Wozu wollen Sie das wissen? - Alice Munro - E-Book

Wozu wollen Sie das wissen? E-Book

Alice Munro

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nobelpreis für Literatur 2013 »Wozu wollen Sie das wissen?« Alice Munros Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte und Erinnerung führt in die reizvolle Wirklichkeit von Dichtung und Wahrheit: elf Erzählungen der großen kanadischen Autorin, in denen sie Historie und Imagination auf faszinierende Weise miteinander verquickt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 518

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alice Munro

Wozu wollen Sie das wissen?

Elf Geschichten aus meiner Familie

Aus dem Englischen von Heidi Zerning

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]VorwortErster Teil Ohne VorzügeOhne VorzügeDie Aussicht vom BurgfelsenIllinoisDie Wildnis des Landkreises MorrisVon der Hände Arbeit lebenZweiter Teil DaheimVäterUnterm Apfelbaum liegenAushilfeDie SchieneDaheimWozu wollen Sie das wissen?NachwortBotschaften

Douglas Gibson gewidmet, der mir bei meinen Mühen stets eine Stütze war und dessen unermüdlicher Einsatz für dieses Buch ihn zu Nachforschungen bis auf den Kirchhof von Ettrick führte, wahrscheinlich im Regen

Vorwort

Vor etwa zehn oder zwölf Jahren begann ich, mich mehr als nur beiläufig für die Vergangenheit eines Zweiges meiner Familie mit dem Namen Laidlaw zu interessieren. Es fanden sich viele Spuren von ihr – erstaunlich viele, wenn man bedenkt, dass sie unbedeutend und keineswegs wohlhabend war und dazu im Ettrick Valley lebte, das von der Statistischen Erhebung Schottlands (1799) als ohne Vorzüge beschrieben wird. Ich habe einmal einige Monate in Schottland verbracht, nicht weit vom Ettrick Valley, und so war ich in der Lage, ihre Namen in den Heimatchroniken der Stadtbüchereien von Selkirk und Galashiels aufzutreiben und herauszufinden, was James Hogg im Blackwoods Magazine über sie zu sagen hatte. Hoggs Mutter war eine Laidlaw, und er brachte Walter Scott zu ihr, als Scott Balladen für seine Sammlung The Minstrelsy of the Scottish Border suchte. (Sie sagte ihm mehrere her, war aber später ganz und gar nicht damit einverstanden, dass sie in einem Buch erschienen.) Und ich hatte Glück, denn jede Generation unserer Familie hatte offenbar jemanden hervorgebracht, der dazu neigte, lange, offenherzige, manchmal drastische Briefe und ausführliche Erinnerungen zu schreiben. Schottland war schließlich das Land, in dem John Knox durchsetzte, dass jedes Kind, und sei es in einer Dorfschule, Lesen und Schreiben lernte, damit ein jedes die Bibel lesen konnte.

Dabei beließ ich es nicht.

Ich fügte über die Jahre hin all dieses Material zusammen, und, nahezu ohne dass ich merkte, was geschah, fing es an, von sich aus hier und da so etwas wie Geschichten zu bilden. Einige der Personen überließen mir ihre eigenen Worte, andere entstanden aus ihren Lebenslagen. Ihre Worte und meine Worte, eine seltsame Neuerschaffung persönlichen Lebens in vorgegebenen Umständen, so wahrheitsgemäß geschildert, wie es unsere Vorstellung von der Vergangenheit irgend zulässt.

Während dieser Jahre schrieb ich auch eine Reihe besonderer Geschichten. Sie gelangten nie in die Bände mit Erzählungen, die ich in regelmäßigen Abständen zusammenstellte. Warum nicht? Weil sie für mein Gefühl nicht hineingehörten. Sie waren nicht biographischer Natur, aber näher an meinem eigenen Leben als die übrigen Erzählungen, auch die in der Ichform geschriebenen. Es gab Ichform-Geschichten, in denen ich auf persönliches Material zurückgegriffen, dann aber damit getan hatte, was ich wollte. Denn meine Arbeit bestand in erster Linie daraus, eine Erzählung zu gestalten. In den Geschichten, die ich nicht in die Sammelbände aufgenommen hatte, tat ich nicht genau das. Sondern etwas, näher an dem, was eine Biographie tut – ein Leben erkunden, mein eigenes Leben, aber nicht in nüchterner, sich streng an die Tatsachen haltender Manier. Ich stellte mich selbst in den Mittelpunkt und schrieb über dieses Ich, so wahrheitsgetreu, wie ich konnte. Aber die Personen um dieses Ich herum nahmen ihr eigenes Leben, ihre eigene Gestalt an und taten Dinge, die sie in Wirklichkeit nicht getan hatten. Sie traten der Heilsarmee bei, sie gaben preis, dass sie einmal in Chicago gelebt hatten. Eine von ihnen landete auf dem elektrischen Stuhl, und eine andere feuerte in einem Stall voller Pferde ein Gewehr ab. Einige dieser Personen haben sich sogar so weit von ihren Anfängen entfernt, dass ich nicht mehr weiß, wer sie ursprünglich waren.

Dies sind Erzählungen.

Man könnte sagen, dass diese Erzählungen sich enger an die Wahrheit eines Lebens halten, als Belletristik es gemeinhin tut. Aber nicht genug, um einen Eid darauf zu schwören. Und der Teil dieses Buches, der Familiengeschichte genannt werden könnte, hat sich zu Belletristik ausgeweitet, wenn auch immer innerhalb der Grenzen eines wahrheitsgetreuen Berichts. Mit diesen Entwicklungen kamen diese beiden Ströme einander so nahe, dass es mir schien, als sei ihnen bestimmt, in einem Flussbett zu fließen, wie sie es in diesem Buch tun.

Erster TeilOhne Vorzüge

Ohne Vorzüge

Dieses Kirchspiel ist ohne Vorzüge. Auf den Bergen ist der Boden an vielen Stellen mit Moos bewachsen und zu nichts nutze. Die Luft ist im Allgemeinen feucht. Das wird von der Höhe der Berge verursacht, die unaufhörlich die Wolken anziehen, sowie von dem Dunst, der unaufhörlich aus den Moospolstern aufsteigt … Der nächste Marktflecken ist fünfzehn Meilen weit fort, und die Straßen sind so morastig, dass kaum ein Fortkommen ist. Der Schnee bildet zuzeiten auch eine große Beschwernis, oft haben wir viele Monate lang keinerlei Verbindung zur übrigen Menschheit. Und ein großer Nachteil ist der Mangel an Brücken, so dass der Reisende aufgehalten wird, wenn die Flussläufe Hochwasser führen … Gerste, Hafer und Kartoffeln sind das Einzige, was angepflanzt wird. Weizen, Roggen, Rüben und Kohl wollen nicht gedeihen … Es gibt zehn Grundbesitzer in diesem Kirchspiel, von denen nicht einer hier ansässig ist. Es gibt zehn Grundbesitzer in diesem Kirchspiel, von denen nicht einer hier ansässig ist.

 

Beitrag des Pfarrers der Gemeinde Ettrick in der Grafschaft Selkirk zur Statistischen Erhebung Schottlands, 1799.

Das Ettrick Valley liegt ungefähr fünfzig Meilen südlich von Edinburgh und etwa dreißig Meilen nördlich der englischen Grenze, die sich eng an den Wall hält, den Hadrian errichten ließ, um die wilden Völker aus dem Norden abzuwehren. Unter der Herrschaft von Antoninus drangen die Römer weiter vor und errichteten einen neuen Verteidigungswall zwischen dem Firth of Clyde und dem Firth of Forth, doch der war nicht von Dauer. Das Land zwischen den beiden Wällen ist seit langer Zeit von einem Völkergemisch bewohnt worden – darunter Kelten, wovon einige aus Irland kamen und Skoten genannt wurden, auch Angelsachsen aus dem Süden, Wikinger vom anderen Ufer der Nordsee und vielleicht auch einige übrig gebliebene Pikten.

Der hochgelegene, steinige Bauernhof, auf dem meine Familie eine Zeit lang im Ettrick Valley lebte, trug den Namen Far-Hope. Das Wort hope in Ortsnamen ist ein altes Wort, ein skandinavisches Wort – denn in diesem Teil des Landes sind, wie man es nicht anders erwarten kann, skandinavische, angelsächsische und gälische Worte alle miteinander vermischt, dazu kommt noch ein wenig Altkymrisch, um auf eine frühe walisische Besiedlung hinzuweisen. Hope bedeutet Bucht, aber eine Bucht, nicht mit Wasser, sondern mit Land gefüllt und teilweise von Bergen umschlossen, welches in diesem Falle die hohen, kahlen Berge am östlichen Ende der Southern Uplands sind. Der Black Knowe, der Bodesbeck Law, der Ettrick Pen – das sind drei der hohen Berge, wobei das Wort für Berg aus drei verschiedenen Sprachen kommt. Einige dieser Berge werden jetzt wieder aufgeforstet, mit Sitkafichten, aber im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert waren sie kahl – denn ein oder zwei Jahrhunderte zuvor waren die Wälder von Ettrick, die Jagdgründe der Könige von Schottland, abgeholzt und in Weideland oder braches Heideland verwandelt worden.

