu erregen, hatte sie dem Drang widerstanden, mit ihm in seinem Büro zu verschwinden! Sie atmete heftig. Wenn sie es jetzt noch schaffte, am WC-Raum vorbeizugehen …

»Sie sind nicht sexsüchtig, Frau Bathlevi«, hatte ihre Therapeutin nach der ersten Sitzung im vergangenen Monat behauptet. Diese durchaus beruhigende Annahme beruhte wohl auf der Tatsache, dass sie keine Pornos konsumierte. Im Gegenteil, sie ekelte sich davor.

»Sie können einen kontrollierten Umgang mit Ihrer Lust erlernen«, hatte Frau Ophüls gesagt und ihr ein paar Verhaltensmaßnahmen an die Hand beziehungsweise ins Hirn gegeben.

Als Rahel in den Fahrstuhl stieg, ohne sich im WC-Raum selbst befriedigt zu haben, kamen ihr die Tränen. Sie hatte nicht über Sönke Bender triumphiert, sondern über sich selbst. Und es fühlte sich großartig an. Warum hatte sie sich nur all die Jahre vorher nicht einer Therapeutin anvertraut?

Hastig wischte sie sich über die Wangen, als der Fahrstuhl im Erdgeschoss hielt. In der Eingangshalle wimmelte es von Leuten. Anscheinend hatten die Kollegen von der Sitte ein illegales Etablissement hochgenommen. Das Gekreische fünf osteuropäischer Ladys war beträchtlich.

»Ich keine Nutte!«

»Blöder Bulle!«

»Ich nix Nutte! Ich Putzfrau!«

Reinigungskräfte in Lack und Leder … Sah man ja auch nicht so häufig. Aber Rahel verstand die jungen Frauen. Die Protestschreie waren dem Umstand geschuldet, dass gerade zwei Schmierlappen von den Uniformierten abgeführt wurden, die definitiv die Loddel der Mädchen waren. Und die Ekeltypen würden es die Mädchen büßen lassen, wenn sie es nicht abstritten.

Rahel bahnte sich den Weg hindurch. Der Pförtner unterhielt sich durch die Trennscheibe mit einem Mann. Ein Stück abseits stand ein junger Asiate, neben ihm zwei aufeinandergestapelte Pappkartons. Ohne sein Gespräch zu unterbrechen, deutete der Pförtner auf ihn, als Rahel sich näherte.

»Guten Tag«, begrüßte sie den Mann. »Ich bin Rahel Bathlevi. Was kann ich für Sie tun?«

Der Asiate musterte sie, während er den Gruß erwiderte.

Rahel war es gewohnt, angestarrt zu werden. Ihre äußeren Attribute stachen den Kerlen nun mal wie Spechthiebe ins Auge: die rote Lockenmähne, die grünen Augen, Körbchengröße C … Doch der junge Mann sah sie auf eine andere Art an. Prüfend.

»Ich habe die Anweisung, Ihnen diese Kartons zu überreichen«, sagte er akzentfrei. »Nur Ihnen persönlich.«

»Eine Anweisung von wem?«, fragte Rahel und musterte ihn nun ihrerseits intensiver.

»Von Mr. Minh.«

Rahel starrte ihn an. Bilder erstanden vor ihrem inneren Auge. Das Heim, der Trödelladen, der uralte Mann und … der Rabe. Ihre Wangen begannen zu brennen. Noch jetzt, so viele Jahre später, spürte sie die Scham, die sie gefühlt hatte, als sie mit Bettina ins Heim zurückgekehrt und von den anderen Kindern ausgelacht worden war, weil Mr. Minh bestätigt hatte, dass die Rabenaugen nicht brannten. Und war da nicht auch noch ein bisschen von der Wut, die sie befallen hatte, weil Bettina böse geworden war, als Rahel den anderen Kindern entgegenschrie, dass sie wundersame Kräfte hätte und sehr wohl das blaue Feuer sehen könnte?

Rahel fingerte ihren Dienstausweis aus der Hosentasche und hielt ihn dem jungen Mann vor die Augen.

