Light me up - Katelyn Erikson - E-Book

Light me up E-Book

Katelyn Erikson

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Beschreibung

Er ist das Inferno, doch sie die Arktis. Eines hat Annabelle in ihrem Beruf als Polizistin gelernt: Mische niemals Privates mit Beruflichem. Umso ärgerlicher ist es, dass sie an einem Tatort ausgerechnet dem Feuerwehrmann Liam über den Weg läuft, dem gut aussehenden Typen aus der Bar. Gemeinsam sollen sie an Fällen arbeiten, deren Entwicklungen an einem Zufall zweifeln lassen. Es kommen Dinge an die Oberfläche, die alles bisher Geglaubte in ein neues Licht stellen. Ihre Vergangenheit beginnt sich mit der Gegenwart zu vermischen, bis Annabelle droht, den letzten Halt zu verlieren. Spannung trifft auf Leidenschaft - tauch in das Romance-Thrill-Genre.

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INHALT

GESUCHT UND GEFUNDEN

IN DER ENGE DER ZEIT

TROTZ FLAMMENDER HITZE

ZUR ABWEHR BEREIT

BAR JEDER GEDANKEN

DURCH DUNKELHEIT GETRIEBEN

FREI VON SCHRANKEN

UNTER LAST GEBLIEBEN

DANK GRAUSAMER UNTERFANGEN

IN GEFAHR BEGEBEN

DURCH UNSICHERHEIT BEFANGEN

VON ANGST UMGEBEN

AUF JAGD NACH GERECHTIGKEIT

NACH OPFERN DÜRSTEND

FERNAB DER WIRKLICHKEIT

DIE WAHRHEIT FÜRCHTEND

IN AKZEPTANZ DER GEGEBENHEIT

VERLEUGNET UND VERRATEN

VON HASS UND GERECHTIGKEIT

DURCH ABSCHEU BERATEN

TROTZ DIFFERENZEN

ZWEI SEELEN EINANDER ERGÄNZEN

GedankenReich Verlag

Nadine ReichowNeumarkstraße 3144359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

Light me up

Text © Katelyn Erikson, 2019

Cover & Umschlaggestaltung: Phantasmal Image

Lektorat & Korrektorat: Emely Werkmeister

Satz & Layout: Nadine ReichoweBook: Grittany Design

(eBook) ISBN 978-3-947147-51-9

© GedankenReich Verlag, 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Liam

Schreie hallten mir in dem Kopf wider. Der Gestank nach verbranntem Fleisch und Holz reizten meine Nase. Hitze, die mir über die Haut glitt und sie zu verbrennen drohte. Immer wieder drangen die Erinnerungen zu mir durch, für die es nicht genug Alkohol gab, um sie zu vergessen, gepaart mit Schuldgefühlen, die mir das Leben erschwerten und die Nacht verkürzten. Schloss ich die Augen, so sah ich die gleißende Helligkeit der tödlichen Flammen. Öffnete ich sie, so blieb nichts als die schwarze Asche zu meinen Füßen.

Seufzend starrte ich in das Bierglas. Der Schaum war noch frisch, doch das Glas bereits halbleer. Selbst dem herben Geschmack auf der Zunge gelang es nicht, die Bitterkeit des Todes zu übertünchen.

»Harter Tag?«

Stirnrunzelnd sah ich auf. Blaue Augen blickten mich fragend an, mitfühlend und doch distanziert. Wer sie war konnte ich nicht sagen, aber sie schien hier zu arbeiten. Zumindest, wenn man der Schürze Glauben schenkte, die sie trug. Als sie hinter den Tresen trat, wurde ich in meiner Vermutung bestätigt.

»Kann man so sagen«, antwortete ich leise, als ich mich an ihre Frage erinnerte. Die Worte kamen als tiefes Raunen raus, brummend wie ein schlechtgelaunter Bär.

»Das tut mir leid.« Sie klang ehrlich, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was in mir vorging. Wer ich war. Welche Last auf meinen Schultern ruhte. Während sie das sagte, schob sie sich den dicken, braunen Zopf nach hinten.

Statt mich weiter in Selbstmitleid zu suhlen, betrachtete ich die brünette Frau. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie mich intensiv ansah. Fast schon, als erwarte sie etwas von mir. Doch als sie das, was sie in mir suchte, nicht fand, verschloss sich ihre Miene. Irritiert runzelte ich die Stirn, ehe ich mich wieder entspannte. Im Grunde konnte mir egal sein, was sie dachte oder sich erhoffte. Dennoch kam ich nicht umhin, mir einzugestehen, dass sie mich in gewisser Form neugierig machte. Aber statt mich mit einer Frage zu beschäftigten, auf die ich ohnehin keine Antwort finden würde, betrachtete ich die Fremde hinter dem Tresen.

Hübsch war sie. Nicht auf die typische, überschminkte Art, sondern auf eine besondere Weise. Wenn ich es richtig unter der lockeren Bluse erkannte, hatte sie eine gute Oberweite. Nicht allzu groß, aber doch groß genug, um ihr weibliche Rundungen zu verschaffen.

»Meine Augen sind hier oben.« Ertappt zucke ich zusammen und grinste entschuldigend. Als ich ihr wieder in die Augen sah, erwiderte sie mein Grinsen, wenn auch noch immer seltsam distanziert.

»Entschuldige.« Das Funkeln in ihrem Blick verriet, dass sie durchaus wusste, dass es nicht ernst gemeint war. Dazu gab es auch keinen Grund. Sie sah nun mal gut aus und das dürfte sie gewiss des Öfteren gehört haben. Dennoch neigte ich den Kopf. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten«, versicherte ich, dieses Mal aufrichtig.

Dann herrschte Schweigen, das lediglich von den Gesprächen anderer Gäste durchbrochen wurde. Nachdenklich starrte ich das schwere Holz der Bar an.

»Deiner Miene nach zu urteilen brauchst du etwas Stärkeres als ein Bier«, stellte die Fremde mit einem Kopfnicken zum Glas fest.

Ehe ich widersprechen konnte, drehte sie mir den Rücken zu und ging zu der Anrichte an der Wand, auf der der hochprozentige Alkohol aufgereiht war. Gezielt griff sie nach einer Flasche in der obersten Reihe. Ich neigte den Kopf zur Seite und beobachtete erstaunt, wie sie mühelos die oberen Regalbretter erreichte. Die anderen Barkeeperinnen mussten sich dafür immer einen Hocker holen. »Das hier wird den Kummer besser vertreiben als alles andere«, sagte sie und zwinkerte mir keck zu. »Unser Lagavulin, sechzehn Jahre alter Islay Whisky. Er kommt aus Schottland. Nicht gerade süß, aber dafür würzig und perfekt gegen Sorgen jeglicher Art.« Demonstrativ stellte sie die Flasche zwischen uns ab. Ohne mich zu fragen, ob ich überhaupt Whiskey trank, zog sie zwei Gläser hervor, warf Eiswürfel hinein und goss das flüssige Gold hinterher. Entschieden stellte sie mir eines der Gläser vor die Nase und nickte auffordernd. »Trink.«

»Ist das ein Befehl?« Belustigt verzog ich den Mund zu einem breiten Grinsen. »Sollte nicht der Kunde König sein?«

Gelassen lehnte sie sich mit der Hüfte gegen die Theke, stemmte sich mit den Handinnenflächen auf das schwere Holz und beugte sich zu mir vor. »Eigentlich schon«, flüsterte sie, wodurch ihre Stimme beinahe in den Gesprächen der anderen Gäste unterging. Provokant schlug sie die Augen nieder und musterte mich von oben bis unten. »Aber wenn du auf Befehle stehst …«, raunte sie mir geheimnisvoll zu.