Die Wasserscheide, die sich über Far-Hope ganz am Ende des Tales erhebt, ist das Rückgrat von Schottland und teilt die Flüsse, die nach Westen in den Solway Firth und den Atlantik fließen, von jenen, die nach Osten und in die Nordsee fließen. Noch nicht einmal zehn Meilen weiter nördlich befindet sich der berühmteste Wasserfall des Landes, Grey Mare’s Tail. Fünf Meilen von Moffat entfernt, damals wohl der Marktflecken für jene, die an diesem Ende des Tals lebten, befindet sich Devil’s Beef Tub, eine tiefe Schlucht in den Bergen, die als Versteck für gestohlenes Vieh galt – englisches Vieh natürlich, von den Räuberbanden im gesetzlosen siebzehnten Jahrhundert davongetrieben. Im unteren Ettrick Valley stand Aikwood, die Heimstatt von Michael Scott, dem Philosophen und Magier aus dem zwölften und dreizehnten Jahrhundert, der in Dantes Inferno Eingang gefunden hat. Und als ob das nicht genügte, heißt es von William Wallace, dem Guerillahelden der Schotten, er habe sich hier in der Gegend vor den Engländern versteckt, und ferner gibt es eine Sage, Merlin – Merlin! – sei im alten Wald von Ettricker Schäfern zur Strecke gebracht und erschlagen worden.

(Soweit ich weiß, waren meine Vorfahren viele Generationen lang Ettricker Schäfer. Es mag seltsam klingen, dass Schäfer ihrem Gewerbe zu jener Zeit im Wald nachgingen, aber offenbar gab es in den damaligen Wäldern viele offene Lichtungen.)

Trotzdem hat mich das Tal, als ich es zum ersten Mal sah, enttäuscht. Orte, die man sich zuvor in der Phantasie ausgemalt hat, neigen dazu. Es herrschte gerade Vorfrühling, und die Berge waren braun oder so etwas wie lilabraun und erinnerten mich an die Berge um Calgary. Ettrick Water floss rasch und klar, aber nicht annähernd so breit wie der Maitland River, der an der Farm in Ontario vorbeifließt, auf der ich aufgewachsen bin. Die Steinkreise, die ich anfangs für interessante Überbleibsel keltischer Kultstätten hielt, waren zu zahlreich und wohlerhalten, um etwas anderes zu sein als schlichte Schafpferche.

Ich reiste allein, hatte in Selkirk einen Bus bestiegen, der zweimal wöchentlich für Leute verkehrte, die Einkäufe machen wollten, und mich nicht weiter als bis Ettrick Bridge brachte. Dort lief ich herum und wartete auf den Briefträger. Es hieß, er würde mich ins Tal hineinfahren. Das einzig Sehenswerte in Ettrick Bridge war ein Reklameschild an einem geschlossenen Geschäft, das für Silk Cut, also Seidenschnitt, warb. Ich konnte mir nichts darunter vorstellen. Später erfuhr ich, es handelte sich um eine bekannte Zigarettenmarke.

Nach einer Weile kam der Briefträger und nahm mich mit zur Ettrick Church. Als ich dort aus seinem Auto stieg, hatte strömender Regen eingesetzt. Die Kirche war abgeschlossen. Auch sie bereitete mir eine Enttäuschung. Im Jahre 1824 erbaut, konnte sie es weder an Altertümlichkeit noch an Wehrhaftigkeit mit den Kirchen aufnehmen, die ich bereits in Schottland gesehen hatte. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz und fror. Ich suchte an einer ihrer Mauern Schutz, bis der Regen ein wenig nachließ, dann erkundete ich den Friedhof, dessen langes Gras mir Schuhe und Strümpfe durchnässte.

Dort fand ich als Erstes den Grabstein von William Laidlaw, meinem direkten Vorfahren, geboren am Ende des siebzehnten Jahrhunderts und bekannt als Will O’Phaup. Das war ein Mann, der sich zu seiner Zeit so weit hervorgetan hatte, dass ihn zumindest in seinem Teil der Welt ein mythischer Glanz umgab, wobei seine Zeit die letzte in der Geschichte war – der Geschichte der Menschen auf den britischen Inseln –, zu der einem Mann das gelingen konnte. Derselbe Grabstein trägt die Namen seiner Tochter Margaret Laidlaw Hogg, die Sir Walter Scott Vorhaltungen machte, und von Robert Hogg, ihrem Mann, dem Pächter von Ettrickhall. Daneben sah ich den Grabstein des Schriftstellers James Hogg, der deren Sohn und Will O’Phaups Enkel war. Er wurde als der »Schäfer von Ettrick« bekannt. Und nicht weit davon fand sich der Grabstein von Reverend Thomas Boston, einstmals in ganz Schottland für seine Bücher und Predigten berühmt, obwohl ihn sein Ruhm nie in ein höheres geistliches Amt trug.

Inmitten etlicher Laidlaws auch ein Stein mit dem Namen von Robert Laidlaw, der in Hopehouse am 29. Januar 1800 im Alter von zweiundsiebzig Jahren verstarb. Sohn von Will, Bruder von Margaret, Onkel von James, der wahrscheinlich keine Ahnung davon hatte, dass er nur durch diese Verwandtschaft in Erinnerung bleiben würde, ebenso wenig wie von seinem eigenen Todestag.

Mein Ur-ur-ur-urgroßvater.

Während ich diese Inschriften las, setzte der Regen wieder ein, zwar nur leicht, aber ich fand es besser, nach Tushielaw zurückzulaufen, wo ich den Schulbus für die Rückfahrt nach Selkirk erwischen wollte. Ich durfte nicht trödeln, denn der Bus konnte zu früh kommen, und der Regen konnte stärker werden.

Mich überkam ein Gefühl, das viele kennen mögen, deren lange Geschichte in ein Land zurückreicht, weit fort von dem Ort, an dem sie aufgewachsen sind. Ich war eine naive Nordamerikanerin, trotz des Wissens, das ich mir angeeignet hatte. Vergangenheit und Gegenwart, die hier miteinander verknäuelt waren, ergaben eine Wirklichkeit, die alltäglich war und doch weitaus verstörender, als ich mir vorgestellt hatte.

männer von ettrick
Will O’Phaup

Hier ruhet William Laidlaw, der viel gerühmte Will o’Phaup,

dem es an tollen Streichen, Behändigkeit und Kraft zu Lebzeiten niemand gleichtat …

Gedenkspruch seines Enkels James Hogg auf

Will O’Phaups Grabstein, Kirchhof von Ettrick

Eigentlich hieß er William Laidlaw, aber in die Überlieferung ist er als Will O’Phaup eingegangen, wobei Phaup einfach das in der Gegend gebräuchliche Wort für Far-Hope war, dem Bauernhof am Ende vom Ettrick Valley, den er übernahm. Wie es scheint, hatte der Hof seit Jahren leer gestanden, als Will dort Einzug hielt. Genauer gesagt, das Haus hatte leer gestanden, weil es ganz am Ende des entlegenen Tales in so großer Höhe stand und im Winter von den regelmäßig einsetzenden Schneestürmen so grausam heimgesucht wurde. Das ihm am nächsten und tiefer gelegene Gehöft Potburn galt bis vor Kurzem als das höchste bewohnte Haus in ganz Schottland. Jetzt wohnt niemand mehr darin, und in den Scheunen nisten nur noch Finken und Spatzen.

Das Land selbst dürfte Will nicht gehört haben, es wäre ihm wohl nicht einmal verpachtet worden – nur das Haus hatte er entweder gemietet, oder es war Teil seiner Entlohnung als Schäfer. Es ging ihm nie um weltlichen Reichtum.

Nur um Ruhm.

 

Er wurde nicht in diesem Tal geboren, obwohl es dort bereits Laidlaws gab und seit den ersten Aufzeichnungen gegeben hatte. Die früheste Nennung dieses Namens fand ich in Prozessakten aus dem dreizehnten Jahrhundert, einem Laidlaw wurde vorgeworfen, einen anderen Laidlaw erschlagen zu haben. Gefängnisse gab es zu jener Zeit nicht. Nur Burgverliese, hauptsächlich für die Oberschicht oder Männer von einiger politischer Bedeutung, die sich mit ihren Herrschern überworfen hatten, und Hinrichtungen im Schnellverfahren – doch die kamen vor allem in Zeiten großer Unruhen vor, wie zum Beispiel während der Grenzüberfälle im sechzehnten Jahrhundert, da konnte es einem Räuber passieren, dass er vor seiner eigenen Haustür erhängt oder auf dem Marktplatz von Selkirk aufgeknüpft wurde, wie es sechzehn Viehdieben, die alle den Namen Elliott trugen, innerhalb nur eines Tages widerfuhr. Mein Laidlaw kam mit einer Geldstrafe davon.

