Liebes Leben - Alice Munro - E-Book
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Liebes Leben E-Book

Alice Munro

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Beschreibung

Das neue Buch der Nobelpreisträgerin Alice Munro! Niemand erzählt eindringlicher davon, wie es wäre, ein neues Leben zu beginnen, als die große kanadische Autorin Alice Munro. »Dir diesen Brief schreiben ist wie einen Zettel in eine Flasche stecken und hoffen, er wird Japan erreichen«, schreibt Greta in der ersten Erzählung und schickt diese Zeilen an Harris, den Zeitungsreporter, der sie nach einer Party fast geküsst hätte. Aber eben nur fast. Auf wenigen Seiten kondensiert Alice Munro die geheimen Träume ihrer Figuren. Vierzehn neue brillante Erzählungen, die mit einem furiosen Finale enden: vier Geschichten, in denen sie so persönlich wie nie (»die ersten und die letzten Dinge, die ich über mein Leben zu sagen habe«) von sich selbst erzählt.

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Alice Munro

Liebes Leben

14 Erzählungen

 

Aus dem Englischen von Heidi Zerning

 

Über dieses Buch

 

 

Das neue Buch der Nobelpreisträgerin Alice Munro!

 

Niemand erzählt eindringlicher davon, wie es wäre, ein neues Leben zu beginnen, als die große kanadische Autorin Alice Munro. »Dir diesen Brief schreiben ist wie einen Zettel in eine Flasche stecken und hoffen, er wird Japan erreichen«, schreibt Greta in der ersten Erzählung und schickt diese Zeilen an Harris, den Zeitungsreporter, der sie nach einer Party fast geküsst hätte. Aber eben nur fast.

Auf wenigen Seiten kondensiert Alice Munro die geheimen Träume ihrer Figuren. Vierzehn neue brillante Erzählungen, die mit einem furiosen Finale enden: vier Geschichten, in denen sie so persönlich wie nie (»die ersten und die letzten Dinge, die ich über mein Leben zu sagen habe«) von sich selbst erzählt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Alice Munro, geboren 1931 in Ontario, ist eine der bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart. Sie erhielt 2013 die höchste Auszeichnung für Literatur – den Nobelpreis. Ihr umfangreiches erzählerisches Werk wurde zuvor bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Man Booker International Prize. Alice Munro lebt in Ontario und in British Columbia.

 

Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Inhalt

Japan erreichen

Amundsen

Abschied von Maverley

Kies

Heimstatt

Stolz

Corrie

Zug

Mit Seeblick

Dolly

Finale: Vorbemerkung zu den letzten vier Erzählungen

Das Auge

Nacht

Stimmen

Liebes Leben

Japan erreichen

Kaum hatte Peter ihr den Koffer in den Zug getragen, schon schien er es eilig zu haben, wieder auszusteigen. Aber nicht, um wegzugehen. Er erklärte ihr, es sei nur sein dummes Gefühl, der Zug könnte sich in Bewegung setzen. Dann stand er draußen auf dem Bahnsteig, schaute zu ihrem Fenster hoch und winkte. Lächelte und winkte. Das Lächeln für Katy war weit offen, ohne den leisesten Zweifel, als glaubte er, sie werde für ihn immer ein Wunder bleiben, wie auch er für sie. Das Lächeln für seine Frau war eher zuversichtlich und vertrauensvoll, mit einer gewissen Entschlossenheit. Nicht leicht in Worte zu kleiden, vielleicht auch gar nicht. Hätte Greta das zur Sprache gebracht, hätte er gesagt: Sei nicht albern. Und sie hätte ihm beigepflichtet, der Überzeugung, dass es für Menschen, die sich tagein, tagaus sahen, unnatürlich war, sich mit irgendwelchen Erklärungen abzumühen.

Als Peter noch ein Baby war, hatte seine Mutter ihn über mehrere Berge getragen, deren Namen Greta immer wieder vergaß, um ihn aus der kommunistischen Tschechoslowakei hinaus nach Westeuropa zu schaffen. Natürlich waren auch noch andere dabei. Peters Vater hatte vorgehabt, sie zu begleiten, wurde aber kurz vor dem Datum ihrer geheimen Abreise in ein Sanatorium eingeliefert. Er sollte nachkommen, sobald er konnte, doch stattdessen starb er.

»Ich habe solche Geschichten gelesen«, sagte Greta, als Peter ihr zum ersten Mal davon erzählte. Sie erklärte, wie die Babys in den Geschichten anfingen zu weinen und unweigerlich erstickt oder erwürgt werden mussten, damit der Lärm die Flüchtlinge nicht in Gefahr brachte.

Peter erwiderte, solch eine Geschichte hätte er nie gehört, und wollte nicht sagen, was seine Mutter unter solchen Umständen getan hätte.

Was sie tat, war, nach British Columbia zu gehen, wo sie ihr Englisch verbesserte und sich eine Stellung als Lehrerin an einer Highschool besorgte, für ein Fach, das damals Handelskunde hieß. Sie zog Peter allein groß, schickte ihn aufs College, und jetzt war er Ingenieur. Wenn sie zu Besuch kam, in die Wohnung und später in das Haus, saß sie immer im Wohnzimmer und kam nie in die Küche, außer Greta forderte sie dazu auf. So war sie. Sie trieb es auf die Spitze damit, nichts wahrzunehmen. Nichts wahrzunehmen, sich in nichts einzumischen, nichts vorzuschlagen, obwohl sie ihre Schwiegertochter in jeder Haushaltsfertigkeit oder -kunst weit hinter sich ließ.

Außerdem kündigte sie die Wohnung, in der Peter aufgewachsen war, und zog in eine kleinere ohne Schlafzimmer, nur mit Platz für eine Schlafcouch. Also kann Peter nicht mehr nach Hause zu Mutter?, neckte Greta sie, aber das schien sie zu bestürzen. Witze peinigten sie. Vielleicht war es ein Sprachproblem. Doch Englisch war inzwischen ihre gewohnte Sprache, dazu die einzige, die Peter beherrschte. Er hatte Handelskunde gebüffelt – wenn auch nicht bei seiner Mutter –, während Greta sich mit dem Verlorenen Paradies auseinandersetzte. Sie mied alles Nützliche wie die Pest. Wie es schien, tat er das Gegenteil.

Mit der Fensterscheibe zwischen ihnen und mit Katy, die nicht zuließ, dass das Winken ermattete, schwelgten sie in Mienen von komischem oder sogar groteskem Wohlwollen. Greta dachte, wie gut er aussah und wie wenig ihm das bewusst zu sein schien. Er trug einen Bürstenschnitt, im Stil der Zeit – besonders, wenn man so was wie ein Ingenieur war –, und seine helle Haut rötete sich nie wie ihre, wurde nie fleckig von der Sonne, sondern war zu jeder Jahreszeit gleichmäßig braun.

Seine Ansichten glichen in manchem seinem Teint. Wenn sie ins Kino gingen, wollte er hinterher nie über den Film reden. Er sagte dann, der Film sei gut oder ganz gut oder passabel. Alles Weitere fand er sinnlos. In ganz ähnlicher Weise sah er sich Fernsehsendungen an, las er ein Buch. Er hatte mit solchen Dingen Geduld. Die Leute, die sie herstellten, taten wahrscheinlich ihr Bestes. Greta wollte immer diskutieren, fragte unüberlegt, ob er dasselbe von einer Brücke sagen würde. Die Leute, die sie bauten, taten ihr Bestes, aber ihr Bestes war nicht gut genug, also brach sie zusammen.

Statt zu diskutieren, lachte er einfach.

Das ist nicht dasselbe, sagte er.

Nein?

Nein.

Greta hätte sich klarmachen müssen, dass diese Einstellung – entspannt, tolerant – für sie ein Segen war, denn sie war Dichter, und es gab Dinge in ihren Gedichten, die überhaupt nicht fröhlich oder leicht zu erklären waren.

(Peters Mutter und seine Arbeitskollegen – jene, die davon wussten – sagten immer noch Dichterin. Ihn hatte sie dazu erzogen, es nicht zu sagen. Weitere Erziehungsarbeit war nicht notwendig. Die Verwandten, die sie in ihrem Leben hinter sich gelassen hatte, und die Leute, die sie jetzt in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter kannten, wussten nichts von dieser Besonderheit.)