»Vielen Dank. Meine Mutter war eine gute Freundin von Mr. Minh, und sie hat ihm auf dem Totenbett versprechen müssen, dass Sie diese Dinge umgehend bekommen.«

»Er ist tot?« Die Nachricht berührte sie eigenartig. Sie hatte ihn zwar seit Ewigkeiten nicht gesehen, aber der Klang des Windspiels wehte ab und an eine Erinnerung herbei.

»Er starb gestern Abend.«

Eine Gänsehaut zog über Rahels Nacken. Gestern Abend … Deutlich sah sie den Raben vor sich, der heute Morgen auf dem Balkon der Lamprechts gelandet war. Was geschah hier Eigenartiges … Unheimliches?

»Ist alles in Ordnung?«, fragte der junge Mann.

Rahel nickte hastig. Sie deutete auf die Pappkartons. »Was ist da drin?«

»Das weiß ich nicht.« Er verabschiedete sich mit einem Lächeln und sagte: »Mr. Minh hat nicht vielen Menschen etwas vermacht. Er muss sie sehr gerngehabt haben.«

Rahel sah ihm nach, dann hob sie den oberen Karton hoch. Er war unbeschriftet, sorgfältig mit Klebeband verschlossen und nicht schwer. Der Inhalt rumpelte, als sie den Karton leicht schüttelte. Der andere, größere Karton wog ein bisschen mehr. Die Neugier brannte in ihr, aber das Öffnen war Privatsache und musste warten. Sie wandte sich an den Pförtner. »Herr Burghardt, kann ich die Kartons bei Ihnen lassen, bis ich Feierabend habe? Dann muss ich sie nicht erst hochschleppen.«

»Natürlich.« Er sprang auf. »Ich hol sie zu mir rein.«

»Danke schön.« Mit einem Winken ging Rahel Richtung Fahrstuhl.

Er muss Sie sehr gerngehabt haben. Kopfschüttelnd fuhr sie nach oben. Der alte Mann hatte sie doch kaum gekannt.

***

Den Nachmittag verbrachte Rahel mit Befragungen der Nachbarn und Familienangehörigen der Bankiers Lamprecht. Zwei Nachbarn wollten dumpfe männliche Schreie, einer auch einen weiblichen Schrei gehört haben. Beide waren dem nicht weiter nachgegangen, da sie schnell wieder verstummt waren.

Die Eltern von David Lamprecht hatte die schreckliche Nachricht im Urlaub ereilt. Sie waren auf dem Rückweg aus Kanada. Von der verzweifelten Mutter Ilona Lamprechts und weiteren Zeugen erfuhr Rahel, dass die Ehe der beiden Bankiersleute sehr harmonisch gewesen war. Sie waren sehr liebevoll miteinander umgegangen, insbesondere seit Ilona Lamprecht zwei Jahre zuvor einen schweren Hirninfarkt erlitten hatte, von dem sie aber vollständig genesen war. Kinder gab es nicht.

Interessant wurde es am Abend, als der Abgleich der Fingerabdrücke des bis dahin Unbekannten tatsächlich einen Treffer im Identifizierungssystem ergab. Er hieß André Müller, war achtundvierzig Jahre alt und mehrfach vorbestraft. Diebstahl, eine Anzeige wegen Körperverletzung … Ein Raubüberfall auf einen Kioskbesitzer vor sechs Jahren hatte ihm drei Jahre Knast eingebracht. Seit er draußen war, lag nichts mehr gegen ihn vor. Auf dem Foto in der Akte trug André Müller noch keinen Vollbart und wirkte insgesamt gepflegter. Er wohnte im Stadtteil Billbrook. Ein Wohnsitz in Blankenese war auch nicht zu erwarten gewesen.

Da der behandelnde Arzt eine Vernehmung Müllers frühestens am nächsten Tag gestatten wollte, konnte Rahel einigermaßen pünktlich Feierabend machen. Als sie um neunzehn Uhr ihre Wohnungstür in einem Altbau in der Oelkersallee im Norden Altonas aufschloss, hatte sie Arme wie ein Orang-Utan. Sie schob die beiden Kartons in die Wohnung, ließ ihre Tasche von der Schulter rutschen und atmete heftig. Es wäre zweifellos schlauer gewesen, wenn sie heute erst mal nur einen der Kartons hertransportiert hätte, aber sie war viel zu neugierig und hatte beide mit in die U-Bahn geschleppt.

