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Für Dr. Robert Völker ist das Leben klar und unkompliziert. Der Leiter des Rechtsamtes einer mittelgroßen Gemeinde ist verheiratet, hat zwei Kinder und ein eigenes Haus. Sein Leben läuft in den vorgeplanten, geraden Bahnen.
Sicher gibt es ein paar kleine Verschleißerscheinungen in seiner Ehe. Zum Beispiel ist der Sex ist nicht mehr das, was er einmal war. Na ja, eigentlich ist er gar nicht mehr vorhanden, aber ist das nicht normal, wenn man schon seit siebzehn Jahren zusammen ist?
Und es gibt so viele andere Dinge: die Kinder, die Arbeit und …
Roberts Leben ist einfach und, aus seiner Sicht, stinknormal, genau wie er selbst.
Bis Johannes Brügge, von allen nur Jojo genannt, in sein Leben tritt und auf einmal nichts mehr so ist wie es war.
Auf einmal ist sein Leben einfach anders.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind meiner Fantasie entsprungen. Sollten Sie Ähnlichkeiten zu reell existierenden Personen feststellen, sind diese rein zufällig.
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung.
Die Arme vor der Brust verschränkt sah Robert aus dem Fenster der Teeküche hinunter auf die Bushaltestelle. Ungeduldig wartete er auf das Zischen des Kaffeeautomaten, mit dem ihm das neue Gerät verriet, dass der Kaffee fertig sei. Dann könnte er endlich die Tasse nehmen und in sein Zimmer zurückkehren, um sich erneut der Akte auf seinem Schreibtisch zu widmen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es schon 9:02 Uhr war.
Ein Bus hielt, die Türen öffneten sich und ein einzelner Mann, eingehüllt in einen schwarzen Parka, stieg aus. Mit schnellen Schritten näherte er sich dem Rathaus. Selbst von hier oben erkannte er Jojo Brügge, der wieder einmal zu spät zur Arbeit erschien.
Jojo war ca. 170 cm groß und seine strohblond gefärbten Haare standen stachlig wie bei einem Igel in alle Richtungen von seinem Kopf ab. Auf der Nase trug er eine schmale, schwarz umrandete Brille, am linken Nasenflügel einen kleinen, silbernen Ring. Sein linkes Ohr zierten mehrere Creolen, das rechte hingegen nur eine. Beim Reden gestikulierte er mit seinen langen, schmalen Händen, schob in regelmäßigen Abständen seine Brille hoch und fuhr anschließend mit zwei Fingern an dem langen, geraden Nasenrücken herunter. Sämtliche Jeans, die er besaß, sahen so aus, dass Robert sie sofort in eine Altkleider-Sammlung gegeben hätte, ebenso wie die meisten seiner farbigen Shirts und die farblich dazu passenden Turnschuhe.
Wie Jojo den Job als PC-Administrator in der Stadtverwaltung hatte bekommen können, war Robert ein Rätsel.
Sicher waren die Regeln heutzutage nicht mehr so streng und nicht jeder Mann musste in einem Anzug ins Büro kommen, doch bisher war noch kein Mitarbeiter eingestellt worden, bei dem sich jeder, der ihm zum ersten Mal begegnete, fragte, ob er nicht vielleicht ein verirrter Kunde des Jobcenters war.
Wie war der Kerl durch das Einstellungsverfahren gekommen? Elvira Sandmann, die Vorzimmerdame des Personaldezernenten, verriet Robert, dass Jojo am Tage seines Vorstellungsgespräches ein reinweißes T-Shirt mit einem schwarzen Sakko sowie eine dunkle Jeans getragen hatte, dazu schlichte schwarze Turnschuhe. Insgesamt sah er “sehr nett“ aus. Der Leiter des Personalamtes, Herbert Petersen, erzählte ihm bei einem gemeinsamen Mittagessen, dass „der Junge“ so unglaublich hervorragende Zeugnisse hätte, er sei ein wahres Genie an der PC-Tastatur.
Selbst wenn dies wahr sein sollte, fand Robert, könnte er sich seiner Umgebung ein wenig anpassen und ein bisschen schlichter im Dienst erscheinen. Zum Glück gehörte Jojo Brügge nicht zu seinem Amt und war auch nicht für die PC-Betreuung des Rechtsamtes zuständig, das war seit zehn Jahren Bernd Neukirchner.