Später in ihrem Leben ließ sich nur schwer erklären, was eigentlich zu jener Zeit gebilligt wurde und was nicht. Sie konnte sagen, Feminismus jedenfalls nicht. Aber dann musste sie erklären, dass das Wort Feminismus damals noch gar nicht in Gebrauch war. Also behalf sie sich damit, zu sagen, irgendeinen ernsthaften Gedanken zu haben – geschweige denn Ehrgeiz – oder vielleicht sogar ein richtiges Buch zu lesen, konnte dich verdächtig machen und mit der Lungenentzündung deines Kindes in Verbindung gebracht werden, und eine politische Bemerkung auf der Firmenfeier konnte deinen Mann die Beförderung kosten. Es kam gar nicht darauf an, für oder gegen welche Partei. Eine Frau hatte den Mund zu weit aufgemacht, das war’s.

Woraufhin die Leute lachten und sagten: Sie machen bestimmt Witze, und sie nur sagen konnte: Na ja, nicht so ganz. Sie setzte hinzu, wenn man jedoch Gedichte schrieb, dann war es etwas sicherer, eine Frau zu sein und kein Mann. Dafür stand nämlich das Wort Dichterin zur Verfügung, wie ein Gespinst aus Zuckerwatte. Peter hätte bestimmt nicht so gedacht, sagte sie, doch man durfte nicht vergessen, er war in Europa geboren. Er hätte allerdings verstanden, warum seine Arbeitskollegen so dachten.

 

 

In jenem Sommer sollte Peter einen Monat lang oder vielleicht länger Arbeiten beaufsichtigen, die in Lund ausgeführt wurden, weit oben im Norden, sogar so weit nördlich, wie es auf dem Festland nur ging. Dort gab es keine Unterbringungsmöglichkeit für Katy und Greta.

Aber Greta war mit einer jungen Frau in Verbindung geblieben, mit der sie in der Stadtbibliothek von Vancouver zusammengearbeitet hatte und die inzwischen verheiratet war und in Toronto lebte. Sie und ihr Mann wollten in jenem Sommer einen Monat in Europa verbringen – er war Lehrer –, und sie hatte Greta geschrieben und gefragt, ob Greta mit ihrer Familie ihnen einen Gefallen tun – sie war sehr höflich – und das Haus in Toronto für einen Teil dieser Zeit hüten könnte, damit es nicht leer stand. Und Greta hatte ihr zurückgeschrieben, ihr von Peters Arbeit erzählt, aber das Angebot für Katy und sich angenommen.

Deshalb standen sie jetzt und winkten unablässig vom Bahnsteig und aus dem Zug.

 

 

Es gab damals eine Zeitschrift namens The Echo Answers, die unregelmäßig in Toronto erschien. Greta hatte sie in der Bibliothek entdeckt und einige Gedichte an die Redaktion geschickt. Zwei der Gedichte waren abgedruckt worden, und als der Herausgeber der Zeitschrift dann im letzten Herbst nach Vancouver kam, war sie zusammen mit anderen Schriftstellern zu einem Empfang eingeladen worden, um ihn kennenzulernen. Der Empfang fand im Haus eines Schriftstellers statt, dessen Name ihr vom Gefühl her seit ihrer Kindheit vertraut war. Er war für den späten Nachmittag angesetzt, eine Zeit, zu der Peter noch arbeiten musste, also engagierte sie einen Babysitter und fuhr im North-Vancouver-Bus über die Lions Gate Bridge und durch den Stanley Park. Dann musste sie vor der Hudson’s Bay Station warten, auf die lange Fahrt hinaus zum Universitätsviertel, wo der Schriftsteller wohnte. Sie verließ den Bus an der Endhaltestelle, fand die Straße, ging sie hinauf und hielt nach der Hausnummer Ausschau. Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen, die sie beträchtlich verlangsamten. Außerdem ihr elegantestes schwarzes Kleid, das einen Reißverschluss auf dem Rücken hatte, die Taille lose umspielte und um die Hüften immer ein bisschen zu eng war. Sie sah darin ein wenig lächerlich aus, dachte sie, während sie die gewundene Straße ohne Bürgersteig entlangstakste, als Einzige unterwegs im dunkelnden Nachmittag. Moderne Häuser, Panoramafenster wie in jedem aufstrebenden Vorort, überhaupt nicht die Umgebung, die sie erwartet hatte. Sie begann sich zu fragen, ob sie sich in der Straße geirrt hatte, und der Gedanke machte sie nicht unglücklich. Sie konnte zu der Bushaltestelle zurücklaufen, wo es eine Bank gab. Konnte die Schuhe ausziehen und in Ruhe auf die lange, einsame Heimfahrt warten.

Aber dann sah sie die parkenden Autos, die Hausnummer, zur Umkehr war es zu spät. Lärm drang aus der geschlossenen Haustür, und sie musste zwei Mal klingeln.

Sie wurde von einer Frau begrüßt, die offenbar jemand anderen erwartet hatte. Begrüßt war das falsche Wort – die Frau machte die Tür auf, und Greta sagte, hier sei doch wohl der Empfang.

»Wonach sieht’s denn aus?«, fragte die Frau und lehnte im Türrahmen. Sie versperrte den Weg, bis Greta sagte: »Darf ich reinkommen?«, dann trat sie beiseite, als bereitete ihr die Bewegung beträchtliche Schmerzen. Sie bat Greta nicht, ihr zu folgen, also tat Greta es unaufgefordert.

Niemand sprach sie an oder nahm von ihr Notiz, aber nach kurzer Zeit streckte ein junges Mädchen ihr ein Tablett entgegen, auf dem Gläser mit so etwas wie rosa Limonade standen. Greta nahm eins und trank es durstig aus, dann nahm sie noch eins. Sie dankte dem Mädchen und versuchte, ein Gespräch über den langen, heißen Anmarsch anzufangen, aber das Mädchen war nicht interessiert und wandte sich ab, tat seine Arbeit.

Greta schlenderte weiter. Sie lächelte unentwegt. Niemand der Gäste sah sie mit irgendeinem Zeichen von Wiedererkennen oder Freude an, und warum sollten sie auch? Ihre Blicke glitten an ihr vorbei, dann setzten sie ihre Gespräche fort. Sie lachten. Alle außer Greta waren mit Freunden, Witzen und vertraulichem Wissen ausgestattet, alle schienen jemanden gefunden zu haben, dem sie willkommen waren. Alle bis auf das Mädchen und den Jungen, die weiterhin verdrossen und unerbittlich ihre rosa gefüllten Gläser anboten.

Sie gab jedoch nicht auf. Das Getränk half ihr, und sie beschloss, sich noch eins zu nehmen, sobald ein Tablett vorbeikam. Sie hielt nach einer Gesprächsrunde Ausschau, die eine Lücke zu bieten schien, in die sie schlüpfen konnte. Sie meinte, eine gefunden zu haben, als sie hörte, wie Titel von Filmen erwähnt wurden. Von europäischen Filmen, die zu jener Zeit allmählich in die Kinos von Vancouver gelangten. Sie hörte den Titel von einem Film, den sie mit Peter zusammen gesehen hatte. Sie küssten und sie schlugen ihn. »Ah, den hab ich gesehen!«, kam es laut und begeistert aus ihr heraus, so dass alle sie anschauten und eine, offenbar die Wortführerin, sie fragte: »Ach ja?«

Greta war natürlich betrunken. Pimm’s No. I und rosa Grapefruitsaft, hastig hinuntergestürzt. Sie nahm sich diese Abfuhr nicht so zu Herzen, wie sie es unter normalen Umständen getan hätte. Sondern segelte einfach weiter, merkte, dass sie irgendwie die Orientierung verloren hatte, bekam aber das Gefühl, dass in den Räumen eine schwindelig machende Atmosphäre von Freizügigkeit herrschte und dass es nicht darauf ankam, Bekanntschaften zu schließen, sie konnte einfach umherschlendern und sich ihre eigene Meinung bilden.

Ein Grüppchen von wichtigen Leuten stand in einem Torbogen. Sie sah unter ihnen den Gastgeber, den Schriftsteller, dessen Name und Gesicht sie seit so langer Zeit kannte. Er unterhielt sich laut und hektisch und schien, zusammen mit noch zwei anderen Männern, Gefahr auszustrahlen, als würden sie eher eine Beleidigung austeilen als jemanden wie sie anschauen. Ihre Ehefrauen, so nahm sie jedenfalls an, vervollständigten den Kreis, in den sie sich zu drängen versucht hatte.

