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Alter schützt vor Liebe nicht, aber Liebe vor dem Altern.
Coco Chanel
Eine kurze Begegnung im Fahrstuhl …
Ein Blick aus sturmgrauen Augen …
Ein Lächeln …
Gedanken, die nur noch um diesen Mann kreisen …
Kann man sich auch in der zweiten Hälfte seines
Lebens unsterblich auf den ersten Blick verlieben?
Dirk, fast fünfzig, geschieden und Vater eines erwachsenen Sohnes, begegnet Jakob und gerät in einen Wirbel, der sein Leben völlig verändert.
Aufgrund homoerotischer Inhalte für Leser/innen unter 18 Jahren nicht geeignet.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Montagmorgen, 6:15 Uhr und die enervierende Tonfolge des Weckers erklang. Dirk schnaubte und zog sich die Decke über den Kopf. Die stetig lauter werdenden Töne ließen ihn schnell aufgeben. Mit einem gemurmelten Fluch setzte er sich an den Bettrand, stemmte sich hoch und stellte den Wecker aus. Müde schlurfte er die paar Schritte ins Badezimmer, fühlte sich dabei mindestens einhundert Jahre alt.
Das heiße Wasser der Dusche belebte ihn, vielleicht war er doch erst achtzig. Ein Blick in den Spiegel: Waren es schon wieder mehr graue Haare auf seinem Kopf? Zum Glück hatte er den dichten Haarwuchs seines Vaters geerbt. Und jetzt mit fast fünfzig musste man wohl mit grauen Haaren rechnen. Dafür war sein Gesicht noch so gut wie faltenfrei …
Dirk presste den letzten Rest Zahnpasta aus der zusammengerollten Tube auf die Bürste und begann seine Zähne zu putzen. Auch die waren alle noch seine eigenen. Nur ein Backenzahn war überkront. Sonst waren sie fast wie neu. Ein Grinsen und aus den wenigen Linien um seine Augen wurde ein feines Netz. Vielleicht sollte er einfach nicht mehr lachen …
Wenn er sich einen Bart wachsen lassen würde, wäre der grau? Lieber gar nicht ausprobieren … der Bart seines Schwagers war schon mit Anfang vierzig grau.
Das Gesicht eingeschäumt und während einer kurzen Einweichphase die Unterwäsche aus dem Schlafzimmer geholt.
Hm, bekam er Hamsterbacken? Irgendwie arbeitete die Schwerkraft jeden Tag ein wenig mehr gegen ihn. Mit dem Rasierer fuhr er die Konturen seines Gesichts nach. Waren seine Wangen vor Kurzem nicht noch straffer gewesen?
Aftershavebalsam, Deo und fertig. Nur noch anziehen. Der Montag und mit ihm die Woche konnten beginnen.
Der Sommer hatte sich in diesem Jahr Zeit gelassen. Nach langen nassen und kalten Phasen war es seit einer Woche jeden Tag wärmer geworden. Es war inzwischen August und der klare, blaue Himmel ließ einen sonnigen, heißen Tag vermuten. Dirk entschied sich für eine dunkle Jeans, ein weißes Hemd mit einer dunkelblauen, diskret gemusterten Krawatte und dem leichten dunkelblauen Jackett.
Während er einen Blick in die Tageszeitung warf, trank er einen Espresso und aß einen Minimuffin, die ihm seine Schwester gestern mitgegeben hatte.
Ein letzter kritischer Blick in den Spiegel neben der Garderobe. Okay, den hätte er vielleicht lieber sein lassen sollen. Spannte das Sakko? Oder bildete er sich das nur ein. Mit einem Seufzen wandt er sich ab und verließ die Wohnung.
Das Verlagshaus Kröger und Böhm, für das Dirk schon seit über 20 Jahren arbeitete, hatte investiert und ein neues Verlagshaus errichtet. Dort sollten zukünftig alle Abteilungen - sowohl kreativ als auch die reine Verwaltung - unter einem Dach vereinigt werden. Die letzten zehn Jahre waren erfolgreich und sie hatten jedes Jahr expandiert, jetzt wollten die Verlagsgründer alles an einem Standort zusammenführen und entstehende Synergieeffekte nutzen. Woraus die auch immer bestehen mochten.
Dirk war mit der Personalabteilung, die er seit zehn Jahren leitete, schon vor einem Monat in die neuen Räume eingezogen. Heute würden die Fotografen ihr unter dem Dach gelegenes Studio beziehen. Neben vielen freiberuflichen Fotografen beschäftigte der Verlag für seine verschiedenen Modemagazine - die zum Teil inzwischen nur noch online erschienen - zwei festangestellte Fotografen, sowie mit Jakob Mayerhoff einen dritten als Creative Director, was immer das auch zu bedeuten hatte. Zumindest verdiente dieser nicht schlecht damit.
Die Verlagerung der Verwaltung führte dazu, dass Dirk nun jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit fuhr, da er mit Bus und Bahn fast doppelt so lange für den Weg brauchte.
Die Sonne spiegelte sich in den vielen Fensterscheiben des modernen Neubaus. Um diese Zeit war der Parkplatz noch fast leer. Die Kreativen zogen heute erst ein und es war fraglich, ob von denen einer schon um 7:30 Uhr mit der Arbeit begann.
Durch die Sicherheitsschleuse, die ihm immer das Gefühl gab, in einer Bank und nicht in einem Verlag zu arbeiten, und die riesige kalte Halle zu den Fahrstühlen. Außer Rita hinter der Scheibe in der Eingangsschleuse war ihm noch kein Mensch begegnet. Mit zurückgelegtem Kopf betrachtete er die Anzeigen der Fahrstühle. Beide waren oben im achten Stock gewesen und machten sich jetzt auf den Weg hinunter zu ihm. Ein wenig plärrende Musik, um die Wartezeit auszufüllen, wäre nicht schlecht, dachte Dirk grinsend. Endlich verkündete ein ‘Ping‘ die Ankunft des Fahrstuhls, die matten Türen beider Kabinen glitten zeitgleich auf und er trat in den rechten und drehte sich um, ehe er auf den Knopf für das sechste Stockwerk drücken wollte.
Bevor sich sein Finger senken konnte, sah er jemanden durch die Halle auf sich zu laufen. Offensichtlich wollte der Mann auch in den Fahrstuhl. Instinktiv betätigte Dirk den Knopf für das erneute Öffnen der Türen und diese, gerade im Begriff sich zu schließen, glitten wieder auf.
Der blonde Mann lächelte und trat neben ihn in die Kabine. Groß und schlank, ganz in Schwarz gekleidet, so viel konnte Dirk erkennen, der den anderen aus den Augenwinkeln betrachtete. Bestimmt einen halben Kopf größer als er selbst! In dem matten Stahl der Türen gab es keine Spiegelung, die ihm mehr verraten hätte.
Die Hand, die den Knopf der achten Etage - oh, ein Kreativer - drückte, war schlank mit langen Fingern und breiten Gelenken. Ausdrucksstark. - Schwachsinn! Innerlich schüttelte Dirk den Kopf.