Meine Wange zuckte. Das kam unerwartet. Doch bevor ich reagieren konnte, zog sie sich lachend wieder zurück. »Nein, jetzt mal ernsthaft. Trink den, der ist gut. Ich würde ja gern behaupten, dass er aufs Haus geht, aber der Laden gehört mir nicht.«

Vor den Kopf gestoßen starrte ich erst das Glas, dann sie an. »Ich soll einen Drink bezahlen, den ich gar nicht bestellt habe?«

»Zwei Drinks«, korrigierte sie mich mit einem unschuldigen Wimpernaufschlag. Sie ignorierte meine Verwunderung und hob stattdessen das Glas zum Prost an, bevor sie einen kräftigen Schluck nahm.

»Sauweib«, kommentierte ich brummend und realisierte erst, dass ich es laut ausgesprochen hatte, als sie zu Lachen anfing. Ein helles Lachen, das ein wohliges Gefühl in mir auslöste.

»Dazu steh ich.« Belustigt tippte sie mein Glas mit ausgestrecktem Zeigefinger an und schob es zu mir rüber, bis es den Tischrand erreicht hatte und drohte, mir in den Schoß zu fallen. Schnell griff ich danach. Dabei berührte ich flüchtig ihre Finger, die sie sofort zurückzog.

»Wenn ich schon gezwungen werde, für etwas zu bezahlen, dann sollte ich es wohl auch in Anspruch nehmen, nicht wahr?« Als sie bekräftigend nickte, verdrehte ich belustigt die Augen, ein Grinsen auf den Lippen. Eigentlich war ich kein Whiskey-Trinker. Hin und wieder trank ich mal ein Glas mit meinen Freunden, aber das war eher weniger üblich. Missmutig starrte ich die gewiss teure Flüssigkeit an, ehe ich einen kräftigen Schluck nahm.

Der Alkohol brannte mir zwar in der Kehle, aber nicht so stark, wie ich erwartet hatte oder es von anderen Sorten gewohnt war. Sehr guter Whiskey trank sich dann doch anders als billiger. Stirnrunzelnd betrachtete ich das Innere des Glases, nahm einen weiteren Schluck und nickte kaum merklich. »Tatsächlich. Der ist nicht schlecht.«

»Sage ich doch.« Sie wirkte fast schon empört und doch grinste sie keck. Mir gefiel ihr Selbstbewusstsein. Generell schien sie wirklich nett zu sein, auch wenn sich das jederzeit kippen konnte. Ich kannte sie nicht. Doch zumindest eines wusste ich. Den Whiskey hatte sie gut ausgesucht.

»Also, wovor läufst du davon? Einer wilden Ehe? Plagenden Kindern? Der Mafia?«, fragte sie witzelnd und durchbrach damit das einsetzende Schweigen. Dahin war die lockere Stimmung. Unschlüssig sah ich sie an, während sie fragend den Kopf neigte. Ich haderte mit mir, starrte ins Glas oder auf den Holztresen, ehe ich den Blick hob und ihr fest in die Augen sah.

»Also?«, hakte sie nach, an ihrem eigenen Glas nippend. Dieses Mal jedoch zögerlicher. Ihre Augen wurden dunkler, ihr Blick unsicherer. Sie bemerkte meine innere Unruhe. »Hey …« Sie lächelte mir aufmunternd zu. Ein letztes Mal wandte ich den Blick ab.

»Willst du es wirklich wissen?« Bevor sie etwas erwidern konnte, sah ich sie wieder an. Ernst, nüchtern, zerstört. Ein eisiges Lächeln lag auf meinen Lippen. »Dem Tod«, antwortete ich schließlich.

Beinahe hätte sie sich verschluckt. Laut stellte sie das Glas ab und starrte mich mindestens genauso überrascht an, wie ich mich fühlte. Langsam verblasste ihr Lächeln und ich bereute es, die Wahrheit gesagt zu haben. »Ich bin Feuerwehrmann«, fügte ich halb erklärend, halb entschuldigend hinzu. »Diesen Aspekt bringt mein Job so mit sich.« Feuer. Schreie. Tod. Unauffällig schüttelte ich den Kopf, um die Gedanken zu verdrängen, die mein Sein bestimmten. Schlimmer noch als das Chaos in meinem Inneren, war ihr Blick. Die Betroffenheit. Das Mitleid. Zurecht und doch fühlte es sich wie ein Faustschlag ins Gesicht an.

»Was ist passiert?«, fragte sie unerwartet sanft. Als ich nicht antwortete, war ich ihr dankbar dafür, dass sie nicht weiter nachbohrte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich ihre vollen Lippen öffneten. Einen Moment glaubte ich, sie würde die Stille durchbrechen, einen Witz machen oder eine Ausrede dafür finden, mit mir weiter zu reden, aber sie sagte nichts. Stattdessen richtete sie sich auf und wandte sich ab. Verschwand einfach und nahm die kurzzeitige Ablenkung mit sich. Das schwache Licht, das die Schatten meines Inneren für einen winzigen Moment erhellt hatte.

Emotionslos beobachtete ich, wie sie sich um die anderen Gäste kümmerte und die Bewirtung wiederaufnahm. Sitzen gelassen, nippte ich zwischenzeitlich an meinem Glas. Nur am Rande bemerkte ich, wie sie immer wieder einen kurzen Blick zu mir rüber warf, kümmerte mich aber nicht weiter darum. Stattdessen sah ich zu der sich öffnenden Tür. Eine Frau betrat die Bar, hektisch und vom Wind zerzaust. Julia. Die festangestellte Barkeeperin.

»Deine Ablöse?«, fragte ich die brünette Fremde, als diese in Hörweite war. Als sie mich fragend ansah, deutete ich zu Julia, die gerade dabei war, ihre blonden Haare mit einem Haargummi zu bändigen und sich zeitgleich eine Schürze um den viel zu dünnen Körper zu binden.

