Lightlark - Alex Aster - E-Book
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Lightlark E-Book

Alex Aster

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Beschreibung

Ein Geheimnis bedroht ihr Reich und jeden, den sie liebt Isla Crown ist die junge Herrscherin über das Wildfolk, ein Volk atemberaubend schöner Verführer. Doch ein jahrhundertealter Fluch hat sie dazu verdammt, jeden, in den sie sich verliebt, zu töten. Isla ist entschlossen, diesem grausamen Schicksal ein Ende zu bereiten, und reist dafür in das Königreich Lightlark. Dort wird alle hundert Jahre das Centennial ausgetragen – ein Wettkampf zwischen den sechs Herrschern, deren Reiche unter dem Bann leiden. Die Prophezeiung besagt: Einer von ihnen muss sterben, damit der Fluch endgültig gebrochen wird. Ein tödliches Spiel beginnt … Um zu überleben, muss Isla lügen, betrügen – und entscheiden, ob sie ihrem geheimnisvollen Mitstreiter Grim und ihren Gefühlen für ihn tatsächlich trauen kann.

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Seitenzahl: 637

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Über das Buch

Ein rätselhafter Fluch, ein tödlicher Wettbewerb und eine unmögliche Liebe

 

Isla Crown ist jung, schön – und als Herrscherin des Wildfolks dazu verdammt, jeden, in den sie sich verliebt, zu töten. Um diesen grausamen Fluch zu brechen, reist sie nach Lightlark. Doch kaum dort angekommen, gerät sie in ein gefährliches Netz aus Intrigen, Lügen und Geheimnissen. Denn jeder der sechs Herrscher verfolgt eine eigene Strategie, um die Prophezeiung zu erfüllen und das Centennial zu gewinnen. Und auch Isla selbst hat etwas zu verbergen. Um zu überleben, muss sie ihr Geheimnis um jeden Preis bewahren.

Als jedoch der undurchsichtige und mächtige Herrscher der Nightshade, Grim, Interesse an Isla zeigt, bringt er ihre Pläne – und ihre Gefühle – ins Wanken. Bald weiß sie nicht mehr: Wem kann sie in diesem tödlichen Spiel tatsächlich vertrauen?

 

Der fesselnde Auftakt zur Fantasy-Reihe von BookTok-Star Alex Aster

 

Von Alex Aster sind bei dtv außerdem lieferbar:

Nightbane (Band 2)

Alex Aster

Lightlark

Band 1

Aus dem amerikanischen Englisch von Michaela Kolodziejcok

 

 

 

 

 

Für Rron.

Ich könnte unsere Liebesgeschichte nicht schreiben,

selbst wenn ich es versuchte.

Kapitel 1

Isla

Isla Crown fiel oft durch Sternenpfützen bis an weit entfernte Orte. Immer ohne Erlaubnis und dem Anschein nach zu den schlimmsten Gelegenheiten.

Selbst nach fünf Jahren ließ das Teleportieren ihre Knochen immer noch ächzen. Sie umklammerte ihren Sternenstab und hielt den Atem in ihrer Brust fest unter Verschluss, so wie die kostbaren Parfüms in den verstöpselten Flakons auf ihrer Frisierkommode. Der gläserne Raum drehte sich und Farbfragmente flossen ineinander, bis die Schwerkraft Isla festpinnte wie einen losen Faden im Universum.

Als die Tür aufschwang, war der Stab bereits sicher hinten in ihrem Kleid versteckt, fest gegen ihre Wirbelsäule gedrückt.

»Was ist mit deinen Haaren passiert?«, kreischte Poppy so laut, dass Terra hinter ihr hereingestürmt kam, während die vielen Messer und Schwerter an ihrer Taille klirrend gegeneinanderschlugen.

Ihre Haare waren gerade Islas geringste Sorge, obwohl sie nicht bezweifelte, dass sie aussahen wie ein Bett aus Moos. Bei ihren Reisen zwischen den neuen Ländern des Reiches pflegten sogar die festesten Haarkränze und die engsten Zöpfe aufzugehen – ein unerwarteter Vorteil.

Isla behauptete nicht, eine Expertin im Umgang mit dem Stab zu sein. Am Anfang brachten die Sternenpfützen sie an überraschende Orte. Zu den Schneedörfern des Moonfolk. Zu den luftigen Quartalsfeiern des Skyfolk. Zu Ländern, die noch gar nicht von einem der sechs Reiche besiedelt worden waren. Nach und nach bekam Isla den Dreh heraus, an Orte zurückzukehren, an denen sie schon einmal gewesen war. Aber das war auch schon alles, was sie mit dem Sternenstab zu tun vermochte. Das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war, dass dieses mysteriöse Ding es ihr ermöglichte, in Sekundenschnelle Hunderte von Meilen weit zu reisen.

Terra seufzte und nahm die Hand vom Griff ihres Schwertes. »Es sind doch nur ein paar lose Strähnen, Poppy.«

Poppy ignorierte sie. Sie eilte zu Isla herüber und fuchtelte mit einer Bürste und einem Fläschchen voll sirupartigem Blattöl herum, so wie Terra Jahre zuvor Isla gelehrt hatte, die Waffen zu schwingen. Isla grinste ihre Kampflehrerin über Poppys Schulter hinweg an und schrie auf, als diese rabiat die Haarnadeln entfernte. Poppy, die unermüdlich versuchte, Isla die Wichtigkeit von Schönheit und Charme nahezubringen, schüttelte den Kopf. »Ich muss wieder ganz von vorn anfangen.« Sie klemmte sich die Nadeln zwischen die Lippen und nuschelte: »Ich lasse dich eine Stunde lang allein und du siehst aus wie rückwärts durch die Hecke gezogen. Ich habe vorsichtshalber sogar noch die Tür abgeschlossen! Wie in allen Reichen hast du es geschafft, dich hier in deinem eigenen Zimmer so in Unordnung zu bringen, Vögelchen?«

Deinem eigenen Zimmer. Es war nicht ihr Zimmer. Es war eine Glaskugel, die Überreste eines uralten Gewächshauses. Aber die Scheiben waren mit Farbe übermalt worden, die Fenster versiegelt. Alle Türen bis auf eine waren entfernt worden.

Sie war ein kleines Vögelchen, so wie Poppy und manchmal sogar Terra sie nannten.

Ein Vögelchen in einem Käfig.

Isla zuckte mit den Schultern. »Ich habe nur ein paar Schwertübungen gemacht.« Poppy und Terra waren ihre ganze Familie – obwohl sie nicht miteinander verwandt waren. Alle, die dasselbe Blut mit ihr geteilt hatten, waren schon lange tot. Trotzdem wussten nicht einmal die beiden von dem Sternenstab. Sie hätten ihr niemals erlaubt, ihn zu benutzen. Er war der einzige Schlüssel, um aus dem Vogelkäfig zu gelangen. Und Isla war nicht nur zu ihrer eigenen Sicherheit eingesperrt worden.

Sondern zur Sicherheit aller.

Terra beäugte sie misstrauisch, bevor sie den Blick auf die Wand richtete. Dutzende Schwerter hingen dort glänzend in einer Reihe wie ein improvisierter Spiegel. »Ein Jammer, dass du keins davon mitnehmen kannst«, sagte sie und ließ einen Finger über die Klingen gleiten. Sie hatte Isla jedes einzelne Schwert geschenkt, die alle aus der alten Waffensammlung des Schlosses stammten. Isla hatte sie sich mit jeder erfolgreichen Trainingseinheit und jeder dazugelernten Fertigkeit nach und nach verdient.

Poppy stieß ein Schnauben aus. »Das ist mal eine Centennial-Regel, der ich voll und ganz zustimme. Wir wollen doch nicht, dass sich die Völker der anderen Reiche in ihren schrecklichen Ansichten über uns auch noch bestätigt fühlen.«

Islas Magen begann nervös zu flattern.