Will galt als »einer der alten Laidlaws von Craik« – über die ich rein gar nichts in Erfahrung bringen konnte, nur dass Craik ein fast verschwundenes Dorf an einer völlig verschwundenen römischen Straße ist, in einem nahe gelegenen Tal südlich von Ettrick. Er muss über die Berge gelaufen sein, ein junger Bursche auf der Suche nach Arbeit. Er wurde 1695 geboren, als Schottland noch ein eigenes Königreich war, auch wenn es sich den Monarch mit England teilte. Als die umstrittene Union der beiden Länder zustande kam, war er gerade zwölf Jahre alt, zur Zeit des bitter fehlgeschlagenen Jakobitenaufstandes von 1715 ein junger Mann und ein Mann in vorgerückten Jahren, als 1746 die Schlacht bei Culloden geschlagen wurde. Es lässt sich nicht sagen, was er von diesen Ereignissen hielt. Ich habe so ein Gefühl, dass sein Leben in einer Welt stattfand, die immer noch abgeschieden und in sich geschlossen war, mit ihrer eigenen Sagenwelt und ihren eigenen Wundern. Und er war eins davon.

 

Die erste Geschichte, die man sich von Will erzählt, handelt davon, wie ungeheuer schnell er laufen konnte. Seine erste Anstellung im Ettrick Valley fand er als Schäfer bei einem Mr Anderson, und dem fiel auf, wenn Will ein Schaf fangen wollte, lief er ihm einfach hinterher, statt ihm irgendwie den Weg abzuschneiden. Also wusste er, dass Will ein schneller Läufer war, und als ein preisgekrönter englischer Läufer ins Tal kam, schloss Mr Anderson eine hohe Wette gegen ihn ab und setzte auf Will. Der Engländer spuckte große Töne, ebenso alle, die auf ihn gesetzt hatten, und Will gewann. Mr Anderson strich ein hübsches Häufchen Münzen ein, und Will seinerseits erhielt einen grauen Tuchmantel und eine Bundhose.

Soll mir recht sein, sagte er, denn der Mantel und die Bundhose bedeuteten ihm ebenso viel wie einem Mann vom Schlage Mr Andersons all das Geld.

Hier haben wir eine klassische Geschichte. Ich hörte Abarten davon – mit anderen Namen, anderen Großtaten – in meiner Kindheit, als ich im Huron County in Ontario aufwuchs. Ein ruhmbedeckter Fremder trifft ein, prahlt mit seinen Fähigkeiten und wird von einem begabten Ortsansässigen geschlagen, einem Burschen von schlichtem Gemüt, dem es überhaupt nicht um die Belohnung zu tun ist.

Diese Bestandteile finden sich in einer anderen frühen Geschichte wieder, in der Will über die Berge auf einem Botengang in die Stadt Moffat läuft, ohne zu merken, dass es ein schöner Tag ist, und dazu überredet wird, an einem öffentlichen Wettlauf teilzunehmen. Er ist für den Anlass nicht passend angezogen, und während des Rennens rutscht ihm seine bäurische Bundhose herunter. Er lässt sie fallen, befreit sich daraus, läuft mit nichts als einem Hemd am Leib weiter und gewinnt. Es wird viel Aufhebens von ihm gemacht, und er wird ins Gasthaus eingeladen, um mit vornehmen Damen und Herren zu Abend zu essen. Da muss er seine Hose wieder angehabt haben, aber trotzdem wird er rot und will die Einladung nicht annehmen, denn angeblich schämt er sich vor solch feinen Damen.

Vielleicht hat er sich wirklich geschämt, aber natürlich liefern die »feinen Damen« mit ihrer unziemlichen Begeisterung für den gut ausgestatteten jungen Athleten die eigentliche Pointe der Geschichte.

Will heiratet irgendwann, er heiratet eine Frau namens Bessie Scott, und sie gründen eine Familie. In dieser Phase verwandelt sich der jugendliche Held in einen Sterblichen, obwohl es immer noch Großtaten gibt. Eine bestimmte Stelle im Ettrick River wird zu »Will’s Leap«, um an einen Sprung zu erinnern, den er wagte, um für jemanden, der krank war, Hilfe herbeizuholen. Keine seiner Heldentaten brachte ihm jedoch Geld ein, und die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt seiner Familie zu verdienen, vereint mit einem geselligen Naturell, scheint ihn veranlasst zu haben, sich gelegentlich als Alkoholschmuggler zu betätigen. Sein Haus liegt günstig, um den Schnaps in Empfang zu nehmen, der von Moffat über die Berge geschmuggelt wird. Überraschenderweise ist es nicht Whisky, sondern französischer Cognac, der zweifellos auf dem Solway Firth illegal ins Land gelangt – wie er es auch weiterhin tun wird, trotz der Anstrengungen, die der Dichter und Steuereinnehmer Robert Burns gegen Ende des Jahrhunderts dagegen unternahm. Phaup wird berühmt für Zechgelage oder zumindest für fröhliche Geselligkeiten. Der Name des Helden steht zwar immer noch für ehrenhaftes Verhalten und Großzügigkeit, aber nicht mehr für Nüchternheit.

Bessie Scott stirbt noch jung, und wahrscheinlich haben die Gelage nach ihrem Tod begonnen. Die Kinder werden wohl in eine Scheune oder in ihre Schlafstellen auf dem Dachboden des Hauses verbannt worden sein. Es scheint jedoch weder schwere Gesetzesverstöße noch Verlotterung gegeben zu haben. Der französische Cognac mutet allerdings im Lichte der Abenteuer, die auf Will in reifem Alter zukommen sollten, harmlos an.

 

Er ist draußen in den Bergen, der Tag neigt sich zum Abend, und er hört immer wieder ein Geräusch, das wie Geschwätz und Gekicher klingt. Er kennt alle Laute, die aus den Kehlen von Vögeln dringen, und er weiß, dies kann kein Vogel sein. Es scheint aus einer tiefen Senke ganz in der Nähe zu kommen. Also schleicht er sich leise, leise an den Rand der Senke, legt sich flach auf den Bauch und streckt nur den Kopf weit genug vor, um hinunterschauen zu können.

Und was sieht er dort unten anderes als eine muntere Schar seltsamer Wesen, alle ungefähr so groß wie zweijährige Kinder, nur, dass es keine Kinder sind. Sondern feine, ganz in Grün gekleidete Weiblein. Und alle höchst geschäftig. Die einen backen Brot in einem winzigen Ofen, die anderen schenken aus Fässchen Glaskrüglein voll, und wieder andere richten einander die Haare, alle summen und trällern vor sich hin, ohne aufzuschauen, keines hebt den Kopf, ein jedes hat nur Augen für sein Gewerk. Doch je länger er ihnen lauscht, desto mehr vermeint er, etwas Altbekanntes zu hören. Und es wird immer klarer und deutlicher – das Zwitscherliedchen der Weiblein. Schließlich ertönt es klar wie eine Glocke.

Will O’Phaup. Will O’Phaup. Will O’Phaup.

Sein eigener Name ist in ihrer aller Munde. Das Liedchen, das ihm anfangs so lieblich klang, hört sich nun ganz anders an, voller Gelächter, aber das ist kein sittsames Gelächter. Es treibt Will den kalten Schweiß auf den Rücken. Und gleichzeitig fällt ihm ein, dass dies der Abend von Allerseelen ist, jene Zeit des Jahres, zu der diese Wesen mit einem jeden Menschen treiben können, was immer ihnen beliebt. Also springt er auf und nimmt die Beine in die Hand, rennt den ganzen Weg bis nach Hause schneller, als irgendein Teufel ihn jagen kann.

Den ganzen Weg über hört er das Liedchen von Will O’Phaup, Will O’Phaup dicht hinter seinen Ohren, nie wird es schwächer oder leiser. Er erreicht sein Haus und stürzt hinein und verriegelt die Tür und schart alle seine Kinder um sich und beginnt zu beten, so laut er kann, und solange er betet, vermag er nichts zu hören. Doch wehe, wenn er kurz innehält, um Atem zu schöpfen, da kommt es im Schornstein herunter, da dringt es durch die Türritzen, und es wird immer lauter, indes die Wesen gegen sein Gebet ankämpfen, und er wagt nicht, aufzuhören, bis er Schlag Mitternacht ausruft: O Herr, erbarme dich!, und verstummt. Und von den Wesen ist nichts mehr zu hören, kein Laut. Die Nacht ist so still wie nur irgendeine, und der Frieden des Himmels liegt über dem ganzen Tal.

 

Dann ein andermal, im Sommer, aber um die dunkelnde Abendstunde, ist er nach dem Einpferchen der Schafe auf dem Heimweg und meint, in der Ferne einige seiner Nachbarn zu sehen. Ihm kommt der Gedanke, dass sie wohl von der Kirmes zurückkehren, denn es ist der Tag der Moffat-Kirmes. Also will er die Gelegenheit ergreifen, sie anzusprechen und zu erfahren, was es an Neuigkeiten gibt und wie es ihnen ergangen ist, und er läuft ihnen nach.

Sobald er nahe genug ist, ruft er ihnen einen Gruß zu.

Aber sie beachten ihn nicht. Und er ruft wieder, und wieder dreht sich niemand von ihnen um oder schaut zu ihm herüber. Er kann sie deutlich von hinten sehen, alles Bauersleute in ihren Überwürfen und Mützen, Männer und Frauen von normaler Größe, aber er vermag ihre Gesichter nicht zu sehen, sie bleiben abgewandt. Und sie scheinen es nicht eilig zu haben, sie trödeln dahin und schwatzen und plaudern, und er kann sie reden hören, aber nicht verstehen, was sie sagen.