Eins, zwei, drei …
„Arbeiten Sie in der Personalabteilung?“ Eine tiefe, klangvolle Stimme, die man dem schlanken Mann gar nicht zutraute.
Dirk wandte sich ihm zu und begegnete sturmgrauen Augen. Herbststürme, die über den Himmel zogen, windgepeitschte graue Wolken. Dunkel umrahmte Pupillen. Vielmehr von dem Gesicht nahm er nicht wahr. Nur diese unglaublich schönen Augen. Wie lang die Wimpern wirkten, obwohl sie hell waren …
Ping! Die sechste Etage.
„Äh, ja“, antwortete er verspätet und blieb in der Aufzugtür stehen.
„Ich habe eine Frage bezüglich der Modelverträge. Wer kann mir da weiterhelfen?“ Ein paar blonde Fransen hingen in die Augen, die das schmale Gesicht dominierten.
„Heike Breitenreiter oder Regina Ludwig.“ Die Haare waren lang! Er trug sie in einem lockeren Pferdeschwanz!
„Danke!“ Der Mann schenkte ihm ein Lächeln und Dirk erwiderte es - oder versuchte es, bevor die Türen des Fahrstuhls sich schlossen.
Was für Augen!
Dieser Gedanke verfolgte ihn bis in sein Büro und an seinen Schreibtisch.
Zwei Tage später gab es die offizielle Einweihung des neuen Firmensitzes. Langweilige Reden und ein riesiges Buffet. Die bunte Mischung aus Verwaltung und Kreativen versammelte sich in dem Raum, der fast eine ganze Etage einnahm.
Die ganzen zwei Tage war Dirk der Mann nicht aus dem Kopf gegangen, jetzt beobachtete er ihn quer durch den Raum. Wieder war er ganz in Schwarz gekleidet. Die langen, blonden Haare sahen dick aus und wurden im Nacken mit einem Gummi zusammengefasst.
Was faszinierte ihn an dem Mann? Schon im Studium war ihm klar geworden, dass er nicht nur auf Frauen stand und sich von Zeit zu Zeit auch gerne mit einem Mann vergnügte. Dauerhafte Beziehungen hatte er jedoch nur mit Frauen geführt. Eine von ihnen hatte er sogar geheiratet … Sabine. Fast fünfundzwanzig Jahre waren sie verheiratet gewesen, ehe sie sich vor zwei Jahren trennten. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Vor knapp vier Monaten waren sie geschieden worden. Alles still und reibungslos. Ihr einundzwanzigjähriger Sohn Laurin nahm ihre Trennung mit den Worten: Wie habt ihr das so lange ausgehalten, zur Kenntnis. Seitdem lebte er allein.
„Frau Ludwig meinte, bei den ganz schweren Fragen müsste ich mich an Sie wenden.“
Dirk drehte den Kopf und sah in die Augen, die ihn so beschäftigten. Veränderte sich ihr Grau? So als zögen Sturmwolken windgepeitscht über den Herbsthimmel? Mal heller, mal dunkler und drohender?
„Jakob Mayerhoff“, sagte der Mann mit einem Lächeln, das in dem Sturm ein Wetterleuchten auslöste.
„Dirk Sundermann“, entgegnete er und nahm die schlanke, kühle Hand, die ihm gereicht wurde. „Und ja, ich kann Ihnen bestimmt weiterhelfen.“
„Dann komme ich Sie in den nächsten Tagen einmal besuchen.“
Bevor er antworten konnte, schob sich ein junger Mann neben Jakob Mayerhoff. „Hast du mal einen Moment Zeit?“, fragte er mit drängender Stimme. „Es ist wichtig!“
Entschuldigend sah Jakob Dirk an und hob die Schultern, ehe er sich umdrehte und dem anderen folgte. Der Junge war bestimmt Model. Gertenschlank, die freche modische Frisur, das hübsche Gesicht und die körperbetonte Kleidung. Er bewegte sich geschmeidig wie ein kleines Raubtier. Hatte er ihn nicht auf einem ihrer Titelblätter gesehen?
Doch eigentlich interessierte ihn der Junge nicht. Mit Jakob Mayerhoff war das etwas ganz anderes. Wie würde es aussehen, wenn er das Haargummi löste, wenn die Haare auf seine Schultern fielen? Wie wäre es seine Hände darin zu vergraben? Irritiert schüttele Dirk den Kopf. Wenn Jakob Mayerhoff auf Männer stand, dann doch wohl auf dieses sexy Model und nicht auf einen überreifen, nicht ganz schlanken Kerl, der mit riesen Schritten auf die Fünfzig zuging!
Jakob Mayerhoff ging ihm jedoch nicht aus dem Sinn. Drei Tage später begegneten sie sich wieder am Fahrstuhl. Das Herantreten des Anderen hatte er nicht gehört und schreckte zusammen, als dieser ihn mit einem freundlichen ‚Guten Morgen‘ begrüßte. Um fünfunddreißig Jahre zurückgeworfen kam er sich vor, als sein Herz beim Anblicke des Mannes wie wild in seiner Brust zu schlagen begann. Mit seinem Erschrecken konnte er diese Reaktion nicht begründen. Mit einem fast unfreiwilligen Lächeln erwiderte er die Begrüßung.
„Wenn es in Ihren Terminkalender passt, würde ich gerne heute Vormittag mit meinen Fragen zu Ihnen kommen“, sagte diese unglaublich schöne Stimme. Wie würde sie klingen, wenn sie Kosenamen von sich gab? Erotische Gedanken in Worte fasste?
„Ich habe heute Vormittag keine Termine, kommen Sie, wann Sie wollen“, entgegnete er und spürte angesichts seiner Ausdrucksweise die Hitze in die Wangen steigen. Schnell wandte er sich der Anzeige des Fahrstuhls zu, der gerade in diesem Moment mit dem vertrauten Ton hielt und seine Türen öffnete.
„Dann bin ich so gegen 11:00 Uhr bei Ihnen.“
Dirk drehte sich um und sah genau in Jakobs Augen. Würde ein Sturmtief über sie hinwegziehen, wenn … rigoros verbat er sich diese Gedanken, senkte den Blick. Dieser Mund war auch perfekt! Schmal, aber ausdrucksstark. Die Unterlippe ein klein wenig voller als die Oberlippe.
Erst als der Fahrstuhl hielt, wurde ihm bewusst, dass er nicht geantwortet hatte. Innerlich schlug er sich vor die Stirn. „Ich erwarte Sie dann gegen 11:00 Uhr“, bestätigte er und stieg aus.
In seinem Büro angekommen schloss er die Tür und legte, nachdem er sich gesetzt hatte, den Kopf auf die Schreibtischplatte. Er benahm sich wie ein Idiot!
Seine Gegensprechanlage summte. Dirk hob den Kopf von dem Vorgang, der gerade vor ihm auf dem Tisch lag und betätigte den Knopf. „Ja, Carmen?“
„Herr Mayerhoff. Er sagt, er habe einen Termin mit Ihnen.“ Carmen, der Zerberus vor seiner Tür. Unüberwindliches Bollwerk und treue Seele.
