Liebe wie gedruckt - Rieke Schermer - E-Book

Liebe wie gedruckt E-Book

Rieke Schermer

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Beschreibung

Hannah ist Hochzeitstortenbäckerin aus Leidenschaft. Sie kennt alle ihre Rezepte auswendig und versüßt mit ihren Köstlichkeiten regelmäßig Paaren den schönsten Tag im Leben. Nur für sich selbst musste Hannah bisher keine Torte backen. Sie ist Single, und den Traum von der großen Liebe und der Hochzeit in Weiß hat sie mittlerweile aufgegeben. Hannah konzentriert sich voll und ganz auf ihre Karriere. Um die Familienkonditorei auf Hiddensee zu übernehmen, muss sie eine Meisterprüfung ablegen. Doch da gibt es ein kleines Detail, von dem niemand weiß: Hannah ist Analphabetin. Wie kann sie es bloß schaffen, nicht aufzufliegen und trotzdem die Prüfung zu bestehen? Als dann auch noch Hannahs Jugendschwarm Arndt auf der Insel auftaucht und ihr – genau wie damals – Herzklopfen und weiche Knie beschert, sobald sie sich ihm auch nur nähert, scheint das Desaster vorprogrammiert ...

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Das Buch

Hannah möchte sich als Hochzeitstortenbäckerin auf Hiddensee einen Namen machen. Für sich selbst musste sie bisher keine Torte backen; Hannah ist Single, und den Traum von der großen Liebe und der Hochzeit in Weiß hat sie mittlerweile aufgegeben. Als Hannah nach dem Tod ihrer Eltern die Bäckerei übernehmen soll, muss sie dazu die Meisterprüfung ablegen. Doch Hannah hat ein Geheimnis: Sie ist Analphabetin. Alle ihre Rezepte für die Torten weiß sie auswendig, und auch sonst hat sie gelernt, sich ohne Rechtschreibkünste recht erfolgreich durchs Leben zu schlagen. Wie soll sie die Prüfung bloß schaffen? Als dann auch noch ihr Jugendschwarm Arndt auf der Insel auftaucht, ist das Chaos komplett, und Hannah versucht weiter, ihr Geheimnis zu hüten, während ihr Herz ganz schön aus der Reihe tanzt.

Die Autorin

Rieke Schermer ist das Pseudonym der Autorin Susanne Lieder. Sie lebt mit ihrem Mann auf einem kleinen Resthof in der Nähe von Bremen und träumt von einem Haus am Meer – am liebsten an der Ostseeküste.

Rieke Schermer

Liebe wie gedruckt

Ein Hiddensee-Roman

List Taschenbuch

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ISBN 978-3-8437-1222-4

© 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: © bürosüd° GmbH, München Teilabbildung: © Getty Images / Lili Ana (Gießkanne auf Kasten); www.galerie-et.de

E-Book: L42 Media Solutions Ltd., Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Nirgends ist man so jung, so froh und so frei wie auf dieser schönen Insel

Zartbitterschokolade

Hiddensee im Frühling

Im Frühling war Hiddensee ganz besonders schön. Die hellgrünen Blätter an den Bäumen, der allgegenwärtige Duft der Maiglöckchen, die in Hülle und Fülle in den Gärten sprossen, und das ganz besondere Sonnenlicht, das sich in der eisigen Ostsee spiegelte. All das sorgte bei Hannah für freudiges Herzklopfen. Sie liebte den Frühling.

Sie war sehr früh an diesem Morgen zum Friedhof geradelt, zwei Töpfchen mit gelben und orangefarbenen Ranunkeln und drei blaue und rosafarbene Hyazinthen im Korb.

Jetzt hockte sie sich hin und zupfte Unkraut, das sich unter den frisch gepflanzten Buchsbäumchen hindurchgezwängt hatte.

Dabei rutschte ihr die Kapuze ihres sandfarbenen Anoraks auf den Kopf. Sie hatte ihn erst vor wenigen Monaten gekauft, nachdem ihre Freundin Silke sie mit ausschweifenden Worten davon überzeugt hatte, wie gut er zu ihrem dunklen Haar passen würde. Eigentlich hatte sie sich für den bevorstehenden Sommer neu einkleiden wollen, und ein Anorak gehörte nun wirklich nicht zu einer Sommergarderobe.

»Damit locke ich den Regen ja geradezu an«, hatte sie gemeint – und ihn trotzdem gekauft.

»Ach, Papa.« Sie seufzte und blinzelte die aufsteigenden Tränen weg. Anfang des Jahres war ihr Vater ganz überraschend an einem Herzinfarkt gestorben. Noch immer sah sie ihn in der Backstube stehen oder sich breit lächelnd die Hände reiben, wenn sie ihn zum Mittagessen gerufen hatte. Er war ihre ganze Familie gewesen.

Sie nahm eine der Ranunkeln aus dem Topf, kniete sich auf die feuchte Erde und hob mit einer kleinen Handschaufel ein Loch aus. Mit einer ungeduldigen Bewegung schob sie die Kapuze vom Kopf. »Ich hab dir auch blaue Hyazinthen mitgebracht, Papa. Und für dich rosafarbene, Mama.«

Ihre Mutter war gestorben, als Hannah gerade zwanzig geworden war. Fast fünfzehn Jahre war das nun her.

Sie stand auf und betrachtete die Grabstelle ihrer Eltern. Sie kam oft hierher, auch wenn der Friedhof kein Ort war, an dem sie sich ihren Eltern besonders nah fühlte. Im Gegenteil.

Ihrem Vater fühlte sie sich viel näher, wenn sie in der Backstube war, die Teigmaschine lief und der Ofen brummte.

»Ach, Papa, wenn es doch nur wieder so wäre, dass der Ofen brummt.«

Ihre Eltern hatten die Konditorei Büchner in Vitte gegründet. Ihr Vater hatte in der Backstube und ihre Mutter vorn im Laden gestanden. Hannah war praktisch in der Backstube groß geworden.

Als ihre Mutter gestorben war, hatte ihr Vater eine Verkäuferin eingestellt, die mittlerweile in Rente war. Vor zwei Jahren war dann Antonia, Toni, gekommen, eine temperamentvolle junge Frau mit ziemlich losem Mundwerk, mit der Hannah sich von Anfang an blendend verstanden hatte.

Seit dem Tod ihres Vaters war die Konditorei Büchner geschlossen, weil Hannah keine Konditormeisterin war.

Seitdem war sie auf der Suche nach einem Meister, was wesentlich schwieriger war, als sie geglaubt hatte.