Also geht er schneller und schneller und fängt schließlich an zu rennen, um sie einzuholen, doch einerlei, wie schnell er rennt, es will ihm nicht gelingen – obwohl sie es überhaupt nicht eilig haben, sie trödeln immer noch. Und er ist so sehr darum bemüht, sich ihnen zu nähern, dass ihm lange Zeit nicht auffällt – sie sind gar nicht auf dem Weg nach Hause.

Sie gehen nicht das Tal hinunter, sondern ein schmales kleines Seitental hoch, in dem ein Rinnsal von einem Bach hinunter in den Ettrick fließt. Und im schwindenden Licht sind sie zwar immer schwerer zu erkennen, scheinen aber seltsamerweise immer zahlreicher zu werden.

Und von den Berggipfeln herunter weht ein eiskalter Hauch, obwohl es ein warmer Sommerabend ist.

Und da durchfährt es Will. Das sind nicht seine Nachbarn. Und sie führen ihn nicht an einen Ort, an dem er irgend sein möchte. Und so schnell, wie er ihnen vorher nachgelaufen ist, läuft er jetzt vor ihnen davon. Da dies eine gewöhnliche Nacht und nicht der Abend von Allerseelen ist, haben sie nicht die Macht, ihn zu verfolgen. Und so fürchtet er sich nicht so sehr wie das andere Mal, auch wenn ihm kalt schaudert, denn er weiß, das sind die Seelen Verstorbener, die als Gespenster umgehen müssen.

 

Man darf nicht unterstellen, dass alle damals diese Geschichten für bare Münze nahmen. Schließlich war Cognac mit im Spiel. Doch ob sie nun daran glaubten oder nicht, die meisten Menschen dürften ihnen mit mehr als nur leichtem Schaudern gelauscht haben. Sie mögen Neugier verspürt oder Zweifel gehegt haben, doch vor allem mag schlichte Furcht sie ergriffen haben. Elfen und Gespenster und Religion (die himmlischen Mächte?) waren nie unter einem guten Stern miteinander verbunden, wie sie es heute oft sind. Elfen waren nicht fröhlich und bezaubernd. Sie gehörten zur grauen Vorzeit, nicht zur historischen Vorzeit von Flodden, wo jeder Selkirk-Mann erschlagen wurde, nur der eine nicht, der die Nachricht überbrachte, oder der Zeit der Räuberbanden, die allnächtlich das umstrittene Grenzland unsicher machten, oder der Zeit von Königin Maria – ja, nicht einmal zu den Zeiten davor, denen von William Wallace oder Archibald Ben-the-Cat oder Prinzessin Margarete von Norwegen, der Fair Maid of Norway, sondern zu den wahrhaft finsteren Zeiten, vor dem Antoninischen Wall und bevor die ersten christlichen Missionare aus Irland übers Meer kamen. Sie gehörten in die Zeiten der bösen Mächte und schlimmen Wirrnisse, und wenn sie ihr Unwesen trieben, so geschah es zumeist aus Heimtücke und endete oft tödlich.

Thomas Boston

Zum Zeugnis der Hochachtung für

Reverend Thomas Boston Senior,

einem Mann, dem sich privat nichts vorwerfen ließ,

dessen öffentliches Wirken für viele segensreich war

und dessen Schriften viel dazu beigetragen haben,

das lebendige Christentum zu stärken.

Dieser Gedenkstein errichtet von einer gläubigen

und dankbaren Gemeinde.

 

Ringt darum, dass ihr durch die enge Pforte hineingeht; denn viele, das sage ich euch, werden danach trachten, wie sie hineinkommen, und werden’s nicht können.

Lukas XIII, 24.

Wills Gesichte wurden von der Kirche, der Presbyterianischen Kirche Schottlands, bestimmt nicht gut aufgenommen, und in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts war die Kirche im Sprengel von Ettrick besonders mächtig.

Dessen Geistlicher war zu jener Zeit der Prediger Thomas Boston, der heute nur noch, wenn überhaupt, in Erinnerung ist als Verfasser eines Buches mit dem Titel Die menschliche Natur in ihrer vierfachen Seinsweise, von dem es heißt, es habe in jedem frommen Heim in Schottland neben der Bibel gestanden. Und jedes presbyterianische Heim in Schottland hatte ein frommes Heim zu sein. Unablässig wurden Überprüfungen des Privatlebens und gewaltsame Umgestaltungen des Glaubens vorgenommen, um für die Frömmigkeit zu sorgen. Es gab keinen Trost des Rituals und keinen Genuss der Zeremonie. Das Gebet war nicht etwa nur förmlich, sondern persönlich, ein qualvolles Ringen. Und ob die Seele hinreichend für das ewige Leben geläutert war, das stand immerzu in Frage, war immerzu bedroht.

Thomas Boston sorgte dafür, dass dieses Drama ohne Unterlass weiterging, bei ihm selbst und bei seinen Gemeindemitgliedern. In seiner Autobiographie berichtet er von seinen immer wiederkehrenden Seelenqualen, seinen Phasen der Dürre, seinem Gefühl der Unwürdigkeit und Dumpfheit sogar, während er das Evangelium predigt oder in seinem Studierzimmer betet. Er fleht um Gnade. In seiner Verzweiflung bietet er dem Himmel die entblößte Brust dar – zumindest symbolisch. Er hätte sich bestimmt mit Dornenpeitschen gegeißelt, wenn solches Verhalten nicht papistisch wäre und mithin eine weitere Sünde darstellte.

Manchmal erhört ihn Gott, manchmal nicht. Seine Sehnsucht nach Gott verlässt ihn nie, doch es gibt keine Gewähr, dass ihm je Befriedigung zuteil wird. Er steht auf, vom Heiligen Geist erfüllt, predigt stundenlang, er hält feierlich die Kommunion ab und weiß sich dabei das Gefäß Gottes und wird Zeuge der Wandlung vieler Seelen. Doch er achtet auch darauf, sich das alles nicht selbst zugutezuschreiben. Denn er weiß, wie anfällig er für die Sünde des Stolzes ist und wie rasch ihn der Zustand der Gnade verlassen kann.

Er müht sich, stürzt hin. Tappt wieder im Dunkeln.

 

Derweil ist das Dach des Pfarrhauses undicht, sind die Wände feucht, qualmt der Rauchfang, werden seine Frau, seine Kinder und er selbst oft von Fieberkrankheiten geschüttelt. Sie haben Halsentzündungen und rheumatische Schmerzen. Einige seiner Kinder sterben. Sein erstes Kind, eine Tochter, kommt mit etwas zur Welt, das sich für mich wie Spina bifida anhört, und stirbt bald nach der Geburt. Seine Frau ist zu Tode betrübt, und obwohl er sein Bestes tut, um sie zu trösten, fühlt er sich auch verpflichtet, sie zu rügen, weil sie sich über Gottes Willen beklagt. Später muss er sich selbst Vorwürfe machen, weil er den Sargdeckel hebt, um einen letzten Blick auf sein liebstes Kind zu werfen, einen kleinen Jungen von drei Jahren. Wie schändlich von ihm, wie schwach, dieses sündige Häufchen Fleisch zu lieben und die Weisheit des Herrn in Frage zu stellen, weil er es ihm genommen hat. Er erlegt sich weitere Kämpfe auf, weitere Selbstkasteiung und lange Gebete.

Kämpfe nicht nur mit seiner seelischen Dumpfheit, sondern mit der Mehrheit seiner Amtskollegen, denn er beschäftigt sich immer eingehender mit einer Abhandlung namens Das Mark der modernen Theologie. Er wird beschuldigt, ein Mark-Mann zu sein, wird verdächtigt, sich auf die Seite des Antinomismus zu schlagen. Der Antinomismus beruft sich auf die Lehre von der Vorherbestimmung und stellt von da aus eine schlichte Frage – warum, wenn man von Anfang an zu den Auserwählten gehört, soll man dann nicht ungestraft tun und lassen können, was man will?

Doch halt. Halt! Wer kann sich je sicher sein, zu den Auserwählten zu gehören?

Und das Problem für Boston besteht bestimmt nicht darin, ungestraft mit allem davonzukommen, sondern darin, einer bestimmten Logik in aller Rechtschaffenheit Folge leisten zu müssen.

Gerade noch rechtzeitig schwört er der Irrlehre ab. Kehrt um. Ist in Sicherheit.

Seine Frau, inmitten all des Gebärens und zu Grabe Tragens und der Sorge für die verbliebenen Kinder und der Plackerei mit dem Dach und dem unaufhörlichen kalten Regen, wird von einem Nervenleiden heimgesucht. Sie vermag das Bett nicht mehr zu verlassen. Ihr Glaube ist stark, jedoch in einem Kernpunkt, wie er sich ausdrückt, morsch. Er verrät nicht, was dieser Kernpunkt ist. Er betet mit ihr. Wie er mit dem Haushalt zurechtkommt, wissen wir nicht. Seine Frau, einstmals die schöne Catherine Brown, scheint jahrelang das Bett zu hüten, bis auf eine rührende Unterbrechung, als die ganze Familie von einer Ansteckung aufs Krankenlager geworfen wird. Da steht sie auf und pflegt alle, unermüdlich und zärtlich, mit der Kraft und der Zuversicht, die sie in ihrer Jugend besaß, als Boston sich in sie verliebte. Alle erholen sich, doch sie ist danach wieder ans Bett gefesselt. Sie ist in vorgerücktem Alter, aber immer noch am Leben, als der Pfarrer stirbt, und wir können ihr nur wünschen, dass sie danach aufstehen und fortziehen wird, um in einer behaglicheren Stadt bei umgänglichen Verwandten in einem trockenen Haus zu wohnen. Dass sie an ihrem Glauben festhalten wird, aber vielleicht mit dem gebührenden Abstand, um ein wenig weltliches Glück zu genießen.