„Ja, schicken Sie ihn herein.“ Nervös fuhr er sich durch die Haare, während er sich von seinem Stuhl erhob, um dem Eintretenden entgegenzugehen. Dämliche Eitelkeit!
Jakob Mayerhoff trat mit einem Lächeln ein und ließ sich von ihm zu dem kleinen Besprechungstisch führen. Sie saßen noch nicht ganz, als Carmen mit einem Tablet hereinkam und Kaffeetassen sowie einen Teller mit Gebäck auf den Tisch stellte. Der strenge Blick, den sie ihm zuwarf, sagte ihm, dass es ihr nicht gefiel, über diesen Termin nicht informiert gewesen zu sein. Gerne bereitete sie alles perfekt vor und nahm es persönlich, wenn ihr dies nicht gelang.
„Kaffee bringe ich gleich!“ Er hörte ihr: Hätten Sie mir rechtzeitig Bescheid gesagt, dann …
„Danke, Carmen.“ Seit zehn Jahren saß sie in seinem Vorzimmer und kümmerte sich um alles. Dirk konnte sich keine bessere Sekretärin - nein, sie war eigentlich mehr eine Assistentin, vorstellen.
Carmen Keller war mit ihren 41 Jahren deutlich jünger als Dirk und doch hatte sie so etwas wie Muttergefühle für ihn entwickelt. Sie kümmerte sich um alles, wenn er sie lassen würde, auch um seine Anzüge oder seine Arzttermine. Dabei war Carmen glücklich verheiratet und Mutter zweier Söhne. Ihr Interesse an ihm war in keiner Weise romantisch oder erotisch. Eine Kollegin von ihm hatte es das Sekretärinnen-Gen genannt, das aus manchen Frauen - bei Männern hatte er es noch nicht erlebt - die perfekte Unterstützerin im Vorzimmer machte.
Dirk setzte sich gegenüber von Jakob auf den Stuhl. Sein Blick fiel auf die schlanken Hände. Makellos und ringlos. Gepflegte Fingernägel.
„Ich habe zwei etwas kompliziertere Fälle mitgebracht.“
Jakob riss ihn aus seiner Betrachtung und seine Augen wanderten höher, sahen in den Sturm, drohten sich darin zu verlieren. Dirk legte seine ausufernden Gedanken an die Kette und konzentrierte sich auf die Problematik, die Jakob Mayerhoff ihm vortrug.
Eineinhalb Stunden redeten sie und Dirk gelang es, seine Gedanken nicht abschweifen zu lassen. Auch wenn er alles wahrnahm, den Mund, die Augen, die Hände und die Haare … Offen mussten sie bis zur Brust, den Brustwarzen hinabreichen. Seit wann mochte er Männer mit langen Haaren? Doch der Gedanke an die Spitzen, die hinunterreichten bis zu kleinen harten Nippeln, reichte, um ihn unruhig werden zu lassen.
„Ich habe Ihre Geduld lange genug strapaziert“, sagte Jakob und riss ihn damit wieder aus dem verbotenen Terrain. „Danke für Ihre Zeit.“
„Das ist mein Job“, entgegnete Dirk mit einem Lächeln.
Jakob Mayerhoff erhob sich und Dirk folgte ihm. Auf einmal überkam ihn das irrationale Gefühl, den anderen nicht gehen lassen zu dürfen. Er musste eine Möglichkeit finden, mit ihm zu reden. Nicht nur über berufliche Dinge.
Bevor er jedoch seine wirren Gedanken sortiert hatte, war der Andere schon aus dem Raum.
Dirk kam erst spät nach Hause. Die Wohnung war dunkel und leer. Es gab Tage, da fiel ihm das nicht weiter auf und Tage, da lastete dieser Zustand schwer auf seinem Gemüt. Schnell streifte er die Schuhe und das Sakko ab und ging ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein. Von da aus weiter in die Küche, überall die Beleuchtung aktivierend. Im Schrank stand noch eine halb volle Flasche Rotwein und Dirk nahm sie heraus, schenkte etwas in ein bauchiges Glas. Mit diesem in der linken Hand ging er zurück, öffnete mit der rechten seine Krawatte und trank einen Schluck. Schwer ließ er sich auf das Sofa fallen.
Auf dem Bildschirm kochten wildfremde Menschen füreinander. Wann hatte er das letzte Mal für jemanden gekocht? Früher hatte er das gerne getan. Hatte für Sabine und sich ausgefallene Essen zubereitet.
Aß Jakob gerne? Dirk dachte an die große, schlanke Gestalt, bestimmt war er einer von jenen, die immer schlank blieben, egal, was sie aßen. Sofort sah er ihn vor sich, die Augen, der Mund … Wie würde sich dieser Mund anfühlen?
Sein letzter Sex mit einem Mann lag achtundzwanzig Jahre zurück. Achtundzwanzig Jahre? - War er schon so alt? Noch gut erinnerte er sich an Manuel mit den dunkeln Locken und der flinken Zunge. Ein Lächeln hob seine Mundwinkel und sein Blut setzte sich bei der Erinnerung an das verlängerte Wochenende, das sie beide im Bett verbracht hatten, in Gang. Sie waren jung und heiß aufeinander. Manuel war groß und gut trainiert, Schwimmer. Und mit seiner begabten Zunge wusste er einiges anzufangen. - Wusste Jakob das auch?
Entschlossen stand Dirk auf und versuchte in der Bewegung diese Gedanken aus seinem Kopf zu schütteln. An Jakob Mayerhoff sollte er keine sinnlosen Gedanken verschwenden. Der Mann war Fotograf, Chef der Fotosparte bei den Kreativen, gut aussehend. Jedes seiner Models, sexuelle Ausrichtung fast egal, würde ihm zu Füßen liegen.
Mit dem Weinglas in der Hand ging er ins Schlafzimmer, stellte es auf die Kommode, während er sich auszog. Unweigerlich fiel sein Blick auf den großen Spiegel, der eine Seite des Schwebetürenschranks einnahm. Langsam knöpfte er sein Hemd auf und ließ es von den Schultern rutschen. Darunter trug er ein weißes T-Shirt, das deutlich über seinem Bauch spannte. Nicht dass er fett war, verlief an der Stelle seine Körperlinie leicht konvex. Wie schon oft sagte er sich, dass er unbedingt mehr Sport treiben müsste. Seine Formen straffen und diese nicht immer weiter in die Tiefe gehen lassen. Seufzend musste er sich eingestehen, dass dieser Vorsatz den nächsten Morgen nicht überleben würde.
Bevor er den Gürtel öffnete, trank er noch ein Schluck. Knopf und Reißverschluss folgten und mehr stolpernd als elegant stieg er aus der Jeans. Warum waren seine Beine staksig, wenn seine Taille langsam ausuferte? Wohin verschwanden seine Proportionen? Das T-Shirt streifte er ab und ließ es auf den Hügel vor sich fallen.