»Kann man so sagen.« Als sie meinen fragenden Blick bemerkte, zuckte sie mit den Schultern. »Wirklich angestellt bin ich nicht. Ich bin vor kurzem erst hergezogen und lediglich für Julia eingesprungen.« Sie stellte das Tablett in einer fließenden Bewegung ab, bevor sie die Schürze auszog und diese ordentlich gefaltet in eine der großen Schubladen legte. Aus einem der Fächer holte sie eine kleine Handtasche hervor. Als sie sich zum Gehen wandte, blieb sie unerwartet stehen und warf mir einen fragenden Blick zu. »Wie lange willst du noch bleiben?« Es klang kein Vorwurf in ihrer Stimme mit, sondern ehrliches Interesse.

Gelassen zuckte ich die Schultern. »Das kann ich dir nicht sagen.« Tatsächlich hatte ich mir bislang keine Gedanken darum gemacht. Hatte ich noch nie.

Unschlüssig stand sie da, die Handtasche mit beiden Händen umklammernd, ehe sie sich doch abwandte und durch die Tür in Richtung Küche verschwand.

Nachdenklich sah ich ihr nach und musste gestehen, dass ich eine gewisse Enttäuschung über ihren abrupten Abgang verspürte. Den Gedanken an sie verwerfend, wandte ich mich wieder meinem leeren Glas zu und überlegte, ebenfalls nach Hause zu gehen. Zumindest, bis ich bemerkte, dass die Zwischentür aufging und die fremde Schönheit wieder hervortrat. »Wie wäre es mit einem kleinen Spiel?« Bevor ich überhaupt realisieren konnte, was geschah, griff sie in einer fließenden Bewegung nach der Whiskeyflasche von vorhin.

»Spiel?« Misstrauisch zog ich die Augenbrauen zusammen.

Ungerührt musterte sie mich. »Wir lernen uns etwas kennen, stellen uns gegenseitig Fragen und müssen nach jeder Frage einen Schluck trinken.«

Amüsiert lehnte ich mich zurück und legte die Hände flach auf das raue Holz. »Worin genau besteht das Spiel?«

Ihre Mundwinkel zuckten. »Wer am Ende noch gerade gehen kann, gewinnt, und der Verlierer zahlt?« Keck grinsend sah sie mich an.

Erst sagte ich nichts und wartete darauf, dass sie etwas hinzufügte. Als ich jedoch realisierte, dass sie ihre Worte ernst meinte, konnte ich ein Lachen nicht mehr unterdrücken. Räuspernd wirkte ich dem entgegen. Stattdessen beugte ich mich vor, die Unterarme auf den Tresen gestützt, bis nur noch wenige Zentimeter zwischen ihrem und meinem Gesicht waren. »Diese Art von Spiel ist nicht besonders damenhaft«, stellte ich stirnrunzelnd fest. »Außerdem kennst du mich nicht. Vielleicht raste ich nach zu viel Alkohol aus und zerlege euch den Laden?« Könnte leicht passieren. Nicht mir, aber einigen meiner Kollegen. Allein bei der Erinnerung an die letzte Betriebsfeier verzog ich das Gesicht.

Unergründlich sah sie mich an, wartete, ehe sie lächelnd den Kopf schüttelte. »Nein«, sagte sie schlicht. »So bist du nicht.«

Prüfend musterte ich sie. Sie wirkte entschlossen. Wäre ich ein Mann der üblen Sorte, würde ich die Situation ausnutzen, sie abfüllen und dann mit zu mir nehmen. Aber das war ich nicht. Meine wilden Zeiten als Casanova waren vorbei, auch wenn ich noch nie der Typ Mann war, der Frauen nur fürs Bett wollte.

Kurzzeitig dachte ich darüber nach, abzulehnen, aber die Alternative wäre, noch ein Bier zu trinken und dann in meine kleine Wohnung zurückzukehren, allein mit meinen Gedanken. »Bist du dir sicher, dass du nicht nach jemandem suchst, der dir einen Drink ausgeben will? Frag ruhig und ich zahle freiwillig, ohne, dass du dich zu solch einem Spiel genötigt fühlst.«

Zu meiner Überraschung beugte sie sich dieses Mal so weit vor, dass ich ihren warmen, nach Whiskey riechenden Atem auf meinen Lippen spürte. »Ich kann meine Drinks selbst zahlen, ich bin schon ein großes Mädchen. Oder hast du Angst, dass ich böse Fragen stellen könnte?« Ein Feuer loderte in ihrem Blick, das auf mich überging. Den Wettkampf hatte ich schon immer geliebt, gleichgültig welcher Art.

»Nein«, entgegnete ich leise.

Bevor etwas geschehen konnte, entglitt sie mir und verschwand aus meinem Sichtfeld, indem sie durch eine Seitentür verschwand. Wenn ich mich recht erinnerte, dann war dort ein kleiner Vorraum für Angestellte. Es dauerte nicht lange, bis sie auf meiner Seite der Bar wieder auftauchte und sich neben mich auf einen der freien Barhocker setzte.

»Wir machen uns einen netten Abend, stoßen gemeinsam an, reden ein wenig und schauen, wer am Ende noch weiß, wer er ist«, schlug sie lächelnd vor. »Einfach ein netter Abend.«»Mit Alkohol, mitten in der Woche?« Lachend schüttelte ich den Kopf. »Einverstanden.«

Grinsend zauberte sie eine Flasche Wodka hinter ihrem Rücken hervor und stellte diese neben den Whiskey auf den Tresen. »Für eine gewisse Abwechslung«, erklärte sie und zwinkerte mir zu. »Wenn du eine Frage beantwortet hast, trinke ich. Solltest du dich weigern, trinkst du.«

»So haben wir aber nicht gewettet«, sagte ich belustigt. Doch als sie mich herausfordernd ansah, wusste ich, dass sie nur darauf wartete, dass ich einen Rückzieher machte. Den Gefallen tat ich ihr nicht, sondern nickte ihr zu. »Ladies first.«

Sie ließ sich nicht zweimal bitten und kam mit einer Frage um die Ecke, mit der ich nicht gerechnet hatte. »Willst du mich ins Bett kriegen?«

Kurzzeitig sprachlos, starrte ich sie an und musste dabei wie ein Fisch an Land aussehen. »Nein«, antwortete ich ehrlich. Als ich die Verwunderung in ihrem Blick sah, verzog sich das Grinsen auf meinen Lippen zu einer Grimasse. »Nicht, dass ich dich nicht anziehend fände, aber ich bin nicht der Typ für einen One Night Stand. Zudem warst du es, die mit mir einen trinken wollte, also könnte ich die Frage an dich weiterreichen.«

Schweigend betrachtete sie mich, ehe sie mit den Schultern zuckte. »Gib mir etwas Zeit, bis ich mir dich schön getrunken habe, dann können wir weiterreden. Noch will ich dich nicht verführen, keine Sorge. Prost.«

Neugierig sah ich sie an. »Autsch, das tat weh.«

Statt einer Antwort klimperte sie scheinheilig mit den Wimpern und schenkte uns ein. Als die Flasche wieder auf dem Tisch stand, kippte sie sich den Inhalt ihres Glases die Kehle runter.