Es beeindruckte Robert auch wenig, wenn er immer wieder von den Kollegen – oder hauptsächlich von den jungen Kolleginnen – hörte, wie fantastisch und unglaublich Jojo sei. Kein Problem sei zu schwer oder zu einfach, denn er gab den Kollegen und Kolleginnen – im Gegensatz zu einigen anderen PC-Betreuern, insbesondere Bernd Neukirchner – nie das Gefühl, das Problem säße vor dem Computer.
Das einzige, was intensiv kontrovers diskutiert wurde, war die Frage, ob Johannes Brügge, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, schwul war – oder nicht. War sein manchmal sehr eigenwilliges Äußeres (knallrote oder fliederfarbene Shirts mit passenden Turnschuhen zum Beispiel) Ausdruck seiner Homosexualität? Oder einfach nur sein Stil? Seine Gesten weibisch? Oder nur ein bisschen „unmännlich“? Oder nur etwas theatralisch? Trug er zu viel Schmuck? Flirtete er mit den Kolleginnen oder war er zu allen gleich nett und freundlich?
Einig waren sich alle, dass er bisher mit keinem Mann geflirtet und sich nicht zu einem Freund bekannt hatte. Das jedoch tat den Spekulationen und den Gerüchten in den beiden Lagern, die sich zu dieser Frage gebildet hatten, keinen Abbruch. Im Gegenteil, je weniger die Kollegen wussten, umso mehr spekulierten sie.
Gerade die jüngeren Frauen waren dabei der Ansicht, er sei einfach „süß“ oder „cool“ und brauchte sich nicht an verstaubte Konventionen zu halten.
Einige Männer und Frauen vertraten die Meinung, sein Verhalten wäre „tuntig“ und er selber eine verdammte „Schwuchtel“. Ein paar von ihnen gingen so weit, hinter vorgehaltener Hand zu äußern, dass „so ein Subjekt“ nicht in den öffentlichen Dienst gehöre, sondern eingesperrt.
Robert hielt sich aus der Diskussion raus. Aus der Ferne würde er sich der Meinung anschließen, dass Jojo zumindest homosexuelle Tendenzen habe, und näher würde er dem jungen Mann nicht kommen. Johannes Brügge war nicht der Typ Mann, mit dem ihn irgendetwas verband.
Grundsätzlich hielt Dr. Robert Völker sich für tolerant und weltoffen. Er war neununddreißig Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Jungen: Torben, 7 Jahre, und Fabian, 5 Jahre. Sein Leben bestand aus seiner Arbeit, seiner Familie und regelmäßigem Sport, um in Form zu bleiben. Wenn er Zeit hatte, las er gerne Krimis oder Thriller. Sein Liebesleben war seit der Hochzeit unspektakulär normal, das war es aber eigentlich auch schon vorher gewesen. Keine Sex-Exzesse in jungen Jahren, keine One-Night-Stands, keine Experimente. Mit Verena hatte er die dritte Frau in seinem Leben geheiratet und war immer noch glücklich mit dieser Entscheidung.
Darüber, dass ihr Sex in den letzten Jahren faktisch zum Erliegen gekommen war, machte er sich wenig Gedanken, das war in seinen Augen normal. Immerhin waren sie schon seit über siebzehn Jahren ein Paar, standen beide beruflich unter Druck, hatten sehr wenig gemeinsame Zeit und kamen fast nie – na ja, ehrlicherweise nie – dazu, diese auf romantische Art zu verbringen.
Nur, weil er sich nicht mit Menschen beschäftigte, die ihre eigenen Geschlechtsgenossen aufregender fanden als das andere Geschlecht, hatte er nichts gegen sie.
Für ihn selbst war gleichgeschlechtliches Interesse undenkbar. Was konnte an einem männlichen Körper erregend sein? – Also für einen Mann ... Sicher gab es ästhetisch schöne männliche Körper, was jedoch konnte an einem schmalen Burschen wie Jojo für einen anderen Mann – und vielleicht auch für eine Frau – erregend sein? – Für Robert war die Antwort einfach: Nichts.
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Der Winter hatte die Stadt in diesen letzten Januartagen noch fest im Griff. Nach einem fast frühlingshaften Dezember war es jetzt eisigkalt.