Sie rang sich ein Lächeln ab, weil sie wusste, dass es Poppys Frustration mildern würde – ihre Hüterin sagte ihr immer, sie würde zu selten lächeln. Isla hatte noch nicht viele Menschen kennengelernt, aber die, die sie kannte, waren leicht zu durchschauen. Sie musste nur ihre Beweggründe herausfinden. Alle wollten irgendetwas. Und manche Dinge waren einfacher zu erfüllen als andere. Ein Lächeln für eine Lehrerin, die fast zwei Jahrzehnte damit zugebracht hatte, ihrer Schülerin Manieren beizubringen. Ein Kompliment für eine Frau, die Schönheit über alles schätzte. »Poppy, so hübsch du auch bist, all ihre schrecklichen Ansichten über uns sind wahr. Wir sind Monster!«

Poppy seufzte, als sie die letzte Haarnadel in Islas Locken schob. »Du nicht«, sagte sie bedeutungsvoll.

Und obwohl die Worte ihrer Hüterin in Liebe gehüllt waren – zum Glück –, erfüllten sie Isla gleichwohl mit Grauen.

»Sie sind bereit«, sagte Terra. Sie ging ein paar Schritte auf die Frisierkommode zu. Isla beobachtete sie dabei im Spiegel, dessen Ränder vom Alter fleckig waren. »Bist du es auch?«

Nein. Das würde sie niemals sein. Der Centennial war vieles. Ein Wettbewerb. Eine Chance, die vielen Flüche zu brechen, die auf den sechs Reichen lasteten. Eine Gelegenheit, unvergleichliche Macht zu erlangen. Eine Zusammenkunft der sechs Herrscher und Herrscherinnen. Hundert Tage auf einer Insel, die dazu verdammt war, nur alle hundert Jahre zum Vorschein zu kommen. Und für Isla …

Der fast sichere Tod.

Bist du bereit, Isla?, fragte eine Stimme in ihrem Kopf, spöttisch und grausam. Allein ihre Neugier konnte ihre Angst mildern. Sie hatte immer mehr gewollt … Mehr Erfahrungen, mehr Orte, mehr Menschen.

Der Ort, an den sie ging – Lightlark – hatte genau dieses Mehr zu bieten. Bevor ihre Hüterinnen die lose Scheibe in ihrem Zimmer entdeckt und versiegelt hatten, war Isla immer hinaus in den Wald geschlichen. Dort war sie einer Ältesten begegnet, die früher auf Lightlark gelebt hatte – so wie das gesamte Wildfolk, bevor die Flüche verhängt worden waren. Bevor der Großteil der Völker von der Insel floh, um im darauffolgenden Chaos neue Länder zu erschaffen. Die Geschichten der Ältesten waren wie Früchte an einem Baum – süß und von beschränkter Anzahl. Sie erzählten von Königen, die die Sonne in Händen hielten, von weißhaarigen Frauen, die das Meer tanzen ließen, von Schlössern in den Wolken und von Blumen, die zu purer Macht erblühten.

Das alles war vor den Flüchen gewesen.

Jetzt war die Insel ein Schatten ihrer selbst, gefangen in einem ewigen Sturm, der es jedem unmöglich machte, außerhalb des Centennials dorthin zu reisen.

Eines Nachts hatte Isla die Älteste auf der Seite liegend am Fuße eines Baumes gefunden. Fast hätte man denken können, die Frau schliefe, wären ihre gebräunte Haut nicht zu Rinde und ihre Adern zu Ranken geworden. Ein Wildling beherrschte die Natur im Leben und verband sich mit ihr im Tod.

Aber das Ableben der Ältesten hatte dennoch nichts Natürliches an sich gehabt. Selbst mit über fünfhundert Jahren, selbst ohne die Kraft von Lightlark war sie viel zu früh gestorben. Und ihr Tod war nur der erste von vielen gewesen.

Und daran war Isla schuld.

Terra blickte sie aus ihren dunkelgrünen Augen an, die die gleiche Farbe hatten wie die Blätter und der Efeu, die den Palast des Wildfolk wie eine Haut bedeckten. Die gleiche Farbe wie Islas Augen. »Bist du bereit?«, wiederholte Terra ihre Frage.

Isla nickte, obwohl ihre Finger zitterten, als sie nach der Krone griff, die vor ihr lag. Es war ein schlichter goldener Reif, verziert mit goldenen Knospen, Blättern und einer zischelnden Schlange. Sie setzte sie sich auf den Kopf, vorsichtig, damit die Spangen nicht verrutschten, die ihr nun wieder das lange dunkelbraune Haar aus dem Gesicht hielten.

»Wunderschön«, hauchte Poppy. Isla brauchte das Kompliment nicht, um zu wissen, dass es wahr war. Schönheit war die Gabe des Wildfolk – und sein Fluch. Ein Fluch, der Islas eigene Mutter getötet hatte. Was die Tatsache, dass sie ihrer Mutter angeblich bis aufs Haar glich, noch beunruhigender machte. Poppy begegnete Islas Blick im Spiegel und sagte scharf: »Du bist genau richtig, wie du bist, Vögelchen. Besser als irgendeiner von denen.«

Wenn es nur stimmte.

Isla spürte, wie ein Anflug von Panik sie überkam. Was, wenn dies das letzte Mal war, dass sie ihre Hüterinnen sah? Was, wenn sie niemals in ihr Zimmer zurückkehrte? Instinktiv streckten sich ihre Hände nach ihren beiden Hüterinnen aus, sie wollte sie ein letztes Mal berühren. Doch Terra warf ihr einen strengen Blick zu und Isla hielt in der Bewegung inne.

Sentimentalität ist selbstsüchtig, schien Terras Blick zu sagen.

Beim Centennial ging es nicht um sie. Es ging um die Rettung ihres Reiches. Um ihr Volk. Um jeden einzelnen Wildling.

Isla streckte den Rücken durch. Langsam stand sie auf, die Krone wog schwerer als ihr Gewicht. »Ich weiß, was ich zu tun habe«, sagte sie. Jeder Herrscher und jede Herrscherin kam mit einem eigenen Plan zum Centennial. Terra und Poppy hatten Isla ihren eingebläut, seit sie ein Kind gewesen war. »Ich werde eure Anweisungen befolgen.«

»Gut«, sagte Terra. »Denn du bist unsere einzige Hoffnung.«

 

 

Das Schloss des Wildfolk bestand aus mehr Außen- als Innenräumen. Die Flure waren Brücken. Bäume reckten ihre Arme in den Gang hinein und die Zweige streiften sacht Islas Kleid, als wollten sie sich von ihr verabschieden. Blätter raschelten zu beiden Seiten, als Isla durch die endlosen Gemächer ging, die sie nur zu seltenen Gelegenheiten und nur in Begleitung betrat, Poppy und Terra direkt hinter ihr. Ranken krochen über die Wände. Vögel flogen ein und aus, wie es ihnen beliebte. Der Wind blies heulend durch die Flure, sodass Islas Cape hinter ihr aufwogte. Sie war in Dunkelgrün gekleidet, zu Ehren ihres Reiches, der Stoff schmiegte sich an ihre Brust, ihre Taille, ihre Knie und umfloss sogar ihre Füße. Ihr Umhang war aus hauchdünner Gaze und so durchscheinend, dass er seinen eigentlichen Zweck des Verhüllens nicht mehr erfüllte. Die Beschaffenheit des Stoffes repräsentierte ihr Reich ebenso wie seine Farbe.

Das Wildfolk war schon immer stolz auf seine Körper gewesen, auf seine Schönheit und seine Fähigkeiten. Es hatte schon immer ungestüm geliebt, frei gelebt und wild gekämpft.

Vor fünfhundert Jahren war jedes der sechs Völker – Wildfolk, Starfolk, Moonfolk, Skyfolk, Sunfolk und Nightshade – verflucht worden und ihre jeweiligen Stärken hatten sich in ihre ganz eigenen, persönlichen Gifte verwandelt. Jeder Fluch war auf einzigartige Weise böse.