Rahel ließ die Affenarme schlackern und hob und senkte die Schultern, bis die Muskulatur einigermaßen locker war. »Kabel?«, rief sie über den Wohnungsflur, während sie die schwarzen Stiefeletten auszog und mit dem Fuß neben den Kratzbaum schob. »Wo steckst du? Ich bin da.« Sie ging ins Wohnzimmer. Kabel lag auf ihrem gemeinsamen Lieblingsplatz, dem dicken sonnengelben Polster auf der breiten Fensterbank, von wo sie einen guten Blick auf die Häuser gegenüber und auf die Linde vorm Haus hatten, wobei Kabel eher die Vögel darin interessierten.

»Hallo, mein Liebling.« Sie nahm den grauen Kater hoch und ging mit ihm auf dem Arm zur Küche. Er schnurrte, als gäbe es kein Morgen, und Rahel durchfloss es warm. Ohne ihn abzusetzen, öffnete sie ein Schälchen Katzenfutter. Als der Geruch von Thunfisch aufstieg, gab es für Kabel kein Halten mehr. Er sprang von ihrem Arm auf die Arbeitsfläche neben dem Herd und fiel über das Fressen her, als würde er den heutigen Tag sonst nicht überleben.

Auch Rahel war hungrig – sie hatte außer dem Frühstück und zwei Nektarinen zum Mittag nichts mehr gegessen. Aber die Lasagne vom Vortag musste noch ein wenig im Kühlschrank warten, denn ihre Neugier war stärker als das Magenknurren. Sie holte den ersten Karton herein und stellte ihn auf dem kleinen Küchentisch ab.

Kribblig trennte sie mit einem Kartoffelmesser die Klebestreifen durch. Woher hatte der junge Asiate gewusst, wo sie arbeitete? Von Mr. Minh? Doch woher sollte der alte Mann das gewusst haben?

Als Rahel den Deckel aufzog, klopfte ihr Herz vor Aufregung. Das Sammelsurium von Gegenständen und deren Geruch ließen die Erinnerung an den wundervollen Trödelladen aufleben. Zuoberst lag ein perlenverziertes längliches Kästchen. Rahel öffnete es bar jeder Ahnung, was darin sein könnte. Und sie war nicht schlauer, als sie das Ding herausnahm, das dort auf blauen Samt gebettet lag. Es war eine etwa zwanzig Zentimeter lange Röhre aus einem gelblich cremefarbenen Material. Rundherum hatte sie unterschiedlich große Löcher, und um die Löcher herum war sie abgegriffen. Was zum Teufel war das?

Kabel sprang auf den Tisch, und Rahel legte das Teil zurück in das Kästchen. »Ja, ja«, murmelte sie und streichelte den Rücken des Katers. »Du kriegst ja den Karton. Ich pack ihn nur zu Ende aus.«

Nacheinander nahm sie die weiteren Sachen heraus: einen Briefumschlag, in dem sich nichts außer einem kleinen Schlüssel befand, zwei schwere Bilderrahmen aus leicht angelaufenem Silber – fein ziseliert mit wunderschönen Ornamenten. Dann gab es noch zwei seidene Tücher, die nach dem Tee dufteten, den Mr. Minh ihr vor vielen Jahren serviert hatte. In das cremefarbene Tuch, an dessen Fransen viele verschiedene Holzknöpfe klackerten, waren mit goldglänzendem Faden verschiedene chinesische Zeichen eingestickt. Das türkisfarbene hatte keine Fransen. Die Seidenmalerei darauf zeigte winzige Reisbauern mit Strohhüten und ein noch winzigeres Dorf.

Als Nächstes griff Rahel nach einer kleinen handbemalten Dose aus Holz. Auf der Watte darin lag ein Ring, grün angelaufen. Vielleicht ein antikes Stück? Er war breit und protzig mit einem erhabenen Klunker aus bemaltem Porzellan. Definitiv nicht ihr Stil. Sie legte ihn in die Holzdose zurück und nahm das letzte Teil vom Boden des Kartons. Es war in knittriges Packpapier gewickelt. Ein Gürtel? Es fühlte sich so an.