Am kommenden Donnerstag sollte Robert das neu gegliederte Bürgeramt der Stadtverwaltung vor den Bürgermeistern und Leitern der Bürgerämter anderer Kommunen in einem Vortrag präsentieren. Kein Problem, es machte ihm nichts aus, vor Menschen zu sprechen. Mit Unterstützung von Bernd Neukirchner hatte er eine PowerPoint-Präsentation auf seinem Laptop vorbereitet. Alle Daten und Eckpunkte für den Vortrag hatte er im Kopf. Alles in allem fühlte er sich gut vorbereitet.
Am Mittwochabend ging er die Präsentation noch ein letztes Mal durch, ergänzte einen Punkt und rief hinterher schnell seine E-Mails ab, bevor er zufrieden den Laptop herunterfuhr.
Donnerstagmorgen musste er noch kurzfristig ins Rathaus, den kleinen Trolley gepackt im Auto, um einige Unterlagen abzuholen, die er für den Bürgermeister Klaus Vogel, der selber nicht teilnehmen konnte, mitnehmen sollte.
Auf seinem Schreibtisch lag eine Notiz, die ihn an eine Anfrage von Herbert Petersen erinnerte. Schnell klappte Robert den Laptop auf, wollte noch eben per E-Mail antworten … doch damit begann der Ärger: Der Laptop verweigerte ihm den Zugriff.
Erst erschien die übliche Maske, nach Eingabe seines Passwortes folgten eine Fehlermeldung und die Bitte, das Passwort erneut einzugeben. Nach drei vergeblichen Versuchen kam die Meldung, dass der Zugriff endgültig verweigert wurde.
Sofort rief Robert Bernd an. Ungeduldig klopfte er mit dem Stift auf den Schreibtisch, während er darauf wartete, dass dieser sich meldete, bis ihm plötzlich einfiel, dass Bernd seit gestern im Urlaub und nicht erreichbar war. Jetzt wurde er etwas unruhig. Die gesamte Präsentation war auf dem Laptop und er benötigte sie in wenigen Stunden. Verzweifelt rief er Frau Kleine, seine Sekretärin, ins Zimmer, die eigentlich alle Probleme für ihn lösen konnte. Bei dem Anblick der Meldung schüttelte sie jedoch mitleidig den Kopf. „Ich rufe für Sie die EDV-Abteilung an. Irgendjemand wird Ihnen sicher weiterhelfen können.“
Eine Viertelstunde später erschien der schlaksige Dirk Junghans, Vertreter von Bernd Neukirchner, in Roberts Büro und versuchte, mithilfe eines weiteren Laptops, das Problem zu beheben. Nach einer halben Stunde, in der Robert drei Tassen Kaffee getrunken hatte und mit den Nerven am Ende war, rief Dirk bei einem Kollegen an, diskutierte mit ihm, tippte auf die Tastatur ein und schüttelte immer wieder den Kopf. Robert hatte das Gefühl, verrückt zu werden.
„Sie haben einen Virus auf dem Laptop, Herr Dr. Völker. Das kann man sicher beheben, doch nicht so schnell.“ Dirk Junghans zuckte mit den Schultern. „Ich müsste den Laptop mitnehmen und dann…“
„Ich brauche die Daten von dem Laptop heute Nachmittag. Genauer gesagt, in viereinhalb Stunden“, unterbrach Robert ihn und sah bedeutungsvoll auf seine Uhr, „und ich habe noch zweieinhalb Stunden Fahrt vor mir… – Lassen Sie sich etwas einfallen! Holen Sie einfach die Daten von diesem verfluchten Laptop und spielen sie auf einen anderen!“ Das konnte doch nicht so schwer sein. Dirk Junghans jedoch schüttelte den Kopf. „So einfach ist das nicht, Herr Dr. Völker. Ich muss erst einmal an die Daten herankommen, bevor ich sie herunterholen kann.“
„Und was soll ich machen? Mein gesamter Vortrag ist auf diesem Laptop!“ Nur schwer konnte Robert sich beherrschen, den Anderen nicht anzuschreien.
„Hm, ich versuche noch einmal, Jojo zu erreichen“, sagte Dirk Junghans unsicher und griff zum Telefon.
Robert tigerte durch sein Zimmer, versuchte sich zu überlegen, was er machen sollte, wenn er nicht an die Präsentation käme. – Das durfte nicht passieren!