Sie verzog das Gesicht, ehe sie mich auffordernd ansah. Statt zu reagieren, starrte ich zurück und dachte über eine mögliche Frage nach.

Sie räusperte sich übertrieben laut. »Hast du nicht was vergessen?«

Es dauerte einige Sekunden, bis ich verstand, was sie von mir wollte. »Was? Nein! Das war nicht meine Frage.«

»Zu spät, alter Mann.« Breit grinsend deutete sie zu meinem Glas. »Du hast gefragt, ich habe geantwortet.«

Amüsiert hob sich mein Mundwinkel. »Das war ziemlich unfair, weißt du das?«

»Ich weiß.« Gelassen warf sie ein Bein über das andere und legte locker die Hand über das Knie. Mit der anderen stützte sie sich an der Bar ab und musterte mich auffordernd.

Kopfschüttelnd tat ich, wie befohlen, und kippte den Wodka mit einem Zug runter. Wer behauptete, dass in einer Frau kein Teufel schlummerte, der täuschte sich.

»Hast du eine Freundin?«, fragte sie gerade heraus, noch während ich versuchte, den bitteren Wodkageschmack in meinem Mund loszuwerden.

»Allmählich frage ich mich, ob du es dir zum Ziel gesetzt hast, heute Abend jemanden abzuschleppen«, antwortete ich ehrlich verwundert, bevor ich den Kopf schüttelte. »Aber nein, ich bin glücklicher Single.«

»Glücklicher Single«, wiederholte sie leise und runzelte nachdenklich die Stirn, aber ich sagte nichts.

Stattdessen bedeutete ich ihr, dass sie trinken musste. Kurzzeitig wartete ich, bis sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich gelegt hatte, bis ich mit der erstbesten Frage herauskam, die mir einfiel. »Wie heißt du?«

Nun war es an ihr, verwundert zu dreinzusehen. Sie hatte wohl nicht mit einer solch einfachen Frage gerechnet. »Annabelle, aber meine Freunde nennen mich Anny«, antwortete sie zögernd.

»Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Annabelle.« Ich lächelte. Endlich hatte ich einen Namen zu dem Gesicht.

So zogen sich die Stunden. Während ich erfuhr, dass ihre letzte Beziehung bereits drei Jahre her war und sie zuvor in New York gelebt hatte, erzählte ich ihr von meinem Job, meinen Hobbys und meinen Freunden.

Irgendwann konnte ich mich nicht länger auf die Fragen konzentrieren. Ich wusste, dass ich sie nach ihrem Job, ihrer Familie und ihren sexuellen Vorlieben gefragt hatte, erinnerte mich an die Röte in ihrem Gesicht und das Stottern in der Stimme, als sie mir auf die intimeren Fragen eine Antwort gab, doch an die Antwort selbst konnte ich mich nicht mehr erinnern.

Lachend und lallend tranken wir, Shot für Shot, während sich die Flasche beständig leerte. Die Menschen um uns verschwammen, die Gesichter verloren an Konturen, bis nur noch Annabelle zu sehen war. Ihr bezauberndes Lachen, das Grübchen an ihrer Wange, das Leuchten in ihren Augen. Alles in mir schrie danach, sie zu küssen, und doch tat ich es nicht. Stattdessen beobachtete ich sie wie ein hungriger Hund, peinlichst darauf bedacht, ihr nicht zu nahe zu kommen.

»Ich muss mal für kleine Mädchen«, raunte Annabelle mir zu, wobei sie fast das Gleichgewicht verlor. Zu gern hätte ich sie gehalten und an mich gedrückt, ihre weichen Rundungen gespürt und ihr ins Haar gegriffen. Allein bei dem Gedanken regte es sich in meiner Hose. Grummelnd gab ich ihr zu erklären, dass ich auf sie warten würde, mühsam darauf bedacht, mir nichts von der Beule im Schritt anmerken zu lassen.

Während ich ihren sich wiegenden Hüften nachsah, suchte ich nach meinem Handy, mit dem festen Ziel, nach ihrer Nummer zu fragen, sobald sie wieder da war. Es dauert etwas, bis ich es aus der Hosentasche gezogen bekam. Als ich es endlich geschafft hatte, stemmte ich den Ellenbogen auf die Theke, den Kopf in die Hand gestützt, und starrte in Richtung der Toiletten. Meine Augen brannten und der Kopf schmerzte. Benommen schloss ich immer wieder für wenige Sekunden die Augen, riss sie jedoch kurze Zeit später wieder auf. Verdammt, so lange brauchte keine Frau auf der Toilette.

»Liam? Hey, Mann. Wach endlich auf, du betrunkener alter Sack.« Vertrautes Lachen dröhnte in meinem Schädel. Grummelnd schlug ich die Augen auf und sah in das grinsende Gesicht meines besten Freundes. Kopfschmerzen waren das Erste, das mich begrüßte, gefolgt von einem widerlichen Geschmack von Holz. »Was zum …?« Nur langsam realisierte ich, dass ich mit dem Kopf auf der Theke eingeschlafen war. Vorsichtig richtete ich mich auf und sah mich orientierungslos in der leeren Bar um. Neben mir waren meine besten Freunde und Arbeitskollegen Colin und Tyler. In der Tür stand Vince, der Besitzer der Bar. Erst begriff ich nicht, was ich hier tat. Mein Schädel dröhnte. Angewidert verzog ich das Gesicht. Holz, Whiskey und Wodka. Eine widerliche Mischung in meinem Mund. Äußerst langsam stellte ich fest, dass ich mit dem Kopf auf der Theke eingeschlafen war. Damit einhergehend kehrten die ersten Erinnerungsfetzen zurück.

»Annabelle!«

»Wer?« Tyler trat in mein Sichtfeld. Verwirrung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Dann sah ich zu Vince. Ungeduldig hielt er die Arme vor der Brust verschränkt, sah aber zugleich neugierig aus. Jetzt verstand ich, warum meine Freunde hier waren. Als hätte er meine Gedanken gelesen, deutete Tyler mit dem Daumen zum Ladenbesitzer. »Vince hat uns angerufen. Seit wann lässt du dich bis zur Besinnungslosigkeit volllaufen? Ich bin es gewohnt, Colin überall von der Straße kratzen zu müssen, aber dich?«

Colin schlug Tyler grinsend auf den Rücken. »Jetzt sei nicht so streng mit ihm. Nach der Nummer mit seiner Ex ist das mehr als verständlich.«

Ich spürte, wie sich mir bei dem Namen der Magen zusammenzog. Es war lange her, seit mich Marlen abserviert hatte. Würgend wandte ich mich ab und rieb mir übers Gesicht, während ich mitanhörte, wie Tyler verbal auf Colin einschlug.