Was hatte Sabine immer gesagt: Waschbär statt Waschbrett? Na ja, vom Waschbrett zumindest war er Galaxien entfernt. Die Haare auf seiner Brust wurden auch schon langsam grau, schneller als die auf seinem Kopf. Dirk drehte sich um und betrachtete seine Silhouette. Konvex, wie vermutet. Die Luft einziehend verschwand die leichte Wölbung. Keine echte Alternative, dachte er, als er die Luft bald wieder aus seinen Lungen entließ. Vielleicht doch Sport? Ein weiterer Schluck aus dem Weinglas, dann fielen die schwarzen Pants. Kritisch betrachtete er sein Spiegelbild.
Positiv: Er konnte noch seinen Schwanz sehen, wenn er an seinem Körper hinuntersah. Und das gute Stück hatte sich im Laufe der Jahre auch nicht verändert.
Negativ: Er wurde massiv grau und verlor langsam, aber sicher seine Konturen.
Doch wofür sollte er sich anstrengen? Über den Kleiderhaufen steigend trat er seinem Abbild näher. Langweilige braune Augen, sie sahen weder aus wie Schokolade noch wie Kaffee oder Bernstein. Seine Haare waren auch nur braun mit grauen Ansätzen. Nichts Aufregendes, kein George-Clooney-Effekt.
Vorausgesetzt Jakob wäre schwul, was würde er sehen? Und würde das, was er sah, ihn anmachen? - Klare Antwort: Nein!
Dirk drehte sich um und nahm sein Weinglas, trat noch einmal über die durch Kleidung geschaffene Landschaft und legte sich auf sein Bett. Als Sabine ging, hatte er das Bett ausgetauscht, Ehebett raus, dieses 160 cm breite, schlichte Bett hinein. Noch nie hatte er dieses Bett mit jemandem geteilt. Wie wäre es, wenn Jakob - wider aller Logik - hier wäre und sich neben ihn legen und seinen Körper berühren würde. Das Weinglas stellte er auf den Nachttisch und schloss die Augen. Wenn er sich über ihn beugen und mit dem sturmgrauen Blick gefangen nehmen würde? Wenn er ihn küssen würde? Seine Hände über Dirks Körper auf die Reise schicken würde?
Auch wenn er wusste, dass dies ein schales Gefühl in ihm hinterlassen würde, fing er an, sich selbst zu streicheln, und dachte an Jakob, an seine tiefe Stimme, stellte sich ihren Klang vor, wenn er ihm ins Ohr flüstern würde. Unweigerlich fanden Dirks Händen den Weg zwischen seine Beine. Eine fremde – Jakobs Hand – umschloss ihn in seiner Vorstellung, begann ihn sanft zu pumpen. Die langen Haare würden ihn dabei sanft streicheln. Ein starker Arm ihn halten, wenn er die Kontrolle verlor, sich selbst verlor in seinem Orgasmus. Schneller glitt seine Hand auf und ab, die zweite griff zwischen seine Beine, umfasste seine Hoden, knetete sie. Jakobs Mund würde Brandmale auf seine Haut setzen, die seine Zunge löschte. Sanfte Bisse, die sein Blut in Wallung brachten. Er mochte es etwas rauer und ungezügelter. Jakob würde wissen, was ihm gefiel und ihm geben, was er brauchte, wie er es brauchte. Seine eigenen Bewegungen wurden immer unkontrollierter, trieben ihn immer weiter an den Rand, bis er endlich stürzte, seinen Samen heiß auf seinen Körper verteilte. Ein tiefes Stöhnen entkam ihm, während sein Becken hoch zuckte, der Hand entgegen stieß. Fast verzweifelt wünschte er sich in Jakobs Armen wiederzufinden. Nicht alleine auf seinem Bett zu liegen und sich zu schämen für die sinnlosen Gedanken an einen Mann, der für ihn unerreichbar war.
Er war ein Narr! Und warum konnte er seine Fantasien nicht genießen, wenn sie doch niemals wahr werden würden?
Noch benommen kramte er die Tempos aus dem Nachttisch und säuberte sich. Während seiner Zeit mit Sabine hatte er die Wünsche nach raueren Berührungen, leichten Bissen oder saugenden Küssen nicht ausleben können. Für sie war Sex durchgängig kuschelig. Liebe konnte sich nur in sanfter Zärtlichkeit ausdrücken.
Auch Dirk mochte sanfte Zärtlichkeit, auf jede mögliche Art mit dem Partner verbunden sich langsam auf einen gemeinsamen Höhepunkt zuzubewegen. Für ihn jedoch konnte auch der härtere, verlangende Sex ein Zeichen der Liebe sein. Für Sabine nur kalte Triebbefriedigung, die sie nicht von ihrem Mann wollte.
Dirk rollte sich aus dem Bett und schlich ins Bad. Sollte er sich einen Mann für reinen Sex suchen? Vielleicht würden ihn dann die Gedanken an Jakob verlassen.
Unter der Dusche ließ er sich heißes Wasser über den Körper rinnen. Spülte die Reste seines Spermas fort, die er nicht mit den Taschentüchern erwischt hatte.
Doch wo sollte er den finden? Ende des Jahres war er fünfzig! Und da er in den letzten Jahren kein Bedürfnis nach männlichem Sex verspürte, wusste er nicht einmal, wo er welchen bekommen würde. – Oder musste man in seinem Alter, wenn man nicht ein heißer Typ wie Jakob war, dafür bezahlen?
Der Schaum lief von seinem Körper und Dirk stellte die Temperatur kurz auf kalt, spülte sich noch einmal unter dem Ausstoßen von merkwürdig röchelnden Tönen mit eisigem Wasser ab. Hinterher hüllte er sich in seinen flauschigen braunen Bademantel und ging mit seinem Weinglas in der Hand in die Küche.
Hatte er Hunger? Nein! Ein Blick in den fast leeren Kühlschrank bestätigte seine Meinung. Weder Hunger noch Appetit. Nachdem er nachgeschenkt hatte, legte er sich auf das Sofa und zog die schwarze Fleecedecke über sich. Vielleicht ein paar Seiten lesen? Doch er wusste, dass er sich nicht würde konzentrieren können.
Immer noch nicht war er sich sicher, ob er seinen fünfzigsten Geburtstag feiern sollte oder nicht. Es war Ende August und irgendwann sollte er sich entscheiden. Immerhin wäre sein Geburtstag die Silvesterparty in diesem Jahr. Doch ein nicht kleiner Teil von ihm wollte diesen Tag nicht feiern, sondern sich verstecken. Was bitteschön gab es daran zu feiern, wenn man ein halbes Jahrhundert geschafft hatte? Außer dem Bewusstsein, dass weit mehr als die Hälfte seines Lebens vorüber war. Er war im letzten Drittel angekommen. Der Gedanke ließ Dirk schaudern und er zog die Decke eng um sich. Nicht mehr weit bis zum Greis. Auch wenn er sich das nicht vorstellen konnte, sich immer noch jung fühlte, war er alt!
Deprimierende Gedanken, die er überhaupt nicht gebrauchen konnte. Dann war er eben ein alter, unattraktiver Fünfzigjähriger. An seiner Situation würde das nicht viel ändern.