„Er ist in einer halben Stunde hier. Vielleicht kann er Ihnen helfen, Jojo hat manchmal ungewöhnliche Ideen.“
Zweiunddreißig endlose Minuten später kam Jojo Brügge endlich. In einem roten Shirt, schwarzen, leicht abgewetzt wirkenden Jeans und rot-schwarzen Turnschuhen. Die blonden Haare standen wild um seinen Kopf. Robert verkniff sich eine Bemerkung. Dirk Junghans erklärte kurz, worum es ging und Jojo setzte sich vor Dirks Laptop, seine Finger flogen über die Tastatur.
„Hm, machbar, dauert aber seine Zeit – und ich brauche meinen Laptop.“ Jojo wandte seinen Blick von Dirk zu Robert. Grasgrüne Augen, sie leuchteten geradezu hinter der Brille, sahen ihn an.
„Ich habe keine Zeit. Eigentlich muss ich schon längst im Auto sitzen“, erklärte Robert, mit schlecht unterdrückter Ungeduld.
„Dann muss ich mitfahren und im Auto versuchen, Ihre Daten wiederzubekommen.“ Jojo stand auf. „Ich hole nur schnell meinen Laptop.“
Perplex sah Robert dem jungen Mann hinterher. Er wollte mitfahren? Gut, wenn er dafür seine Präsentation wiederbekäme.
Zehn Minuten später saßen sie im Auto. Jojo saß auf der Rückbank, seinen Laptop auf den Knien, Roberts neben sich, beide mit einem Kabel verbunden, und tippte auf den Tasten herum. Robert sah in den Rückspiegel, die merkwürdigen grünen Augen sahen konzentriert auf den Bildschirm, während die Finger sich von Zeit zu Zeit blitzschnell über die Tastatur bewegten. Fünfzehn Minuten sagte keiner etwas, nur leises Klicken war von Zeit zu Zeit zu hören. Die Autobahn war zum Glück frei und Robert brauchte sich nicht übermäßig auf das Fahren zu konzentrieren. Wieder einmal sah er in den Rückspiegel und begegnete Jojos Blick. Jojo lächelte ihn an und ohne es zu wollen, lächelte Robert zurück. „Wie sieht es aus, können Sie ihn retten?“, fragte er.
Leises Lachen vom Rücksitz. „Ja, ich denke schon. Es ist ein schöner Virus, direkt per Mail-Anhang zugestellt. Sie müssen gestern etwas geöffnet haben, das ihren Laptop sofort infiziert hat.“
„Ich weiß nicht …“ Robert dachte nach. „Werbung und eine leere Mail von einem entfernten Bekannten“, sagte er nachdenklich. „Die hatte einen Anhang, Fotos sollten darin sein …“
„Und Sie haben den Anhang geöffnet.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Sie sollten sich einen anständigen Virenschutz zulegen.“ Wieder klickten leise die Tasten. „Wer immer ihn kreiert hat, ist ziemlich gut.“
„Sagen sie nicht, meine Präsentation ist verloren, dann können wir gleich wieder umdrehen.“ Wieder warf er einen besorgten Blick in den Rückspiegel, die blonden Stacheln standen noch ungeordneter hoch als gerade, nachdenklich kaute der junge Mann mit strahlend weißen Zähnen an seiner Unterlippe. Zwei Finger schoben die Brille hoch und strichen über den Nasenrücken wieder hinunter. Ein Blick aus den grünen Augen und ein schnelles Lächeln. „Nein, noch nicht. Ich hoffe nur, die Zeit reicht. – Was für eine Präsentation ist das überhaupt, wenn ich fragen darf?“
„Wir haben das Bürgeramt umorganisiert, für mehr Bürger- und Mitarbeiterzufriedenheit – und hatten Erfolg. In messbaren und gefühlten Werten.“ Robert lächelte. „Und wir wollen unsere Erfolge und die dahinter stehende Organisation anderen Kommunen nahebringen“, fuhr er fort und lächelte.
„Okay, wie erreicht man mehr Zufriedenheit bei den Kollegen und Kolleginnen? Die Bürger sind relativ einfach: keine langen Wartezeiten, keine Beschwerden.“ Jojo erwiderte das Lächeln.