Das Wildfolk war mit einem Doppelfluch belegt worden. Seine Angehörigen waren dazu verdammt, jeden, in den sie sich verliebten, zu töten – und sich ausschließlich von menschlichen Herzen zu ernähren. Sie verwandelten sich in furchterregende, wunderschöne Monster mit der grausamen Macht, mit einem einzigen Blick zu verführen.

Tausende Männer und Frauen des Wildfolk waren seitdem getötet worden. Liebe wurde zu etwas Verbotenem. Wagemutigem. Immer weniger Kinder kamen zur Welt … und es hatte schon immer mehr Mädchengeburten im Reich gegeben. Obwohl Liebe in den verschiedensten Formen vorkam, wurden doch mehr Männer getötet, wenn sie gegen die Regeln verstießen, und so war das Wildfolk langsam zu einer Gemeinschaft von Kriegerinnen geworden. Gefürchtet. Gehasst. Schwach, denn weniger Menschen bedeuteten auch weniger Macht. Der Centennial war ihre einzige Chance, den Fluch zu brechen, um zu ihrer früheren Größe zurückzukehren und die so dringend benötigte Macht wiederzuerlangen. Isla war ihre einzige Chance.

Du bist unsere einzige Hoffnung.

Sie hörte sie, bevor sie sie sah. Sie sangen die uralten Worte und schlugen ihre Klingen wie Instrumente aneinander. Dass das Wildfolk Herrscher über die Natur war, war nicht zu übersehen. Blumen blühten auf und ergossen sich über Balkone in die Flure und machten erst zu Islas Füßen halt. Sie vermehrten sich explosionsartig, die Blüten breiteten sich wie ein Teppich vor ihr aus und schossen zu ihren Knöcheln empor. Der Überlieferung nach war das Wildfolk vor tausend Jahren in der Lage gewesen, mit nur einem halben Gedanken ganze Wälder sprießen zu lassen und mit einem Wink des Handgelenks Berge zu versetzen.

Inzwischen, hundert Jahre mit dem Fluch später und ebenso viele Jahre von der Insel und ihrer Energie entfernt, waren seine Fähigkeiten kaum mehr als bloße Partytricks.

Isla schritt vorsichtig über die Blüten hinweg, bis die Schlossmauern endeten und sie sich Hunderten ihrer jubelnden Untertanen gegenübersah.

Die Bäume quollen über von Kirschen und Beeren und blutroten Blüten, die auf die Menge herabfielen wie bunter Regen. Tiere krochen aus dem Wald hervor und setzten sich neben ihre menschlichen Gefährten. Die Fähigkeit, die Natur zu kontrollieren, war unter Islas Untertanen unterschiedlich stark ausgeprägt, aber die meisten von ihnen hatten eine tiefe Verbindung zu Tieren – Terra besaß einen großen Panther namens Shadow, mit dem sie genauso mühelos kommunizieren konnte wie mit Isla. Poppy hatte einen Kolibri, der sich gern in ihrem Haar einnistete.

Auf Islas Nicken hin verstummte die Menge.

»Es ist mir eine Ehre, unser Reich beim kommenden Centennial repräsentieren zu dürfen.« Islas Puls fing an zu hämmern, wie Trommelschläge an ihren Knochen. Sie ließ den Blick über ihr Volk schweifen und sah bildschöne, hoffnungsvolle Gesichter. Einige der Männer und Frauen trugen Kleider aus Stoff, der mit Blättern und Ranken durchwoben war. Andere trugen nichts außer ihren Schwertern, die an ihren Rücken herabhingen. Manche hatten eindeutig gerade erst gespeist, ihre Lippen waren tiefrot verschmiert. Als Isla es sah, bemühte sie sich, nicht zu zittern. Sie wollte nicht, dass ihre Stimme brach oder dass sie stolperte oder ihre Untertanen sich auch nur für einen Moment fragten, warum sich ihre Herrscherin hinter den dicken Schlossmauern versteckte. Warum es Dienern verboten war, ihren Trakt zu betreten. Sie versuchte, die Frage zu verdrängen, wie viele von ihnen bereits hundert Jahre zuvor der gleichen Kundgebung gelauscht hatten, aus dem Mund eines anderen Herrschers oder einer anderen Herrscherin. Wie viele von ihnen überhaupt noch am Leben waren, nach den jüngsten Todesfällen. Isla legte ein Versprechen ab, denn genau das brauchte ihr Volk jetzt. Gewissheit. Stärke. »Ich gelobe, unseren Fluch ein für alle Mal zu zerschlagen.«

Sie hätten allen Grund, sich Sorgen zu machen. Wenn Isla versagte, würde das für sie alle mindestens ein weiteres Jahrhundert der Verdammnis bedeuten. Es hatte bereits vier gescheiterte Centennials gegeben. Isla biss die Zähne zusammen und wartete darauf, dass man sie durchschaute, dass sich ihre Einschätzung dessen, was das Volk wollte, als falsch erwies.

Aber die Morgenluft war von Jubel erfüllt und Schwerter wurden über Köpfe gehoben. Vögel kreischten in den Baumwipfeln. Der Wind rauschte brüllend durch die Blätter. Erleichtert stieg Isla die Stufen hinab, beschmiert mit Blütenstaub. Die Natur zu ihren Füßen blühte auf, als die Menge sich teilte und ihr den Weg zum ältesten ihrer Zwillingsbäume freigab.

Die Wurzeln ragten in die Luft empor, verflochten sich ineinander und bildeten einen gewaltigen Torbogen, der so rund war wie ein Spiegel. Dahinter wartete die andere Seite des Waldes, sicher und vertraut. Aber dorthin ging Isla nicht. Sie schluckte. Sie hatte sich ihr ganzes Leben lang auf diesen Moment vorbereitet. Isla spürte, wie sich Terras und Poppys Hände auf ihre Schultern legten.

Sie schritt durch das Portal, das nur alle hundert Jahre funktionierte, ihre letzten Worte an ihre Hüterinnen waren ihr noch frisch im Gedächtnis: Ich werde eure Anweisungen befolgen.

Sie wünschte, sie wären keine Lüge gewesen.

Kapitel 2

Die Insel

Das Portal schloss sich hinter ihr und erstickte die Jubelschreie in plötzlicher Stille. Nur noch Islas stockender Atem war zu hören. Sie tat einen Schritt nach vorne und ein Gleißen wie von Tausenden verglühenden Sternen und Sonnen blendete sie.

Isla torkelte zur Seite. Eine Hand packte sie und hielt sie fest.

»Öffne die Augen«, sagte eine Stimme, so dunkel und schwer wie die tiefste Nacht.

Isla hatte nicht mal bemerkt, dass sie sie geschlossen hatte. Sie blinzelte, die Welt schwankte, aber dann wurde der Boden unter ihren Füßen wieder fest. Diese Art des Reisens war weitaus unangenehmer, als den Sternenstab zu benutzen.

Das Gesicht des Mannes, der auf sie herabblickte, schien amüsiert. Und irgendwie vertraut. Er war so groß, dass Isla den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen zu sehen. Sie waren schwarz wie Kohle. Sein Haar ergoss sich tintengleich über seine blasse Stirn. Ein Nightshade, keine Frage. Das bedeutete …

»Danke, Grimshaw«, sagte Isla mit fester Stimme. Sie richtete sich schnell auf und sah sich um, in der Hoffnung, dass niemand sie hatte wanken sehen. Sie konnte Poppy und Terra förmlich schimpfen hören.

Aber abgesehen von Isla und dem Nightshade war die Klippe leer. Sie drehte sich um und ein leises, kratziges Keuchen entschlüpfte ihrer Kehle. Unter ihr tobte wütend das Meer. Um ein Haar hätte sie sich zu den vorspringenden Felsen gesellt und die Pläne zur Rettung ihres Volkes wären zunichte gewesen, noch bevor der Centennial überhaupt begonnen hatte.

Alle ihre Pläne wären zunichte gewesen.