»Oh!« Rahel starrte auf den Inhalt, als sie das Papier entfernt hatte. Automatisch glitt ihre linke Hand über den Handrücken der rechten, dorthin, wo Mr. Minhs Peitsche sie vor sechzehn Jahren verletzt hatte.

Diese Peitsche.

Kabel sprang fauchend vom Tisch und verschwand Richtung Flur.

»Das ist doch keine Schlange, du Depp«, rief Rahel, nahm die aufgerollte Peitsche in beide Hände und hob sie an die Nase. Doch der erwartete scheußliche Geruch haftete ihr nicht an. Sie packte sie am Griff, entrollte sie und ließ das Ende über den Küchenfußboden gleiten. Sie in dem engen Raum zu schwingen, wagte sie nicht. Was hatte Mr. Minh sich dabei gedacht, ihr das alte hässliche Ding zu schenken?

Nachdenklich legte sie alles in den Karton zurück. Nur die Tücher band sie sich nacheinander um den Hals und betrachtete sich auf dem Flur in Bettinas silbern gerahmtem Spiegel mit dem blinden Fleck am Rand. Ja, die waren durchaus tragbar. Sie stopfte sie in den Wäschekorb, dann holte sie den anderen Karton herein.

Während sie ihn aufritzte, kam der Kater zurück und maunzte.

Rahel zog die Papplaschen auf. »Du meine Güte.« Sie machte große Augen. »Mr. Minh war eindeutig dement, Kabel. Sonst hätte er mir doch nicht all den Kram und diesen …«, sie zog das Teil heraus, »… Käfig geschickt?« Am langen Arm betrachtete sie den Vogelkäfig mit den goldenen Streben. Auf dem Boden lag ein Porzellandrache. Es war der jadegrüne Drache, der damals in dem Käfig neben dem Raben gestanden hatte. Die beiden abgestoßenen Rückenschuppen verrieten es.

Nein, Mr. Minh musste irre gewesen sein. Warum sonst hatte er den Käfig mit einem Vorhängeschloss versehen?

Kabel strich maunzend um Rahels Waden.

»Ja, mein Liebling, sofort …« Sie stellte den Karton auf den Fußboden, und schwups, sprang der Kater hinein und machte es sich nach einer Schnüffelprobe und zweimaligem Drehen um sich selbst in der Holzwolle auf dem Kartonboden gemütlich.

Da in der Küche kein Platz für den Käfig war, stellte Rahel ihn im Wohnzimmer in die Ecke neben das alte Büfett. Bis sie entschieden hatte, was sie damit machen würde, stand er dort nicht im Weg. Auf dem Weg zurück in die Küche fiel ihr der kleine Schlüssel in dem anderen Karton ein. Sie holte ihn aus dem Umschlag und probierte ihn im Wohnzimmer am Vorhängeschloss aus. Er passte. Rahel öffnete die kleine Käfigtür. Und nun? Genauso gut hätte sie das Schloss zulassen können. Bevor sie die Käfigtür wieder zuzog, stellte sie den Porzellandrachen auf. Ordnung musste sein.

Kabel kam ins Wohnzimmer getappt und setzte sich vor den Käfig. Ohne sich zu bewegen, starrte er die Drachenfigur an. Selbst als Rahel ihm ein Stück Holzwolle aus dem Fell fummelte, rührte er sich nicht.

»Gefällt dir der Drache?«, fragte Rahel, während sie die Sammelsuriumschublade des Büfetts aufzog. Sie legte das Vorhängeschloss samt Schlüssel hinein. Neben den beiden Seidentüchern das einzig Brauchbare aus dem Karton.

Die Antwort lieferte der Kater im nächsten Moment. Er schob seine Vorderpfote durch die Streben und langte heftig nach der Figur, immer wieder, und schob sie so an den Rand des Käfigs.

Rahel nahm Kabel auf den Arm. »Ich finde ihn auch hässlich. Mr. Minh hatte so viele schöne Dinge in seinem Laden, und uns vermacht er so ein scheußliches Teil.«

2

Rahel und Lars Harberg waren am nächsten Morgen gerade in der Klinik in St. Georg angekommen, als Rahels Handy einen Anruf von Kommissariatsleiter Sönke Bender signalisierte.