Die Frau, die ihr die Tür aufgemacht hatte, stand nicht in einer der Gruppen, denn sie war selbst Schriftstellerin. Greta sah, wie sie sich umwandte, als jemand ihren Namen rief. Ein Name, vertraut aus der Zeitschrift, die Gretas Gedichte veröffentlicht hatte. War es aus diesen Gründen nicht möglich, auf sie zuzugehen und sich vorzustellen? Wie einer Gleichrangigen, trotz des kühlen Empfangs an der Tür?

Aber jetzt schmiegte die Frau den Kopf an die Schulter des Mannes, der sie gerufen hatte, und eine Unterbrechung wäre den beiden kaum willkommen.

Diese Überlegung zwang Greta, sich hinzusetzen, und da sie keine Stühle sah, setzte sie sich auf den Fußboden. Ein Gedanke kam ihr in den Sinn. Wenn sie mit Peter zu einer Cocktailparty von Ingenieuren ging, war die Atmosphäre angenehm, auch wenn die Gespräche langweilig waren. Weil nämlich der Status jedes Einzelnen feststand, zumindest für den Augenblick. Hier dagegen war niemand sicher. Urteile konnten hinter dem Rücken gefällt werden, sogar über die, die bekannt waren und gedruckt wurden. Es herrschte eine Aura von Anmaßung oder Nervosität, ganz egal, wer man war.

Und hier hatte sie sich verzweifelt nach jemandem umgeschaut, der ihr einen Strohhalm für ein Gespräch hinhielt!

Als sie ihre Theorie der unguten Spannungen aufgestellt hatte, fühlte sie sich wesentlich besser und legte keinen Wert mehr darauf, ob jemand mit ihr redete oder nicht. Sie zog die Schuhe aus, und die Erleichterung war ungeheuer wohltuend. Sie lehnte sich an die Wand und streckte die Beine aus auf einem der weniger begangenen Wege. Sie mochte nicht riskieren, ihr Glas auf den Teppich zu verschütten, also trank sie es hastig aus.

Ein Mann beugte sich über sie. Er fragte: »Wie sind Sie hergekommen?«

Ihr taten seine armen eingesperrten Füße leid. Ihr tat jeder leid, der stehen musste.

Sie sagte, sie sei eingeladen.

»Ja. Aber sind Sie mit dem Auto hier?«

»Ich bin gelaufen.« Aber das genügte nicht, und nach einer Weile gelang es ihr, das zu vervollständigen.

»Ich bin mit dem Bus gekommen, dann bin ich gelaufen.«

Einer der Männer aus dem erlauchten Kreis stand jetzt hinter dem Mann in den Schuhen. Er sagte: »Großartige Idee.« Er schien sogar bereit, mit ihr zu reden.

Der erste Mann mochte den anderen nicht besonders. Er hatte Gretas Schuhe aufgesammelt, aber sie wies sie zurück und erklärte, dass sie zu weh taten.

»Dann nehmen Sie sie in die Hand. Oder ich nehme sie. Können Sie aufstehen?«

Sie sah sich hilfesuchend nach dem wichtigen Mann um, aber der war nicht mehr da. Jetzt fiel ihr ein, was er geschrieben hatte. Ein Theaterstück über die Duchoborzen, das einen Skandal ausgelöst hatte, weil die Duchoborzen darin nackt auftreten mussten. Natürlich waren es keine echten Duchoborzen, sondern Schauspieler. Und die durften schließlich doch nicht nackt auftreten.

Sie versuchte das dem Mann zu erklären, der ihr aufhalf, aber es interessierte ihn überhaupt nicht. Sie fragte ihn, was er schrieb. Er sagte, er sei kein Schriftsteller, sondern Journalist. Zu Besuch hier mit seinem Sohn und seiner Tochter, den Enkelkindern der Gastgeber. Sie – die Kinder – hatten die Getränke herumgereicht.

»Tödlich«, sagte er und meinte die Getränke. »Kriminell.«

Jetzt waren sie draußen. Greta lief auf Strümpfen über den Rasen und verfehlte nur knapp eine Pfütze.

»Jemand hat sich hier übergeben«, teile sie ihrem Begleiter mit.

»Allerdings«, sagte er und half ihr ins Auto. Die frische Luft hatte ihre Stimmung verändert, von einer unbestimmten Euphorie zu etwas wie Verlegenheit, sogar Scham.

»North Vancouver«, sagte er. Sie musste ihm das erzählt haben. »Ja? Fahren wir los. Richtung Lions Gate.«

Sie hoffte, er würde sie nicht fragen, wieso sie auf dem Empfang war. Wenn sie zugab, dass sie Gedichte schrieb, musste er ihre gegenwärtige Situation, ihre Trunkenheit, für nur allzu typisch halten. Es war noch nicht dunkel, aber schon Abend. Sie schienen in die richtige Richtung zu fahren, am Wasser entlang, dann über eine Brücke. Die Burrard Street Bridge. Danach weiter im Strom der Autos, sie schlug immer wieder die Augen auf und sah Bäume vorbeisausen, dann fielen sie ihr wieder zu, ohne dass sie es wollte. Als das Auto anhielt, wusste sie allerdings, dass sie noch nicht zu Hause sein konnten. Das heißt, bei ihr zu Hause.

Diese großen, dicht belaubten Bäume über ihnen. Man konnte keine Sterne sehen. Aber ein Glitzern auf dem Wasser, zwischen ihrem Standort, wo immer der war, und den Lichtern der Innenstadt.

»Bleiben Sie einfach sitzen und besinnen Sie sich.«

Das Wort entzückte sie.

»Besinnen.«

»Darauf, wie Sie ins Haus gehen werden, zum Beispiel. Schaffen Sie das würdevoll? Übertreiben Sie nicht. Ungezwungen? Ich vermute, Sie sind verheiratet.«

»Ich muss mich erst mal dafür bedanken, dass Sie mich nach Hause fahren«, sagte sie. »So, und jetzt müssen Sie mir sagen, wie Sie heißen.«

Er sagte, das habe er ihr schon gesagt. Vielleicht schon zwei Mal. Aber gut, noch einmal. Harris Bennett. Bennett. Er war der Schwiegersohn der Leute, die den Empfang gegeben hatten. Seine Kinder hatten die Getränke herumgereicht. Er war mit ihnen aus Toronto zu Besuch hier. War sie nun zufrieden?

»Haben die Kinder eine Mutter?«

»Ja, allerdings. Aber sie ist in einer Klinik.«

»Das tut mir leid.«

»Nicht nötig. Es ist eine recht angenehme Klinik. Für geistige Störungen. Oder man könnte auch sagen, für seelische Störungen.«

Sie beeilte sich ihm zu sagen, dass ihr Mann Peter hieß und Ingenieur war und dass sie eine Tochter namens Katy hatten.

»Das ist doch sehr schön«, sagte er und setzte aus der Parklücke heraus.

Auf der Lions Gate Bridge sagte er: »Entschuldigen Sie meine Redeweise. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich Sie küssen soll oder nicht, und beschlossen, es nicht zu tun.«

Sie meinte herauszuhören, sie habe etwas an sich, was nicht ganz die Ansprüche für einen Kuss erfüllte. Die Demütigung machte sie mit einem Schlag wieder nüchtern.

»Wenn wir von der Brücke runterkommen, müssen wir dann rechts zum Marine Drive?«, fuhr er fort. »Ich verlasse mich auf Ihre Anweisungen.«

 

 

Im folgenden Herbst und Winter und Frühling gab es kaum einen Tag, an dem sie nicht an ihn dachte. Es war, als fiele man sofort nach dem Einschlafen in immer denselben Traum. Sie pflegte den Kopf an das Rückenpolster des Sofas zu lehnen und sich vorzustellen, dass sie in seinen Armen lag. Man sollte meinen, dass sie sich nicht an sein Gesicht erinnern konnte, doch es erstand in allen Einzelheiten, das verknitterte Gesicht eines recht müde aussehenden Mannes, der zu Spott neigte und nur wenig Zeit im Freien verbrachte. Auch sein Körper fehlte nicht, war zwar nicht mehr jung, aber kundig und unendlich begehrenswert.

Sie weinte fast vor Verlangen. Doch dieser Tagtraum verschwand, ging in Winterschlaf, wenn Peter nach Hause kam. Alltägliche Zärtlichkeiten traten dann in den Vordergrund, zuverlässig wie immer.