»Na, so was, das hätte ins Auge gehen können!« Der Nightshade-Herrscher grinste und offenbarte ein Grübchen, das in seinem grausam geschnittenen Gesicht völlig fehl am Platz wirkte. »Nenn mich einfach Grim, Isla.«

Grim. Ein Name, so grauenvoll wie der Mann, der ihn voller Stolz trug. Der Name passte zu ihm. Hinter diesem Grinsen lag tatsächlich etwas Grimmiges, ein schwacher Schatten, der in der Dunkelheit monströs werden konnte.

»Sind wir uns schon einmal begegnet?« Es war nicht die Tatsache, dass er ihren Namen kannte, nein. Das war zu erwarten gewesen. Es war auch nicht die Tatsache, dass er ihn perfekt aussprach, mit einem zischelnden Konsonant wie ein Schlangenlaut. Da war etwas anderes …

Sein Grinsen bröckelte. »Wenn wir es getan hätten …« Er senkte kurz den Blick, »dann wäre es nicht bei einem Mal geblieben.«

Isla spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Abgesehen von ein paar streng überwachten Begegnungen oder ihren heimlichen Sternenstab-Reisen in die anderen neuen Länder hatte sie nicht viel Zeit mit Männern verbracht.

Vor allem nicht mit Männern, die aussahen wie er.

Vor allem nicht mit Männern, die anscheinend keine Angst vor ihr und ihrem Wildfolk-Fluch hatten.

Sie runzelte die Stirn. Er sollte Angst haben. Wenn ein Wildling es darauf anlegte, konnte er einen anderen Menschen dazu bringen, sich von der Klippe zu stürzen. Es war unmöglich, den Betörungskünsten dieses Volkes zu widerstehen – obwohl der Gebrauch dieser Macht während der kommenden hundert Tage verboten war. Der Nightshade glaubte wohl, er wäre sicher.

Das war er nicht.

Jeder Centennial war ein gigantisches Spiel, eine Chance, einzigartige Fähigkeiten zu erlangen. Es hieß, dass derjenige, der die Flüche brach, indem er die Prophezeiung erfüllte, sämtliche Kräfte erhalten würde, die nötig seien, um ebensolche Flüche heraufzubeschwören – es war der ultimative Preis.

War Grims Geflirte nur ein Ablenkungsmanöver?

Isla starrte ihn ernst an.

Und er grinste noch breiter.

Interessant.

Seit die Flüche verhängt worden waren, kam die Insel Lightlark alle hundert Jahre für genau hundert Tage zum Vorschein, erlöst von dem unüberwindbaren Sturm, der sie sonst umschloss. Dann waren die Herrschenden eines jeden Reiches eingeladen, aus ihren neuen Ländern, die sie nach ihrer Flucht von Lightlark besiedelt hatten, anzureisen und zu versuchen, die Flüche zu brechen, die ihre jeweiligen Kräfte und die Insel selbst lähmten. Alle Reiche außer dem der Nightshade. Dieses Volk besaß die Macht, einen Fluch auszusprechen. Das machte es zum Hauptverdächtigen, jenen verhängnisvollen Bann überhaupt erst erschaffen zu haben, obwohl Nightshade-Angehörige es vehement bestritten. Dieses Jahr allerdings schien der König von Lightlark wirklich verzweifelt zu sein. Denn es war der erste Centennial, zu dem auch das Nightshade-Volk eingeladen worden war.

Grim ergriff erneut ihren Arm. Bevor Isla protestieren konnte, schob er sie sanft zur Seite. Eine Sekunde später strahlte ein großes Symbol – das Emblem, das alle sechs Reiche repräsentierte – am Rand der Klippe golden auf und eine Gestalt erschien aus dem Nichts, genau dort, wo Isla gerade noch gestanden hatte.

Ein blassblauer Umhang knallte im Wind, bevor er niedersank und sich um nackte, sehr dunkle Schultern und muskulöse Arme legte. Der Mann hatte Brauen, die größer waren als seine Augen, ein scharf geschnittenes Kinn und einen makellosen, kurz gestutzten Bart, der seinen rosafarbenen Mund umrahmte. Azul, Herrscher des Skyfolk. Isla kannte ihre Namen, seit sie sprechen konnte. Azul und Grim waren uralt, über fünfhundert Jahre. Sie hatten bereits an dem Tag gelebt, als die Flüche ausgesprochen worden waren. Sie waren Legenden – im Vergleich zu ihnen war sie selbst ein Niemand.

Aber Jahrhunderte hatten Azul und Grim offenbar nicht gereicht, um Freunde zu werden. Der Skyling bedachte den Nightshade mit einem knappen Nicken und Grims Lächeln wurde boshaft. Spöttisch. Azul wandte sich zu Isla um, verbeugte sich tief und ergriff ihre Hand.

»Wie schön, dass es bei diesem Centennial frisches Wildling-Blut gibt«, sagte er. Seine hellen Augen begegneten den ihren, dann blickte er auf ihre Finger, an jedem davon steckten Ringe mit Edelsteinen, so groß wie Eicheln. Auch wenn die anderen Reiche das Wildfolk gern als Primitivlinge betrachteten, ihr Reichtum war unbestritten. Es hatte durchaus Vorteile, wenn man die Natur kontrollieren konnte. »Bei allen Wolken, so einen großen Diamanten habe ich ja noch nie gesehen.«

Für Isla war es einfach nur ein Stein. Ein sehr hübscher Stein, zugegeben, aber nichts, was in Hülle und Fülle vorhanden war, schien je etwas Besonderes zu sein. Juwelen entstanden, indem man große Macht auf die Natur ausübte, und im Laufe der Jahrhunderte hatten die glitzernden Edelsteine im Boden des Wildfolk-Reiches gekeimt und waren dann daraus emporgewachsen und erblüht wie Blumen. Es war schwierig, in Islas Land nicht über irgendeinen kostbaren Stein zu stolpern, was sie allerdings nur aus Büchern wusste und nicht aus eigener Erfahrung.

Das dachten zumindest Terra und Poppy.

Terra sagte immer, dass sie dank dieser Glitzersteinchen über einen nie abreißenden Nachschub an frischen Herzen verfügten. Denn immer wieder schlichen sich törichte, dreiste und listige Diebe aus anderen Reichen auf den Grund und Boden des Wildfolk, um Diamanten zu stehlen.

Isla lächelte. Der Skyling mochte also Juwelen. Ohne zu zögern, zog sie einen der Ringe ab und steckte ihn auf Azuls längsten Finger. »Er steht dir viel besser als mir.«

Azul sah aus, als wollte er widersprechen – tat es aber nicht.

Da tauchte noch jemand auf und trat leichtfüßig an ihnen vorbei, als wäre das Durchschreiten von Portalen das reinste Kinderspiel. Die Frau wandte sich zu Isla um. Die Missbilligung war ihr ins Gesicht geschrieben so wie anderen Menschen die Freude. »Das ist also unser neuestes Spielzeug, ja?«

Glut entfachte in Islas Brust. Die anderen Reiche betrachteten die Kriegerinnen als wilde Verführerinnen, Raubtiere, die Liebhaber anlockten und sich dann an deren Herzen gütlich taten.

Und Isla konnte es ihnen wirklich nicht verübeln. Denn es kam der Wahrheit sehr nahe.

Aber sie waren so viel mehr. Zumindest waren sie so viel mehr gewesen. Und könnten es wieder sein.

Ein Teil von ihr wollte etwas erwidern, das sie wahrscheinlich bereuen würde, doch Isla wusste, dass die Moonfolk-Herrscherin nur darauf aus war, sie zu provozieren. Sie versuchte, das Monster in Isla hervorzulocken, um den anderen zu beweisen, dass sie nichts weiter war als eine blutrünstige Bestie. Stattdessen verbeugte sich Isla. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Cleo«, sagte sie und nickte leicht mit dem Kopf. Cleo war die Älteste unter ihnen, sie war sogar noch älter als der König von Lightlark, der gleichzeitig der Herrscher über das Sunfolk war. Ihr Alter stand im krassen Widerspruch zu ihrem makellos glatten, jugendlichen Gesicht. Obwohl die meisten Herrscher und Herrscherinnen Hunderte von Jahren älter waren, war es beinahe unmöglich, einen Unterschied zwischen ihnen und Isla zu erkennen. Beinahe.