»Was will er?«, fragte Lars, als sie nach einem kurzen Gespräch das Smartphone wieder in die Jackentasche steckte.

»Wir sollen auf ihn warten. Anscheinend wurde der Fall vom Polizeipräsidenten zur Chefsache erklärt.«

Lars nickte. »Kann ich mir denken. Das Bankhaus Lamprecht hat Tradition in Hamburg. Und Lamprecht senior ist im Senat ein heißer Anwärter auf den Posten des Finanzsenators.«

Eine halbe Stunde später erschien Sönke Bender mit Kollegin Melanie Stumpe im Schlepptau. »Lars, du und Melanie übernehmt André Müller, Rahel und ich gehen zu Frau Lamprecht. Und keine Formfehler! Vergesst nicht, Müller auf seine Rechte hinzuweisen. Wenn er einen Anwalt will, veranlasst das sofort.«

Lars nahm die Anweisung gelassen hin. Rahel bewunderte ihn dafür. Hätte Bender das zu ihr gesagt … Andererseits hätte Bender es zu ihr nicht gesagt. Weil er wusste, wenn jemand sich an Regeln hielt, dann sie. Dass der Chef es überhaupt Lars und Melanie überließ, den Verdächtigen zu befragen, war der Tatsache geschuldet, dass André Müller laut Aussage des Oberarztes darauf drängte, ein Geständnis abzulegen.

Ilona Lamprecht lag in einem Einzelzimmer. Sie sah so verzweifelt aus, wie eine Frau nur aussehen konnte, deren Ehemann abgeschlachtet worden, die selbst dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen und frisch operiert war: erschöpft, blass, der Blick wirr von Medikamenten, Narkosenachwirkungen und überstrapazierten Nerven.

Sönke Bender wirkte auf Rahel leicht übermotiviert, als er der Witwe wortreich kondolierte und sich nach ihrem Zustand erkundigte. Der Polizeipräsident schien deutlich gewesen zu sein. Dennoch vergaß Sönke nicht, Ilona Lamprecht auf ihre Rechte hinzuweisen.

»Ich möchte aussagen«, sagte sie mit rauer Stimme und räusperte sich. »Natürlich möchte ich das. Es spielt sich ja sowieso alles immer wieder in meinem Kopf ab.«

Rahel stellte das Aufnahmegerät an. Lehrbuchgemäß ließen sie die Frau erst einmal nur erzählen, ohne sie zu unterbrechen. Sich aus dem Monolog ergebende Fragen notierte Rahel auf einem Block, um sie später zu stellen.

»Ich hatte mich nach dem Frühstück im Wohnzimmer noch ein wenig hingelegt, weil ich nachts kaum geschlafen hatte«, begann Ilona Lamprecht. »David hat wegen seiner Grippe so furchtbar geschnarcht.« Sie zog sich unter Stöhnen im Bett ein Stückchen hoch und schloss gequält die Augen. Mehr als die Wunde schmerzten wohl die Erinnerungen an ihren Mann.

»Ich muss dann tatsächlich eingeschlafen sein. Geweckt haben mich Davids Schreie. Ich bin hochgeschreckt und aufgesprungen. Ich war kaum ein paar Schritte gegangen, als der … der schreckliche Mann plötzlich vor mir stand. Er hatte das Messer … dieses riesige Messer in der Hand. Es war voller Blut, und … er war auch voller Blut.« Mit geschlossenen Augen schüttelte sie den Kopf, durchlebte anscheinend alles noch einmal.

»Was geschah dann?«, fragte Sönke.

»Ich habe geschrien … nach David, aber er kam nicht.« Sie brach ab und presste die linke Gesichtshälfte ins Kissen. »Er konnte ja nicht kommen.«

Sie gaben ihr einen Moment.