Eine Amsel kam angeflogen und hockte sich auf den schlichten Grabstein. Sie legte den Kopf schief und musterte Hannah neugierig. Dann hopste sie auf den Boden und scharrte mit dem Schnabel in der frisch aufgewühlten Erde. Es dauerte nicht lange, und sie hatte einen höchst ansehnlichen Regenwurm ergattert. Bevor Hannah ihn sich womöglich schnappen konnte, packte der Vogel ihn und flog damit auf den nächsten Baum.

Die Sonne schob sich durch die dünne Wolkendecke. Bis gestern Abend hatte es leicht genieselt, was dafür gesorgt hatte, dass an sämtlichen Bäumen und Sträuchern die hellgrünen und noch sehr zarten Knospen regelrecht aufgeplatzt waren.

Praktisch über Nacht war der Frühling auf Hiddensee ausgebrochen.

Hannah strich über den schlichten Grabstein ihrer Eltern und wandte sich dann ab. Sie schlenderte vorbei an den niedrigen Buchsbaumhecken und efeubewachsenen Bäumen, die im Sommer wunderbare Schattenspender waren, und an den Epitaphen der ehemaligen Äbte und Klosterbrüder.

Als kleines Mädchen hatte sie sich manchmal auf diesem Friedhof gegruselt.

Sie ging vorbei am Grab von Gerhart Hauptmann, blieb kurz davor stehen und setzte sich schließlich auf eine Bank.

Bald begann die Hauptsaison auf der Insel. Die ersten Touristen waren bereits mit der Fähre gekommen. Und wenn das so weitergeht, wird die Konditorei Büchner keine Brötchen für sie backen …

Hannah seufzte verdrießlich und streckte die Beine aus.

Ein weiterer langer Tag lag vor ihr. Ein Tag, an dem sie Spaziergänge machen und aufs Meer hinausblicken würde. Mittags würde sie eine Kleinigkeit auf ihrem Balkon essen, danach vielleicht Silke in deren Atelier besuchen oder sich an den Strand setzen und den Möwen zuschauen.

Ein Tag nach dem anderen war vergangen, ohne dass auch nur die Aussicht darauf bestanden hatte, einen Konditormeister zu finden.

Von ihren Gedanken ganz trübsinnig geworden, stand sie schließlich auf.

Über den schmalen Weg ging sie zu ihrem knallroten Fahrrad, das sie an eine Birke gelehnt hatte. Sie stieg auf und trat schwungvoll in die Pedale. Und genau in dem Moment kam der Pastor um die Ecke, und es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihn umgefahren.

Auch, weil sie nicht besonders aufmerksam und mit ihren Gedanken ganz woanders gewesen war.

»Hannah.« Er legte eine Hand auf den Lenker. »Das war aber knapp.«

Sie nickte zerstreut. »Tut mir leid.«

»Ist ja nichts passiert.« Er sah sie prüfend an. »Wie geht's dir?« Er kannte sie, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. »Ganz gut.«

»Immer noch keinen Konditor gefunden?«, erkundigte er sich.

»Nein, leider. So schwierig hatte ich mir das nicht vorgestellt.«

Er kratzte sich nachdenklich am Kinn.

»Man sollte doch meinen, dass sich jemand finden lässt.«

Hannah schwieg. Was hätte sie auch antworten sollen?

»Ich werde für dich beten.«

Er nickte ihr wohlwollend zu und lief mit seinen so typisch kleinen, sehr flotten Schritten weiter.

»Ja, prima«, murmelte Hannah und stieg wieder aufs Rad.

Wenn der Insel-Pastor für einen Konditormeister betete, dann konnte ja nichts mehr schiefgehen.

Silke war die beste Freundin, die sie hier auf der Insel hatte. Nein, eigentlich war Silke mehr; sie war die beste Freundin, die sie überhaupt je gehabt hatte.

Silke war keine Insulanerin, sie hatte vor einigen Jahren hier Urlaub gemacht, sich verliebt und war geblieben. Für Hannah ein Glücksfall.

Anstatt sie zu besuchen, hatte Hannah sich auf den Balkon gesetzt und in einem Gartenbuch geblättert in der Hoffnung, dass die hübschen Fotos von leuchtend bunten Blumen und Pflanzen sie ein bisschen aufmuntern würden.

Normalerweise war sie kein lethargischer Mensch, aber zurzeit konnte sie sich nicht einmal dazu aufraffen, ihre kleine Wohnung, die direkt über der Konditorei lag, aufzuräumen und sauber zu halten. Nichts machte ihr Spaß, und zu kaum etwas konnte sie sich motivieren.

Anfangs hatte sie sich gesagt, dass sie das Gute im Schlechten sehen sollte. Immerhin hatte sie die Freiheit, tun und lassen zu können, wonach ihr der Sinn stand.

Doch was nützte einem dieser Vorsatz, wenn man zu nichts Lust hatte?

Besonders schlimm war es, wenn sie den leeren Verkaufsraum der Konditorei sah oder in der Backstube stand, in der es so still war, dass es ihr fast unheimlich vorkam.

Als es bereits dämmerte, beschloss sie, einen ausgiebigen Spaziergang zum Leuchtturm zu machen.

Das würde ihr guttun und ihre trüben Gedanken hoffentlich wenigstens für eine Weile verscheuchen.

Nein, besser sie ging eine Runde laufen. Das vertrieb dunkle Gedanken noch schneller, das wusste sie aus langjähriger Erfahrung.

Ihren MP3-Player in der Jackentasche, die weißen Ohrhörer eingestöpselt, lief sie leichtfüßig los. Und mit jedem Schritt kehrten ihr Schwung und ihre Fröhlichkeit zurück. Auch die Mutlosigkeit verschwand nach und nach und machte der Hoffnung und dem Optimismus Platz, für den Hannah bekannt war.

Sie würde einen Konditormeister finden, das wäre doch gelacht!

Im Laufen stellte sie den MP3-Player noch etwas lauter, und als Die perfekte Welle von Juli ertönte, sang sie den Refrain mit.

Als sie den gewundenen Weg zum Leuchtturm hochlief, wurde sie von einem warmen Glücksgefühl durchflutet, wie immer, wenn sie hier entlanglief.

Eine Spaziergängerin, eine ältere Dame mit weißem Kopftuch, das leicht im Wind flatterte, kam ihr entgegen und lächelte amüsiert. Wahrscheinlich, weil sie so laut sang.

Es störte Hannah nicht. Sie grüßte mit einem ebenso breiten Lächeln zurück.