Der Traum ähnelte in vielem dem Wetter von Vancouver – eine trübe Sehnsucht, eine regnerische, träumerische Traurigkeit, eine Schwere ums Herz.

Was war denn nun mit der Weigerung, sie zu küssen, die ein ungalanter Hieb sein konnte?

Sie strich sie einfach aus. Vergaß sie völlig.

Und was war mit ihren Gedichten? Keine Zeile, kein Wort. Keine Spur davon, dass ihr das je am Herzen gelegen hatte.

Natürlich gab sie diesen Anfällen nur Raum, wenn Katy ein Schläfchen hielt. Manchmal sprach sie seinen Namen laut aus, überließ sich Hirngespinsten. Dem folgten brennende Schamgefühle und Selbstverachtung. Hirngespinste, jawohl. Hirnrissig.

Dann gab es einen Ruck, die Aussicht auf den Auftrag in Lund, schließlich die Gewissheit, dazu das Angebot des Hauses in Toronto. Ein klarer Wetterwechsel, ein Anflug von Beherztheit.

 

 

Ohne es fest vorzuhaben, schrieb sie einen Brief. Er fing nicht mit irgendeiner üblichen Floskel an. Kein Lieber Harris, kein Erinnerst Du Dich an mich.

Diesen Brief schreiben ist wie einen Zettel in eine Flasche stecken …

Und hoffen,

Er wird Japan erreichen.

Was einem Gedicht seit geraumer Zeit noch am nächsten kam.

Sie wusste die Adresse nicht. Sie war kühn und töricht genug, die Leute anzurufen, die den Empfang gegeben hatten. Aber als die Frau sich meldete, wurde ihr Mund schlagartig trocken und fühlte sich so groß an wie die Tundra, und sie musste auflegen. Dann karrte sie Katy zur Stadtbibliothek und fand dort ein Telefonbuch von Toronto. Es gab viele Bennetts, aber keinen einzigen Harris oder H. Bennett.

Da hatte sie den schrecklichen Einfall, in der Zeitung bei den Todesanzeigen nachzusehen. Sie konnte sich nicht davon abbringen. Sie wartete, bis der Mann, der das Bibliotheksexemplar las, fertig war. Sie bekam die Zeitung von Toronto sonst kaum zu Gesicht, da man über die Brücke fahren musste, um sie zu kriegen, und Peter brachte immer die Vancouver Sun mit nach Hause. Beim Durchblättern entdeckte sie seinen Namen über einer Kolumne. Er war also nicht tot. Ein Journalist mit eigener Kolumne. Natürlich wollte er nicht von irgendwelchen Leuten zu Hause angerufen werden.

Er schrieb über Politik. Sein Artikel schien intelligent zu sein, aber daran lag ihr nichts.

Sie schickte ihren Brief an ihn dorthin, an die Zeitung. Sie konnte nicht sicher sein, dass er seine Post selber öffnete, und sie dachte, Privat auf den Umschlag zu schreiben machte es nur schlimmer, also schrieb sie lediglich das Datum ihrer Ankunft und die Ankunftszeit des Zuges hin, nach den Zeilen über die Flasche. Keinen Namen. Sie dachte, ganz egal, wer den Umschlag aufmachte, er würde wohl an eine ältere Verwandte denken, die zu schrulligen Formulierungen neigte. Nichts, was ihn kompromittieren konnte, nicht einmal, falls so merkwürdige Post den Weg zu ihm nach Hause fand und seine Frau, inzwischen aus der Klinik entlassen, sie öffnete.

 

 

Katy hatte offenbar nicht begriffen, was es bedeutete, dass Peter draußen auf dem Bahnsteig stand, nämlich, dass er nicht mitfuhr. Als sie sich in Bewegung setzten, er aber nicht, und als sie ihn mit zunehmender Geschwindigkeit ganz hinter sich ließen, nahm Katy den Verlust sehr schwer. Aber nach einer Weile beruhigte sie sich und verkündete Greta, dass er am Morgen wieder da sein würde.

Als diese Zeit kam, war Greta ein wenig besorgt, aber Katy sagte kein Wort von seiner Abwesenheit. Greta fragte sie, ob sie Hunger habe, und sie sagte ja, erklärte dann ihrer Mutter – wie Greta es ihr erklärt hatte, noch bevor sie überhaupt in den Zug eingestiegen waren –, dass sie jetzt ihre Schlafanzüge ausziehen und zum Frühstück in ein anderes Zimmer gehen mussten.

»Was möchtest du zum Frühstück?«

»Beißies.« Das bedeutete Rice Krispies.

»Mal sehen, ob es die hier gibt.«

Es gab sie.

»Sollen wir jetzt gehen und Daddy suchen?«

 

 

Es gab zwar ein Kinderspielabteil, aber es war ziemlich klein. Ein Junge und ein Mädchen – Bruder und Schwester, nach ihrer zueinander passenden Häschenkleidung zu urteilen – hatten es vereinnahmt. Ihr Spiel bestand daraus, kleine Autos aufeinander zuzusteuern und im letzten Moment Ausweichmanöver zu versuchen. KRACH BUM KRACH.

»Das ist Katy«, sagte Greta. »Ich bin ihre Mutter. Wie heißt ihr?«

Die Zusammenstöße wurden heftiger, aber die beiden schauten nicht auf.

»Daddy ist nicht hier«, sagte Katy.

Greta beschloss, dass es besser war, wenn sie zurückgingen, Katys Christopher Robin-Buch holten und damit den Aussichtswagen aufsuchten, um es dort zu lesen. Wahrscheinlich würden sie niemanden stören, denn das Frühstück war noch nicht vorbei und die spektakuläre Gebirgslandschaft hatte noch nicht angefangen.

Das Problem war, sobald Christopher Robin zu Ende war, wollte Katy sofort wieder von vorn anfangen. Beim ersten Vorlesen war sie still gewesen, doch jetzt begann sie, das Ende der Zeilen mitzusprechen. Beim nächsten Mal sang sie Wort für Wort mit, obwohl sie noch nicht bereit war, es allein zu versuchen. Greta konnte sich vorstellen, dass den Leuten das lästig sein würde, sobald der Aussichtswagen sich füllte. Kinder in Katys Alter hatten kein Problem mit Monotonie. Sie stürzten sich geradezu darauf und tauchten hinein, schleckten an den vertrauten Worten, als seien es unerschöpfliche Bonbons.

Ein junger Mann und eine junge Frau kamen die Treppe herauf und nahmen gegenüber von Greta und Katy Platz. Sie sagten recht munter guten Morgen, und Greta erwiderte die Begrüßung. Katy missbilligte offenbar, dass sie die beiden zur Kenntnis nahm, schaute wieder ins Buch und fuhr fort, leise aufzusagen.

Von drüben war die Stimme des jungen Mannes zu hören, fast so leise wie Katys:

Beim Wachwechsel vor dem Buckingham-Palast

Ist Christopher Robin mit Alice zu Gast.

Nachdem er damit fertig war, fing er mit etwas anderem an. »›Ich mag das nicht, denn ich bin Sam.‹«

Greta lachte, aber Katy nicht. Greta merkte ihr an, dass sie etwas empörte. Lustige Wörter, die aus einem Buch kamen, das verstand sie, aber nicht, wie Wörter ohne Buch aus jemandes Mund kamen.

»Tut mir leid«, sagte der junge Mann zu Greta. »Wir sind Vorschüler. Das ist unser Lesestoff.« Er beugte sich vor und sprach leise und ernsthaft auf Katy ein.

»Das ist ein schönes Buch, nicht wahr?«

»Er meint, wir arbeiten mit Vorschülern«, sagte die junge Frau zu Greta. »Aber manchmal kommen wir durcheinander.«

Der junge Mann redete weiter mit Katy.

»Vielleicht kann ich jetzt raten, wie du heißt. Wie heißt du? Heißt du Rufus? Heißt du Rover?«

Katy kniff die Lippen zusammen, konnte dann aber nicht widerstehen, streng zu antworten.

»Ich bin kein Hund«, sagte sie.

»Nein. Das war dumm von mir. Ich bin ein Junge, und ich heiße Greg. Das Mädchen hier heißt Laurie.«

»Er hat dich auf den Arm genommen«, sagte Laurie. »Soll ich ihm eine kleben?«

Katy bedachte das und sagte dann: »Nein.«

»›Alice heiratet mal einen Wachsoldat‹«, fuhr Greg fort, »›Das Soldatenleben ist desolat‹, sagt Alice.«

Katy fiel leise bei der zweiten Alice mit ein.