Ohne Aufforderung fuhr sie schließlich fort. »Und dann kam er auf mich zu, ganz langsam, und ich bin immer weiter zurück, bis ich das Sideboard im Rücken hatte. Ich habe mich daran festgekrallt, abgestützt … dann spürte ich die Schere unter meinen Händen. Ich habe sie gegriffen, und als er den Arm mit dem Messer hob, habe ich zugestochen. … Das hat ihn wohl überrascht, aber er stach noch zu … Das Messer traf mich hier.« Sie legte die Hand auf die Wunde unterhalb der Schulter und schloss gequält die Augen. »Dann habe ich noch mal zugestochen.«

Ihre Angaben deckten sich mit denen der Ärzte. André Müller hatte zwei nicht lebensbedrohliche Stichwunden durch die Schere erlitten, Ilona Lamprecht eine ebenfalls nicht lebensbedrohliche Wunde durch das Messer.

»Was passierte dann?«, hakte Rahel nach, als nichts mehr folgte und Sönke Bender keine Anstalten machte, eine Frage zu stellen. Sie fühlte sich, als hätte innerlich ein Docht zu glühen begonnen. Ein altbekanntes Gefühl, wenn Fragen nach einer Antwort verlangten.

»Er taumelte und wankte zurück. Ich bin in die Knie, ich hatte Panik … Irgendwie habe ich gar nicht registriert, dass ich auch verletzt war. Ich bin zum Tisch gekrabbelt. Da lag mein Handy.« Sie holte hektisch Luft. »Der Mann hat geröchelt, aber ich hatte nur Angst, dass er wieder aufsteht. Ich habe den Notruf gewählt, und … Dann weiß ich nur noch, dass da so viele Leute waren. Um mich herum.« Sie schloss erneut die Augen. »Sanitäter … ein Arzt, glaube ich, und … Leute.«

»Das waren die Kollegen«, sagte Sönke und deutete auf Rahel.

Ilona Lamprecht hörte gar nicht zu. »Ist der Mann … der Mörder … auch hier im Krankenhaus? Er kann doch nicht hierherkommen? Zu mir?«

»Das dürfen wir Ihnen nicht sagen, Frau Lamprecht«, erklärte Sönke. »Aber ich kann Ihnen versichern: Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie sind hier in Sicherheit. Der Verdächtige wird bewacht dort, wo er sich befindet.«

»Das ist gut.« Erschöpft legte Ilona Lamprecht sich zurück. »Er ist eine Bestie.«

Rahel holte ihr Handy raus, als es in der Tasche der Lederjacke vibrierte. Es war eine WhatsApp-Nachricht von Lars Harberg, flankiert von Bluttropfen- und Messer-Emojis: »André Müller wollte keinen Anwalt. Er singt wie ein Vögelchen und hat die Schlachtung gestanden.« Dann folgten ein Bratpfannen- und ein Salat-Emoji und die Frage: »Gehst du heute mit mittagessen?«

Angewidert drückte Rahel ihn weg. Lars Harberg roch nicht nur wie eine Leberwurst, er hatte auch deren Empathie. Und wieder einmal verletzte er Regeln. Es war verboten, fallrelevante Informationen per WhatsApp weiterzugeben.

Da Sönke Bender ebenfalls auf sein Smartphone sah, hatte er die Meldung wohl auch bekommen, vermutlich von Melanie per E-Mail und ohne Emojis. »Der Täter hat gestanden, Ihren Mann getötet und den Einbruch aus Habsucht begangen zu haben«, gab er es an Ilona Lamprecht weiter.

Ermattet legte sich die Witwe ins Kissen zurück. »Warum hat er David das angetan? Warum nur? Wir hätten ihm doch alles Geld und den Schmuck herausgegeben.«

»Vermutlich eine Übersprunghandlung«, sagte Sönke. »Definitiv hat der Täter nicht damit gerechnet, jemanden anzutreffen. Ihr Mann muss ihn gehört haben, ist aufgestanden, und als die beiden sich dann gegenüberstanden«, er holte tief Luft, »geschah, was geschehen ist.«

»Ja.« Ermattet schloss Ilona Lamprecht die Augen.

»Wir werden Sie jetzt erst einmal in Ruhe lassen, Frau Lamprecht.« Sönke stand auf. »Für eventuelle weitere Fragen kommen wir später auf Sie zu.«

In Rahel hatte sich der glühende Docht entflammt. »Es ist trotzdem ungewöhnlich. Die Vielzahl der Stiche im Körper Ihres Mannes spricht nicht für ein Überraschungsmoment, sondern für einen Blutrausch.«

»Rahel!« Sönke sah sie wütend an.