Zwei Möwen flogen über ihrem Kopf, vermutlich hofften sie auf einen kleinen Snack.

Auch wenn der Winter für Hannah einen ganz besonderen Reiz hatte und sie die klare, frische Luft und das tosende Meer mit den schäumenden Wellen mochte, so freute sie sich immer unbändig auf den Frühling und Sommer.

Als sie am Leuchtturm ankam, trippelte sie auf der Stelle, dann machte sie kehrt und lief zurück. Sie war überzeugt davon, wunderbar schlafen zu können.

Als sie am nächsten Morgen wie immer sehr früh aufwachte, drehte sie sich noch einmal auf die andere Seite. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, ausschlafen zu können, denn normalerweise war sie um halb vier in der Früh aufgestanden. Sie kuschelte sich unter die Bettdecke und versuchte einige Minuten lang sehr hartnäckig, sich davon zu überzeugen, dass ein Tag, an dem man nichts weiter vorhatte, als aufzustehen und abzuwarten, durchaus angenehm sein könnte.

Schließlich setzte sie sich auf und ließ die Beine über der Bettkante baumeln. Was würde sie darum geben, gleich in die Backstube gehen zu können, Streuselkuchen und Rosinenbrote zu backen, Kunden zu bedienen, mit ihnen zu plaudern und mit Toni ausgiebig zu frühstücken.

Wäre sie eine Frau, die sich für Shopping begeistern könnte, würde sie nach Stralsund fahren und hemmungslos einkaufen oder sich dort anderweitig die Zeit vertreiben.

Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie ihr Elternhaus an eine junge Familie vermietet. Es war ihr einfach zu groß gewesen, was hätte sie mit all den Zimmern anfangen sollen? Und wenn sie ehrlich war, dann hätte sie auch die Leere und die Stille im Haus nicht ertragen können.

Jetzt tobten dort zwei kleine Kinder umher, und im Garten stand eine große Schaukel samt Rutsche und Kletterstange.

Die Mieteinnahmen waren im Moment Hannahs einziges Einkommen. Sie hatte auch schon darüber nachgedacht, die Konditorei zu verpachten, es aber noch nicht übers Herz gebracht.

Am Vormittag saß sie auf dem Balkon und tat das, was sie in den letzten Wochen jeden Tag getan hatte: Sie dachte darüber nach, wie sie auch diesen Tag herumbringen würde. Ein Tag, der sich fürchterlich hinziehen würde und an dem sie nicht in der Backstube stehen und den Geruch von frischem Brot einatmen durfte. Und wieder ein Tag, an dem sie sich mit Schokolade, im Moment war ihr Favorit Zartbitter, vollstopfen würde, weil sie die Glückshormone dringend nötig hatte.

Ein Eichhörnchen kam angesprungen, und sie blieb reglos sitzen, um es nicht zu erschrecken. Mit einem Satz hüpfte es in den Balkonkasten und buddelte einen Moment darin herum.

Dann hatte es endlich das gefunden, was es gesucht hatte.

Mit einer Walnuss in beiden Pfoten sprang es aufs Geländer, warf Hannah einen überraschten Blick zu und verschwand auf einem der Bäume. Im Winter hatte Hannah ein paar Nüsse in die Balkonkästen und Pflanzentöpfe gesteckt, die sich die Eichhörnchen nach und nach geholt hatten.

Sie stand auf. Ihr war eine wunderbare Idee gekommen, womit sie den Tag verbringen konnte.

Wenig später schlenderte sie durch eine Gärtnerei in Kloster, eine Kiste mit Primeln in verschiedenen Farben in beiden Händen. Wie gut es hier duftete! Nach Frühling, feuchter Erde und den ersten warmen Sonnenstrahlen.

Sie packte Veilchen und dunkelblaue Stiefmütterchen in die Kiste. Sollte sie auch noch ein paar gelbe Stiefmütterchen kaufen? Sie erinnerten sie immer an ihre Mutter.

Es waren die ersten Blumen gewesen, die sie nach dem Winter im Garten gepflanzt hatte. »Jetzt muss der Frühling einfach kommen«, hatte sie dann lachend gesagt. Ihre Mutter war eine warmherzige und lebenslustige Frau gewesen, die für jeden Kunden ein freundliches Wort gehabt hatte.

Hannah warf einen Blick in ihr Portemonnaie. Sie musste mit ihrem Geld haushalten, seitdem die Konditorei geschlossen war. Für ein paar gelbe Stiefmütterchen und einen Sack Erde würde es aber reichen.

Nachdem sie einen großen Becher Tee auf dem Balkon getrunken und dabei dem leisen, sehr beruhigenden Rauschen der Wellen gelauscht hatte, stellte sie die Pflanzen im Kreis um sich herum auf. Sie selbst hockte auf den Knien in der Mitte. Im Hintergrund lief das Radio.

Auch in der Backstube hatten sie immer Radio gehört. Wie sehr sie sich ihren gewohnten Alltag zurückwünschte!

Sie setzte sich auf die Fersen und schaufelte die alte Blumenerde aus den Kästen und Töpfen. Sollte sie noch ein paar Nüsse finden, würde sie sie einfach in die neue Erde legen.

Die Blumen dufteten himmlisch. Immer wieder hielt sie inne und roch mit geschlossenen Augen daran.

Nachdem Hannah die Kästen in die Halterung gehängt und die frisch bepflanzten Töpfe verteilt hatte, blieb sie stehen und begutachtete ihr Werk zufrieden. Es sah hübsch aus, richtig frühlingshaft.

Und, was am besten war, der Tag war wie im Flug vergangen.

Es gab Tage, da konnte sie es einfach nicht bleiben lassen.

Und der folgende war ein solcher.

Am frühen Nachmittag war sie hinunter in die Backstube gegangen und hatte sich dort auf einen Hocker gesetzt. Sie blickte nach rechts, wo der lange Tisch stand, an dem ihr Vater immer gestanden hatte. Sie sah ihn vor sich, wie er in seiner weißen Montur, die Hände voller Mehl, dastand und laut ein Lied mitträllerte, das gerade im Radio gespielt wurde.

Wenn sie hereingekommen war, hatte er sich lächelnd zu ihr umgedreht und auf den Ofen gezeigt. »Da sind Mohnschnecken drin, die magst du doch so gerne.«

Oft hatten sie zu zweit am Tisch gestanden und gearbeitet.