„Na ja, das ist ein Baustein: Schnelligkeit bei der Bearbeitung, doch auch Freundlichkeit, Kompetenz und Respekt spielen eine Rolle. – Für Unzufriedenheit bei den Mitarbeitenden sorgt zum Beispiel die Tatsache, keinen eigenen Arbeitsplatz zu haben, immer wieder im Rotationsprinzip arbeiten zu müssen. Oder die langen Öffnungs- und damit Arbeitszeiten, Samstagsarbeit und ständiger Besucherverkehr. Je mehr Öffnungszeiten, desto anstrengender ist die Arbeit. Unzureichende Ausstattung und ein hoher Frauenanteil machen die Tätigkeit nicht leichter“, erläuterte Robert und sah Jojo im Rückspiegel schmunzeln.
„Die Frauen selbst haben den hohen Frauenanteil beklagt“, stellte er mit einem Lächeln klar und fuhr dann fort: „Natürlich funktioniert es nicht, das zweiundzwanzig Mitarbeitende dauerhaft einen eigenen Arbeitsplatz haben. Dafür reicht schlicht der Platz nicht. Des Weiteren müssen der Schichtdienst und gegebenenfalls Ausfälle kompensiert werden. Dabei hat es schon ungemein geholfen, dass die Mitarbeiter als Beteiligte an den Plänen für die Umorganisation mitgewirkt haben. Viele hilfreiche Arbeitserleichterungen kann man aus der Vorgesetztenperspektive nicht erkennen, man braucht die Mitarbeitenden, die den Prozess unterstützen. Einige Vorschläge haben wir ausprobiert, oft wurden sie von den Betroffenen selbst verworfen und ganz langsam hat sich im Laufe der Zeit eine Organisation entwickelt, mit der alle gut leben können. – Ich persönlich halte die Arbeitszufriedenheit des Einzelnen für äußerst wichtig, um ein gutes Arbeitsergebnis zu erzielen.“
„Mit dieser Meinung sind Sie aber ziemlich allein auf der Vorgesetztenebene“, sagte Jojo. Wieder klapperte die Tastatur. „Die meisten halten sich doch immer noch für den Nabel der Welt und ihre Mitarbeitenden, für ersetzbares Fußvolk. Wem es nicht passt, der kann ja gehen.“
„Das klingt, als hätten Sie schon schlechte Erfahrungen mit solchen Vorgesetzten gemacht.“ Robert suchte Jojos Blick, doch dessen Augen hingen an dem Bildschirm neben sich fest.
„Ja“, war die schlichte Antwort und es klang so, als wolle sich Jojo nicht näher darüber auslassen.
Das Hotel lag nur noch drei Abzweigungen vor ihnen und Robert hatte schweißnasse Hände. Fast eine Stunde lang hatten die Finger nicht die Tastatur bearbeitet, während sie sich über Fußball (Jojo war Mönchengladbach-Fan, während er selbst Werder Bremen-Fan war) und Lebensmittelskandale unterhalten hatten. Er wusste inzwischen, dass Jojo zwar kein Vegetarier war, aber auf Fleisch meistens verzichtete.
Seit fünf Minuten huschte der Blick nun wieder zwischen den Bildschirmen hin und her und die Finger rasten förmlich über die Tastatur.
„Wir sind gleich da“, sagte er und hoffte auf eine Antwort, doch Jojo brummte nur und tippte weiter.
Das Hotel hatte ein Parkhaus. Robert lenkte den Wagen hinein, fuhr hinunter auf die zweite Ebene und stellte ihn ab. Erwartungsvoll drehte er sich um. Eine kleine, steile Falte hatte sich zwischen Jojos Augenbrauen gebildet und er biss wieder auf seine Unterlippe. Robert betrachtete die Finger, die blitzschnell über die Tastatur flogen. Zwei silberne Ringe zierten die linke Hand. Einer am Ringfinger, einer am Daumen. Ein weiterer befand sich am Mittelfinger der rechten Hand. Keine schmalen, zierlichen Ringe, alle waren breit, zwei verziert, einer schlicht und matt. Jojos Fingernägel waren kurz und gepflegt und auf dem rechten Handrücken befanden sich drei Leberflecke, die ein Dreieck bildeten. Seine Mutter hätte diese schlanken Hände mit den langen Fingern als Chirurgen- oder Künstlerhände bezeichnet.
Es dauerte einen Moment, bis er bemerkte, dass die Finger still auf der Tastatur lagen und ein Blick nach oben zeigte ihm, dass Jojo ihn spöttisch betrachtete. „Es sieht gut aus. Ich habe Ihre Präsentation auf meinem Rechner“, sagte er und am liebsten wäre Robert ihm um den Hals gefallen.