Statt eine weitere Beleidigung von sich zu geben, reckte Cleo bloß das Kinn und musterte höhnisch Islas grünes Kleid, als wäre Isla nackt auf die Insel gekommen. Im Vergleich zu Cleos Aufzug war sie das wohl auch. Das weiße Gewand der Moonfolk-Herrscherin hatte lange Ärmel wie milchige Mondstrahlen und einen Kragen, der bis an ihr Kinn hochreichte. Darüber trug sie einen Umhang, der drei Viertel ihres Körpers komplett verhüllte. Das bisschen Haut, das Isla sehen konnte, war so hell, dass die Adern wie blaue Schlieren in weißem Marmor hindurchschimmerten. Cleo war nicht nur etliche Nuancen heller als Isla, sondern auch viel größer. Ihr Gesicht bildete ein langes, spitzes Dreieck, die Wangenknochen und das Kinn hatten die Form eines Diamanten.

Das Symbol leuchtete ein letztes Mal auf und ein Mädchen trat vor, das leicht stolperte. Sie war so silbern wie die Sterne, von ihren langen, glatten Haaren bis zu ihrem funkelnden Kleid und den Handschuhen, die ihr bis zu den Ellenbogen reichten. Sie lächelte ihnen verlegen zu und ihr herzförmiges Gesicht zog sich in die Breite. Dann straffte sie die Schultern. »Ich nehme wohl an, ich bin die Letzte?«

Cleo richtete ihren Groll sofort auf das Mädchen. Die Herrscherin des Starfolk war neu, genau wie Isla. Der Fluch, der auf ihrem Volk lastete, war einer der grausamsten. Niemand in ihrem Reich wurde älter als fünfundzwanzig Jahre.

Isla trat auf den Neuankömmling zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Celeste, nicht wahr?«

Der Starling lächelte freundlich. »Hallo, Isla.«

»Enchanté«, sagte Grim und machte eine Verbeugung, die wie eine Verhöhnung derer wirkte, die Azul nur wenige Augenblicke zuvor gemacht hatte.

Der Skyling runzelte kurz die Stirn, bevor auch er Celeste zur Begrüßung seine Hand anbot, an der nun Islas Diamant glitzerte. »Noch mehr frisches Blut. Ich habe ein gutes Gefühl bei diesem Centennial.«

Cleo zog eine Augenbraue hoch und sah ihn an. »Sie hoffentlich auch«, sagte sie und nickte in Celestes Richtung. »Denn beim nächsten Mal wird sie nicht mehr dabei sein.«

Dem Starling englitten die Gesichtszüge. Und der Moonling drehte sich einfach um, wobei ihr weißer Umhang kurz aufwallte.

»Mach dir nichts daraus«, sagte Azul mit einem Augenzwinkern zu Celeste. »Sie behandelt jeden so abschätzig.«

Die Herrscher und Herrscherinnen machten sich auf den Weg zum Palast und Islas Herz pochte aufgeregt. Sie war so auf die anderen konzentriert gewesen, dass sie ihrer Umgebung noch gar keine Beachtung geschenkt hatte. Das ganze restliche Jahrhundert lang war die Insel in ihrem Sturm eingeschlossen. Doch jetzt hatten die Wolken sich verzogen.

Die Insel war ein leuchtendes, zerklüftetes Ding. Ihre Steilküsten waren so weiß wie Knochen und Sonnenlicht regnete in neblig-goldenen Strömen herab. Lightlark war eine der ursprünglichen Quellen der Macht, die immer noch im Boden widerhallte und Isla mit leisem Summen betörte. Mit jedem Schritt, mit jedem Atemzug konnte sie ihre Kraft spüren. Isla nahm die Insel gierig in sich auf. Sie war wie der Wein, den sie nie anrühren durfte – genauso süchtig machend und gefährlich.

Isla dachte an die Dinge, die Poppy sie gelehrt hatte, Fakten auf Papier, die jetzt real und zum Greifen nah vor ihr lagen.

Vor Tausenden von Jahren war die Insel in mehrere Stücke zerteilt worden und jedem Reich wurde ein Teil zugesprochen. Das Volk der Nightshade verließ kurz darauf die Insel, um sein eigenes Land zu gründen. Das Wildfolk ging nach dem Fluch fort. Die verbliebenen Teile waren Star Isle für das Starfolk, Sky Isle für das Skyfolk, Moon Isle für das Moonfolk und Sun Isle für das Sunfolk. Dann gab es noch die Hauptinsel, wo sich traditionsgemäß alle Reiche versammelten. Sie war das Herzstück des Centennials.

Und sie war das Zuhause der königlichen Familie von Lightlark.

Ihr Schloss lag nicht weit entfernt. Es thronte hoch oben auf einer Klippe wie ein Kronjuwel und ragte gefährlich über das Meer hinaus. Es war groß genug, um eine eigene Stadt zu bilden. Und das war auch gut so, denn seine Bewohner konnten es nie verlassen.

Zumindest nicht tagsüber.

Anscheinend hatte Isla das Schloss angestarrt, denn Celeste neben ihr seufzte. »Glaubst du, er beobachtet uns?«, fragte sie leise.

Er. Der Herrscher des Sunfolk und König von Lightlark. Der letzte verbliebene Hiesige, durch dessen Adern das Blut aus allen vier Reichen floss, die immer noch auf der Insel ansässig waren. Er beherrschte jede der vier Lightlark-Mächte.

Und nach allem, was man so hörte, war er unausstehlich.

Auf Lightlark und auch jenseits davon hatte Liebe einen hohen Preis. Sich wahrhaftig und mit Haut und Haaren zu verlieben bedeutete, dass der geliebte Mensch uneingeschränkten Zugang zu den eigenen Fähigkeiten erhielt und mit ihnen tun konnte, was er wollte. Sie benutzen, sie zurückweisen. Sie sogar stehlen.

Der Herrscher von Lightlark war sich darüber im Klaren, dass viele Menschen Zugang zu seiner unendlichen Macht haben wollten, und war daher überaus misstrauisch. Paranoid. Kalt. Isla fürchtete sich davor, ihm zu begegnen. Vor allem angesichts dessen, was Poppys und Terras Plan für sie als nächsten Schritt bereithielt.

Sie starrte wieder zum Schloss hinüber und unterdrückte ein Schaudern. Stattdessen ließ sie kurz ihre charmante Maske fallen und machte eine obszöne Geste in Richtung des Palastes.

Das Spiel hatte offiziell begonnen.

»Das hoffe ich doch.«

 

 

Vor den Toren des Schlosses erwartete sie eine Menschenmenge. Angehörige des Starfolk, Moonfolk und Skyfolk.

In der Nacht der Flüche vor fünfhundert Jahren waren alle sechs Herrscher ums Leben gekommen. Ihre Macht und Verantwortung waren auf ihre Nachfolger übergegangen und bis auf den neuen König waren alle von ihnen von Lightlark geflohen, um Hunderte von Meilen von der Insel und voneinander entfernt neue Länder zu gründen.

Ein paar Untertanen waren auf der Insel geblieben.

Einmal hatte Isla eine der Wildfolk-Ältesten gefragt, warum irgendwer mitten in dem verwunschenen Sturm, der die Insel völlig vereinnahmte, leben wollte.

Die Macht liegt der Insel im Blut und in den Knochen, hatte sie gesagt. Lightlark verlängert unsere Leben, gibt uns Zugang zu einer Macht, die größer ist als unsere eigene. Und außerdem … für viele ist Lightlark einfach ihr Zuhause.

Niemand aus dem Wildfolk war auf der Insel geblieben. Isla würde von ihren Leuten also keine Unterstützung bekommen.

Sie war auf sich allein gestellt.