Auf einem weiteren, sehr viel kleineren Tisch lag ihr Skizzenblock. Wann immer sie herkam, nahm sie ihn und zeichnete ihre Ideen auf. Irgendwann, eines Tages, der im Moment noch nicht in greifbarer Nähe schien, würde sie ihren Traum wahrmachen und Hochzeitstorten herstellen. Ganz besondere, ungewöhnliche Hochzeitstorten.

Ihr Vater hatte die Idee wundervoll gefunden. Was ihre Mutter wohl dazu gesagt hätte? »Hauptsache, man macht seine Träume wahr, Hannah«, sehr wahrscheinlich.

Hannah ging zu einem hohen Regal, in dem unter anderem die Backzutaten und Gewürze standen, alle ordentlich nebeneinander aufgereiht, und nahm aus einem der kleinen Körbe eine angebrochene Tafel Schokolade. Sie brach einen Riegel ab und steckte ihn sich gedankenverloren in den Mund.

In dem Moment vibrierte ihr Handy in der Hosentasche, und sie musste eine Weile kramen, bis sie es aus dem Kabelgewirr von MP3-Player und Ohrhörer hervorgezogen hatte.

Es war Silke.

»Wo steckst du gerade, Hannah?«

»Rate mal.«

»In der Backstube. Alles in Ordnung bei dir?«

»Na klar.«

»Ich vermute mal, du übertreibst wieder hemmungslos. Geht's dir wirklich gut, Hannah?«

»Ja, ja. Ich bin nur ein bisschen sentimental.«

Sie fand, das durfte sie auch sein.

»Verstehe. Brauchst du mich?«

Hannah mochte Silke sehr, ganz besonders aber schätzte sie, dass ihre Freundin alles stehen und liegen ließ, wenn sie der Meinung war, dass sie gebraucht wurde.

»Nein, mir geht's gut, wirklich.«

»Wie wär's heute Abend mit Kino? Wir waren ewig nicht mehr im Zeltkino. Oder wir gehen mal wieder zusammen laufen.«

»Laufen klingt gut. Ein bisschen Bewegung schadet dir sicher nicht.«

Silke lachte. »Vielen Dank auch. Dann hole ich dich um sieben ab, einverstanden? Andreas wird früh zu Hause sein und kann die Kinder übernehmen. Ich freue mich.« Sie legte auf.

Und Hannah war froh, dass sie ihrer Freundin mal wieder einen Gefallen tun, eine Freude machen konnte.

Und sich selbst auch.

Silke war pünktlich auf die Minute.

Sie trug eine Kapuzenjacke mit passender enganliegender Hose, in einem dunklen Lilaton.

Hannah gefiel die Farbe, und augenblicklich ging ihr durch den Kopf, sie für die Dekoration einer Torte zu benutzen. Rosenblätter in Dunkellila …

Ihr Handy klingelte, und sie hatte die spontane Eingebung, dass es möglicherweise jemand sein könnte, der sich auf die Stellenausschreibung bewarb. Sie hatten eine Zeitungsannonce geschaltet, und das Schild, das Silke in ihrer schönen kerzengeraden Handschrift geschrieben und ins Schaufenster gehängt hatte, war ebenfalls nicht zu übersehen.

»Guten Tag, ich rufe wegen der Stelle als Konditor an.«

Hannahs Herz machte einen Satz. Hatte sie den sechsten Sinn?

Sie wollte etwas wie »Ich freue mich …« sagen, doch der Anrufer ließ sie gar nicht zu Wort kommen.

»Ich hab's fürchterlich mit dem Kreuz, müssen Sie wissen. Und auf einer Insel zu leben, kann ich mir gar nicht vorstellen.«

Hannah wollte ansetzen und etwas fragen, aber er redete gleich weiter: »Ich wohne in Magdeburg, und es ist schön hier. Sehr schön, wissen Sie. Eigentlich will ich hier gar nicht weg.«

Offenbar war sein Redeschwall nun beendet, denn er machte eine längere Pause.

Sie holte tief Luft.

»Entschuldigen Sie, wenn ich womöglich dumm frage, aber warum bewerben Sie sich auf eine Stelle, die Sie gar nicht antreten möchten?«

Er räusperte sich. »Tja, wissen Sie, das ist so …«

Ein weiterer Redeschwall setzte ein, dem sie kaum folgen konnte. Was hatte er gerade gesagt? Er hätte die Auflage anzurufen, weil ihm ansonsten das Arbeitslosengeld gestrichen wurde? Hatte sie das richtig verstanden?

Sie hob eine Hand, obwohl er das ja nicht sehen konnte.

»Moment, entschuldigen Sie, aber Sie haben nur angerufen, weil das von Ihnen verlangt wird?«

»Tja«, sagte er wieder und verstummte gleich darauf.

»Sie möchten also eigentlich gar nicht hier arbeiten?«

»Wenn Sie mich so direkt fragen …«

»Ich frage Sie so direkt.«

Sie warf Silke einen verwirrten Blick zu. War das zu fassen?

»Nein, also auf einer Insel … Nein, ich glaube, das könnte ich nicht.«

Sie hätte ihm sagen können, wie wunderschön Hiddensee war, zu jeder Jahreszeit, sogar im tiefsten Winter, wie viele Sonnenstunden jährlich sie hatten und wie freundlich und warmherzig die Menschen waren. Sie hätte ihm erzählen können, wie toll es war, auf einem Fleckchen Erde zu leben, auf dem es keinen Autoverkehr gab und wo der Satz »Die Seele baumeln lassen« noch eine Bedeutung hatte.

Die meisten Touristen ließen ihr altes Leben auf dem Festland zurück, das hörte sie immer wieder. Hier gab es weder Lärm noch Hektik. Hiddensee war der Inbegriff von Ruhe und Frieden.

Aber warum hätte sie ihm das alles sagen sollen? Was hätte es genützt? Außer, dass sie sich hinterher geärgert hätte, ihre wunderbare Insel derart anzupreisen.

»Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.« Sie legte auf, obwohl er noch irgendetwas ins Telefon gerufen hatte.

»Wer war das denn?«, fragte Silke kopfschüttelnd.

»Ein Mann, der eine Arbeit als Konditormeister sucht. Am liebsten in Magdeburg. Tja, und wir sind ja hier auf Hiddensee.« Sie war enttäuscht, wollte es sich aber nicht anmerken lassen. Vielleicht war sie wirklich eine hoffnungslose Optimistin, aber sie würde die Hoffnung nicht aufgeben. Sie legte Silke die Hand auf die Schulter. »Komm. Jetzt brauche ich dringend Bewegung.«

Sie liefen in Kloster am neuen Seglerhafen entlang, und schon nach kurzer Zeit begann Silke zu schnaufen.