Zu seinem sechzigsten Geburtstag am 12. September lud der Inhaber des immer noch in Familienbesitz befindlichen Verlages seine Angestellten auf die große Dachterrasse ein. Köche in strahlend weißen Jacken standen hinter riesigen, futuristischen Grills und bereiteten Garnelenspieße und noch viele weitere Dirk unbekannte Dinge darauf zu. Es gab eine Cocktailbar und ein Bierzelt. Eine vierköpfige jugendliche Band spielte noch leise im Hintergrund.
Bier oder Cocktail? Und was zum Teufel aß man von diesen Dingen, die er nicht einmal benennen konnte?
„Eine Bratwurst wäre mir lieber als die gegrillten Shrimps.“
Sofort beim Klang der Stimme richteten sich seine Nackenhaare auf. Jakob. Er musste dicht herangetreten sein, denn er konnte den Körper des anderen hinter sich spüren.
Seit er ihm im August zum ersten Mal begegnet war, ging Jakob Mayerhoff ihm nicht mehr aus dem Kopf. Im Gegenteil, mit jeder Fahrstuhlbegegnung bohrte er sich tiefer in sein Hirn und sein Herz. Nicht dass er mit Dirk flirten würde oder ihm anders Hoffnung auf mehr gemacht hätte. Nein, ihn sehen, hören und seinen unverschämt sinnlichen Duft einatmen reichte schon. Je verzweifelter er sich dagegen wehren wollte, desto schlimmer wurde es. So viel selbstbefriedigt wie in den letzten Wochen hatte er sich seit seiner Jugend nicht mehr.
„Ja, wäre mir auch lieber“, erwiderte er und wunderte sich, wie ruhig seine Stimme klang.
„Dann vielleicht erst einmal ein Bier. - Kommen Sie mit?“
Kann ich nein sagen? Nicht mal theoretisch bestand für Dirk diese Möglichkeit. Sollte er ihm auf den knackigen Arsch oder lieber auf die langen Haare starren? Die Haare waren unauffälliger. Waren sie ein Stück länger geworden? Das Verlangen, seine Hände in ihnen zu vergraben, war übermächtig.
In dem auf bayerisch getrimmten Zelt gab es unzählige verschiedene Biersorten. Ohne lange darüber reden zu müssen, einigten sie sich auf helles Weizenbier, welches Jakob über das Gedränge hinweg bestellte. Die schlanken, kühlen Gläser in der Hand verließen sie das Zelt. Obwohl der September sehr warm begonnen hatte, war es an diesem Freitagnachmittag kühl. Die Sonne zeigte sich nur sporadisch und verschwand immer wieder hinter den Wolkenfetzen, die über den Himmel getrieben wurden. Sie suchten sich einen windgeschützten Platz an einer der langen Bierzeltgarnituren.
Einige Momente saßen sie sich schweigend gegenüber, während derer Dirks Blick von den Händen zu dem Mund und weiter zu Jakobs Augen ging, um sofort wieder zurückzukehren. In der neunten Klasse, als er sich zum ersten Mal verliebt hatte, fühlte er sich nicht so unsicher wie in diesem Moment. Wenn er sich nicht gleich zusammenreißen und eine normale Konversation mit Jakob anfangen würde, könnte dies hier echt peinlich werden. Dirk hob wieder den Blick, während er in seinem Kopf versuchte, ein unverbindliches Thema zu finden.
„Ich denke, wir können das steife Sie weglassen“, sagte Jakob, als er ihn ansah und gerade den Mund für irgendeine kluge Bemerkung öffnen wollte. „Wenn Sie nichts dagegen haben“, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu. Wie wäre es diese Mundwinkel zu küssen?
„Da habe ich nichts gegen.“ Immerhin klappte das Antworten noch einigermaßen.
„Jakob.“
„Dirk.“
Ihre Gläser stießen mit einem dumpfen ‘Kling‘ zusammen. – Wo war die gute, alte Tradition geblieben, den anderen anschließend zu küssen?
Mühsam zähmte Dirk jeden weiteren Gedanken und fand sich bald in einer angeregten Diskussion mit Jakob wieder. Sie lasen dieselben Bücher und mochten sogar die gleiche Musik. Gerade waren sie bei dem Thema Filme angekommen, da tauchte das kleine Model wieder neben Jakob auf. Mit einem kurzen Hallo zu Dirk ließ er sich neben Jakob auf die Bank fallen.
Sofort war die Stimmung zwischen ihnen hinüber. In der Art, wie sich Jakobs Hände um das Bierglas klammerten und an dessen verspannten Schultern sah er, dass dieser angespannt auf die Gegenwart des jungen Mannes reagierte.
Was verband die beiden?
***
Ausgerechnet jetzt tauchte Philipp auf! Jakob musste sich zurückhalten, ihm nicht sofort die Meinung zu sagen. Der Junge war wirklich hartnäckig! Seit Wochen lief er ihm hinterher, überzeugt, in Jakob verliebt zu sein, und der festen Meinung, dieser müsse sich auch in ihn verlieben. Immerhin war er jung und unverschämt gut aussehend.
Das Problem war nur, dass Jakob nicht auf kleine Jungs stand! Er mochte den Mann, der ihm jetzt gegenübersaß, bei dem er sich noch immer nicht hundertprozentig sicher war, ob er schwul oder zumindest bi war.
Schon bei ihrer ersten Begegnung waren ihm die dunkelbraunen Augen aufgefallen. Ihr sanfter Blick, der sich aber auch verdunkeln konnte, wie jetzt, wo er auf Philipp ruhte. Und die Lippen! Ihr voller Schwung beflügelte seine Fantasie, ebenso wie die breiten Schultern und der knackige Hintern.
Ob Dirk die Haare, die garantiert auf seiner Brust wuchsen, stehen ließ oder ob er sie abrasierte? Wenn er seinen Körper auch fast haarlos hielt, mochte er es hingegen bei seinem Partner durch dichtes Brusthaar zu wühlen. Bei Dirk konnte er nur raten, da der andere immer hochgeschlossene Hemden und Krawatten trug.
Normalerweise waren ihm die Krawattenträger der Verwaltung viel zu steif und langweilig. Vielleicht auch, weil sie immer diejenigen waren, die das Geld verwalteten und nein sagten, wenn ihnen Ideen zu gewagt erschienen, weil ihre Risikoabwägung gegen dieses Projekt sprach.
Dirk Sundermann jedoch wirkte nicht steif. Jakob war sich nur nicht sicher, ob die Nervosität, die Dirk in seiner Gegenwart überfiel, tatsächlich mit einem Interesse an seiner Person zusammenhing. Zumindest war er sich bis heute nicht sicher gewesen, jetzt sah das Ganze schon anders aus. Ihr Gespräch gerade, die entdeckten Gemeinsamkeiten, der Augenkontakt. Es sprach eigentlich alles dafür, dass Dirk an ihm genauso interessiert war, wie er an Dirk. Gern würde er sich weiter mit ihm unterhalten, doch der Fluss ihres Gespräches wurde von Philipp unterbrochen.