Den Gedanken an Marlen verdrängend, ließ ich den Blick über die leere Bar schweifen. Sämtliche Stühle waren bereits auf die Tische gestellt worden. Ein Blick zum Fenster zeigte, dass die Sonne längst aufgegangen war. Sogar die Innenbeleuchtung war ausgeschaltet. Von Annabelle keine Spur.

Seufzend zog ich mein Portemonnaie hervor.

»Lass stecken, es ist bereits bezahlt.« Vince trat näher und deutete zur Tür. »Geht einfach, damit ich endlich abschließen kann.«

Irritiert ließ ich die Hand sinken, ehe ich mich noch einmal umentschied, einen Zwanziger hervor fischte und auf die Theke legte. »Tut mir echt leid.« Entschuldigend nickte ich Vince zu. Doch statt mir zuzulächeln, wie er es sonst tat, musterte er mich wachsam.

»Schon gut, aber jetzt raus«, forderte er uns barsch auf. Ich wechselte ich einen fragenden Blick mit meinen Freunden, die ebenso ratlos aussahen. Ohne ein weiteres Wort griff ich nach meiner schwarzen Lederjacke und verließ die Bar.

»Mann, der war ja schlecht gelaunt«, stellte Tyler stirnrunzelnd fest.

»Bestimmt untervögelt«, mutmaßte Colin laut.

»Für dich sind alle schlecht gelaunten Menschen untervögelt.« Tyler warf Colin einen finsteren Blick zu, den dieser geflissentlich ignorierte.

Ich kümmerte mich nicht um die Zankereien zwischen den beiden, sondern zog mein Handy hervor, entsperrte es und sah frustriert auf das geöffnete Telefonbuch. Neue Kontakte hinzufügen. Dort stand er, der Name, der seither in meinem Kopf herum spukte. Annabelle. Keine hinterlegte Nummer.

Annabelle

So schnell ich konnte, rannte ich weiter. Mein Puls beschleunigte sich, während mir Schweiß die Schläfen hinunterlief. Keuchend stieß ich die Luft aus, nur, um sie gierig wieder in die Lunge zu ziehen. Sämtliche Muskeln waren zum Zerreißen gespannt, während meine Füße kaum mehr den Boden berührten. Schritte folgten mir. Hektische, Atemgeräusche durchbrachen das Rauschen des Blutes in meinen Ohren. Doch ich ließ mich nicht beirren, sondern behielt mein Tempo bei.

Nur noch wenige Meter. Ich sprang, fasste mir zeitgleich ans Handgelenk und hörte vertraut das leise, hohe Klicken. Langsam drosselte ich die Geschwindigkeit, spürte den weichen Weg unter meinen Füßen, während ich ins Schritttempo wechselte. Nach wenigen Metern blieb ich stehen. Nach Luft ringend, hob ich die Arme über den Kopf, schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, regelmäßig ein- und wieder auszuatmen.

Es dauerte etwas, bis die Schritte lauter wurden, die ich vorhin noch wahrgenommen hatte. Sie wurden langsamer, bis sie hinter mir zum Stehen kamen. Grinsend lauschte ich den wehleidigen Lauten in meinem Rücken.

»Oh. Mein. Gott. Du bist so was von tot.«

Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte ich mich um und ließ die Arme wieder sinken, während ich in das rotangelaufene Gesicht meiner besten Freundin sah. »Du wolltest selbst mit joggen gehen.«

»Joggen, aber doch nicht rennen«, beschwerte sich Kelly.

»Du hast gut mitgehalten«, sagte ich versöhnlich und bedeutete ihr, mir zur kleinen Hütte zu folgen, die inmitten der Parkanlage stand.

»Ich gehe keinen Meter mehr«, stieß Kelly stöhnend aus, folgte mir dennoch quer über die leuchtend grüne Wiese, auf der Löwenzahn seine gelben Sprenkel verteilte.

»Wir müssen etwas trinken«, wies ich sie sanft an.

»Viel mehr brauche ich eine Dusche.« Kelly schnitt eine Grimasse und schob sich eine nasse Strähne hinter das Ohr. Unauffällig schnupperte sie an sich selbst und verzog das Gesicht. Entweder hatte sie ihr Deo vergessen oder es mittlerweile runtergeschwitzt. Immerhin glühte sie nicht mehr so rot wie eine Tomate, sondern nur noch in einem dunklen Rosa. Auch ihre Atmung ging wieder regelmäßiger.

Ich wandte mich von ihr ab und widmete mich meiner Armbanduhr. Eher noch der integrierten Stoppuhr. Als ich sah, dass sich meine Zeit verbessert hatte, stieß ich ein erfreutes Jauchzen aus, auch wenn es sich nur um knapp eine Minute handelte. Jede Sekunde zählte, wenn man sich steigern wollte und ein festes Ziel vor Augen hatte.

»Wieso bin ich noch mal mitgekommen?« Kelly wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

»Keine Ahnung.« Lässig zuckte ich mit den Schultern. Wir wussten beide, warum sie mit joggen war, aber ich wollte das Thema mit dem Abnehmen nicht schon wieder aufgreifen. Sie wusste auch so, wie ich dazu stand. Oft genug hatte ich ihr gesagt, wie toll ich ihre Figur fand. Jetzt war es an ihr, etwas zu verändern oder zufrieden zu sein mit dem, was sie hatte.

Als wir die Hütte erreichten, in der sich ein recht guter Imbiss befand, ließ ich den Blick über die Speisekarte gleiten. Snacks und Getränke sowie einige wenige warme Speisen. Diese Bude war für ihre guten Pommes bekannt. Gegessen hatte ich bislang jedoch noch keine. »Eine Flasche Wasser, bitte.« Ich fischte ein paar Münzen aus der winzigen Geldtasche an meinem Gürtel und bezahlte, während Kelly neugierig die Karte musterte.

»Eine Portion Pommes und eine Flasche Wasser, bitte«, entschied sie strahlend. Als sie meinen amüsierten Blick bemerkte, sah sie ertappt drein. »Wir sind jetzt sechs Kilometer weit gejoggt. Da habe ich mir die gründlich verdient.«

»Ja, und die sechs Kilometer müssen wir auch wieder zurück. Sicher, dass du das mit vollem Magen machen willst?« Als ich ihrem entsetzten Blick begegnete, kostete es mich extrem viel Anstrengung, nicht laut loszulachen. Wir befanden uns mitten im Park. Meine Wohnung lag am anderen Ende davon. Mir war bewusst, dass sie sich lieber ein Taxi rufen würde, aber das war nicht Teil der Abmachung, weshalb ich sie lediglich entschuldigend ansah und mit den Schultern zuckte.

»Wir sind so oft abgebogen, ich dachte, wir wären im Kreis gelaufen«, gestand sie kleinlaut, ehe sie seufzend nickte. »Gib mir etwas Zeit«, bat sie.