»Du bist nicht in Form«, stellte Hannah fest.

»Und du bist zu schnell«, gab Silke zurück.

Hannah bremste ab und trippelte auf der Stelle.

Ihre Freundin beugte sich vor und schnappte nach Luft. »Ich hab Seitenstechen.«

»Du atmest falsch.«

»Ja, ja.«

Sie blickten sich an und mussten lachen.

»Schön, dass du wieder lachst.« Silke sprintete an ihr vorbei. Hannah schaute ihr verblüfft nach, brauchte sich aber nicht groß anzustrengen, um sie wieder einzuholen.

»Du kennst mich, Silke«, sagte sie, als sie auf gleicher Höhe waren. »Ich bin kein Mensch, der schnell Trübsal bläst. Ich hasse das. Aber der plötzliche Tod meines Vaters …«

Silke nickte. »Ich weiß, Hannah. Du musst wieder was zu tun haben, das ständige Dasitzen, Warten und Däumchendrehen tut dir überhaupt nicht gut.«

Ein Mann mit blauer Fischermütze wuselte auf einem der Boote herum, die auf dem Wasser dümpelten, und hob die Hand.

»Tag, die Damen! Ein Wetter wie Speck, was?«

Hannah grüßte zurück. »Das ist der Frühling!«, rief sie.

Sie liefen nebeneinanderher und scheuchten drei Möwen auf, die auf dem Weg hockten und sich lautstark um ein Stück Brot stritten. Hannah wurde schneller und ließ ihre Freundin mehr und mehr zurück. Im Laufen drehte sie sich zu ihr um. »Nur keine Müdigkeit vorschützen! Komm!«

Silke holte wieder auf und keuchte. »Manchmal spüre ich glatt, wie alt ich bin.«

Hannah lachte. »Du bist achtunddreißig, Silke.«

»Fast vierzig«, fügte ihre Freundin trocken hinzu. Sie blieb erneut stehen und wischte sich übertrieben demonstrativ den Schweiß von der Stirn.

»Du hast Angst vor dem Alter?«, fragte Hannah belustigt.

»Angst? Nein, vielleicht nur ein wenig Respekt.« Silke zeigte nach rechts. »Lass uns zum Strand runterlaufen.«

»Und nachher jammerst du mir wieder die Ohren voll, dass dir die Waden weh tun.« Wer wüsste besser als sie, wie unangenehm ein Muskelkater sein konnte, wenn man ein paar Kilometer im Sand gelaufen war.

»Jammern gehört dazu.« Silke überholte sie wieder. »Wer als Letzte am Wasser ist, gibt Schokoeis mit Sahne aus!«

Zwei Wochen später

Hannah hasste Grübeln, aber mittlerweile schien es zu einer Angewohnheit geworden zu sein.

Die ständigen Fragen, die sie sich schon frühmorgens stellte, gingen ihr selbst auf die Nerven.

Wie sollte es nur weitergehen? Würde es überhaupt weitergehen? Was, wenn sie keinen Meister finden würde? Wovon sollte sie dann in Zukunft leben?

Manchmal schaffte sie es noch, sich mit einem »Das wird schon« zu motivieren, aber immer häufiger überkam sie das ungute Gefühl, sich etwas vorzumachen. Die Hoffnung stirbt zuletzt war für sie nicht nur ein Spruch, eine hohle Phrase, sondern ein Satz, der Geltung für sie hatte, nach dem sie lebte.

Resignation war immer ein Fremdwort für sie gewesen. Wer resigniert ist, kämpft nicht mehr und hat bereits verloren. Inzwischen jedoch befand sie sich in einem Jammertal, in das sie mehr und mehr versank, je öfter sie darüber nachdachte, wie ihre Zukunft wohl aussehen würde.

Vielleicht sollte sie endlich begreifen, dass sie die Konditorei verpachten musste.

Ihrem Vater wäre es wahrscheinlich sogar lieber, sie in fremden Händen zu sehen, als wenn sie weiterhin geschlossen bleiben würde.

An diesem Vormittag saß Hannah mit hängenden Schultern in der Backstube, ihren Block auf den Knien, und kaute auf ihrem Stift. Ja, sie sollte nicht länger an etwas festhalten, was nicht mehr zu ändern war.

Aber was mache ich dann? Ich werde vor Langeweile umkommen, eingehen wie eine Primel …

Die Konditorei Büchner, eine Institution auf Hiddensee, mit neuem Gesicht. Und sie würde arbeitslos sein.

Sie riss das Blatt Papier aus dem Block, auf dem sie eine Hochzeitstorte in Form eines Zylinders gezeichnet hatte. Sie zerknüllte es und warf es durch die Backstube.

Sie wäre nicht nur arbeitslos, auch ihr großer Traum wäre ausgeträumt. Sie nahm die letzten zwei Stückchen Zartbitterschokolade aus dem Papier und steckte sie sich in den Mund.

Ihr Handy klingelte.

»Ja?«, fragte sie mit vollem Mund.

»Schröder. Ich rufe wegen der Stelle an.«

Ein Mann mit energischer, kräftiger, nicht mal unangenehmer Stimme.

Sie versuchte, die Schokolade herunterzuschlucken.

»Kann ich heute Nachmittag vorbeikommen? Sagen wir um vier?«

Sie schaffte es, ein Ja zu nuscheln.

»Fein, dann bis später.« Er legte auf.

Wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her …

Hannah lachte und sprang auf. Vergessen waren ihre trüben Gedanken und die Sorge, die Konditorei verpachten zu müssen.

Sie warf einen Blick auf die Uhr, die direkt über ihr an der Wand hing. Es war kurz nach zwei. Sie würde einen Spaziergang machen und sich ein paar Fragen überlegen, die sie dem Mann stellen würde. An der frischen Luft konnte sie am besten nachdenken. Dieses Mal wollte sie sehr gut vorbereitet sein.

Mit einem hoffnungsfrohen Kribbeln im Bauch war sie zur Blauen Scheune geschlendert. Seine Stimme war doch ganz nett gewesen.

Würde sie auch jemanden einstellen, der ihr nicht sonderlich sympathisch war?

Früher hätte sie sich diese Frage nicht stellen müssen, weil es klar gewesen wäre. Sie würde nur mit jemandem zusammenarbeiten wollen, den sie mochte.