Während Robert eincheckte, stand Jojo hinter ihm und sah sich in dem stilvollen Foyer um.
„Haben Sie noch ein Zimmer für meinen Kollegen?“, fragte Robert, dem schuldbewusst einfiel, dass er Jojo kaum auf der Straße stehen lassen konnte.
„Leider nicht, Herr Dr. Völker, es ist Messe“, antwortete die hübsche Blondine hinter dem Tresen mit einem bedauernden Lächeln. „Es wird in der ganzen Stadt schwer werden, ein Zimmer zu bekommen.“
Scheiße, an die Messe hatte er nicht gedacht. Eigentlich hatte er gar nicht gedacht, als Jojo sich angeboten hatte, mitzufahren. Der Junge hatte ja nicht einmal das nötigste Gepäck für diesen Ausflug.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht“, begann die junge Frau – Vanessa Hartmann stand auf ihrem matt silbernen Namensschild – und sah ihn an, „dann könnten Sie sich Ihr Zimmer mit Ihrem Begleiter teilen. Sie haben ein Doppelzimmer.“
Robert warf einen Blick auf Jojo, der noch immer unbeteiligt neben ihm stand und die vorbeiströmenden Passanten betrachtete. Was würden die Kollegen sagen, wenn sie das erführen? Immerhin stand der Verdacht im Raum, Jojo könnte schwul sein. Und wenn er dann mit dem jungen Mann sein Zimmer teilte …
„Wenn es Ihnen unangenehm ist, dann…“, begann Jojo, der sich jetzt zu ihm umgedreht hatte und ihn spöttisch betrachtete.
„Quatsch“, unterbrach Robert ihn und drehte sich zu Frau Hartmann um. „Wo bekommt man hier schnell Herrenkleidung?“
Jojos fragenden Blick ignorierte er, während die junge Frau ihm einen nahegelegenen Herrenausstatter empfahl.
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„Wir haben noch fünfundvierzig Minuten Zeit. Ich werde nicht versuchen, Ihren Laptop zu bedienen. Das heißt, dass Sie mich begleiten müssen und das heißt, dass Sie zumindest ein Jackett über Ihr Shirt anziehen müssen. Außerdem brauchen Sie doch bestimmt noch mehr für eine Übernachtung.“ Robert versuchte unter dem Blick, der ihn fixierte, nicht zu erröten.
„Ich soll mir ein Jackett für die Veranstaltung kaufen? Ich habe mir das Jackett für das Vorstellungsgespräch von einem Freund geliehen, weil ich unter normalen Umständen keinen Bedarf für ein solches Kleidungsstück habe.“
„Ich würde Ihnen eins von mir leihen, doch ich glaube, das sähe etwas – merkwürdig aus“, sagte Robert.
Jojo betrachtete ihn. Robert Völker war geschätzte 185 cm groß, wog mindestens 85 Kilo und hatte die breiten Schultern eines Sportlers. Grinsend schüttelte er den Kopf. „Nein, das würde sehr lächerlich aussehen.“ Einen Moment lang lächelten sie sich nur an, dann glitten die Fahrstuhltüren auf und sie betraten den Gang der dritten Etage.
Zimmer 327 war geräumig, hell und wurde von dem großen Bett dominiert. Alles war sehr sauber und sah neu oder sehr gut gepflegt aus. Während Robert seinen Koffer auf das Bett schmiss, ging Jojo in das angrenzende Badezimmer. Ein geräumiges Bad, mit riesiger Dusche, Handtuchwärmer an der Wand und zwei Waschbecken. Flauschige Handtücher lagen in einem weißen Holzregal. Diskrete Hintergrundbeleuchtung erhellte das fensterlose Zimmer.
„Wow, das hat was. In die Dusche passt eine ganze Fußballmannschaft!“, sagte er mit jugendlicher Begeisterung und kam zurück ins Zimmer.
„Ich kaufe Ihnen das Sakko und auch alles andere, was Sie brauchen. Immerhin habe ich Sie hierher entführt.“ Robert betrachtete die schmale Gestalt, die jetzt in einer schwarzen Winterjacke steckte und sich begeistert umsah.