Unbedingt musste er mit Philipp klären, dass es nichts zwischen ihnen beiden geben würde. Der Junge klebte schon fast wieder an ihm. Doch jetzt und hier vor Dirk konnte und wollte er diese Diskussion nicht führen.
Zum Glück waren die beiden Gläser vor ihnen leer und Jakob schwang die langen Beine über die Bank, sah Dirk tief in die Augen und hoffte, dass dieser die Botschaft darin lesen konnte: Geh nicht weg, du bist derjenige, für den ich mich interessiere.
„Ich hole uns noch etwas zu trinken“, sagte er laut und Dirk nickte nur. Philipp fragte er erst gar nicht. Hoffentlich würde dieser ihm folgen und somit die Möglichkeit geben, ihm die Meinung zu sagen.
Eigentlich war er selbst schuld an Philipps Verhalten. Immerhin hatte er den Jungen damals ausgesucht und protegiert, damit er den Auftrag bekam. Nicht weil er ihn begehrte, sondern weil Philipp genau das Gesicht war, das er für die Kampagne suchte. Die großen, grünen Augen, die dicken, störrischen Haare, an denen die Stylisten verzweifelten, die aber einmal in Form gebracht großartig wild aussahen, und seine weichen, trotz seiner zwanzig Jahre sehr jung wirkenden Gesichtszüge. Philipp jedoch glaubte, er habe ihn für die Fotos gewollt, weil er ihn begehrte.
Und obwohl er ihm das mehr als einmal erklärt hatte, verstand der junge Mann dies nicht. – Oder er wollte es nicht verstehen. In dem Bierzelt war es heiß und stickig, die Stimmung war mit dem Lärmpegel ebenfalls gestiegen. Dankbar trat Jakob mit seinen beiden Weizenbiergläsern in der Hand wieder in die kühlere Septemberluft. Nach im Vorbeigehen mit dem freien Fotografen Axel Voges gewechselten Worten kam er wieder an ihren Tisch, an dem nur noch Philipp saß und in sein Handy tippte. War Dirk zur Toilette gegangen? Doch irgendetwas sagte ihm, dass der Andere fort war.
Die beiden Gläser auf den Tisch stellend blieb er stehen und sah Philipp an, bis dieser sich bequemte hochzublicken.
„Wo ist Herr Sundermann?“, fragte er und hörte selbst, wie gereizt er klang.
Philipp zuckte mit den Schultern. „Nachdem er auf die Uhr gesehen hatte, meinte er plötzlich, er müsse los. Ich soll dir sagen, dass es ihm leidtut, dass er nicht länger warten konnte. Irgendein Termin mit …“, Philipp dachte nach und spitzte dabei die Lippen, „… seiner Frau oder Freundin oder so.“ Gleichgültig zuckte er erneut mit den Schultern. „Sorry, ich habe nicht richtig zugehört.“
Frau oder Freundin? Hatte er sich so getäuscht? Oder fischte Dirk an beiden Ufern? War er in einer festen Beziehung und er, Jakob, hatte alle Signale falsch gelesen?
Ohne weiter auf Philipp zu achten, drehte er sich um und ging. Ihm war die Lust auf Feiern vergangen.
„He, Jakob, warte.“ Philipp hetzte hinter ihm her. „Wenn du nichts vorhast …“
„Philipp, ich sage es jetzt zum letzten Mal: Ich will nichts von dir! Ich will nicht meine Zeit mit dir verbringen und ich will nicht mit dir ins Bett!“ Ernst sah Jakob in die leuchtend grünen Augen.
„Gib mir eine Chance! Ich kann sein, was du brauchst!“ Bittend, fast verzweifelt sah Philipp ihn an.
„Nein, Philipp, das kannst du nicht! Wir hatten diese Diskussion schon. Lass mich in Ruhe!“ Energisch wandte Jakob sich ab und ging. Mit dem Fahrstuhl fuhr er hinab, überlegte, ob Dirk vielleicht noch einmal ins Büro gegangen war, verwarf die Idee aber gleich wieder. Er hatte eine Verabredung, also war er sicher direkt gefahren.
Jakob ging über den Parkplatz und weiter. Er hatte Glück gehabt und vor ein paar Wochen einen kleinen Bungalow direkt in der Nähe mieten können. Zu Fuß zur Arbeit zu gelangen, hatte seine Vorteile.
Der Bungalow war einer von vielen, die sich den Stichweg entlangzogen. Weiß, mit wenig Fläche vor der Tür und nicht viel mehr als Garten hinter dem Haus. Kaum öffnete er die Tür, kam ihm Charly entgegen, umrundete leise schnurrend seine Beine. Von seinem kleinen Bruder Sunny war wie üblich nichts zu sehen.
Die beiden Maine Coon Kater waren Alans Hinterlassenschaft, nachdem dieser vor fünfzehn Monaten sang- und klanglos aus seinem Leben verschwunden war. Jakob kam von einem Shooting und Alan war samt seiner Sachen – und einigen von Jakob – fort. Nur Charly und Sunny waren geblieben. Dabei konnte er Katzen eigentlich gar nicht leiden und war gegen die Anschaffung der beiden gewesen.
In die Hocke gehend begrüßte er den riesigen, grau getigerten Kater, der sofort seinen Kopf an ihm rieb. Sunny lag sicher im Wohnzimmer auf dem Sofa und wartete, bis er kam, um den kleineren roten Kater gebührend zu begrüßen.
„Komm, wir sagen dem Kleinen hallo.“ Er streckte sich wieder und ging in das große Wohnzimmer. Gnädig wie jeden Tag erwartete Sunny die ihm zustehende Begrüßung. Augenblicklich sprang Charly neben seinen Bruder und legte sich hin, alle vier Pfoten von sich gestreckt wartete er darauf, den Bauch gekrault zu bekommen.
Während er seine Finger in dem weichen Fell vergrub, dachte er an Dirk. Warum hatte er es auf einmal so eilig gehabt? Hatte er tatsächlich die Verabredung mit seiner Frau oder Freundin vergessen? Dieser Gedanke irritierte ihn. Die Signale, die er zu empfangen glaubte, hatten eine andere Sprache gesprochen – Täuschte er sich? Oder war Dirk vor ihm geflohen?
Ein unwilliger Laut erinnerte ihn an seine Pflicht und mit einem Lächeln kraulte er die beiden Kater weiter.
An dem Tag, als er nach Hause kam und Alan fort war, hatte er einen Moment mit dem Gedanken gespielt, die beiden Kater wegzugeben. Was sollte er mit ihnen? Sie waren gefräßig und anspruchsvoll. Über das Herz hatte er das jedoch nicht gebracht.
Alan brachte die beiden an einem Herbsttag mit, nachdem er sie in einer Mülltonne vor dem Supermarkt gefunden hatte. Zwei winzig haarige Knäuel, die Jakob eher an zwei Tribbles als zwei Katzen erinnerten.