Inzwischen aber würde sie einiges in Kauf nehmen, Hauptsache, sie könnte die Konditorei wieder aufmachen. Was nützten ihr große Pläne und jede Menge guter Vorsätze, wenn sie am Ende arbeitslos und die Konditorei ihrer Eltern verpachtet wäre? »Man muss dauernd irgendwelche Opfer bringen«, hatte ihr Vater mal zu ihr gesagt.

Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und rief Toni an. Im Hintergrund waren lautes Lachen und Kindergeschrei zu hören.

»Ich bin's, Toni. Wo bist du gerade?«

»In meiner Wohnung. Ich hab überraschend Besuch von meiner Schwester und meinen beiden Nichten bekommen.«

»Dann störe ich sicher. Ich wollte dir auch nur schnell was erzählen.«

»Du störst überhaupt nicht. Schieß los.«

»Es hat sich jemand auf die Stellenausschreibung beworben, und ich …«

»Endlich!«, fiel ihr Toni ins Wort.

Hannah redete einfach weiter. »Er will um vier kommen. Mir wäre es lieb, wenn du dabei wärst.«

»Klare Sache. Wie ist dein Bauchgefühl?«

»Mein Bauchgefühl? Neutral. Seine Stimme klang sehr nett.«

»Na, immerhin.«

»Bis nachher, Toni. Und sei pünktlich, ja?«

»Ich bin immer pünktlich.«

Hannah steckte das Handy in die Hosentasche.

Was sollte sie ihn unbedingt fragen? Und was sollte sie möglichst nicht fragen?

Während sie langsam weiterlief, versuchte sie, in sich hineinzuhorchen. Auf ihr Bauchgefühl hatte sie sich immer verlassen können. Dummerweise sagte ihr Bauch ihr gerade gar nichts.

Komm schon, sei nicht so verschwiegen. Nicht bei einer so wichtigen Entscheidung …

Ein Golden Retriever sprang auf sie zu, und sie machte einen Schritt zur Seite, damit sie nicht umgerannt wurde. Wo war der denn so plötzlich hergekommen?

Ein dunkelhaariger Mann kam angelaufen, die Hundeleine in der Hand.

»Amber! Wirst du wohl stehen bleiben!«

Der Hund drehte sich zu ihm und bellte.

»Sie sollten ihn besser anleinen«, meinte Hannah.

Der Mann nickte schuldbewusst. »Tut mir leid, ich weiß, aber sie ist wie der Blitz los.«

»Um mich umzurennen?«

Er lachte. »Schon möglich. Tut mir wirklich leid.«

Er packte den Hund am Halsband und leinte ihn an.

Hannah war bereits weitergegangen und mit den Gedanken ganz woanders. Was, wenn der Mann ein furchtbar unangenehmer Mensch war?

»Ich hoffe, Sie verpetzen mich nicht bei der Kurverwaltung!«

Sie wandte sich im Gehen zu ihm um. »Was?«

Er machte eine drollige Geste. »Ich sagte, ich hoffe, Sie verpetzen mich nicht.«

Hannah hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Er kam auf sie zu, den Hund an der Leine. »Na, wegen meines Hundes.«

Sie blinzelte verwirrt, dann nickte sie. »Entschuldigung, ich war nicht ganz bei der Sache. Ich schwärze Sie ganz bestimmt nicht an.«

»Das war ein Scherz.« Er grinste.

»Ach so. Ja, dann …« Sie wedelte mit einer Hand. »Ich muss weiter.« Sie schlug den Weg zum Strand ein und schlüpfte aus ihren Schuhen.

Die Brandung der Wellen, der salzige Geruch und das Schreien der Möwen, all das sorgte dafür, dass sie einen klaren Kopf bekam.

Sie blieb stehen, um einen Stein aufzuheben.

Sie mochte Steine, egal, welche Größe oder Farbe sie hatten. Mit ihrem Patenkind Ida, Silkes jüngster Tochter, ging sie regelmäßig Steine suchen. Wann immer Ida einen hübschen oder auch nur ungewöhnlichen Stein fand, jauchzte sie: »Ein Geschichtenerzähler, Hannah!«

Dann hielt sie den Stein an ihr Ohr und lauschte mit konzentrierter Miene.

Hannah hatte sich oft dabei ertappt, wie sie die Kleine stumm und geradezu überwältigt angesehen hatte. Ida war ein so bezauberndes Kind, dass es sie manchmal ganz sprachlos machte. Das Mädchen sprühte vor Lebensfreude, Tatendrang und Fantasie, ein Kind, das einen erwachsenen Menschen nur glücklich machen konnte. Hannah fühlte sich nach einem Tag, den sie mit Ida verbracht hatte, wie berauscht. Ab und zu dankte sie dem Universum, dass es ihr dieses Kind geschenkt hatte, auch wenn es nicht ihr eigenes war. Hätte sie jemals eine Tochter, dann dürfte die ruhig so sein wie die kleine strohblonde Ida.

Direkt vor ihren Füßen lag ein hellgrauer, fast runder Stein. In der Mitte hatte er einen weißen Strich, so als sei das eine Markierung, an der man ihn durchtrennen könnte.

Sie bückte sich und hob ihn auf.

Mit einer Hand schirmte sie ihre Augen ab und blickte zum Meer hinaus.

Gab es einen schöneren Ort zum Leben?

Toni wartete bereits vor der Konditorei.

Sie trug eine knallrote Baseballkappe auf ihrem dunklen Haar, das sie zu einem Zopf gebunden und unter die Kappe gesteckt hatte.

Toni war das ganze Jahr über braun gebrannt und sah immer so aus, als sei sie gerade aus dem Karibikurlaub zurück.

Die beiden Frauen schlossen sich in die Arme.

»Ich bin pünktlich.«

»Und ich hab keine Sekunde daran gezweifelt.« Hannah hielt Toni etwas von sich. »Wie geht's dir?«

Die junge Frau zuckte mit den Schultern. »Wie's einem so geht, wenn man arbeitslos ist. Man hat Zeit ohne Ende, um Dinge zu tun, auf die man überhaupt keine Lust hat, weil man viel lieber arbeiten würde.« Sie stöhnte auf. »Ich langweile mich zu Tode.«

»Wollen wir hier draußen warten? Das Wetter ist so schön.«

Toni nickte und fragte Hannah: »Und du? Wie geht's dir?«

»Ich langweile mich ebenfalls zu Tode. Ich hab's dir schon mehrmals gesagt, Toni: Such dir irgendwo auf der Insel einen Job. Die Hauptsaison geht bald los, und du würdest bestimmt schnell etwas finden.«

»Nein.«

Hannah unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte nichts anderes erwartet. Toni hatte sich in den Kopf gesetzt, gemeinsam mit ihr auszuharren, bis sie die Konditorei endlich wiedereröffnen könnten. Und nichts würde sie davon abhalten.