Lächelnd schüttelte ich den Kopf, öffnete die Wasserflasche und nahm einen kräftigen Schluck, während wir darauf warteten, dass Kellys Pommes fertig wurden. Seit ich Blainewood City hinter mir gelassen hatte, hatte sich vieles verändert. Die Stadt war größer, lebendiger, aber auch gefährlicher geworden. Erinnerungen von damals verblassten und machten der Realität Platz. Neue Häuser, neue Straßen, mehr Geschäfte, größere Bürokomplexe. Die Kleinstadt wuchs und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.

Bekümmert sah ich ans andere Ende des Parks, dorthin, wo sich die wenigsten hin trauten. Mit dem rasanten Wachstum der Stadt kam auch die Kriminalität. Bislang reichten die Statistiken nicht an die der Großstädte, doch der Unterschied zwischen jetzt und von vor zehn Jahren war deutlich zu spüren.

»Hier bitte, Ihre Pommes.«

Mit strahlenden Augen griff Kelly nach der Schale, bedankte sich und folgte mir zu einem der wenigen Tische, die auf einer Terrasse neben dem Häuschen standen. »Wie hat dein Bruder auf deine Rückkehr reagiert?«, fragte sie kauend, während ich gedankenverloren meine Umwelt beobachtete. Frühlingsanfang. Die Sonne lockte von Tag zu Tag mehr Menschen nach draußen. Eine erste Ahnung vom nahenden Sommer.

»Er hat sich gefreut. Vor allem jetzt, da ich aus New York raus bin. Es hat ihm nie so wirklich gepasst, dass ich mit siebzehn dorthin gezogen bin.«

Kelly zeigte mit einer Pommes auf mich. »Mir hat es auch nicht gefallen, aber du warst ja ein ziemlicher Dickschädel.«

»Bin ich immer noch«, entgegnete ich schmunzelnd.

»Kann sein, aber immerhin bist du wieder hier. Deine Familie hat dich vermisst, weißt du? Manchmal habe ich deinen Bruder gesehen. Er hat erzählt, wie schwer die Zeit für deine Eltern war.« Noch während Kelly die Worte aussprach, begriff sie ihren Fehler. Entschuldigend sah sie mich an und senkte den Blick. »Es tut mir leid, Anny. Das hätte ich nicht sagen sollen.«

Seufzend umfasste ich die Wasserflasche mit beiden Händen und senkte den Blick. »Schon okay. Jeder hat sein Päckchen zu tragen.« Nur hatten manche ein größeres aufgebürdet bekommen. Allein der Gedanke, dass meine Familie unter meiner Flucht gelitten hatte, zerfraß mich. Aber mit siebzehn dachte man nicht immer nach. Zumindest ich nicht. In diesem Moment hatte es sich richtig angefühlt, die Zelte abzubrechen und meinem einstigen Leben den Rücken zukehren. Aber jetzt war ich wieder hier. Jetzt konnte ich alles wieder gut machen. Sofern sie mich ließen.

Schweigend aß Kelly weiter. Während ich auf sie wartete, beobachtete ich die Menschen wie sie joggten, spazieren gingen, ihren Hund ausführten oder Kinderwagen vor sich her schoben. Entspannt oder gestresst, glücklich oder traurig. Spiegelungen der Gegensätze, durchzogen von verschiedensten Grautönen. Alle in ihrer eigenen Welt und doch gemeinsam. Geistesabwesend nippte ich an meinem Wasser.

»Glaubst du, dass es eine große Umstellung für dich sein wird? Hier ist es nicht so aufregend wie in New York. Ein paar Taschendiebe vielleicht, aber nichts Großartiges wie in CSI.« Kelly fragte beiläufig, was nicht bedeutete, dass ich die unterschwellige Angst dahinter nicht mitbekam.

»Keine Sorge, so schnell wirst du mich nicht wieder los. Aufregung ist nicht immer schön. Ebenso wenig, wenn man jeden Tag aufs Neue um sein Leben fürchten muss.« Lächelnd erkannte ich das aufkeimende Entsetzen in Kellys Blick.

»War es so schlimm?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Als Frau in einer Großstadt mit einer extrem hohen Kriminalitätsrate? Ziemlich.« Ich senkte den Blick. »Jeder Vollidiot kann Waffen kaufen, Kelly. Jeder. Du willst nicht wissen, was ich alles in New York erlebt habe. Natürlich war es schlimm, aber es ist mein Job. Wenn ich damit nicht klarkommen würde, hätte ich mich weder beworben, noch wäre ich in diese Stadt gezogen.« Was ich nicht sagte, war, wie oft ich mich in den ersten Monaten in den Schlaf geweint hatte. All das Blut, die Wunden, die Gefahren. Aber ich beklagte mich nicht. Über selbstauferlegte Schicksale sollte man Stillschweigen bewahren, schließlich war ich oft genug gewarnt worden.

»Wie geht es dir damit?« Die Sorge in Kellys Stimme ließ mich schmunzeln. Zugleich wurde mir aufgrund ihrer Anteilnahme warm ums Herz.

»Sehr gut, wirklich. Es gibt Dinge, mit denen ich weniger klarkomme.« Wir senkten den Blick und schwiegen eine Weile. »Komm.« Entschieden sprang ich auf, nicht länger gewillt, hier nur rumzusitzen.

»Jetzt schon?« Verzweifelt sah Kelly in die Richtung zurück, aus der wir gekommen waren.

»Du bist schon seit fast zwanzig Minuten fertig mit Essen. Wir sollten langsam zurück.« Als ich den leidenden Blick meiner besten Freundin bemerkte, konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen. »Komm schon, beweg deinen Hintern, ich habe noch einige Kisten auszupacken.«

Stöhnend folgte sie meinem Beispiel. »Können wir nicht ein Taxi rufen?«

Belustigt stemmte ich die Hände in die Hüften und neigte den Kopf zur Seite. »Ich mache dir einen Vorschlag.« Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. »Den ersten Kilometer gehen wir. Danach wird aber gejoggt.«

Gequält verzog sie das Gesicht. »Also kein Taxi?«

»Kein Taxi.«

Kelly stöhnte theatralisch. »Ich werde sterben. Eindeutig und du bist schuld. Sag meinen Kindern, dass ich sie liebe.«

»Du hast keine Kinder.«

»Dann halt meinen Fischen.« Sie grinste mir keck zu und ich spürte, wie sich meine Laune deutlich hob.

Wie sehr ich sie vermisst hatte. Meine beste Freundin. Die Person, die immer zu mir gestanden hatte. Aber auch meine Familie, den Park, die frische Luft. Ruhe und Freundlichkeit, denn obwohl es eine Kleinstadt war, kannte man sich hier. Von Vereinen, von der Schule, den Festen. Nicht alle, aber doch die meisten. Wie eine große Familie voller Verzweigungen.

Ja, ich hatte es vermisst. Doch jetzt, jetzt war ich wieder zu Hause. Blieb nur noch eine letzte Aufgabe. Der Abschluss mit meiner Vergangenheit.