Erst war er strikt dagegen die Tiere zu behalten, doch Alan wollte sie unbedingt, er bettelte und bat, bis Jakob nachgab. Zu der Zeit hätte er Alan nichts abschlagen können. Sie blieben da und verankerten sich in seinem Herz. Die Überlegung, sie fortzugeben, war damals eine rein akademische gewesen, einfach weil er wütend und enttäuscht war. Er wollte alles, was Alan etwas bedeutet hatte, wegwerfen oder sogar zerstören.
Dabei war es von Anfang an er, der sich um Charly und Sunny gekümmert hatte. Damit Futter im Haus und das Katzenklo sauber war. Für solche Alltäglichkeiten hatte Alan keine Zeit.
Kennengelernt hatte sie sich vor gut zehn Jahren. Alan entsprach in jeder Hinsicht dem Typ Mann, den er bevorzugte. Männlich, kräftig, mit dunklen Haaren und Augen. Bei einer Lesung trafen sie sich zum ersten Mal. Während ihn sein Bruder mitgeschleppt hatte, war Alan freiwillig und alleine da. Sie kamen ins Gespräch, gingen zusammen etwas trinken und landeten im Bett. Am nächsten Morgen stellten sie beide fest, dass sie ihr Herz verloren hatten. Singende Geigen, Herzchenballons und das Happy End-Schild im Wagen.
Leider war der Alltag mit Alan nicht so rosig. Während Jakob viel unterwegs war, arbeitete Alan als Journalist, der sein erstes eigenes Buch schreiben wollte, von zu Hause aus. Was manchen Tag so aussah, dass er lange schlief, ausgiebig frühstückte, sich vor den PC setzte und irgendwelche Spiele spielte. Unterbrochen nur durch das regelmäßige Aufstehen, um Kaffee zu holen.
Spät Abends, wenn Jakob nach Hause kam, stand das Frühstücksgeschirr noch auf dem Tisch, die Wäsche lag im Wäschekorb und der Kühlschrank war leer. Das geschah auch, wenn er nach mehreren Tagen wieder nach Hause kam.
Streit war vorprogrammiert. Jakob hielt sich für einen geduldigen Menschen, doch damit konnte und wollte er nicht leben.
Alan sah das naturgemäß völlig anders. Solche Lappalien wie Ordnung und Sauberkeit, gefütterte Katzen und gereinigte Katzenklos, frische Wäsche und gefüllte Kühlschränke waren keine Aufgaben für ein Genie. Jakobs Forderungen schränkten ihn in seiner Kreativität ein.
Dabei ließ Alan gerne außer Acht, dass Jakob selbst kreativ arbeitete und trotzdem alles auf die Reihe bekommen musste. Aber seine Arbeit, seine Kreativität wurde ja durch Vorgaben und Erwartungen eingeschränkt. Immer noch trieben ihm diese Gedankengänge die Wut in die Eingeweide.
Ihre Streitereien wurden dadurch nicht besser. Nicht nur, dass er für alles zuständig war, setzte Alan seine eigene Arbeit ständig herab. Der Kragen platze ihm bei der hingeschmissenen Aussage: Knipsen könnte ja jeder mit einer guten Kamera.
Zu diesem Zeitpunkt hatten sie auch schon verlernt, wie man einen Streit beendet. Waren sie früher immer am Ende einer Auseinandersetzung im Bett gelandet, kam es inzwischen vor, dass er ohne Versöhnung für mehrer Tage zu einem Shooting fuhr. Genauso war es, als er wiederkam und vor leeren Schränken sowie halb verhungerten Katzen stand. Okay, ihre Beziehung war zu Ende. Aber musste man – musste Alan deswegen ohne ein Wort abhauen? Waren fast acht gemeinsame Jahre nicht genug, um dem anderen ein anständiges Gespräch, ein paar klärende Worte zu gönnen? Für Alan nicht! Von diesem Tag an sah er ihn nicht wieder. Irgendwann hörte er, Alan wäre nach Wien oder Zürich gegangen.
Das intensive Miauen von Charly holte ihn zurück in die Gegenwart und Jakob stand auf. „Ja, ich weiß, ihr wartet schon seit Stunden auf euer Fressen.“
Charly lief vor ihm her, während Sunny gemächlich die Nachhut bildete. Ebenso fraßen sie: Charly sprang förmlich auf seinen Napf, während Sunny sich erst gemütlich davor platzierte. Trotzdem braucht sich Charly, nachdem er sein Fressen in Rekordzeit verschlungen hatte, nicht einzubilden, noch etwas von Sunny zu bekommen. Dieser verteidigte sein Fressen zur Not mit brüderlicher Gewalt.
Jakob überließ die beiden Kater ihrem alltäglichen Spiel und ging ins Schlafzimmer. Das breite Bett mit der schwarzen Bettwäsche war eine einladende Spielwiese, doch noch nie als solche genutzt worden. Vor den verspiegelten Schwebetüren des Kleiderschrankes blieb Jakob stehen und sah sich an.
In wenigen Wochen würde er fünfundvierzig Jahre alt werden, zeigte der Spiegel, was er nicht fühlen konnte? Sah er alt aus? War er zu alt für die langen Haare?
Bedächtig zog er das Gummi heraus, entließ die Haare aus ihrem Gefängnis. Sie waren dick und voll. Wenn sie nur einen dünner Zopf aus Spaghetti ähnlichem Gezottel ergäben, dann wären sie schon längst ab, doch sie fühlten sich noch gut an, fielen weich bis zu seiner Brust. Langsam knöpfte er das Hemd auf, ließ es von den Schultern gleiten. Übergewicht war nie sein Problem gewesen, in jungen Jahren war er immer zu dünn und schlaksig gewesen. ‚Du siehst aus wie ein staksiges Fohlen‘, pflegte seine Oma stets kopfschüttelnd zu sagen. Auch jetzt war er noch schlank und rank. Seine Finger öffneten den Gürtel, die Knöpfe und streiften die Jeans von seinen Hüften, die Beine hinab. Lange, gerade Beine, leicht X-förmig statt der üblichen männlichen O-Beine. Bevor er die Pants abstreifte, fuhren seine Hände über seine Brust. Stoppeln, die beseitigt werden mussten! Nicht viele, aber weg mussten sie trotzdem. Er zog auch die Pants und Socken aus, betrachtete sich kritisch im Spiegel.
Veränderungen in den letzten Jahren? Hier und da ein bräunlicher Fleck, von Altersflecken wollte er nicht sprechen. Ab und an musste er sich eincremen … auch wenn er es hasste, spannte sonst seine Haut und gerade im Winter juckte sie seit letztem Jahr auch noch.
Unter seinem kritischen Blick drehte er sich erst nach rechts, dann nach links. Sein Hintern gab der Schwerkraft noch nicht übermäßig nach …
Würde Dirk gefallen, was er sah? Vorausgesetzt, er stand überhaupt auf Männer und nicht exklusiv auf Frauen. Wie stand er zu langen Haaren? Einige Strähnen erreichten keck seine Brustwarzen.