»Keine Sorge«, sagte eine tiefe, spöttische Stimme neben ihr. »Ich habe hier auch keine glühenden Fans.«

Die Leute beobachteten Grim mit einer Mischung aus Angst und Abscheu – Isla studierte aufmerksam ihre Reaktionen. Grim sah aus wie die leibhaftig gewordene Nacht, ein Schatten, gewoben aus seidener Dunkelheit. Wenn ein Wildling auf Lightlark schon verachtet wurde, so schien ein Nightshade geradezu verhasst zu sein. Und nach dem, was Terra und Poppy erzählt hatten, war dieses Volk auf der Insel noch nie wirklich akzeptiert gewesen. Es hatte sein eigenes Land, eine Festung, die es seit Tausenden von Jahren aufrechterhielt.

Und der Krieg zwischen dem Reich der Nightshade und Lightlark hatte sein Übriges getan.

Isla sah Grim nicht an, obwohl sie seinen bohrenden Blick auf sich spürte. Es war irritierend. Sie hatte das diffuse Gefühl, ihre Haut stünde unter Strom. »Ich bin sicher, dass du zu Hause mehr als genug Aufmerksamkeit erhältst.« Sie lächelte höflich in die Menge, um die Reaktion der Leute auf sich selbst auszutesten. Manche erwiderten das Lächeln zaghaft. Andere schreckten sichtlich vor ihrem Anblick zurück, vor ihr, der Herzen verschlingenden Verführerin. Es überraschte sie nicht. Alles, was sie verkörperte, war verboten. Eine Moonfolk-Frau hielt ihrem Kind sogar die Augen zu und malte mit der freien Hand ein Zeichen in die Luft, als wollte sie einen Dämon abwehren.

»Ja, das tue ich«, räumte er ein. »Trotzdem bin ich nicht … befriedigt.«

Isla ignorierte ihn. Sie würde mit ihm nicht dieses Spielchen spielen, was immer es war. Sie musste ihr eigenes Spiel spielen.

Das Innere des Schlosses sah aus, als wäre dort eine Sonne explodiert und ihr Glanz hätte sich über die Mauern ergossen – eine Hommage an die Ahnen des Sunfolk, die es erbaut hatten. Alles war golden. Butterweiches Sonnenlicht strömte durch die tiefen Fenster und hüllte das Foyer in ein Glitzern, das von dem glatten, glänzenden Boden zurückgeworfen wurde. Isla kniff geblendet die Augen zusammen, als befände sie sich noch immer draußen im Freien. An der Decke loderte ein Kronleuchter aus Feuer. Statt mit funkelnden Kristallen war er mit Flammen behangen.

Der Sunfolk-Herrscher war nicht da, um sie persönlich zu begrüßen. Das konnte er nicht, selbst wenn er gewollt hätte, was Isla jedoch stark bezweifelte. Das Sunfolk war dazu verdammt worden, niemals die Wärme der Sonne zu spüren oder die Helligkeit des Tages zu sehen – es war dazu gezwungen zu meiden, was ihm Macht verlieh. Der König von Lightlark war gefangen in der Dunkelheit seiner Gemächer und konnte nur nachts herauskommen. Was das anging, so dachte Isla, hatten sie etwas gemeinsam. Auch sie hatte viel Zeit gefangen in einem Raum zugebracht.

Eine Frau in Starfolk-Silber verbeugte sich vor ihnen. Ein kleiner Pulk Bediensteter hinter ihr tat es ihr gleich. Jedem Herrscher und jeder Herrscherin wurde für die gesamte Dauer des Centennials ein Diener oder eine Dienerin zur Seite gestellt. »Es wäre uns ein Vergnügen, Sie in Ihre Gemächer zu geleiten.«

Jeder Herrscher wurde in einen anderen Teil des Schlosses gebracht. Weit voneinander entfernt. Isla wusste nicht, was sie davon halten sollte. Das war pure Absicht – der Centennial war bis ins kleinste Detail durchdacht, das wusste sie von Terra.

Ein junges Starfolk-Mädchen kam langsam von der Seite her auf sie zu, zögerlich, so wie sich ein Kind vielleicht einer zusammengerollten Schlange nähern würde. »Mylady«, sagte sie mit so leiser Stimme, dass Isla sich vorbeugen musste, um sie zu hören, worauf das Mädchen erschrocken zusammenfuhr. Isla widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. Glaubte das Mädchen allen Ernstes, sie würde sich hier mitten im Foyer ihr Herz zu Gemüte führen? Ihr Volk war wild, ja, aber sie waren doch keine Tiere. »Folgt mir.«

»Isla«, sagte sie zu dem steifen Rücken der Dienerin, als diese spürbar nervös loseilte. Früher oder später wäre Isla auf die Hilfe des Mädchens angewiesen – sie musste also zusehen, dass sie irgendwie ihre Loyalität gewann. »Nenn mich doch Isla.«

»Wie Sie wünschen«, murmelte das Mädchen.

Sie lotste Isla eine gewundene Treppe hinauf, die mitten durch das Schloss führte und durch ein unglaubliches Gewirr an Gängen, die wie Stege kreuz und quer über- und untereinander verliefen. Aber im Gegensatz zum Schloss des Wildfolk wurde dieser Palast immer verschachtelter und enger, je tiefer sie vordrangen. Er erinnerte Isla an ein Höhlenlabyrinth. Oder an ein Verlies. Sie stellte sich plötzlich den König als eine uralte Bestie vor, die im Dunkeln gefangen war. Verloren im Labyrinth, das sein Schloss war. Sie erreichten einen vollkommen fensterlosen Abschnitt. Die Gänge wurden kälter, die Mauern dicker.

Das Mädchen blieb vor einer alten Steintür stehen. Mit all der Kraft, die sie aufbringen konnte, stieß sie sie auf.

Jemand hatte es geschafft, genau in der Mitte des Raums einen Baum zu pflanzen, eine Eichenart mit rötlichen Blüten und Früchten, die Isla nicht kannte. Seine Wurzeln hatten einfach den Steinboden durchbohrt. Efeu kroch in einem hübschen Muster über die Decke bis hinüber zu der Wand mit dem Bett, das von einem bodentiefen Vorhang aus Blättern umgeben war.

Und da war noch mehr. Isla durchquerte den Raum und trat auf einen breiten, verschnörkelten Balkon, der übers Meer hinausragte. Gefährlich weit. Unter ihr schäumten Wellen. Das Schloss war wie ein neugieriges Kind, das sich oben an der Spitze eines Berges zu weit über den Rand lehnte.

Isla verzog das Gesicht. »Ich hoffe nur, die Konstruktion ist stark genug?« Es schien, als könnte der Balkon jeden Moment abbrechen oder das Schloss selbst beim nächsten Sturm von den Klippen rutschen.

»So stark wie der König selbst, nehme ich an.«

Ja, richtig. Isla hatte es im Unterricht gelernt. Der König von Lightlark kontrollierte nicht nur die Macht der Insel – er selbst war die Macht.

Wenn ihm etwas zustieße, würde das ganze Land auseinanderbrechen und alle Lightlark-Reiche würden untergehen. Darum war er auch so vorsichtig. Nicht aus Angst, getötet zu werden, sondern aus Angst, dass jemand ihm diese schreckliche Macht wegnahm.

Noch eine Gemeinsamkeit. Auch Isla konnte sich nicht verlieben.

Also, sie konnte schon, aber jeder fürchtete sich davor, von einem Wildling geliebt zu werden. Ihr Fluch verwandelte Liebe in ein sicheres Todesurteil.

Zugegebenermaßen nicht gerade der optimale Nährboden für Romantik.

Aber bislang hatte dies in Islas relativ kurzem, zurückgezogenem Leben auch keine Rolle gespielt. Und trotzdem …

Wie grausam musste ein König sein, der seit mehr als fünfhundert Jahren Angst davor hatte, sich zu verlieben?

Das würde sie wohl bald herausfinden.