Laurie erzählte Greta, dass sie von Kindergarten zu Kindergarten gefahren waren und Sketche aufgeführt hatten. Das nannte sich Leseförderungsprogramm. Eigentlich waren sie Schauspieler. Sie, Laurie, war auf dem Weg nach Jasper, wo sie für den Sommer einen Job als Kellnerin mit komischen Einlagen hatte. Nicht direkt Leseförderung. Erwachsenenunterhaltung nannte sich das.

»Großer Gott«, sagte sie und lachte. »Nimm, was du kriegen kannst.«

Greg war frei und wollte in Saskatoon vorbeischauen. Seine Familie wohnte dort.

Beide waren ausgesprochen schön, dachte Greta. Groß, geschmeidig, fast unnatürlich schlank, er mit krausen dunklen Haaren, sie schwarzhaarig und makellos wie eine Madonna. Als Greta ein wenig später ihre Ähnlichkeit zur Sprache brachte, sagten beide, sie hätten das manchmal ausgenutzt, wenn es ums Schlafquartier ging. Das machte alles viel einfacher, aber sie durften nicht vergessen, um zwei Betten zu bitten und dann beide zu verwühlen.

 

 

Und jetzt, erzählten sie ihr, brauchten sie sich nicht mehr in Acht zu nehmen. Nichts mehr, was Anstoß erregte. Sie waren dabei, sich zu trennen, nach drei Jahren zusammen. Sie lebten seit Monaten keusch, zumindest miteinander.

»Jetzt ist Schluss mit dem Buckingham-Palast«, sagte Greg zu Katy. »Ich muss meine Übungen machen.«

Greta dachte, das bedeutete, dass er hinuntergehen oder sich zumindest in den Gang stellen musste, um Gymnastik zu machen, doch stattdessen warfen er und Laurie den Kopf zurück, reckten den Hals und begannen zu trällern und tirilieren in merkwürdigem Singsang. Katy war entzückt, fasste es als Angebot auf, als Darbietung zu ihrer Unterhaltung. Sie benahm sich auch wie ordentliches Publikum – ganz still, bis es zu Ende war, dann brach sie in Gelächter aus.

Einige Leute, die die Treppe heraufkommen wollten, waren am Fuß stehen geblieben, weniger begeistert als Katy und ratlos, was es damit auf sich hatte.

»Entschuldigung«, sagte Greg ohne Erklärung, aber im Ton freundlicher Vertrautheit. Er streckte Katy die Hand hin.

»Mal sehen, ob es ein Spielabteil gibt.«

Laurie und Greta folgten ihnen. Greta hoffte, dass er nicht einer von diesen Erwachsenen war, die sich mit Kindern hauptsächlich anfreunden, um ihren eigenen Charme auszuprobieren, sich dann langweilen und unwirsch werden, wenn ihnen klar wird, wie unermüdlich die Zuneigung eines Kindes sein kann.

Zur Mittagszeit oder schon früher wusste sie, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Nicht nur, dass Katys Zuwendung Greg nicht ermüdete, sondern etliche andere Kinder hatten sich dem Wettkampf angeschlossen, und er zeigte keinerlei Zeichen von Erschöpfung.

Dabei veranstaltete er keinen Wettkampf. Es gelang ihm, dass die Kinder ihre Aufmerksamkeit, die er anfangs auf sich gelenkt hatte, einander zuwandten und dann den Spielen, die lebhaft oder sogar wild waren, aber nicht verbiestert. Es gab keine Wutausbrüche. Süßigkeiten und Stofftiere landeten in Ecken. Dafür war einfach keine Zeit – wesentlich Interessanteres ging vor sich. Es war ein Wunder, wie sich auf so kleinem Raum Wildheit friedlich austobte. Und die verausgabte Energie versprach Mittagsschläfchen.

»Er ist großartig«, sagte Greta zu Laurie.

»Er ist einfach ganz da«, sagte Laurie. »Er spart sich nicht auf. Verstehst du? Wie viele Schauspieler. Besonders Schauspieler. Abseits der Bühne wie tot.«

Greta dachte: Genau das tue ich. Ich spare mich auf, fast immer. Achtsam mit Katy. Achtsam mit Peter.

In dem Jahrzehnt, das vor kurzem begonnen hatte, ohne dass zumindest sie davon recht Notiz genommen hätte, sollte diesen Dingen viel Aufmerksamkeit geschenkt werden. Da sein sollte etwas bedeuten, was es vorher nicht bedeutet hatte. Spontan sein. Sich echt einbringen. Manche Menschen brachten sich echt ein, andere nicht so. Die Mauern zwischen dem Innen und dem Außen des Kopfes mussten eingerissen werden. Die Echtheit verlangte das. So etwas wie Gretas Gedichte, alles, was nicht spontan rüberkam, war verdächtig, sogar verpönt. Natürlich machte sie einfach so weiter wie bisher, beharrlich erkundend, insgeheim im Hader mit der Gegenkultur. Aber momentan hatte sie ihr Kind Greg und allem, was er tat, anvertraut und war ihm sehr dankbar.

Am Nachmittag, wie Greta vorausgesehen hatte, legten die Kinder sich schlafen. Ihre Mütter in einigen Fällen auch. Andere spielten Karten. Greg und Greta winkten Laurie hinterher, als sie in Jasper ausstieg. Sie warf ihnen vom Bahnsteig aus Kusshände zu. Ein älterer Mann erschien, nahm ihren Koffer, küsste sie zärtlich, sah zum Zug hoch und winkte Greg zu. Greg winkte zurück.

»Ihre neue Zweierkiste«, sagte er.

Weiteres Winken, als der Zug sich in Bewegung setzte, dann brachte er zusammen mit Greta Katy zurück ins Abteil, wo sie zwischen ihnen einschlief, mitten in einer steilen Steigung. Sie zogen den Vorhang auf, um mehr Luft zu haben, da nun keine Gefahr bestand, dass das Kind aus der Koje hinausfiel.

»Gigantisch, ein Kind zu haben«, sagte Greg. Ein weiterer Ausdruck, der zu der Zeit neu oder zumindest für Greta neu war.

»Kommt vor«, sagte sie.

»Du bist so ruhig. Gleich sagst du ›So ist das Leben‹.«

»Bestimmt nicht«, sagte Greta und sah ihm in die Augen, bis er den Kopf schüttelte und lachte.

Er erzählte ihr, dass er durch seine Religion zur Schauspielerei gekommen war. Seine Familie gehörte einer christlichen Sekte an, von der Greta noch nie gehört hatte. Diese Sekte war nicht groß, aber sehr wohlhabend, oder zumindest einige ihrer Mitglieder waren es. Sie hatten in einer Stadt in der Prärie eine Kirche erbaut mit einem Theater darin. Dort hatte er seine ersten Auftritte, bevor er zehn Jahre alt war. Sie führten Parabeln aus der Bibel auf, aber auch aus der Gegenwart, über die schrecklichen Dinge, die Menschen widerfuhren, die nicht das glaubten, was sie glaubten. Seine Familie war sehr stolz auf ihn, und er natürlich auch auf sich selbst. Er dachte nicht im Traum daran, ihnen alles zu erzählen, was vorging, wenn die reichen Konvertiten kamen, um ihr Gelübde zu erneuern und in ihrer Frömmigkeit wiedererweckt zu werden. Jedenfalls gefiel es ihm sehr, so viel Anerkennung zu erhalten, und er mochte das Theaterspielen.

Bis ihm eines Tages die Idee kam, dass man Theater spielen konnte, ohne all diesen Kirchenkram über sich ergehen zu lassen. Er versuchte, es ihnen in höflicher Form beizubringen, aber sie sagten, das ist der Teufel, der da krallt. Er sagte: Haha, ich weiß, wer da krallt.

Und tschüss.