Wie würde Dirk neben ihm aussehen? Der Körper kräftig, kein Sixpack, aber auch nicht dick. Braune, mit leichtem Grau durchzogene Haare auf der Brust und um sein Glied. Dirk hatte leichte O-Beine, kleine Füße und einen runden Hintern. Wie es zwischen seinen Beinen aussah, konnte er nicht sagen, nur raten. Nicht schlecht gebaut, lautete seine Einschätzung.
Wie würden Dirks Küsse schmecken? Wie wäre es, seinen Körper zu erkunden? Seine Haut quadratzentimeterweise mit Händen, Nase, Mund und Zunge zu erobern. Jene Stellen zu finden, bei denen Dirk keuchen, stöhnen oder auch lachen würde.
Und wie würden sich Dirks Hände auf seiner Haut anfühlen? Sie waren kräftig und konnten bestimmt zufassen. Konnten sie auch zärtlich streicheln?
Seit Alan weg war, hatte er einmal einen dreiwöchigen Versuch mit einem Mann unternommen. Sie trafen sich, sie redeten und gingen auch zusammen ins Bett, aber es war in keinem Punkt die Erfüllung. Darin waren sie sich zum Glück einig. Für One-Night-Stands fühlte er sich inzwischen zu alt – nein, zu anspruchsvoll. In seiner wilden Zeit war das okay gewesen. Heute wollte er mehr als nur reinen Sex.
Wieder sah er auf sein Spiegelbild. Was er zu bieten hatte, war zumindest nicht das Schlechteste. Mit einem verschwörerischen Zwinkern in Richtung seines Spiegelbilds ging er ins Badezimmer.
Hell und großzügig war der Raum geschnitten. Es gab eine Badewanne, in der auch zwei Männer ausreichend Platz fanden, eine ebenerdige Dusche und zwei Waschtische, auch wenn ihm der tiefergehende Sinn von zwei Becken nebeneinander entging. Die Toilette war separat untergebracht.
Diese Dusche war ein Traum. Das sanfte Prasseln der Regendusche von oben, bei Bedarf zwei extra Düsen von der Seite und ein Brausekopf mit Schlauch. Bevor er unter die Dusche trat, stellte er die Musik an. Sanfte spanische Gitarrenklänge erfüllten den Raum.
Mit geschlossenen Augen ließ er das Wasser über seinen Körper laufen, ehe er ihn einseifte und von überflüssigen Haaren befreite. Während er den letzten Schaum abspülte, überkam ihn in tiefes Sehnen nach jemandem an seiner Seite. Im Alltag und hier unter der Dusche! Einen Mann – Dirk – der ihn begehrte, der mit ihm lachte oder auch weinte. Der Mensch, bei dem er sich fallen lassen konnte und aufgefangen wurde, der ihn hielt, streichelte und liebte.
Wieder stellte er sich vor, Dirk wäre hier und seine Hände würden ihn streicheln, über seinen Bauch fahren, bis sie endlich seinen Schwanz fanden, ihn umfassten und massierten. Er würde all die Dinge in sein Ohr flüstern, die ihn verrückt machten. Die zweite Hand würde über die Rundung seines Hintern streicheln, langsam dazwischen gleiten und in ihn eindringen, ihn in den Wahnsinn treiben, mit dem Spiel aus zu wenig und zu sanft, bis er nur noch flehen konnte, um ihn dann auf die Reise zu schicken …
Leider waren keine Arme da, die ihn hielten, ihm Wärme und Liebe gaben, als er landete. Seufzend wusch er die Reste seiner Lust fort und trat aus der Dusche.
Nach dem Abtrocknen zog er Jogginghose und Shirt über. Es war Zeit, eine Kleinigkeit zu essen.
Während er die feuchten Haare in einem Knoten zusammenfasste, damit sie sein Shirt nicht durchnässten, betrachtete er noch einmal kritisch sein Gesicht. Ging der Ansatz hoch, bekam er Geheimratsecken? So wie sein Vater? Nein, nicht wirklich. Glücklicherweise hatte er die Haare seiner Mutter geerbt. Für seine fast fünfundvierzig Jahre sah er noch gut aus, befand er, bevor er das Badezimmer verließ.
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Alles war ruhig. Passenderweise hieß dieser kleine Stichweg ‚Stille Straße‘, wer immer sich solche Namen ausdachte. Ein nervöses Kichern entkam Philipps Lippen, während er sich in das Gebüsch neben dem Haus drückte. Zum Glück war hier nicht viel los. Von den spießigen Nachbarn mit ihren kläffenden Tölen war nichts zu sehen. Wie konnte man nur in so einer öden Gegend wohnen?
Durch das Grün des Busches schob er sich bis an das Fenster. Von hier konnte er in das große Wohnzimmer sehen, das direkt in die Küche überging. Das große braune Sofa, das den Raum dominierte, sah verknautscht und gemütlich aus. Es war breit und bot genügend Platz für einen guten Fick.
Der rote Kater lag zusammengerollt auf einer Kuscheldecke und schlief. Von dem zweiten Monster war nichts zu sehen, genauso wenig wie von Jakob.
Vielleicht im Schlafzimmer? Doch dort konnte er nicht hin. Das Fenster lag hinter dem hohen Zaun, der den Garten von dem Stichweg trennte. Zu hoch, um unauffällig darüber zu klettern.
Plötzlich sah er Jakob, der in einer locker auf seinen Hüften sitzenden schwarzen Jogginghose und einem engen Longsleeve in der gleichen Farbe eintrat. Hinter ihm mit erhobenem Schwanz das grau getigerte Ungetüm.
Trug Jakob je eine andere Farbe? Bestimmt nicht, er wusste, wie teuflisch geil er in dieser Farbe wirkte. Es passte zu seinen geschmeidigen Bewegungen, wie ein schwarzer Panther.
Jakob ging in die Küche, für einen Moment aus seinem Sichtbereich. Warum lebte ein Mann wie Jakob allein. Es gab doch genügend Männer, die alles dafür geben würden, bei ihm zu sein. Genau wie er selbst! Und er könnte den Fotografen glücklich machen! Ihm alles geben, was er brauchte. – Warum nur wollte Jakob das nicht einsehen? Warum gab er sich mit Typen wie diesem fetten Sundermann ab? Drei Viertel aller Models, männlich und weiblich, standen auf Jakob, seine kühle, stets beherrschte Art und seine Übersicht.
Bei Shootings war er heute nicht mehr sehr oft dabei, aber wenn, dann war es etwas Besonderes. So wie seine Aufnahmen!
Jakob hatte ihn ausgewählt, hatte den dämlichen Axel Voges überstimmt. Warum hatte er das gemacht, wenn er ihn nicht wollte, nicht begehrte?
Jakob kam wieder in seinen Sichtbereich. In den Händen hielt er einen Teller und ein Glas, beides stellte er auf den dunkelbraunen, aus zwei ineinander verschachtelten Quadraten bestehenden Tisch vor der Couch.
Kaum hatte er sich hingesetzt, kam der Kater, landete mit einem Sprung neben ihm und stieg auf seinen Schoß, wo er sich zusammenrollte. Dieses Recht hätte er auch gerne, sich auf den Schoß dieses wunderbaren Mannes zu setzen und sich von ihm streicheln zu lassen!