Sie ließ sich nicht beirren. »Frau Lamprecht, Sie sagten, Sie seien hochgeschreckt und aufgesprungen, als Sie Ihren Mann schreien hörten.«

Ilona Lamprecht sah sie an. »Ja.«

»Dann sagten Sie, Sie wären kaum ein paar Schritte gegangen, als André Müller plötzlich vor Ihnen stand.«

»Ja.«

»Nach den Schreien Ihres Mannes wären demnach nur wenige Sekunden vergangen, bis Müller bei Ihnen im Wohnzimmer war.« Sie machte eine kleine Pause. »Wie soll das möglich gewesen sein, Frau Lamprecht? Ihr Mann hatte mehr als vierzig Einstiche.«

»Rahel, es reicht jetzt!«, stieß Sönke aus. »Der Täter hat gestanden. Also quäl Frau Lamprecht nicht mit scheußlichen Details.«

»Schon gut, Herr Bender.« Ilona Lamprecht hob die Hand in seine Richtung, sah aber weiterhin Rahel an. Ohne dass sie bisher einmal geblinzelt hatte. »Bitte, sprechen Sie weiter«, forderte sie Rahel auf.

»Mich wundert einfach nur der kurze Zeitraum«, sagte Rahel. »Wäre Ihr Mann nach den ersten Stichen verstummt, hätte Müller nicht so schnell im Wohnzimmer sein können, denn für vierzig Stiche braucht es – es tut mir leid, das so deutlich sagen zu müssen, Frau Lamprecht – einige Zeit.«

»Ich verstehe.« Ilona Lamprecht blinzelte immer noch nicht. »Ich verstehe es sogar sehr gut, denn ich habe mir diese Frage auch schon gestellt. Und mich quält die Vorstellung, dass David so lange gelitten hat. Denn das bedeutet doch, dass erst einer der letzten Stiche tödlich war?« Mit schmerzhaftem Stöhnen schloss sie die Augen.

Rahels Docht flammte noch. »Wenn wir davon ausgehen, dass erst der letzte Stich tödlich war, hätte ihr Mann vorher lange geschrien. Sehr lange. Und Sie wären eher aufgewacht.«

»Frau Lamprecht hat vermutlich tief geschlafen«, warf Sönke ein. Seine Augen blitzten förmlich vor unterdrückter Wut. »Schreie erreichen nicht immer sofort das Bewusstsein, Rahel.«

Da hatte er recht. Dennoch … Sie sah ihren Chef an. »Es gibt Zeugen, die Schreie gehört haben. Einen weiblichen Schrei und zwei männliche. Herr Lamprecht hat also definitiv nicht neununddreißig Stiche lang geschrien.«

»Worauf willst du denn hinaus?«, fuhr er sie an. »Müller hat gestanden! Entschuldigen Sie bitte, Frau Lamprecht«, wandte er sich der stöhnenden Frau zu. »Frau Bathlevi ist eine hervorragende Kommissarin, aber manchmal leicht übermotiviert.«

»Alles ist gut.« Ilona Lamprecht versuchte ein Lächeln. »Ich bin dankbar, wenn Sie alle sich kümmern. Unsere gesamte Familie weiß zu schätzen, was Sie tun. Meine armen Schwiegereltern … David war ihr einziges Kind.«

Sönke Bender nahm Rahels Arm und zog sie vom Stuhl hoch. »Abmarsch«, zischte er.

Rahel riss sich los, folgte ihm aber den Flur hinaus.

»Was sollte das?«, fuhr er sie mit gedämpfter Stimme an. »Der Polizeipräsident dreht durch, wenn er davon erfährt, dass du ihr Wort anzweifelst!«

»Du hast es doch gehört«, sagte Rahel unbeeindruckt, »man freut sich, dass wir uns kümmern.«

Im Büro las Rahel am Nachmittag das Geständnis von André Müller. Auf Melanies Frage, wie oft er zugestochen habe, hatte er geantwortet: »Keine Ahnung, ich bin einfach durchgedreht, als der Mann vor mir stand.«