Ihr Ehemann predigt noch von seinem Schlafzimmerfenster aus, als er schon zu schwach und dem Tod zu nahe ist, um sich in die Kirche und auf die Kanzel zu begeben. Er mahnt tapfer und inbrünstig wie immer, und die Leute versammeln sich in Scharen, um ihn zu hören, obwohl es, wie üblich, regnet.

Ein Leben, denkbar karg und freudlos, von außen betrachtet. Nur vom Inneren des Glaubens her ist es möglich, sich eine Vorstellung sowohl von dem Ziel als auch von dem Ringen darum zu machen, dem zur Sucht gewordenen Streben nach makelloser Rechtschaffenheit, dem Rauschzustand beim Aufblitzen von Gottes Gnade.

Deshalb kommt es mir merkwürdig vor, dass ausgerechnet Thomas Boston der Pfarrer gewesen sein soll, dem Will O’Phaup als junger Mann an einem jeden Sonntag lauschte, wahrscheinlich auch der Pfarrer, der ihn mit Bessie Scott traute. Mein Ahnherr, nahezu ein Heide, ein lustiger Geselle, ein Schnapstrinker, einer, auf den Wetten abgeschlossen werden, ein Mann, der an Elfen glaubt, muss den Ermahnungen und dürren Hoffnungen dieses strengen kalvinistischen Bekenntnisses gelauscht und daran geglaubt haben. Und als Will am Allerseelenabend von den Elfen verfolgt wurde, rief er da nicht um Schutz zum selben Gott, den Boston anrief, als er darum flehte, ihm möge die Last – der Gleichgültigkeit, des Zweifels, des Kummers – von der Seele genommen werden? Die Vergangenheit ist voller Widersprüche und Verwicklungen, vielleicht ebenso sehr wie die Gegenwart, auch wenn wir das oft nicht wahrhaben wollen.

Was sollten diese Menschen auch anders tun, als ihren Glauben ernst nehmen, mit seiner Androhung des unausweichlichen Höllenfeuers, mit einem so schlauen und so gnadenlos marternden Satan und einem so spärlich bevölkerten Himmel? Und sie nahmen ihn sehr ernst. Sie wurden wegen ihrer Sünden aufgerufen, mussten sich vor der ganzen Gemeinde auf den Armsünderstuhl setzen und ihre Schande ertragen, wobei es sich meistens um sexuelle Dinge handelte, für die es nur ein Wort gab – Unzucht. James Hogg wurde mindestens zweimal auf diesen Stuhl beordert, weil ihn Mädchen aus der Gegend der Vaterschaft beschuldigten. Den einen Fall gab er unumwunden zu, im anderen wollte er nur sagen, dass es möglich war. (Etwa achtzig Meilen westlich davon, in Mauchline in Ayrshire, erlitt Robert Burns, elf Jahre älter als Hogg, dieselbe öffentliche Demütigung.) Die Kirchenältesten gingen von Haus zu Haus, um zu prüfen, ob am Sonntag auch ja nicht gekocht wurde, und an allen Tagen waren ihre harten Hände damit beschäftigt, die Brüste jeder Frau, die im Verdacht stand, ein uneheliches Kind geboren zu haben, fest zu drücken, damit ein Tropfen Milch sie verriet. Doch gerade die Tatsache, dass solche Wachsamkeit für notwendig erachtet wurde, zeigt, wie sogar diesen Frommen von der Natur immer wieder Fallen gestellt wurden, ganz so wie anderen Menschen auch. Ein Ältester in der Kirche von Burns verzeichnet: »Nur 36 Fälle von Unzucht seit dem letzten Abendmahl«, als sei diese Zahl ein Schritt in die richtige Richtung.

Und es taten sich auch bei der Ausübung ihres Glaubens Fallen auf, sogar durch ihre eigenen Denkanstrengungen, in Argumentationen und Auslegungen, die sich zwangsläufig ergaben.

Was etwas damit zu tun haben mochte, dass sie zu den gebildetsten Kleinbauern Europas gehörten. John Knox hatte auf Schulbildung bestanden, damit sie die Bibel lesen konnten. Und sie lasen sie, mit Frömmigkeit, aber auch mit Hunger, um Gottes Ordnung zu entdecken, sein Gedankengebäude. Sie fanden viel, an dem sie herumrätselten. Andere Pfarrer aus Bostons Zeit beklagen sich darüber, wie streitsüchtig ihre Gemeindemitglieder sind, sogar die Frauen! (Boston erwähnt das nicht, zu sehr mit Selbstvorwürfen beschäftigt.) Sie nehmen stundenlange Predigten nicht stumm hin, sondern mischen sich ein, als seien sie Teilnehmer an einer lebenslangen und todernsten Debatte. Sie zerbrechen sich ständig den Kopf über Lehrmeinungen und strittige Bibelstellen, weitaus mehr, als ihnen gut tut, sagen ihre Pfarrer. Sie sollten sich besser auf jene verlassen, die für den Umgang mit solchen Dingen ausgebildet sind. Doch sie denken gar nicht daran, und tatsächlich werden auch die ausgebildeten Pfarrer manchmal zu Schlussfolgerungen getrieben, die andere Pfarrer verdammen müssen. Als Resultat ist die Kirche von Streitigkeiten zerspalten, und die Gottesmänner gehen sich häufig gegenseitig an die Gurgel, wie Bostons eigene Schwierigkeiten gezeigt haben. Und der Makel, ein Mark-Mann zu sein, den eigenen, unvermeidlichen Gedankengängen zu folgen, mag es auch gewesen sein, der ihn so lange im abgelegenen Ettrick festhielt, seine »Transferierung« (wie es damals hieß) an einen halbwegs behaglichen Ort verhinderte.

James Hogg und James Laidlaw

Er war allezeit ein eigentümlicher und hoch amüsanter Bursche, hielt fest an jeder überholten und unhaltbaren Vorstellung in Naturwissenschaft, Religion und Politik … Nichts erregte seinen Unwillen stärker als die Theorie, die Erde drehe sich um ihre Achse und kreise um die Sonne …

… während etlicher, längst vergangener Jahre redete und las er so lange über Amerika, bis er todunglücklich wurde, und als er sich seinem sechzigsten Lebensjahre näherte, machte er sich schließlich auf den Weg, um in der neuen Welt für kurze Frist ein Heim und dann ein Grab zu finden.

Schrieb James Hogg über seinen Vetter James Laidlaw.

Hogg, der Ärmste, hat fast sein ganzes Leben lang haarsträubende Lügen verbreitet …

Schrieb James Laidlaw über seinen Vetter James Hogg, einen schottischen Dichter und Romancier zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts.

Er war ein bannig [sehr] gescheiter Mann, trotz all dem Unsinn, den er verzapft hat …

Sagte Tibbie Shiel, ein Schankwirt, der auch auf dem Kirchhof von Ettrick begraben liegt, über James Hogg.

James Hogg und James Laidlaw waren Vettern ersten Grades. Beide wurden im Ettrick Valley geboren und wuchsen auch dort auf, an einem Ort, der für Männer ihres Schlages keinerlei Verwendung hatte – für Männer nämlich, die sich nicht in die Anonymität eines unauffälligen Lebens fügen wollen.

Wenn solch ein Mann berühmt wird, ist das natürlich etwas anderes. Als Lebender wird er davongejagt, als Toter ist er daheim wieder willkommen. Und ein oder zwei Generationen später ist er noch etwas anderes.

Hogg gelang die Flucht nach Edinburgh mit Hilfe der unbequemen Rolle des naiven Spaßvogels, des genialen Bauerntölpels, und dann gelang ihm, als Autor der Geständnisse eines gerechtfertigten Sünders, die Flucht in bleibenden Ruhm. Laidlaw, der zwar nicht mit den Gaben seines Vetters gesegnet war, aber offenbar auch mit dessen Hang zur Selbstinszenierung und dessen Drang zu anderen Bühnen als der Schenke von Tabbie Shiel, machte von sich reden, weil er die fügsameren Mitglieder seiner Familie dazu verdonnerte, ihn nach Amerika – genauer, nach Kanada – zu begleiten, als er bereits alt genug war, wie Hogg andeutet, um mit einem Fuß im Grabe zu stehen.

Jede Form von Selbstinszenierung war in meiner Familie verpönt. Obwohl, wenn ich jetzt darüber nachdenke, niemand dieses Wort dafür benutzte. Sie sprachen davon, Aufmerksamkeit zu erregen. Die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken. Das Gegenteil davon war nicht unbedingt Bescheidenheit, sondern eine mühsame Wahrung der Würde und der Beherrschung, eine Art von Verweigerung. Die Verweigerung des Bedürfnisses, das eigene Leben in Anekdoten zu verwandeln, sei es für sich selbst oder für andere. Und wenn ich die Menschen aus meiner Familie betrachte, von denen ich weiß, so will mir scheinen, dass durchaus einige von uns dieses Bedürfnis in starkem und unwiderstehlichem Maße besitzen – was wiederum die Übrigen veranlasst, vor Verlegenheit und bösen Vorahnungen zusammenzuzucken. Darum musste die Warnung oder das Verbot so oft ausgesprochen werden.