Hannah wusste, dass sie eine kleine Erbschaft gemacht hatte. Ihre verstorbene Tante hatte ihr ein bisschen was hinterlassen, so dass sie die Zeit ganz gut überbrücken konnte.

»Ich wäre dir nicht böse.«

Toni warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

»Glaubst du wirklich, ich lasse dich hängen?«

Sie zeigte in den Himmel, wo ein halbes Dutzend Schwalben flog und dabei mächtig lärmte. »Der Frühling ist da.« Sie schien nachzudenken. »Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling?«

Hannah schüttelte den Kopf. »Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.«

Ein Mann, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite gegangen war, überquerte die schmale Straße und kam geradewegs auf sie zu. Sein Schritt war energisch.

Das könnte er sein, überlegte Hannah.

»Vielleicht ist er das«, raunte sie Toni zu.

Die musterte ihn ungeniert. »Sieht doch ganz nett aus.«

Kurz vor der Konditorei schlug er jedoch einen Haken und ging links weiter.

Toni sah ihm verdutzt nach. »Schade.«

Hannah warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Fünf nach.«

»Pünktlichkeit scheint nicht seine Stärke zu sein.«

Eine gute Viertelstunde später standen sie noch immer dort.

Hannahs Laune war auf dem Nullpunkt.

»Warum ruft man an und erscheint dann nicht?«

Toni schnaubte. »Man könnte meinen, die Jobs lägen auf der Straße.«

Sie blickte sehnsüchtig ins Schaufenster. Dann zeigte sie auf das Schild, das Silke geschrieben und ins Fenster gehängt hatte: Konditormeister/-meisterin dringend gesucht!

»Vielleicht sollten wir ein größeres Schild machen?«

»Noch größer?« Hannah würde Toni gern trösten, dabei hatte sie eigentlich selbst Trost nötig. »Wir werden jemanden finden.«

»Deinen Optimismus möchte ich haben.«

Sie hatten eine weitere halbe Stunde gewartet, schließlich war Toni nach Hause und Hannah zu ihrer Wohnungstür gegangen.

Sollte der Mann sich aus irgendeinem, bisher unerfindlichen Grund derart verspätet haben, würde er sicherlich die Klingel finden und sich bei ihr melden.

Und wenn nicht, gehörte er zweifellos zu den Menschen, die es für nicht besonders wichtig erachteten, einen Termin einzuhalten oder wenigstens abzusagen.

Sie war verärgert über so viel Unzuverlässigkeit. So jemanden würde sie auch gar nicht in ihrer Konditorei haben wollen. Ein Opfer würde sie bringen, aber allzu groß dürfte es dann doch nicht sein.

Sie suchte gerade in ihrer Hosentasche nach dem Wohnungsschlüssel, als sie leise Schritte hinter sich hörte. Na also, war ihr erster Gedanke. Viel zu spät, aber vielleicht würde er eine plausible Erklärung haben.

Sie drehte sich um und sah Marie Zimmermann vor sich, eine Dame in den Siebzigern und Stammkundin der Konditorei.

»Wann machst du denn wieder auf, Hannah?«

»Wenn ich das wüsste.«

Die alte Dame blickte wehmütig ins Schaufenster.

»Mir fehlen deine Brötchen. Und die Sanddorntorte.«

Nicht nur Hannahs Eltern hatten die Konditorei zu dem gemacht, was sie war. Hier gab es auch ihre legendäre Sanddorntorte.

Die alte Dame tätschelte Hannahs Arm, dann huschte ein trauriges Lächeln über ihr erstaunlich glattes Gesicht.

»Deine Eltern wären stolz auf dich.«

»Na, ich weiß nicht. Wenn sie sehen würden, dass ihre Konditorei geschlossen ist …«

»Der liebe Gott hab sie selig. Aber es ist jetzt deine, Hannah.«

»Trotzdem wäre es schlimm für sie.«

Die beiden Frauen blickten sich einen Moment lang an, dann klopfte die alte Dame resolut mit ihrem Stock aufs Pflaster. »Es wird doch wohl auf dieser vermaledeiten Insel einen Konditormeister geben!«

»Ich würde auch einen vom Festland nehmen«, erwiderte Hannah trocken.

»Was soll nun werden, Kind?«

»Wenn ich das wüsste.«

Karamell

Hiddensee, zwei Wochen später

»Dann nahm sie die kleine Papierschachtel, auf die niedliche Vögel gezeichnet waren, machte sie auf und legte die toten Blumen hinein.«

Silke klappte das Märchenbuch zu.

Die Blumen der kleinen Ida von Hans Christian Andersen war das Lieblingsmärchen ihrer jüngsten Tochter.

Ida gefiel es, dass das Mädchen im Märchen den gleichen Namen hatte.

Silke beugte sich über ihre schlafende Tochter und küsste sie auf die Stirn. Ihr Haar duftete ganz leicht nach Karamell und Kindershampoo.

Silke deckte sie zu und steckte das Nachtlicht in die Steckdose. Noch immer fürchtete sich Ida im Dunkeln, wie wohl alle Kinder in dem Alter. Dabei war die Sechsjährige ein Wirbelwind, der tagsüber als wilder und mutiger Piratenkapitän durchs Haus und durch den Garten fegte. Doch sobald es dämmerte, verwandelte sie sich in das kleine Mädchen zurück, das mit dem Puppenhaus spielte und den Puppen Pfefferminztee servierte.

Silke lehnte die Schlafzimmertür an und ging nach nebenan ins Zimmer der zehnjährigen Nele. Sie war aus dem Vorlesealter heraus. Meistens. Manchmal jedoch kuschelte sie sich an ihre Mutter und bat sie, ihr aus Der kleinen Meerjungfrau vorzulesen.

Nele schlief bereits, die Bettdecke bis zur Nasenspitze hochgezogen. Nur ein Fuß lugte unter der Decke hervor.

Silke zog die Tür hinter sich zu und ging leise eine Tür weiter. Dort war das Zimmer des zehnjährigen Matis, Neles Zwillingsbruder. Er schlief garantiert noch nicht.

Ich wette, dass er bäuchlings auf dem Teppich liegt und mit seinem Piratenschiff spielt.

Und tatsächlich.

Der Junge blickte auf, als sie hereinkam, und huschte, ohne dass sie auch nur ein Wort sagen musste, flink in sein Bett.