I

Wachsam sah er sich um. Niemand da. Schweiß rann ihm den Nacken hinab, während die Angst seine Hände zum Zittern brachte. »Pass doch auf«, fuhr sein Komplize ihn an.

»Entschuldige«, murmelte er, doch davon wollte der andere nichts wissen. Stattdessen ließ er ihn allein mit seiner Angst. Unauffällig musterte er seinen Partner. Der Kerl war groß. Und gefährlich. Nervös strich sich der Neue über den nassen Nacken. Die gesamte Situation behagte ihm nicht. Aber er würde es durchziehen. Er brauchte das Geld.

»Hast du es?«, fragte der andere mit aggressivem Unterton. Ertappt fuhr der Neue zusammen.

»Ja«, hauchte er. »Aber ich begreife nicht.«

»Du wirst nicht bezahlt, um zu begreifen, kapiert?«

Er nickte. Eine andere Wahl war ihm nicht geblieben. Wenn er doch nur nicht so viele Schulden angehäuft hätte. Aber jetzt war es zu spät. Er hatte sich auf diesen Auftrag eingelassen, vereinbart in den tiefsten Schatten der finstersten Gassen. Besucht von Gestalten ohne Gesichter. Denn Gesichter bedeuteten Macht, riskierten einen Verrat. Unauffällig fuhr er sich über die dunklen Bartstoppeln. Vorahnungen plagten ihn. Er sah sich selbst, erdrosselt, erschossen, erwürgt. Gleichgültig, wie er sich das Ende dieser Tortur ausmalte, es ging nicht gut aus. Vielleicht blieb ihm eine Möglichkeit. Ein einziger Weg der Flucht. Womöglich würde er diesen Fehler überleben, wenn er zur Polizei gehen würde.

»Hör auf zu trödeln«, fuhr die große Gestalt ihn an. Der Angesprochene zuckte zusammen und zog den Kopf zwischen die Schultern, nickte aber und beeilte sich, den anderen einzuholen.

Stillschweigend marschierten sie nebeneinander her. Dann verließen sie die Schatten und traten in blendend grelles Licht. Fast schon glaubte er, man würde ihn strafend anblicken, aber Fehlanzeige. Niemand beachtete sie. Dafür waren sie zu unauffällig in ihren abgewetzten Jeans und den unscheinbaren, braunen Jacken. Als eine Polizeistreife direkt auf sie zufuhr, verkrampfte er sich. Sein Körper fing zu zittern an. Angst schnürte ihm die Kehle zu, sodass es kaum noch möglich war, vernünftig Luft zu holen.

»Starr sie nicht so an, sonst sind die Bullen das Letzte, das du zu sehen bekommst«, keifte der andere. Scheinbar beiläufig blieben sie vor einem Lokal stehen und wandten sich dem Schaufenster zu. In Wahrheit warteten sie darauf, dass die Polizeistreife weiterfuhr.

Das war seine Chance. Der Drang, sich umzudrehen und dem Wagen entgegenzulaufen, wurde schier unermesslich groß. Fast hätte er es getan. Seine Finger zuckten. Die Polizei könnte ihn beschützen.

»Denk nicht mal daran«, warnte ihn der andere mit einem Knurren in der Stimme. »Wir finden dich. Gleichgültig, wo du dich versteckst. Ein falsches Wort zu den Bullen und du bist Geschichte.«

Angst umklammerte sein Herz. Er war der Neue. Der Dumme. Der zum Tode Verurteilte, der nichts zu sagen hatte. Egal, was geschehen würde, er war geliefert. So oder so.

»Wohin?«, fragte der andere grimmig. Seine Ungeduld wurde mit jedem Augenblick spürbarer, was den Neuen noch stärker verunsicherte.»Da rein«, murmelte der Neue. Von der Seite sah er zu seinem Auftraggeber. Dieser bemerkte es und sah finster zurück.

»Was glotzt du so?«

Er fuhr zusammen und wandte schnell den Blick ab. »Nichts«, nuschelte er, ehe er auf eines der Gebäude deutete. »Da. Das ist es. Da habe ich den Auftrag ausgeführt, den man mir gegeben hat.« Es wunderte ihn, dass der andere nichts davon wusste, aber anscheinend erhielt jeder seine eigenen Instruktionen. Ganz genau konnte es sich der Neue auch nicht erklären.

Der Mann drehte sich in die Richtung, in die der Jungspund deutete, und grinste. »Sehr gut.«

»Im Keller ist überall Benzin«, erklärte der Jüngere angespannt. »Ich habe meinem Freund vor kurzem erst geholfen. Er soll es für mich lagern.« Unbehagliche Erinnerungen stiegen in ihm auf. Zu Fragen, auf die er keine Antworten hatte. Die misstrauischen Blicke und das Flehen, mit dem er seinen Freund verdeutlicht hatte, wie wichtig es ihm war.

»Sehr gut. Wie viele Kanister?«

»Ein Dutzend«, antwortete er beunruhigt. Ihm war aufgetragen worden, zwei Dutzend zu besorgen. Der Mann vor ihm verspannte sich, sagte nichts, ehe er nickte.

»Das sollte genügen.«

Erleichterung durchfuhr den Neuen. Die Hoffnung, es doch nicht vermasselt zu haben. »Mir wurde versprochen, dass niemandem etwas geschieht.« Er biss sich auf die Zunge.

Raues Lachen drang an sein Ohr. »Wenn es so versprochen wurde, wird es auch so sein.«

Unauffällig wischte sich der Neue den Schweiß von der Stirn. Ihm blieb nichts übrig, als zu hoffen. »Wann bekomme ich mein Geld?« Nervös leckte er sich über die Lippen. Ein salziger Geschmack lag auf seiner Zunge.

»Komm mit.«

»Wohin?« Ein Zittern ging durch den Körper des Neuen. Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen starrte er auf den Rücken des Mannes vor ihm.

»Du willst doch dein Geld?« Ohne ein weiteres Wort verschwand dieser zwischen zwei eng beieinanderstehenden Häusern, die Straße im Rücken.

Ein letztes Mal sah der Neue zu den Rückleuchten des Polizeiautos, das in der Ferne verschwand. Dann wandte er sich ab. Wie ein geprügelter Hund folgte er dem Mann.

Als sie in einer Sackgasse stehenblieben, schluckte er schwer. Schweißperlen sammelten sich in seinem Nacken. »Was jetzt?«

Der andere drehte sich um. Etwas blitzte auf. Erst begriff er nicht, was er soeben gesehen hatte, bis er in den Lauf der Pistole blickte. »Nein. Bitte.« Tränen sammelten sich in seinen Augen.

»Du weißt jetzt, wie ich aussehe«, säuselte der andere, eine Spur von Wahnsinn im Blick.