»Du musst nicht denken, dass alles schlecht war. Ich glaube immer noch ans Beten und alles. Aber ich könnte meiner Familie nie sagen, was da vorging. Schon die halbe Wahrheit würde sie umbringen. Kennst du solche Leute?«

Sie erzählte ihm, als sie mit Peter nach Vancouver gezogen war, hatte ihre Großmutter, die in Ontario wohnte, sich mit einem Geistlichen ihrer Kirche in Vancouver in Verbindung gesetzt. Er stattete Greta einen Besuch ab, und sie behandelte ihn sehr von oben herab. Er sagte, er werde für sie beten, und sie gab ihm zu verstehen, dass sie darauf keinen Wert legte. Ihre Großmutter lag zu der Zeit im Sterben. Daraufhin schämte Greta sich, und jedes Mal, wenn sie daran dachte, ärgerte sie sich darüber, dass sie sich schämte.

Peter verstand das alles nicht. Seine Mutter ging nie in die Kirche, obwohl sie ihn vermutlich auch über das Gebirge getragen hatte, damit sie katholisch bleiben konnten. Er sagte, katholisch zu sein hatte wahrscheinlich einen Vorteil, man konnte sich nach allen Seiten hin absichern, bis man starb.

Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile hatte sie an Peter gedacht.

Es war nämlich so, dass sie mit Greg zusammen etwas trank, während dieses selbstquälerische, aber auch etwas tröstliche Gespräch stattfand. Er hatte eine Flasche Ouzo hervorgeholt. Sie ging sehr vorsichtig damit um, wie mit jedem alkoholischen Getränk seit dem Literatenfest, aber es stellte sich doch Wirkung ein. Genug dafür, dass sie anfingen, einander die Hände zu streicheln, und dann zu Küssen und Zärtlichkeiten übergingen. All dies musste neben dem Körper des schlafenden Kindes vor sich gehen.

»Lass uns lieber aufhören«, sagte Greta. »Sonst werden wir es bereuen.«

»Das sind nicht wir«, sagte Greg. »Das sind zwei andere.«

»Dann sag ihnen, sie sollen aufhören. Weißt du, wie sie heißen?«

»Moment. Reg. Reg und Dorothy.«

Greta sagte: »Lass das sein, Reg. Was ist mit meinem unschuldigen Kind?«

»Wir können in mein Abteil gehen. Das ist nicht weit weg.«

»Ich hab keine …«

»Ich aber.«

»Etwa dabei?«

»Natürlich nicht. Für was für ein Tier hältst du mich?«

Also ordneten sie, was an Kleidung in Unordnung geraten war, schlossen sorgfältig jeden Knopf der Koje, in der Katy schlief, stahlen sich aus dem Abteil und machten sich mit gespielter Unbekümmertheit auf den Weg von Gretas Wagen zu seinem. Das war kaum nötig – sie begegneten niemandem. Die Fahrgäste, die nicht im Aussichtswagen waren und Fotos von den ewigen Bergen machten, saßen im Salonwagen oder schlummerten.

In Gregs unordentlicher Koje machten sie dort weiter, wo sie aufgehört hatten. Es war nicht genug Platz für zwei, um sich richtig hinzulegen, aber sie schafften es, sich übereinanderzuwälzen. Anfangs ersticktes Gelächter ohne Ende, dann die tiefen Schocks der Lust, ohne Raum, woanders hinzuschauen als in die geweiteten Augen des anderen. Einander beißend, um sich wilde Laute zu verkneifen.

»Stark«, sagte Greg. »Echt stark.«

»Ich muss zurück.«

»Schon?«

»Katy kann aufwachen, und ich bin nicht da.«

»Gut. Gut. Ich muss mich sowieso für Saskatoon fertigmachen. Was, wenn wir mittendrin ankommen? Hallo, Mama. Hallo, Papa. Entschuldigt mich kurz, ich muss eben noch … Ja-haa!«

Sie zog sich ordentlich an und verließ ihn. Dabei war es ihr ziemlich egal, wer ihr begegnete. Sie fühlte sich schwach, war geschockt, aber in Hochstimmung, wie ein Gladiator – sie malte sich das sogar aus und lächelte darüber – nach einer Runde in der Arena.

Jedenfalls begegnete sie niemandem.

Der unterste Verschluss des Vorhangs war offen. Sie war sich sicher, ihn zugemacht zu haben. Obwohl Katy, auch wenn er offen war, kaum hinausgelangen konnte und es bestimmt nicht versuchen würde. Zuvor, als Greta sie eine Minute allein lassen wollte, um auf die Toilette zu gehen, hatte sie ausführlich erklärt, dass Katy auf keinen Fall versuchen durfte, ihr zu folgen, und Katy hatte gesagt: »Mach ich nicht«, mit dem Vorwurf, dass sie wie ein Baby behandelt wurde.

Greta packte die Vorhänge, um sie ganz aufzuziehen, und als sie das getan hatte, sah sie, dass Katy nicht da war.

Sie drehte durch. Sie riss das Kissen hoch, als könnte ein Kind von Katys Größe sich damit zudecken. Sie klopfte mit den Händen die Decke ab, als könnte Katy sich darunter verbergen. Sie beherrschte sich und versuchte sich daran zu erinnern, wo der Zug gehalten hatte und ob er überhaupt gehalten hatte, während sie mit Greg zusammen war. Falls er gehalten hatte, hätte da ein Kidnapper in den Zug einsteigen und sich irgendwie mit Katy davonmachen können?

Sie stand auf dem Gang und überlegte, was sie tun musste, um den Zug anzuhalten.

Dann dachte sie, zwang sich zu denken, dass nichts dergleichen geschehen sein konnte. Sei nicht albern. Katy musste aufgewacht sein, gemerkt haben, dass sie nicht da war, und sie suchen gegangen sein. Ganz allein hatte sie sich auf die Suche gemacht.

Ganz in der Nähe. Sie musste ganz in der Nähe sein. Die Türen an beiden Enden des Wagens gingen viel zu schwer, als dass Katy sie öffnen konnte.

Greta vermochte sich kaum zu bewegen. Ihr ganzer Körper, ihr Kopf völlig leer. Das konnte nicht geschehen sein. Zurückkehren, zurück zu dem Augenblick, bevor sie mit Greg wegging. Da anhalten. Halt.

Auf der anderen Seite des Ganges war ein zur Zeit unbesetzter Platz. Der Pullover einer Frau und eine Zeitschrift lagen da, um ihn zu reservieren. Weiter vorn ein Platz, dessen Verschlüsse alle zu waren – so wie bis eben bei ihrem, ihrem und Katys. Sie zog die Vorhänge mit einem Ruck auseinander. Der alte Mann, der dort schlief, drehte sich auf den Rücken, wachte aber nicht auf. Völlig unmöglich, dass er jemanden versteckte.

Was für ein Unsinn.

Dann eine neue Angst. Angenommen, Katy hatte sich auf den Weg zum einen oder anderen Ende des Wagens gemacht und es tatsächlich geschafft, eine Tür aufzukriegen. Oder war jemandem gefolgt, der sie vor ihr aufgemacht hatte. Zwischen den Wagen war ein kurzer Gang, wo man über die Stelle ging, an der die beiden Waggons miteinander verbunden waren. Dort spürte man plötzlich und erschreckend die Bewegung des Zuges. Eine schwere Tür hinter sich und eine weitere davor, und dazwischen klirrende Metallplatten. Die bedeckten die Stufen, die heruntergelassen wurden, wenn der Zug hielt.

Man beeilte sich immer, diese Durchgänge hinter sich zu lassen, wo das Krachen und Schwanken daran erinnerte, dass alles vielleicht doch nicht so fest zusammengefügt war. Fast zu locker und viel zu schnell für dieses Krachen und Schwanken.

Die Tür am Ende ließ sich sogar für Greta nur schwer öffnen. Oder die Angst hatte sie ausgelaugt. Sie stemmte sich mit der Schulter dagegen.

Und dort, zwischen den Waggons, auf einer dieser unablässig lärmenden Metallplatten – da saß Katy. Augen weit offen, Mund leicht offen, verwirrt und allein. Sie weinte überhaupt nicht, aber als sie ihre Mutter sah, fing sie an.

Greta packte sie, hob sie auf ihre Hüfte und taumelte wieder zu der Tür, die sie gerade geöffnet hatte.

Jeder der Wagen hatte einen Namen, zum Gedenken an Schlachten oder Entdeckungen oder berühmte Kanadier. Ihr Wagen trug den Namen Connaught. Das würde sie nie vergessen.

Katy hatte sich überhaupt nicht weh getan. Ihre Kleidung hatte sich auch nicht an den scharfen Kanten der hin und her gleitenden Metallplatten verfangen.

»Ich bin dich suchen gegangen«, sagte sie.