„Nein, ich kann für mich allein bezahlen. Vielleicht häufen sich die Gelegenheiten für ein anständiges Jackett ja in Zukunft.“ Mit einem schiefen Grinsen sah er Robert an. Kein Wunder, dass die Hälfte der weiblichen Belegschaft auf diesen Jungen stand, dessen Lächeln einen unwiderstehlichen Charme besaß.
Der Herrenausstatter war nur wenige Schritte entfernt und schnell hatte Jojo ein schlichtes schwarzes Jackett gefunden. Der Preis ließ ihn kurz schlucken, doch er ließ sich nichts anmerken. Dazu noch ein weißes Shirt – zu einem Hemd war er nicht zu bewegen – und eine Unterhose für den nächsten Tag.
Nebenan in dem Drogeriemarkt holte er sich noch die nötigen Utensilien und dann war es auch schon Zeit und sie mussten sich beeilen.
Drei Stunden lang dauerte die Veranstaltung. Jojo hörte nach einer Weile nicht mehr zu, betrachtete die Männer um sich herum. Es gab nur fünf Frauen, eine schlechte Quote. Wie viele dieser Männer waren in seinen Augen attraktiv? Zwei oder drei vielleicht. Fand er Dr. Völker attraktiv? Bis heute Morgen hätte er das verneint, doch jetzt war er sich nicht mehr sicher. Der Mann hatte Charme, sah ganz gut aus und war nett. Auch wenn es ihm offensichtlich unangenehm war, die Nacht mit ihm in einem Zimmer zu verbringen.
Jojo wusste von den Gerüchten, die es im Rathaus gab. Was immer er auch tat, diese Gerüchte kamen immer wieder auf. Bewusst versuchte er nichts zu tun, was die Gerüchte schüren könnte, und doch verbreiteten sie sich. War es seine Statur? Seine Art sich zu bewegen? Seine Haare? Sein Schmuck? – Doch er konnte und wollte sich nicht völlig verstellen.
Endlich begann sich das Ende der Veranstaltung abzuzeichnen und Jojo fuhr den Laptop herunter.
„Danke, ohne Ihre Hilfe wäre ich aufgeschmissen gewesen“, ertönte Roberts Stimme hinter ihm.
„Das ist mein Job“, antwortete er mit einem Schulterzucken.
„Schon, aber nicht, spontan quer durch das Land zu fahren, sich ein teures Jackett zu kaufen und dann auch noch hier übernachten zu müssen.“ Robert lächelte. „Es gäbe jetzt gleich eine Veranstaltung mit Büfett. – Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Lust darauf und wenn Sie Lust haben, dann gehen wir irgendwo anders etwas essen. Ich lade Sie ein.“
„Gerne. Ich kenne mich ein bisschen aus und wenn Sie wollen, gehen wir zu einem hervorragenden Spanier.“ Jojo lächelte zurück. „Falls wir einen Platz bekommen.“
Eine halbe Stunde mussten sie an der winzigen Theke warten, bevor ein kleiner Tisch ganz hinten im Restaurant frei wurde. Die Karte war übersichtlich und trotzdem brauchte Robert lange, bis er sich entschieden hatte. Zusammen bestellten sie eine Flasche Rioja und eine Flasche Wasser.
Es roch verlockend nach würzigem Essen, spanische Gitarren spielten leise im Hintergrund und flackernde Kerzen standen auf dem Tisch. Eigentlich ganz romantisch, dachte Jojo und musste grinsen.
Sie unterhielten sich über alles Mögliche: Essen, das sie bevorzugten, Urlaubsorte und Bücher. Sie diskutierten über die neue Arbeitszeitverordnung, die in der nächsten Woche in Kraft treten würde.
Bei der zweiten Flasche Wein bot Robert Jojo das “Du“ an. „Gilt das nur für heute Abend?“, fragte Jojo und war sich durchaus bewusst, dass diese Frage befremdlich auf sein Gegenüber wirken musste.
Entsprechend erstaunt sah Robert ihn an. „Wie kommst du darauf?“, fragte er und benutzte unbewusst die vertrauliche Anrede, die ihm viel passender für den blonden Strubbelkopf schien.
„Erfahrung“, antwortete Jojo schulterzuckend.
„So ein Blödsinn, wenn ich dir – Ihnen – das „Du“ anbiete, dann meine ich das auch so und dann gilt das auch morgen.“ Robert fixierte den Jüngeren.
„Dann nehme ich es gerne an“, sagte Jojo und hob lächelnd das Glas.