 

Zu der Zeit, als seine Enkelsöhne – James Hogg und James Laidlaw – das Mannesalter erreicht hatten, war die Welt des Will O’Phaup bereits nahezu verschwunden. Es gab ein historisches Bewusstsein dieser jüngsten Vergangenheit, sogar ihre in Ehren haltende Auswertung, was nur möglich ist, wenn die Menschen sich ihr deutlich fern fühlen. James Hogg hatte offenkundig dieses Gefühl, auch wenn er ganz und gar ein Mann von Ettrick war. Hauptsächlich seinen Schriften habe ich das zu verdanken, was ich über Will O’Phaup weiß. Hogg war sowohl ein Angehöriger dieser Welt als auch ein Außenstehender, der die Geschichten seiner Landsleute mit Fleiß und – so hoffte er – mit Gewinn aufzeichnete und gestaltete. Und er hatte eine vorzügliche Quelle in seiner Mutter – Will O’Phaups ältester Tochter Margaret Laidlaw, die in Far-Hope aufgewachsen war. Hogg wird das Material zurechtgestutzt und ausgeschmückt haben, mit haarsträubenden Lügen von der Sorte, auf die man sich bei einem Schriftsteller verlassen kann.

Walter Scott war ebenfalls ein Außenstehender, ein Edinburgher Rechtsanwalt, der nachmals einen hohen Posten in der Grafschaft bekleidete, in der seine Familie von alters her zu Hause war. Auch er verstand, wie es Außenstehende manchmal besser tun, die Bedeutung dessen, das im Begriff stand zu verschwinden. Als er Sheriff – also Bezirksrichter – von Selkirkshire wurde, begann er, sich auf dem Lande umzutun und alte Lieder und Balladen zu sammeln, die nie aufgezeichnet worden waren. Dann ließ er sie in The Minstrelsy of the Scottish Border abdrucken. Margaret Laidlaw Hogg war in ihrer Gegend berühmt für die Vielzahl der Gedichte, die sie im Kopf trug. Und Hogg – mit der Nachwelt im Blick, doch auch auf unmittelbaren Vorteil bedacht – sorgte dafür, dass Scott seine Mutter aufsuchte.

Sie sagte ihm etliche Gedichte auswendig her, darunter auch die neue »Ballade von Johnny Armstrong«, ihr und ihrem Bruder unlängst erzählt »vom alten Andrew Moore, der sie von Bebe Mettlin [Maitland] hat, der Haushälterin vom Obersten Gutsherrn von Tushielaw«.

(Zufällig war eben dieser Andrew Moore auch der Diener von Boston, der berichtet hatte, wie Boston »den bösen Geist bannte«, der in einem von Hoggs Gedichten umgeht. Was ein neues Licht auf den Pfarrer wirft.)

Margaret Hogg regte sich furchtbar auf, als ihr 1802 das Buch von Scott mit ihren Beiträgen darin vorgelegt wurde.

»Sie wurden zum Singen gemacht und nicht zum Drucken«, soll sie gesagt haben. »Und nun werden sie nimmermehr gesungen werden.«

Des Weiteren beschwerte sie sich, sie seien »weder richtig aufgezeichnet noch richtig geschrieben«, obwohl dieses Urteil merkwürdig anmutet aus dem Munde einer, die immer – von ihr selbst oder auch von Hogg – als einfache alte Bauersfrau mit nur geringer Schulbildung geschildert wurde.

Wahrscheinlich war sie zwar einfach, aber auch schlau. Sie hatte gewusst, was sie tat, aber sie konnte nicht umhin zu bedauern, was sie getan hatte.

Und nun werden sie nimmermehr gesungen werden.

Sie mag es auch genossen haben, zu zeigen, dass es mehr brauchte als ein gedrucktes Buch und den Sheriff von Selkirk, um ihr zu imponieren. So sind die Schotten, glaube ich. Meine Familie jedenfalls war so.

 

Fünfzig Jahre nachdem Will O’Phaup am Allerseelenabend seine Kinder an sich drückte und um Schutz betete, trifft sich Hogg mit einigen seiner Vettern im selben hoch gelegenen Haus in Phaup. Inzwischen wird das Haus als Nachtquartier von jedem unverheirateten Schäfer benutzt, der die auf den Bergen weidenden Schafe hüten muss, und die anderen sind an jenem Abend nicht anwesend, um sich zu betrinken und Geschichten zu erzählen, sondern um Essays zu lesen! Diese Essays beschreibt Hogg als flammend und leidenschaftlich, und aus diesen sowie aus späteren seiner Worte gewinnt man den Eindruck, dass diese jungen Männer tief im Ettrick Valley vom Zeitalter der Aufklärung gehört hatten, obwohl sie es wahrscheinlich nicht so nannten, auch von den Ideen eines Voltaire und Locke und David Hume, ihres schottischen Landsmanns, der ebenfalls ein Tiefländer war. Hume war in Ninewells aufgewachsen, ungefähr fünfzig Meilen von Chirnside entfernt, und nach Ninewells zog er sich auch zurück, als er mit achtzehn einen Zusammenbruch erlitt – vielleicht vorübergehend von den Ausmaßen der Untersuchungen, die er vor sich sah, überwältigt. Er war noch am Leben, als diese Jungen geboren wurden.

Ich kann mich natürlich irren. Was Hogg Essays nennt, können auch Erzählungen gewesen sein. Geschichten von den Presbyterbündlern, die von rot berockten Dragonern bei ihren Gottesdiensten unter freiem Himmel aufgespürt wurden, von Hexen und wandelnden Untoten. Das waren junge Burschen, die sich in allen möglichen Genres versuchten, ob Prosa oder Poesie. Die Schulen von John Knox hatten ihr Werk getan, und in allen Gesellschaftsschichten brach eine literarische Epidemie aus, ein poetisches Fieber. Als Hogg am Tiefpunkt angelangt war, als Schäfer im einsamen Bergland von Nithsdale arbeitete und in einer dürftigen Schutzhütte, einer Baude, hauste, da machten sich die Cunningham-Brüder – der Steinmetzlehrling und Dichter Allan Cunningham und sein Bruder James – auf einen beschwerlichen Fußmarsch, um ihm ihre Bewunderung auszusprechen. (Hogg bekam zuerst einen Schreck, denn er dachte, sie seien gekommen, um ihn wegen einer Frauengeschichte vor die Gemeinde zu zerren.) Die drei ließen den Hund Hector auf die Schafe aufpassen und machten es sich gemütlich, um den ganzen Tag lang über Gedichte zu reden, dann krochen sie in die Baude, um Whisky zu trinken und die ganze Nacht lang über Gedichte zu reden.

Die Runde der Schäfer auf Phaup, von der Hogg behauptet, er habe nicht daran teilgenommen, auch wenn er solch einen Essay in der Tasche trug, wurde im Winter abgehalten. Das Wetter war merkwürdig mild gewesen. In jener Nacht jedoch kam ein Schneesturm auf, der schlimmste seit fünfzig Jahren. Schafe erfroren in ihren Pferchen, Menschen und Pferde blieben auf den Straßen stecken und fanden den Tod, Häuser wurden bis zu den Dächern eingeschneit. Der Schneesturm hielt drei oder vier Tage lang an, tosend und verheerend, und als er vorbei war und die jungen Schäfer lebend ins Tal zurückkehrten, waren ihre Familien erleichtert, aber keineswegs mit ihnen zufrieden.

Hoggs Mutter sagte ihm ins Gesicht, das Unwetter sei eine Gottesstrafe gewesen, über die ganze Gegend verhängt für jenes Teufelswerk oben auf Phaup in jener Nacht, für all das, was da gelesen und gesprochen worden war. Und zweifellos dachten viele Eltern ganz genauso.

Einige Jahre später verfasste Hogg eine schöne Beschreibung von diesem Schneesturm, die im Blackwoods Magazine abgedruckt wurde. Diese Zeitschrift gehörte zur Lieblingslektüre der kleinen Brontës, im Pfarrhaus von Haworth, und als jede der Schwestern sich einen Helden für ihre Rollenspiele aussuchte, da fiel Emilys Wahl auf den Schäfer von Ettrick, James Hogg. (Charlotte erkor den Herzog von Wellington.) Sturmhöhe, Emilys großer Roman, beginnt mit der Beschreibung eines schrecklichen Schneesturms. Ich habe mich oft gefragt, ob es da eine Verbindung gab.

 

Ich glaube nicht, dass James Laidlaw zu der Runde jener Nacht auf Phaup gehörte. In seinen Briefen findet sich keine Spur eines skeptischen oder nachdenklichen oder poetischen Geistes. Allerdings schrieb er die Briefe, die ich von ihm gelesen habe, als alter Mann. Menschen wandeln sich.