»Abendbrot gibt es um acht«, sagte das Starfolk-Mädchen, bevor sie sich daranmachte, das bereits gewaltige Feuer im Kamin gegenüber dem Bett weiter anzuschüren.

»Es ist warm genug«, sagte Isla. »Mach dir also keine Mühe.«

Die Starfolk-Dienerin machte weiter und stocherte mit geübten Griffen in der Kohle. »Der König hat den strikten Befehl erteilt, dass die Feuer ständig brennen müssen.«

Was für ein merkwürdiger Befehl, dachte Isla. Doch noch bevor sie nach dem Grund fragen konnte, hatte das Starfolk-Mädchen bereits den Raum durchquert. Sie verbeugte sich noch einmal schnell, dann schloss sie die Tür hinter sich.

Isla hatte gerade die Inspektion des Badezimmers beendet – geräumiger als das bei ihr zu Hause und sogar mit einer Wanne ausgestattet, die groß genug war, um ein paar Schwimmzüge zu machen –, als es an ihrer Zimmertür klopfte.

Sie öffnete zögernd.

Celeste stand davor.

Sofort fiel Isla der Starfolk-Herrscherin um den Hals. Sie hüpften zusammen im Kreis, eng umschlungen, und lachten so ausgelassen, dass Isla schnell die Tür zuschlug, damit es nicht im ganzen Flur widerhallte.

Celeste zog eine Augenbraue hoch. »Celeste, nicht wahr?«, sagte sie und gab eine erschreckend gute, aber wenig schmeichelhafte Imitation von Isla zum Besten. Sie warf ihren silbernen Kopf in den Nacken und lachte.

Isla lächelte angestrengt, während sie überlegte, ob sie womöglich nicht überzeugend genug gewesen war. »Glaubst du, sie …«

»Sie hegen nicht den geringsten Verdacht«, schnitt Celeste ihr das Wort ab. Sie schnalzte mit der Zunge und griff in Islas Haar. »Ich dachte, du wolltest es abschneiden.«

Isla seufzte. »Ich hab’s versucht. Ein Blick auf die Schere und Poppy hätte mich fast damit erstochen. Sie hat sämtliche Scheren in meinem Zimmer konfisziert.«

»Konfisziert?« Celeste wirkte empört. »Darf ich dich daran erinnern, dass du die Herrscherin über dein Reich bist?«

Isla lachte gequält. Sie drehte sich um und ging einen Schritt weiter ins Zimmer hinein, Celestes Hand wanderte geradewegs an ihren Rücken. »Du hast ihn mitgebracht?«

Isla warf einen Blick in den Spiegel – entlang ihrer Wirbelsäule war ein schwaches Schimmern zu sehen. Sie fluchte und holte den Sternenstab hervor. Hoffentlich hatte niemand sonst etwas bemerkt. »Ich konnte ihn nicht zurücklassen.«

Celeste wiegte den Kopf. »Das ist riskant. Du musst ihn gut verstecken.« Sie hatte recht. Wenn jemand herausfände, dass Isla den Stab hatte, wäre ihr geheimes Bündnis in Gefahr.

Isla hatte den Sternenstab fünf Jahre zuvor zwischen den Sachen ihrer Mutter entdeckt. Ihre Sehnsucht nach Freiheit war größer gewesen als die Angst davor, sich an gefährliche Orte zu teleportieren, und so war sie monatelang durch die Reiche gereist, bis sie schließlich auf Celeste traf. Damals waren sie sich zum allerersten Mal begegnet.

Celeste hatte den Sternenstab auf Anhieb als ein uraltes Starfolk-Relikt erkannt. Isla hatte keine Ahnung, wie ihre Mutter vor ihrem Tod in seinen Besitz gekommen war. Und da Celestes Familie wegen des Fluches, der alle in ihrem Reich mit fünfundzwanzig Jahren dahinraffte, schon lange tot war, wusste auch sie es nicht.

Obwohl der Stab dem Starfolk gehörte, hatte Celeste ihn nie zurückgefordert. Das war der Beginn ihrer Freundschaft gewesen – zwei Herrscherinnen über Reiche, ihre Länder Hunderte von Meilen voneinander entfernt, die aber eines gemeinsam hatten: Sie mussten beide an diesem Centennial die Flüche brechen.

Für Celeste bedeutete die Zerschlagung des Fluches den Unterschied zwischen Leben und Tod. Nicht nur für sie selbst, sondern für ihr gesamtes Volk.

Für Isla … waren die Dinge sogar noch komplizierter. Keiner ahnte, wie klein ihr Reich inzwischen geworden war. Viel mehr Angehörige ihres Volkes waren gestorben als geboren worden. Mit jeder Generation schwanden ihre Kräfte mehr und mehr dahin. Wälder waren geschrumpft, Wildtiere ausgestorben. Bei der Geschwindigkeit, in der ihr Land und ihr Volk verkümmerten, würde es beim nächsten Centennial keine ihrer Art mehr geben.

Isla war nie einverstanden gewesen mit Terras und Poppys Plan. Er war zu kompliziert. Zu entwürdigend.

Also hatte sie zusammen mit Celeste eine neue Strategie entwickelt.

»Ich sollte jetzt gehen«, sagte ihre Freundin, nachdem sie sich ausgiebig in Islas Zimmer umgeschaut hatte. »Nur fürs Protokoll – deine Unterkunft ist schöner als meine. Allerdings liegt mein Zimmer nicht in solch einer zugigen, ollen Ecke des Schlosses.«

Isla rollte mit den Augen. »Wir sehen uns beim Abendessen.«

Celeste drehte sich auf dem Weg zur Tür noch einmal um und ihr Mund verzog sich zu einem listigen Lächeln. »Es hat begonnen.«

Kapitel 3

Blut

Die Sonne stand bereits tief. Sie war nur noch ein gelbes Dotterding, halb verschlungen vom Horizont, als Isla die Flügeltüren aufstieß und zum aufgehenden Mond hochstarrte. Sie war gerade dabei, sich umzuziehen, und trug nur einen Slip. Eine Brise blies in die zarten weißen Vorhänge, sodass ihr Stoff sanft über Islas Arme, ihre nackten Knie und Zehen strich. Isla trat hinaus auf den Balkon, der Steinboden fühlte sich kalt an unter ihren Füßen. Sie sog die frische, salzhaltige Luft ein.

Vorsichtig kletterte sie auf das breite Sims der steinernen Brüstung und zog die Knie an die Brust. Und genau wie zu Hause, wenn sie allein in ihrem Zimmer war und sich ängstlich und einsam und gefangen fühlte, fing sie an zu singen.

Das Singen war etwas, das ihr Volk einfach tat, etwas, das Verführerinnen taten. Genau wie ihre Schwestern, die Meeressirenen. Islas Stimme war überirdisch schön, wie Samt und Seide und tiefe Träume. Sie war sich dessen bewusst und sie mochte ihren Klang. Sie mochte, dass ihre Stimme mal so dunkel wie der Meeresgrund und dann wieder so hell wie ein Windspiel war. Sie brauchte keine begleitende Musik. Das Meer unter ihr war Instrument genug. Die Wellen schlugen rau gegen die grausig weißen Klippen und bäumten sich schäumend auf, als wollten sie einen Blick auf Isla erhaschen.

Sie sang und sang, Worte ohne Bedeutung und Melodie, schraubte ihre Stimme in die Höhe, ließ sie in die Tiefe abgleiten und vibrieren. Sie sang für das Meer, für den Mond und die hereinbrechende Dunkelheit. Für all die Dinge, die sie durch ihre übermalten Fensterscheiben im Wildfolk-Reich nicht hatte sehen können. Schließlich endete sie auf einer hohen Note und ließ diese so lange wie möglich ausklingen, ohne erneut Luft zu holen. Sie lächelte leise vor sich hin, immer wieder überrascht davon, welche Töne aus ihrem Mund kamen. Immer wieder erleichtert darüber, wie ihr Gesang selbst die düstersten Gedanken vertrieb.

Und dann erklang Beifall.