Die Unterhaltung war entspannend. Robert wunderte sich, wie leicht es ihm fiel, sich mit Jojo zu unterhalten. Der junge Mann war ein interessanter und scharfsinniger Gesprächspartner. Ihr Humor war ähnlich, ebenso wie ihre Interessen, jedenfalls Abseits von Jojos Computerneigung. Mit Computern kannte Robert sich überhaupt nicht aus.
Auch lachen konnten sie über die gleichen Dinge. Jojo hatte ein mitreißendes Lachen, bei dem seine grünen Augen leuchteten. Die Anziehungskraft, die von diesem Blick ausging, verwirrte Robert, ebenso wie die vollen Lippen, hinter denen sich strahlend weiße Zähne versteckten. Immer wieder wanderte sein Blick zu den langen, schlanken Fingern, irritierende Gedanken schossen durch seinen Kopf. War Jojo schwul? Und wie fühlten sich die Finger wohl an? Waren sie zärtlich? Wie wäre es, einen Mann zu küssen? Küssten sich Männer überhaupt oder fickten sie nur?
Robert schüttelte innerlich den Kopf, was für verrückte Ideen …
Der Wirt schloss seufzend hinter ihnen die Tür zu, als sie endlich gingen. Sie waren ein wenig unsicher auf den Beinen und stützten sich gegenseitig auf dem Weg ins Hotel. Die Treppe hoch kicherten sie wie Teenager und Jojo ließ sich schwer auf das Bett fallen, drehte sich auf die Seite und betrachtete Robert, der sein Jackett auszog.
Langsam knöpfte er anschließend sein Hemd auf, die Krawatte hatte er schon nach seinem Vortrag abgenommen. Unter dem Hemd kam eine breite Brust mit dunklen Locken über einem flachen Bauch zum Vorschein. Jojo musste schlucken, als er die schmale Spur dunkler Haare sah, die in der Hose verschwand. Robert legte seine Hände auf den Bund und Jojo drehte sich weg. Am Bettrand sitzend streifte er sein Shirt ab. Der Mann sah ziemlich gut aus und sein letzter Sex mit einem anderen Mann war eine Weile her.
„Morgenfrüh wird mein Kopf brummen“, kicherte Robert und unwillkürlich drehte Jojo sich um. Nur in eng anliegenden Pants stand Robert vor dem Bett, deutlich zeichnete sich sein Penis unter dem Stoff ab und Jojo drehte sich schnell wieder weg. Er wollte antworten, doch sein Mund war trocken und sanftes Ziehen machte sich in seinem Unterleib breit. Schnell verschwand er im angrenzenden Badezimmer, lehnte sich an das Waschbecken und betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Schmal und blass mit riesigen Augen sah er sich selbst entgegen. Nachdem er die Brille abgenommen hatte, ließ er kaltes Wasser über seine Arme fließen, wusch sein Gesicht damit. Zähneputzen, noch einmal tief durchatmen und dann ging er zurück ins Zimmer. Robert lag bestimmt schon im Bett und war mit etwas Glück schon eingeschlafen.
Kein Glück, die braunen Augen sahen ihm entgegen, er konnte den musternden Blick auf seiner Haut fühlen. Robert lag schon im Bett, abgestützt auf einen Ellenbogen, die Decke soweit heruntergerutscht, dass er die Brust und den flachen Bauch sehen konnte. Verführerisch.
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Die blonden Haare waren feucht und die Augen sahen in dem schmalen Gesicht riesig und leuchtend aus. Die Schultern waren knochig, der Körper sehnig, wie bei einem Ausdauersportler. Die Brust war haarlos, die kleinen Brustwarzen setzten sich dunkel von der hellen Haut ab. Genauso rund wie der dunkle Punkt des Bauchnabels, unter dem sich eine helle, schmale Spur Haare in der tief sitzenden Jeans verlor. Ohne zu zögern, öffnete Jojo die Knöpfe seiner Hose und ließ sie von den Hüften rutschen. Darunter kamen schwarze Boxershorts zum Vorschein. Die Beine waren blass, schlank und hell behaart. Mit einem Mal wurde Robert sich seines starrenden Blickes bewusst und des Blutes, das in seinen Unterleib strömte. War es der Alkohol, der ihn reagieren ließ? Warum erregte ihn der Anblick des jungen Mannes?
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