Jedenfalls ist er ein Witzbold, als er uns zum ersten Mal geschildert wird, nämlich von Hogg, in der Gastwirtschaft von Tibbie Shiel (die es immer noch gibt, eine gute Stunde Fußmarsch durch die Berge von Phaup entfernt, so wie es Phaup immer noch gibt, inzwischen eine Berghütte am Southern Uplands Way, einem Wanderweg). Er reißt Possen, die man, wenn man so will, gotteslästerlich finden kann. Gotteslästerlich, gewagt und komisch. Er liegt auf den Knien und bringt Fürbitten für mehrere der Anwesenden dar. Er betet um Vergebung und nennt die ungesühnten Sünden, leitet jede ein mit einem und falls es wahr ist …

Und falls es wahr ist, dass das vor vierzehn Tagen der Frau von – geborene Kind mächtig viel Ähnlichkeit mit – hat, so mögest du, o Herr, dich aller Beteiligten erbarmen …

Und falls es wahr ist, dass – – beim letzten Schafmarkt von St. Boswell den – – um zwanzig Stück Lammsilber betrogen hat, dann beten wir zu dir, o Herr, trotz solchen Teufelswerks …

Einige der Genannten ließen sich nicht zurückhalten, und seine Freunde mussten James hinauszerren, bevor er zu Schaden kam.

Zu dieser Zeit war er wahrscheinlich schon Witwer, ein Bursche auf freier Wildbahn, zu arm, als dass eine passende Frau ihn geheiratet hätte. Seine Frau hatte ihm eine Tochter und fünf Söhne geboren und war dann bei der Geburt des siebenten Kindes gestorben. Mary, Robert, James, Andrew, William, Walter.

In einem Brief an eine Auswanderungsgesellschaft, den er um die Zeit von Waterloo schreibt, schildert er sich als vorzüglichen Kandidaten, da ihn fünf kräftige Söhne in die Neue Welt begleiten werden. Ob ihm Hilfe bei der Auswanderung gewährt wurde, weiß ich nicht. Wahrscheinlich nicht, denn als Nächstes hören wir, dass er Schwierigkeiten hat, das Geld für die Überfahrt aufzubringen. Den Napoleonischen Kriegen ist eine Depression gefolgt, und der Preis von Schafen ist gefallen. Auch rühmt er sich nicht mehr der fünf Söhne. Robert, der älteste, ist in die Highlands davongezogen. James – James junior – ist ganz allein nach Amerika gegangen, was Kanada mit einschließt, und wie es scheint, hat er nichts von sich hören lassen, um mitzuteilen, wo er ist und was er macht. (Er ist in Nova Scotia und arbeitet als Lehrer in einem Ort namens Economy, obwohl er dafür keine Qualifikationen mitbringt, nur das, was er sich im Dorfschulhaus von Ettrick angeeignet hat, und wahrscheinlich einen kräftigen rechten Arm.)

Und William, der zweitjüngste, ein Junge noch unter zwanzig, der mein Ururgroßvater werden wird – auch er macht sich davon. Wie wir später erfahren, hat er sich in den Highlands niedergelassen, als Gutsverwalter auf einer der neuen Schaffarmen, entstanden durch die Verjagung der Kleinbauern von ihrem angestammten Pachtland. Und so viel Verachtung bringt er seinem Geburtsort entgegen, dass er – in einem Brief an das Mädchen, das er später heiratet – schreibt, es sei für ihn völlig undenkbar, je wieder im Ettrick Valley zu leben.

Die Armut und die Unwissenheit haben es ihm offenbar verleidet. Die Armut, die er auf Starrsinn zurückführt, und die Unwissenheit, der er vorwirft, nicht einmal von sich zu wissen. Er ist ein moderner Mensch.

Die Aussicht vom Burgfelsen

Als Andrew zum ersten Mal nach Edinburgh kam, war er zehn Jahre alt. Mit seinem Vater und noch einigen anderen Männern stieg er eine glitschige, dunkle Straße hoch. Es regnete, der Rauchgeruch der Stadt lag in der Luft, und es gab Türen, deren oberer Flügel offen stand, so dass er in die von Kaminfeuern erhellten Wirtshäuser hineinspähen konnte, in die sie hoffentlich bald einkehren würden, denn er war nass bis auf die Haut. Sie taten es nicht, sie hatten ein anderes Ziel. Außerdem waren sie schon am frühen Nachmittag in einer dieser Schankstuben gewesen, aber das war nicht mehr als eine Nische, ein Loch in der Wand, mit einem Brett, auf dem Flaschen und Gläser hingestellt und Münzen hingelegt wurden. Er war fortwährend aus diesem Verschlag hinausgedrängt worden, auf die Straße und in die Pfütze, in die sich das Wasser aus der Traufe am Vordach ergoss. Um sich wieder ins Trockene zu bringen, war er unten zwischen den langen Umhängen und Schaffellmänteln hineingekrochen und hatte sich zwischen die trinkenden Männer gezwängt, unter ihren Armen hindurch.

Er war überrascht, wie viele Leute sein Vater in der Stadt Edinburgh zu kennen schien. Man sollte meinen, die Leute in der Schankstube seien ihm unbekannt, doch offenbar nicht. Inmitten der streitenden und fremd klingenden Stimmen war die Stimme seines Vaters die lauteste. Amerika, sagte er und schlug mit der Hand auf das Brett, damit ihm zugehört wurde, genau wie zu Hause. Andrew hatte dieses Wort von ihm in eben dieser Betonung gehört, lange bevor er wusste, dass damit ein Land jenseits des Ozeans gemeint war. Es wurde ausgesprochen wie eine Herausforderung und eine unwiderlegbare Wahrheit, manchmal allerdings, wenn sein Vater nicht da war, auch wie ein Schimpfwort oder ein Witz. So konnte es sein, dass seine älteren Brüder einander fragten: »Willst du nach Amerika?«, wenn einer von ihnen seinen Überwurf anlegte, um draußen die Schafe in den Pferch zu treiben. Oder: »Warum gehst du nicht nach Amerika?«, wenn sie in Streit geraten waren und der eine den anderen als Dummkopf hinstellen wollte.

Die Töne in der Stimme seines Vaters, in der Rede, die diesem Wort folgte, waren so vertraut und Andrews Augen so trüb vom Rauch, dass er unversehens im Stehen eingeschlafen war. Er wurde wieder wach, als mehrere Männer, darunter auch sein Vater, aus der Stube hinausdrängten. Einer von ihnen fragte: »Ist das hier dein Junge, oder etwa ein Schlingel, der uns in die Taschen greifen will?«, und sein Vater lachte und nahm Andrew bei der Hand, und sie begannen ihren Aufstieg. Ein Mann geriet ins Stolpern, und ein anderer Mann stieß mit ihm zusammen und fluchte. Zwei Frauen schlugen voll Verachtung mit ihren Körben nach dem Trupp und sagten etwas in ihrer sonderbaren Redeweise, aus der Andrew nur die Wörter »ehrbare Leute« und »öffentliche Gehwege« heraushörte.

Dann bog sein Vater mit den Freunden in eine wesentlich breitere Straße, die eigentlich ein Platz war, gepflastert mit großen Steinquadern. Der Vater wandte sich plötzlich um und sprach auf Andrew ein.

»Weißt du, wo du bist, Junge? Du bist auf dem Burghof, und das ist die Burg von Edinburgh, die seit zehntausend Jahren steht und noch weitere zehntausend stehen wird. Grauenvolle Taten wurden hier begangen. Diese Steine triefen von Blut. Weißt du das?« Er hob den Kopf, damit alle ihm lauschten.

»König Jamie nämlich, der hat die jungen Douglas-Brüder eingeladen, mit ihm zu Abend zu speisen, und sie haben kaum an der Tafel Platz genommen, da sagt er, ach, die brauchen nichts mehr zu essen, bringt sie raus in den Hof und schlagt ihnen den Kopf ab. Und so geschah’s. Hier im Hof, wo wir stehen.

Aber dieser König Jamie starb am Aussatz«, fuhr er fort, erst seufzend, dann aufstöhnend, damit alle stumm dieses Schicksals gedachten.

Dann schüttelte er den Kopf.

»Ach was, nein, nicht der. Das war König Robert Bruce, der starb am Aussatz. Er starb als König, aber am Aussatz.«

Andrew sah nichts weiter als gewaltige Mauern, vergitterte Tore und einen auf und ab marschierenden Soldaten im englischen roten Rock. Sein Vater ließ ihm kaum Zeit, sondern stieß ihn voran, durch einen Torbogen, mit den Worten: »Zieht die Köpfe ein, hört ihr, die waren damals recht kurz geraten. So klein wie der Napoleon. Aber in kleinen Männern steckt viel Kampfgeist.«

Nun stiegen sie unregelmäßige Stufen empor, manche so hoch wie Andrews Knie – er musste hin und wieder krabbeln – in einem, soweit er erkennen konnte, Turm ohne Dach. Sein Vater rief: »Seid ihr alle noch dabei, seid ihr alle wacker am Klettern?«, und von unten antworteten vereinzelte Stimmen. Andrew hatte den Eindruck, dass nicht mehr so viele folgten wie noch auf der Straße.

Sie stiegen weit hinauf in der Wendeltreppe und kamen schließlich hinaus auf einen kahlen Felsen, ein Plateau, von dem das Land steil abfiel. Der Regen hatte vorübergehend aufgehört.