Wann? Eben erst? Oder gleich nachdem Greta sie verlassen hatte?

Bestimmt nicht. Jemand hätte sie dort entdeckt, sie hochgehoben, Alarm geschlagen.

Der Tag war sonnig, aber nicht sehr warm. Ihr Gesicht und ihre Hände waren eiskalt.

»Ich dachte, du bist auf der Treppe«, sagte sie.

Greta deckte sie in ihrer Koje mit der Decke zu, und in diesem Augenblick fing sie selbst an zu zittern, als hätte sie Fieber. Ihr war übel, und sie schmeckte auch wirklich Erbrochenes in der Kehle. Katy sagte: »Schubs mich nicht«, und rückte von ihr ab.

»Du riechst schlecht«, sagte sie.

Greta zog ihre Arme zurück und legte sich auf den Rücken.

Ganz entsetzlich, zu denken, was hätte passieren können, entsetzlich. Das Kind war immer noch starr vor Protest, hielt sich von ihr fern.

Irgendjemand hätte Katy bestimmt gefunden. Ein anständiger Mensch, kein böser Mensch, hätte sie dort entdeckt und in Sicherheit gebracht. Greta hätte die bestürzende Durchsage gehört, dass ein Kind allein im Zug gefunden worden sei. Ein Kind, das angab, sein Name sei Katy. Sie wäre losgestürzt von da, wo sie gerade war, hätte ihr Äußeres, so gut sie konnte, in Ordnung gebracht und wäre losgestürzt, um ihr Kind abzuholen, hätte gelogen und gesagt, dass sie nur auf die Toilette gegangen sei. Sie hätte sich furchtbar erschrocken, aber ihr wäre das Bild erspart geblieben, das sie jetzt im Kopf hatte, von Katy, die an diesem lauten Ort saß, hilflos zwischen den Waggons. Nicht weinte, nicht jammerte, als müsste sie für immer dort sitzen, ohne je eine Erklärung zu bekommen, ohne jede Hoffnung. Ihre Augen waren seltsam ausdruckslos, und ihr Mund hing einfach offen in dem Augenblick, bevor sie ihre Rettung begriff und anfangen konnte zu weinen. Erst da eroberte sie sich ihre Welt zurück, ihr Recht, zu leiden und sich zu beklagen.

Jetzt sagte sie, sie sei nicht müde, wolle aufstehen. Sie fragte, wo Greg sei. Greta sagte, er mache ein Nickerchen, er sei müde.

Katy und Greta gingen zum Aussichtswagen, um dort den Rest des Nachmittags zu verbringen. Sie hatten ihn fast ganz für sich. Die Leute mit den Fotoapparaten mussten sich an den Rocky Mountains abgearbeitet haben. Und die Prärie, wie Greg angemerkt hatte, war ihnen zu platt.

Der Zug hielt kurz in Saskatoon, und mehrere Leute stiegen aus. Darunter Greg. Greta sah, wie er von einem Paar in Empfang genommen wurde, offenbar seinen Eltern. Auch von einer Frau in einem Rollstuhl, wahrscheinlich eine Großmutter, und dann von mehreren jungen Leuten, die warteten, fröhlich und verlegen. Niemand von ihnen wirkte wie ein Sektenmitglied oder wie jemand, der sittenstreng und unleidlich war.

Aber wie konnte man das jemandem mit Sicherheit ansehen?

Greg ging einen Schritt von ihnen weg und suchte die Fenster des Zuges ab. Greta winkte vom Aussichtswagen, er erblickte sie und winkte zurück.

»Da ist Greg«, sagte sie zu Katy. »Sieh mal, da unten. Er winkt. Willst du zurückwinken?«

Aber Katy fiel es zu schwer, nach ihm zu schauen. Zumindest versuchte sie es nicht. Sie wandte sich mit artiger und leicht gekränkter Miene ab, und Greg wandte sich nach drolligem letzten Winken auch ab. Greta überlegte, ob das Kind ihn bestrafte, weil es verlassen worden war, und sich weigerte, ihn zu vermissen oder auch nur von ihm Notiz zu nehmen.

Also gut, wenn es so sein soll, dann soll es so sein.

»Greg hat dir zugewinkt«, sagte Greta, als der Zug abfuhr.

»Ich weiß.«

 

 

Während Katy an dem Abend neben ihr schlief, schrieb Greta einen Brief an Peter. Einen langen Brief, der komisch sein sollte, über all die unterschiedlichen Menschen im Zug. Wie sie es vorzogen, in ihre Kamera zu gucken, statt mit eigenen Augen hinzuschauen und so weiter. Katys im Allgemeinen verträgliches Verhalten. Nichts von ihrem Verschwinden natürlich oder dem Schreck. Sie gab den Brief auf, als die Prärie schon weit hinter ihr lag, die dunklen Fichten sich endlos erstreckten und der Zug aus irgendeinem Grund in dem verlorenen kleinen Städtchen Hornepayne hielt.

All ihre wachen Stunden wurden auf diesen Hunderten von Meilen Katy gewidmet. Sie wusste, dass solche Hingabe ihrerseits sich noch nie zuvor gezeigt hatte. Es stimmte, dass sie für das Kind gesorgt hatte, es angezogen, gefüttert und mit ihm geredet hatte, im Laufe der Stunden, die sie zusammen verbrachten, wenn Peter seiner Arbeit nachging. Aber Greta hatte dann auch andere Dinge im Haus zu tun, und ihre Zuwendung war sporadisch, ihre Zärtlichkeiten oft taktisch.

Und das nicht nur wegen der Hausarbeit. Andere Gedanken hatten das Kind verdrängt. Sogar noch vor den sinnlosen, ermüdenden, idiotischen Träumereien von dem Mann in Toronto war die andere Arbeit da gewesen, die Arbeit an Gedichten, die sie, so schien es, fast ihr Leben lang im Kopf getan hatte. Das kam ihr jetzt vor wie ein weiterer Verrat – an Katy, an Peter, am Leben. Und jetzt, wegen des Bildes in ihrem Kopf von Katy, wie sie ganz allein mitten in dem metallischen Lärmen zwischen den Waggons saß, war das noch etwas, was sie, Katys Mutter, aufgeben musste.

Eine Sünde. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit auf anderes gerichtet. Hatte sich willentlich mit aller Kraft auf etwas anderes konzentriert als das Kind. Eine Sünde.

 

 

Sie kamen am späten Vormittag in Toronto an. Der Tag war dunkel. Ein Sommergewitter ging mit Blitz und Donner nieder. Katy hatte solch einen Tumult an der Westküste noch nie gesehen, aber Greta sagte ihr, sie brauche keine Angst zu haben, und sie hatte offenbar keine. Auch nicht vor der noch größeren, elektrisch beleuchteten Dunkelheit, die ihnen in dem Tunnel begegnete, in dem der Zug hielt.

Sie sagte: »Nacht.«

Greta sagte, nein, nein, sie mussten nur bis zum Ende des Tunnels gehen, jetzt, wo sie aus dem Zug ausgestiegen waren. Dann eine Treppe hinauf, oder vielleicht gab es eine Rolltreppe, und dann würden sie in einem großen Gebäude sein und dann draußen, wo sie sich ein Taxi nehmen würden. Ein Taxi war ein Auto, weiter nichts, und das würde sie zu ihrem Haus bringen. Ihrem neuen Haus, wo sie eine Weile lang wohnen würden. Sie würden dort eine Weile lang wohnen, und dann würden sie zurückfahren zu Daddy.

Sie gingen eine Schräge hinauf, und da war eine Rolltreppe. Katy blieb stehen, also blieb Greta auch stehen, bis die Leute an ihnen vorbei waren. Dann hob Greta Katy hoch und setzte sie sich auf die Hüfte, mit der anderen Hand packte sie den Koffer und zog ihn rumpelnd auf die gleitenden Stufen. Oben setzte sie das Kind ab, und sie konnten sich wieder bei den Händen halten, im hellen, prächtigen Licht der Union Station.

Dort begannen die Leute, die vor ihnen gegangen waren, auseinanderzustreben, um von den Wartenden in Empfang genommen zu werden, die ihre Namen riefen oder einfach auf sie zugingen und ihre Koffer nahmen.

Wie jemand jetzt ihren Koffer nahm. Ihn an sich nahm, Greta an sich nahm und sie zum ersten Mal küsste, auf entschlossene und feierliche Weise.