»Bitte«, flüsterte der Neue erneut. Seine Stimme klanglos und schwach.

Zähne blitzten auf, als der andere seine Lippen zu einem freudlosen Grinsen verzog. »Hat dich deine Mutter nie gelehrt, die Finger von Drogen zu lassen und nicht mit Fremden zu reden?«

Der Neue öffnete den Mund, setzte zum Schrei an und spürte im nächsten Moment nur noch den explodierenden Schmerz.

Dann war dort nichts mehr außer eisiger Schwärze.

Liam

Es war bereits eine Woche vergangen, seit ich Annabelle kennengelernt hatte. Obwohl ich seither jeden Abend in der Bar gesessen und gewartet hatte, sah ich sie nicht wieder. Julia hatte mir auf meine Nachfrage hin aber nicht sagen können, wer genau die Unbekannte gewesen war, denn mehr als Annabelles Vornamen kannte ich nicht. Allmählich beschlich mich das Gefühl, dass sie mir nicht mehr hatte verraten wollen.

»Vergiss sie.« Aufmunternd schlug mir Tyler auf die Schulter und holte mich in die Realität zurück. »Du findest schon eine andere Frau, die dir den Kopf verdrehen wird«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Ich sah ihn an, ehe ich mich seufzend zurücklehnte, was in der Feuerwehrmontur nicht allzu bequem war. Hinzu kam, dass die Stühle in der Wache auch nicht sonderlich gemütlich waren.

»Was hatte sie überhaupt an sich, dass du noch immer an sie denkst? Du hast sie nicht mal flachgelegt«, mischte sich Colin ein und wackelte mit den Augenbrauen, während er sich auf einen Stuhl mir gegenüber fallen ließ. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass wir allein waren, legte er die Füße auf den Tisch und stieß ein zufriedenes Seufzen aus.

Genervt verdrehte ich die Augen. »Nicht jeder Kerl muss erst mal seinen Schwanz irgendwo reinstecken, um Interesse zu zeigen.« Als Colin mich spöttisch ansah, kniff ich die Augen zusammen. »Nimm gefälligst deine Füße vom Tisch. Da essen wir.«

Missbilligend runzelte Colin die Stirn, folgte jedoch meiner Anordnung. Zwar mit zur Schau gestelltem Widerwillen, aber das war mir gerade egal. Stattdessen stützte er die Ellenbogen auf seinen Knien ab und fixierte mich finster. »Komm mal runter. Gott, bist du untervögelt.«

»Hör nicht auf ihn. Er ist nur gereizt, weil der Chef ihn dazu verdonnert hat, den Papierkram für ihn zu erledigen«, erklärte Tyler schmunzelnd.

Verwundert wandte ich mich Colin zu und sah ihn fragend an. Als dieser aber schweigend den Boden anstarrte, ahnte ich es. »Du hast es allen Ernstes getan. Bist du ein Vollidiot. Sag nicht, du hast dich auch noch dabei erwischen lassen!«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« In einem Anflug von Trotz hob Colin das Kinn und funkelte mich herausfordernd an. Als Tyler herzhaft zu lachen anfing, wurde ich in meinem Verdacht bestätigt.

Grinsend schüttelte ich den Kopf. »Dieses Mal hat sich unser Casanova eindeutig an der Falschen verbrannt.«

»Woher soll ich denn wissen, dass sie gleich bei ihrem Daddy petzen geht?«, fragte Colin gereizt.

»Petzen?« Erstaunt sah ich zu Tyler. »Das hätte ich Kim nicht zugetraut.« Als ich Tylers breites Grinsen sah, stieß ich ein genervtes Stöhnen aus. »Sag nichts. Sie hat dich danach mit einer anderen gesehen.«

Colin verzog das Gesicht. »Ich bin halt nicht für die Monogamie geschaffen, aber das habe ich ihr auch gesagt.«»Bevor oder nachdem du mit ihr geschlafen hast und sie dich in flagranti erwischt hat?« Herausfordernd sah ich ihn an, ehe ich einen vielsagenden Blick mit Tyler wechselte. Doch bevor ich Colin weiter ausfragen konnte, erklang der grelle Laut der Sirene.

»Tja, die Pflicht ruft.« Ich sprang auf und zog mir den Helm über. »Wir sind noch nicht fertig«, fügte ich grinsend an Colin gewandt hinzu, der sich bereits entspannt hatte und sich prompt gerade aufsetzte.

»Hey!«

Ohne auf seinen Protestlaut zu reagieren, rannte ich los in Richtung der Autos. »Pass auf, dass du dich nicht am Papier schneidest, wenn du gleich ins Büro gehst«, neckte Tyler Colin noch im Vorbeilaufen, ehe er mir raus folgte.

»Halts Maul«, blaffte Colin zurück und brachte Tyler und mich lediglich zum Lachen, bevor wir ernst wurden und die Späße hinter uns ließen.

Ohne nachzudenken schwang ich mich auf den Beifahrersitz. Nur einen Bruchteil später öffnete sich die Fahrertür und Tylers blonder Wuschelkopf tauchte auf. »Ohne feuchte Höschen ist der Kerl nicht zufrieden«, stellte Tyler belustigt fest, während er den Löschwagen schnell rausfuhr und geschickt auf die Straße manövrierte.

»Vielleicht sollten wir ihm mal einen Keuschheitsgürtel schenken«, schlug ich vor. Gänzlich scherzhaft meinte ich es jedoch nicht. Es würde Colin guttun, einen Gang runterzuschalten und herauszufinden, was er wirklich wollte. Abgesehen von einer hübschen Frau in seinem Bett.

Bei dem Gedanken verzog Tyler das Gesicht. »Damit er noch unerträglicher wird? Nein danke. Seine aktuelle Laune reicht mir für den Rest meines Lebens.«

Grinsend wandte ich mich ab und beobachtete, wie die Menschen alle nach links oder rechts auswichen, während wir über die Straße donnerten. Als ich noch weitere Sirenen hörte, verflog meine gute Laune. »Hoffentlich gib es keine Verletzten«, murmelte ich und beugte mich vor. Die ersten Rauchwolken zeichneten sich unweit von uns zwischen den Baumkronen ab. Es konnten nur noch zwei, drei Blocks sein.

Die nächste Ampel schaltete gerade auf Rot, als wir sie überquerten. Ohne zu warten, bog Tyler die nächste Kreuzung nach rechts ab und steuerte auf ein Mehrfamilienhaus zu, das in Flammen stand. »Verdammt.« Fluchend stieg er auf die Bremse und presste die Hand auf die Hupe.

Verärgert beobachtete ich, wie die Menschen erschrocken zur Seite wichen, um uns durchzulassen. Fahrradfahrer, Autofahrer, aber auch Fußgänger, die gaffend im Weg standen. Mitten auf der Straße. Als ob man nicht von der Seite glotzen könnte, ungeachtet dessen, dass selbst das ein unangebrachtes Verhalten war.