»Die Mannschaft meutert, Mami, und der Kapitän ist stinksauer.«

»Das kann ich mir gut vorstellen, Schatz, schließlich läuft ohne seine Mannschaft nichts auf seinem Schiff.«

»Packt er nicht selbst mit an?«, wollte Matis wissen und winkte gleichzeitig ab. »Nein, ich weiß schon. Er ist ja der Chef.«

»Er könnte schon selbst mit anpacken, findest du nicht?«

Sie deckte ihn zu, und bevor sie ihm einen Kuss geben konnte, hatte er sich unter ihr hindurchgeduckt und war kichernd unter der Bettdecke verschwunden.

Silke griff nach ihm und kitzelte ihn. Dann sagte sie mit ihrer Jetzt-ist's-genug-Stimme: »So, und nun wird geschlafen.«

Matis tauchte wieder auf und salutierte: »Aye, Käpt'n.«

»Und es wird nicht mehr gelesen.«

Er nickte mit ernstem Gesicht.

»Wirklich, Matis, es ist schon spät.«

»Ist Paps schon da?«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber er wird bald da sein. Du weißt ja, wie das ist. Vielleicht hat er die Fähre nicht mehr erwischt und muss auf die nächste warten.«

»Dann kommt er viel zu spät, um mir noch gute Nacht zu sagen.«

»Er wird dir auf jeden Fall gute Nacht sagen«, versprach sie. »Nur wirst du dann vermutlich tief und fest schlafen.«

Sie machte die Tür hinter sich zu und schloss für einen Moment die Augen. Dieses abendliche Ritual genoss sie nicht weniger als ihre Kinder.

Barfuß ging sie nach unten und schenkte sich ein Glas Weißwein ein. Damit setzte sie sich auf die gemütliche, riesige Eckcouch und blickte aus dem Fenster.

Ihr Handy klingelte, auf dem Display leuchtete »Hannah ruft an«.

»Hannah, wie schön.«

»Was machst du gerade?«

»Ich trinke ein Glas Wein. Und du?«

»Ich bin unterwegs zum Leuchtturm, und bevor ich sentimental werde, dachte ich, ich rufe dich an, damit du mir den Kopf zurechtrückst.«

»Ach je, so schlimm?«

»Ich muss immer an meinen Vater denken, wenn ich hier langgehe.«

Silke überlegte, was sie sagen könnte, um Hannah zu trösten. Doch sie fand keine passenden Worte. Sie wusste, wie sehr Hannah an ihrem Vater gehangen hatte.

Sein plötzlicher Tod hatte sie tief getroffen, und sie würde wohl auch noch eine Weile brauchen, um darüber hinwegzukommen.

»Vielleicht solltest du einfach eine Zeitlang einen anderen Weg nehmen.« Silke verdrehte die Augen. Ein grandioser Vorschlag, wirklich. »Entschuldige, eine blöde Idee.«

»Ach, so blöd finde ich sie gar nicht.«

»Wenn du erst mal einen Konditor eingestellt hast …«

»Und was, wenn ich keinen finde? Was, wenn es niemanden gibt, der sich hier niederlassen will?«

Silke nagte an ihrer Unterlippe. Als hätte sie darüber nicht schon mehrfach nachgedacht.

Für die Konditorei Büchner wäre es das Ende, und für Hannah? Für sie würde es bedeuten, dass sie sich eine Stelle als Kellnerin oder was auch immer suchen müsste. Denn eines war Silke klar: Ihre Freundin würde keinen Fuß von der Insel setzen. Lieber würde sie sich eine Arbeit suchen, die ihr keinen Spaß machte, als Hiddensee verlassen zu müssen.

»Vielleicht muss ich doch verpachten.«

Es wäre zumindest eine erste Maßnahme, eine Art Notlösung. »Ja, vielleicht solltest du wirklich noch mal in Ruhe darüber nachdenken.«

»Du weißt, wie schwer mir das fällt.«

»Besser, als wenn sie weiterhin geschlossen bleibt.«

»Schon …«

»Tut mir leid, wirklich aufmunternd war das jetzt nicht von mir.«

»Du bist meine Freundin, und ich erwarte, dass du ehrlich zu mir bist und Klartext redest.«

Das gefiel ihr ganz besonders an Hannah, sie hatte noch nie den Eindruck gehabt, sich verstellen zu müssen.

»Wir schaffen das schon, Hannah.«

Hatte es aufmunternd genug geklungen? Denn genau so war es gemeint. Sie würde Hannah unterstützen, wo sie konnte, sie aufbauen, ihr helfen, was auch immer.

»Danke, Silke.«

»Ich bitte dich.«

»Was würde ich bloß ohne dich machen?« Damit beendete Hannah das Gespräch.

Silke hatte dasselbe auch oft gedacht. Was würde sie ohne Hannah tun? Sie war mehr als eine Freundin.

Silke zog die Beine an und blickte wieder aus dem Fenster. Dieses Ritual liebte sie ebenfalls. Abend für Abend setzte sie sich hierher, hin und wieder mit einem Glas Wein, oft auch einem Kräutertee, und lauschte dem Rauschen des Meeres, das man durch das geöffnete Fenster hören konnte.

Als sie vor vielen Jahren auf die Insel gekommen war, hatte sie geglaubt, dass sie irgendwann so etwas wie Platzangst bekommen würde. Hiddensee war überschaubar, an der schmalsten Stelle gerade mal um die zweihundertfünfzig Meter breit.

Und sie war nur ganze siebzehn Kilometer lang. In einem einzigen Tag konnte man die gesamte Insel ablaufen.

Ihr Mann war hier geboren und aufgewachsen, er war nur zum Studieren nach Rostock gezogen und anschließend wieder hierhergekommen. Eigentlich war es mehr als ein glücklicher Zufall, dass sie sich überhaupt getroffen hatten.

Silke war überzeugt davon, dass es Schicksal war.

Andreas hatte kaum etwas anderes als diese Insel gesehen, und sie war durch und durch ein Berliner Kind gewesen.

Bis zu dem Tag, als sie eine Bekannte auf Hiddensee besucht und sich in die Insel verliebt hatte. Und in Andreas.

Sie musste daran denken, wie Hannah und sie sich kennengelernt hatten. Hannahs erfrischende Natürlich- und Geradlinigkeit hatten ihr sofort gefallen. Sie war wohltuend anders; ehrlicher, direkter. Außerdem versprühte sie eine Lebendigkeit und Lebensfreude, die Silke nicht selten mitrissen.

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