Harris.

Anfangs ein Schock, wirres Durcheinander in Gretas Innerem, dann ungemeine Beruhigung.

Sie versuchte, Katy festzuhalten, aber die riss sich in diesem Augenblick los.

Sie versuchte nicht, fortzulaufen. Sie stand einfach da und wartete darauf, was nun kam.

Amundsen

Ich saß auf der Bank beim Bahnhof und wartete. Das Bahnhofsgebäude war offen gewesen, als der Zug ankam, aber jetzt war es abgeschlossen. Am Ende der Bank saß noch eine Frau, zwischen den Knien hielt sie ein Einkaufsnetz voller Päckchen, die in Ölpapier gewickelt waren. Fleisch – rohes Fleisch. Man konnte es riechen.

Auf dem hinteren Gleis stand die leere Elektrobahn und wartete.

Keine weiteren Fahrgäste erschienen, und nach einer Weile streckte der Stationsvorsteher den Kopf heraus und rief: »San.« Anfangs dachte ich, er riefe einen Männernamen, Sam. Und tatsächlich kam ein Mann in einer Art Uniform um die Ecke des Gebäudes. Er überquerte die Gleise und stieg in den Zug. Die Frau mit den Päckchen stand auf und folgte ihm, also tat ich es auch. Von der anderen Straßenseite erscholl plötzlich lautes Stimmengewirr, die Tür eines Gebäudes mit einem Flachdach und dunklen Schindeln an den Wänden tat sich auf und entließ mehrere Männer, die sich Mützen auf den Kopf stülpten und an deren Gürteln klappernde kleine Eimer mit ihrem Mittagessen baumelten. Der Lärm, den sie veranstalteten, erweckte den Eindruck, der Zug könne ihnen jeden Augenblick vor der Nase wegfahren. Aber dann ließen sie sich auf den Sitzen nieder, und nichts passierte. Der Zug stand, während sie einander abzählten, feststellten, dass einer fehlte, und dann dem Zugführer sagten, er könne noch nicht losfahren. Dann fiel jemandem ein, dass der fehlende Mann seinen freien Tag hatte. Der Zug setzte sich in Bewegung, obwohl sich nicht sagen ließ, ob der Zugführer hingehört hatte oder ob es ihm egal war.

Alle Männer stiegen bei einem Sägewerk im Wald aus – zu dem sie zu Fuß höchstens zehn Minuten gebraucht hätten –, und gleich danach kam der schneebedeckte See in Sicht. Davor ein langgestrecktes weißes Holzhaus. Die Frau rückte ihre Fleischpäckchen zurecht und stand auf, ich folgte ihr. Der Zugführer rief wieder »San«, und die Türen gingen auf. Zwei Frauen warteten, um einzusteigen. Sie grüßten die Frau mit dem Fleisch, und die sagte, ein rauher Tag.

Alle vermieden es, mich anzuschauen, als ich hinter der Fleischfrau ausstieg.

An diesem Ende gab es offenbar niemanden, auf den gewartet werden musste. Die Türen knallten zu, und der Zug fuhr zurück.

Dann trat Stille ein, die Luft wie Eis. Zerbrechlich aussehende Birken mit schwarzen Flecken auf der weißen Rinde und irgendeine Sorte niedriger, wuscheliger Nadelhölzer, zusammengerollt wie schlafende Bären. Der zugefrorene See nicht eben, sondern aufgeworfen entlang des Ufers, als hätten sich die Wellen im Augenblick des Niedersinkens in Eis verwandelt. Dann das Gebäude mit seinen ostentativen Fensterreihen und den verglasten Veranden an beiden Enden. Alles karg und nördlich, schwarzweiß unter dem hohen Gewölbe der Wolken.

Aber die Birken doch nicht weiß, wenn man näher kam. Graugelb, graublau, grau.

Ungeheure, verzauberte Stille.

»Wo wolln Sie denn hin?«, rief die Fleischfrau mir zu. »Besuchszeit ist nur bis drei.«

»Ich bin keine Besucherin«, sagte ich. »Ich bin die Lehrerin.«

»Dann dürfen Sie sowieso nicht zur Vordertür rein«, sagte sie mit einiger Befriedigung. »Kommen Sie lieber hier lang mit. Haben Sie keinen Koffer?«

»Der Stationsvorsteher hat gesagt, er bringt ihn später vorbei.«

»So, wie Sie gerade dastanden, haben Sie ausgesehen, als hätten Sie sich verirrt.«

Ich sagte, ich sei stehen geblieben, weil es hier so schön sei.

»Finden vielleicht manche. Falls sie nicht zu krank sind oder zu viel zu tun haben.«

Weiter fiel kein Wort, bis wir die Küche am einen Ende des Gebäudes betraten. Deren Wärme ich bereits brauchte. Ich erhielt keine Gelegenheit, mich umzuschauen, denn ich wurde auf meine Stiefel aufmerksam gemacht.

»Die ziehn Sie mal besser aus, bevor Sie damit den Fußboden einsauen.«

Ich zerrte mir die Stiefel von den Füßen – es gab keinen Stuhl zum Hinsetzen – und stellte sie auf die Matte zu denen der Frau.

»Lassen Sie die nicht da, nehmen Sie sie mit, ich weiß nicht, wo Sie untergebracht sind. Behalten Sie auch lieber den Mantel an, in der Kleiderablage gibt’s keine Heizung.«

Keine Heizung, kein Licht, bis auf das wenige aus einem kleinen Fenster, zu dem ich nicht hinaufreichte. Es war wie Strafe kriegen in der Schule. Ab in die Kleiderablage. Ja. Derselbe Geruch nach nie richtig getrockneten Wintersachen, nach Stiefeln, durchweicht bis zu schmutzigen Socken und ungewaschenen Füßen.

Ich stieg auf eine Bank, konnte aber trotzdem nicht hinausschauen. Auf dem Bord mit den Mützen und Schals fand ich eine Tüte mit Feigen und Datteln. Jemand musste sie gestohlen und dort versteckt haben, um sie mit nach Hause zu nehmen. Ganz plötzlich hatte ich Hunger. Seit morgens nichts gegessen bis auf ein trockenes Käsesandwich im Ontario Northland. Ich überlegte, was es hieß, einen Dieb zu bestehlen. Aber die Feigenreste würden in meinen Zähnen hängenbleiben und mich verraten.

Ich stieg gerade noch rechtzeitig herunter. Jemand kam in die Kleiderablage. Keine von den Küchenhilfen, sondern ein Schulmädchen in einem unförmigen Wintermantel mit einem Schal über den Haaren. Sie kam hereingestürzt – warf die Bücher auf die Bank, so dass sie sich auf dem Fußboden verteilten, riss den Schal herunter, so dass die Haare in einem Busch hervorsprangen, und gleichzeitig, so schien es, streifte sie die Stiefel einen nach dem anderen so heftig ab, dass sie quer durch den Raum schlidderten.

»He, ich wollte Sie nicht treffen«, sagte sie. »Es ist so dunkel hier drin nach dem Licht draußen, dass man nicht weiß, was man tut. Sind Sie nicht am Erfrieren? Warten Sie auf jemanden, der hier arbeitet?«

»Ich warte auf Dr. Fox.«

»Na, dann brauchen Sie nicht lange zu warten, ich bin gerade aus der Stadt mit ihm hergefahren. Sie sind doch nicht krank? Wenn Sie krank sind, können Sie nicht hierherkommen, Sie müssen ihn in der Stadt aufsuchen.«

»Ich bin die Lehrerin.«

»Ach ja? Sind Sie aus Toronto?«

»Ja.«

Eine kleine Pause, vielleicht aus Respekt.

Doch nein. Eine Musterung meines Mantels.

»Der ist wirklich hübsch. Was ist das für ein Pelz auf dem Kragen?«

»Persianer. Allerdings kein echter.«

»Hätt ich nie gemerkt. Ich weiß nicht, warum man Sie hier reingesteckt hat, Sie werden sich den Hintern abfrieren. Entschuldigung. Sie wollen zum Doktor. Ich kann Ihnen den Weg zeigen. Ich weiß, wo alles ist, ich wohne hier praktisch seit meiner Geburt. Meine Mutter führt die Küche. Ich heiße Mary. Wie heißen Sie?«

»Vivi. Vivien.«

»Wenn Sie Lehrerin sind, muss es dann nicht Miss heißen? Miss wie?«