»Ah«, sagte Andrews Vater. »Und wo sind sie jetzt alle, die uns auf die Hacken getreten sind, um herzukommen?«

Einer der Männer erreichte gerade die oberste Stufe und sagte: »Zwei oder drei sind weg, um einen Blick auf Meg zu werfen.«

»Kriegsmaschinen«, sagte Andrews Vater. »Die haben nur Augen für Kriegsmaschinen. Sollen bloß aufpassen, dass sie sich nicht damit in die Luft jagen.«

»Haben wohl eher nicht den Mumm für die Treppen«, sagte ein anderer Mann keuchend. Und der erste Mann sagte fröhlich: »Angst, bis hier hoch zu steigen, Angst, sie stürzen hinunter.«

Ein dritter Mann – und mehr wurden es nicht – kam über das Plateau getorkelt, als hätte er genau das vor.

»Wo ist er denn nun?«, brüllte er. »Sind wir oben auf Artus’ Thron?«

»Seid ihr nicht«, sagte Andrews Vater. »Schaut euch um.«

Die Sonne war jetzt hervorgekommen, schien auf den Steinhaufen aus Häusern und Straßen unter ihnen und auf die Kirchen, deren Türme nicht bis in diese Höhe reichten, und auf kleine Bäume und Felder, dann auf eine breite, silbrige Wasserfläche. Und dahinter erstreckte sich blassgrünes und graublaues Land, teils im Sonnenlicht, teils im Schatten, ein Land so zart wie Nebel, der in den Himmel gesogen wurde.

»Hab ich’s euch nicht gesagt?«, verkündete Andrews Vater. »Amerika. Allerdings nur ein kleines bisschen davon, nur die Küste. Und da drüben sitzt jeder Mann inmitten seiner eigenen Ländereien, und sogar die Bettler fahren in Kutschen umher.«

»Also das Meer sieht gar nicht so breit aus, wie ich dachte«, sagte der Mann, der inzwischen nicht mehr torkelte. »Es sieht nicht so aus, als würde man Wochen brauchen, um es zu überqueren.«

»Das ist die Wirkung der Höhe, auf der wir sind«, sagte der Mann, der neben Andrews Vater stand. »Die Höhe verringert dessen Breite.«

»Das ist ein glücklicher Tag für die Aussicht«, sagte Andrews Vater. »Tag um Tag kann man hier hinaufsteigen und sieht nichts als Nebel.«

Er wandte sich um und sprach zu Andrew.

»So, mein Junge, jetzt hast du nach Amerika hinübergeschaut«, sagte er. »Gebe Gott, dass du es eines Tages von Nahem siehst, mit eigenen Augen.«

 

Andrew hat seitdem noch einmal die Burg besucht, mit Jungen aus Ettrick, die alle die große Kanone sehen wollten, Mons Meg. Aber nichts schien mehr an derselben Stelle zu sein, und er konnte den Weg nicht finden, den sie genommen hatten, um auf den Felsen zu steigen. Er sah mehrere Durchgänge, die es hätten sein können, aber sie waren alle mit Brettern vernagelt, und er versuchte erst gar nicht hindurchzuspähen – er hatte kein Verlangen danach, den anderen zu sagen, wonach er suchte. Sogar mit seinen zehn Jahren hatte er gewusst, dass die Männer bei seinem Vater betrunken waren. Falls er nicht verstand, dass sein Vater auch betrunken war – ob seines sicheren Tritts, seiner Zielstrebigkeit und seines Kommandotons, so verstand er doch, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Er wusste, das war nicht Amerika, was er da sah, obwohl es einige Jahre dauerte, bis er so weit mit Landkarten vertraut war, um zu wissen, das, was er gesehen hatte, war die Grafschaft Fife.

Trotzdem wusste er nicht, ob nun die Männer aus der Schankstube sich über seinen Vater lustig gemacht hatten, oder ob nicht vielmehr sein Vater ihnen einen seiner Streiche gespielt hatte.

 

Der alte James, der Vater. Andrew, Walter. Ihre Schwester Mary. Andrews Frau Agnes und ihrer beider Sohn James, noch keine zwei Jahre alt.

Im Hafen von Leith, am 4. Juni 1818, begeben sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben an Bord eines Schiffes.

Der alte James bringt diese Tatsache einem Schiffsoffizier zur Kenntnis, der die Namensliste durchgeht.

»Zum ersten Mal, mein Herr, in meinem ganzen langen Leben. Wir sind Männer von Ettrick. Das ist ein Teil der Welt, nur von Land umschlossen.«

Der Offizier sagt ein Wort, das ihnen unverständlich ist, auch wenn sie die Bedeutung begreifen. Geht weiter. Er hat ihre Namen durchgestrichen. Sie gehen weiter oder werden weitergeschoben. Mit dem kleinen James auf Marys Hüfte.

»Was ist das denn?«, sagt der alte James beim Anblick der vielen Leute an Deck. »Wo sollen wir schlafen? Wo kommt denn all dieser Pöbel her? Schaut euch doch bloß die Gesichter an, kommen die aus der Gosse?«

»Eher aus dem Hochland«, sagt sein Sohn Walter. Ein Witz, halblaut, damit der Vater ihn nicht hören kann – denn die aus dem Hochland gehören zu denen, die der alte Mann verachtet.

»Viel zu viele Menschen«, fährt sein Vater fort. »Das Schiff wird sinken.«

»Nein«, sagt Walter jetzt laut. »Schiffe sinken nicht oft wegen zu vieler Menschen. Deshalb stand der Bursche da, um die Menschen zu zählen.«

Kaum an Bord eines großen Schiffes, und dieser siebzehn Jahre junge Spund spielt sich als Klugschnack auf, gibt seinem Vater Widerworte. Erschöpfung, Verwunderung und das Gewicht des Mantels, den er trägt, halten den alten James davon ab, ihm eins hinter die Löffel zu geben.

Alle Umstände des Lebens an Bord sind der Familie bereits erklärt worden. Und zwar von dem alten Mann selbst. Er wusste nämlich genau Bescheid über die Verpflegung, die Unterkunft und die Sorte Menschen, die sie auf dem Schiff vorfinden würden. Alles Schotten und alles anständige Leute. Keine Hochländer, keine Iren.

Doch jetzt ruft er aus, das sei ja wie der Bienenschwarm im Kadaver des Löwen.

»Ein übles Pack, ein übles Pack. O, dass wir je unser Vaterland verlassen haben!«

»Wir haben’s noch nicht verlassen«, sagt Andrew. »Wir blicken immer noch auf Leith. Wir täten gut daran, unter Deck zu gehen und uns einen Platz zu suchen.«

Weiteres Lamento. Die Kojen sind schmal, kahle Bretter mit harten Rosshaarsäcken, die pieken.

»Besser als nichts«, sagt Andrew.

»O, dass mir je in den Kopf kam, uns hierher zu bringen, auf diesen schwimmenden Katafalk.«

Will ihm denn keiner das Maul stopfen?, denkt Agnes. Denn so wird er immer weiter salbadern, wie ein Prediger oder ein Tollhäusler, wenn es ihn überkommen hat. Sie vermag das nicht zu ertragen. Sie leidet schlimmere Qualen, als er je kennen wird.

»Lassen wir uns nun hier nieder oder nicht?«, fragt sie.

Einige haben ihre Überwürfe oder Schultertücher aufgehängt, um einen halbwegs abgetrennten Raum für ihre Familie zu schaffen. Sie macht sich daran, ihre Übergewänder abzulegen, um es ihnen gleichzutun.

Das Kind in ihrem Leib schlägt Purzelbäume. Ihr Gesicht glüht wie eine Kohle, ihre Beine pochen, und das geschwollene Fleisch dazwischen – der Mund, den das Kind bald öffnen muss, um hinauszugelangen – brennt wie Feuer und schmerzt wie Messerstiche. Ihre Mutter hätte Abhilfe gewusst, sie hätte gewusst, welche Kräuter für einen lindernden Umschlag zerdrückt werden müssen.

Beim Gedanken an ihre Mutter überkommt sie solche Wehmut, dass sie mit dem Fuß nach jemandem treten möchte.

Andrew faltet seinen Überwurf zusammen, damit sein Vater weich sitzen kann. Der alte Mann lässt sich stöhnend darauf nieder und schlägt die Hände vors Gesicht, so dass seine Rufe hohl klingen.

»Ich will nichts mehr sehen. Ich will nichts mehr hören aus ihren geifernden Mäulern mit den teuflischen Zungen. Ich will nichts mehr schlucken, keinen Bissen Fleisch oder Mehl, bis ich das Gestade von Amerika sehe.«

Umso mehr bleibt für uns übrig, möchte Agnes am liebsten einwerfen.

Warum sagt Andrew seinem Vater nicht die Wahrheit ins Gesicht und erinnert ihn daran, wessen Idee das alles war, wer überall die großen Reden schwang und sich alles zusammenpumpte, um sie genau dahin zu bringen, wo sie jetzt sind? Andrew bringt es nicht fertig, Walter kann nur Witze reißen, und Mary schafft es nicht, in Gegenwart ihres Vaters den Mund aufzumachen.