Isla fuhr herum und sah eine Gestalt auf einem anderen Balkon, der zwar nur wenige Meter entfernt, aber so tief eingebaut war, dass sie ihn nicht bemerkt hatte. Nur mit einem Slip bekleidet und völlig überrascht, schnappte Isla nach Luft. Vor Schreck wirbelte sie zu schnell herum. Ihre Arme ruderten an ihren Seiten, aber es war zwecklos – die Schwerkraft war zu stark.

Isla kippte hintenüber und fiel.

Ihr Atem sprudelte aus ihrer Brust heraus und sie schrie lautlos, als sie fiel, ruderte in der Nachtluft herum, als könnte sie sich an den Sternen festhalten.

Aber durch ihre Finger strömte nur Luft und sie fiel und fiel …

Bis das Meer genau unter ihr tobte und ihr Kopf auf dem Wasser aufschlug.

 

 

Isla fuhr jäh hoch und erbrach Meerwasser. Ihre Kehle brannte. Sie blinzelte und blinzelte. Wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

Und stellte fest, dass sie sich wieder auf ihrem Balkon befand, inmitten einer Pfütze. Ihre Haare waren triefend nass. Ihr Slip klebte an ihrem Körper und war vollkommen durchnässt. Ihr Schädel pochte schmerzhaft am Scheitel. Als sie die Stelle behutsam betastete, erwartete sie, dass an ihren Fingern Blut kleben würde. Aber da war keins.

Sie war eindeutig am Leben. Nicht ertrunken, so wie sie es hätte sein müssen. Dieser Mann … der, der sie beobachtet hatte … hatte sie anscheinend gerettet.

Und danach hier abgeladen, ohne sich darum zu kümmern, ob sie wieder zu sich käme.

Wer tat so etwas?

Das Überraschende war nicht, dass er sie einfach hier liegen gelassen hatte.

Sondern dass er sie gerettet hatte.

Nachdem die Flüche verhängt worden waren, herrschte Chaos. Noch in derselben Nacht hatten sich die Herrscher der sechs Reiche selbst geopfert im Tausch gegen eine Prophezeiung, die versprach, der Schlüssel zu sein, um die Flüche wieder aufzuheben. Terra und Poppy behaupteten, dass ihre eigenen Vorfahren das Opfer angeführt und als Erste gestorben waren.

Ob wahr oder nicht, Isla konnte sich nicht vorstellen, wie viel Kraft und Mut es gekostet haben musste, das eigene Leben zu opfern, um seinem Volk die Chance auf Rettung zu sichern. Die Energie, die die sechs Herrscher der Insel zuführten und auf ihre Reiche übertrugen, machte den Centennial überhaupt erst möglich. Dank des Opfers wurde den Reichen alle hundert Jahre hundert Tage lang die Chance gewährt, sich zu retten. Die Prophezeiung, wie die Flüche gebrochen werden konnten, bestand aus drei Teilen, die im Laufe der Jahrhunderte in verschiedener Weise gedeutet worden waren. Ein Teil war jedoch eindeutig: Um die Flüche zu brechen, musste einer der sechs Herrscher sterben. Das war der Grund, warum der Centennial so riskant und so gefürchtet war, warum er von langer Hand vorbereitet wurde. Deshalb war Isla, seit sie laufen konnte, von Terra zum Kämpfen ausgebildet worden.

Wäre Isla ertrunken und gestorben, hätte dies der erste Schritt für die Erfüllung der Prophezeiung sein können. Aber aus irgendeinem Grund wollte der Mann auf dem Balkon sie am Leben erhalten.

Warum?

Lautes Geläut hallte durch das Schloss und Isla fuhr erschrocken zusammen. Sie zählte die Glockenschläge, dann fluchte sie leise.

Für das erste offizielle Abendessen hätte sie eine Stunde lang damit zubringen müssen, ihre Haare zu einer kunstvollen Frisur zu drapieren. Sie hätte das perfekte Kleid auswählen und sich die Haut mit nach Rosen duftender Lotion einreiben sollen, bis sie glänzte. Sie hätte mit größter Sorgfalt Make-up auftragen sollen, unter Verwendung der Schminkwerkzeuge, mit denen sie gelernt hatte, so geschickt umzugehen wie mit ihren Wurfmessern. Alles Dinge, die Poppy ihr eingebläut hatte.

Stattdessen kämmte sie sich bloß schnell das feuchte Haar mit den Fingern und rutschte dabei fast auf dem nassen Boden aus. Dann warf sie sich das erstbeste Kleid über, das ihr in die Finger kam, schlüpfte in ein Paar Seidenpantoffeln und schnappte sich zu guter Letzt ihre Krone, die sie sich windschief auf den Kopf setzte, während sie bereits durch die Tür eilte.

Und stieß prompt mit der Starfolk-Dienerin zusammen. Der winzige Mund des Mädchens war vor Schreck weit aufgerissen und sie nahm instinktiv die Hände hoch, wie zum Schutz vor einem Angriff. »Hier entlang … Isla.«

Ein Dutzend Gänge später öffneten sich die Türen zum Speisesaal und alle Köpfe drehten sich zu ihr um.

Isla wünschte, sie wäre ein Nightshade, nur, um im Handumdrehen verschwinden zu können.

Celeste lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und zog die Augenbrauen hoch.

Azul stellte den Kelch ab, den er in der Hand hielt.

Cleo musterte sie mit noch mehr Verachtung als vorhin. In ihrer Eile hatte Isla zu einem ihrer schamlosesten Kleider gegriffen, eines, das sie eigentlich erst zu einem viel späteren Zeitpunkt hatte anziehen sollen. Die Stäbchen des Mieders zeichneten sich ab, der Stoff war beinahe durchsichtig. Der Rock hatte einen Schlitz, der bis hoch zu ihrem Oberschenkel reichte. Ihr Cape war aus grüner Seide und so vor der Brust festgemacht, dass der Ausschnitt einen tiefen Einblick gewährte.

Grim sah amüsiert aus und verfolgte jeden ihrer Schritte mit einem Blick, der ihr die Schamesröte ins Gesicht trieb.

Am Kopf der Tafel saß noch jemand. Dieselbe Person, die sie beim Singen beobachtet hatte – der Mann, der sie gerettet und dann zurückgelassen haben musste.

Oro, der König von Lightlark, der Herrscher über das Sunfolk. Er hatte Haare wie gesponnenes Gold, Augen, so bernsteinfarben und ausgehöhlt wie Honigwaben. Gemeine Augen, die sie festnagelten. Er runzelte die Stirn und begrüßte sie mit einem knappen Nicken, rein aus Pflichtgefühl.

Warum hatte der König sie gerettet?

Nur um sie jetzt derart abschätzig anzusehen.

Sie erwiderte das kühle Nicken und setzte sich auf den leeren Stuhl neben ihn, während sie innerlich verfluchte, wer auch immer sie dort platziert hatte.

Islas nasse Haare waren über eine Schulter drapiert, das Wasser tropfte ihr auf den Schoß und sammelte sich neben ihr in einer Pfütze auf dem Boden. Sie fröstelte, das hauchdünne, praktisch stofflose Fähnchen von einem Kleid wärmte sie kein bisschen.

Die höhnische Stimme war zurück: Bist du bereit, Isla?

Natürlich war sie es nicht. Wie hatte sie so dumm sein können, die Einladung zum Centennial anzunehmen? Sich sehenden Auges auf solch ein tödliches Spiel einzulassen?

Einer der sechs Herrscher musste sterben. Als die Jüngste und Unerfahrenste im Bunde wäre es töricht anzunehmen, dass nicht sie es sein würde. Vor allem, weil sie nach nicht einmal einem Tag schon fast zweimal zu Tode gekommen war.

Wenn sie klug war, würde sie heute Nacht mithilfe ihres Sternenstabs verschwinden.

Wenn sie leben wollte, sollte sie alles aufgeben – die Insel, ihr Reich, ihr Volk und ihre Pflichten – und nie wieder zurückblicken. Die Länder, die jenseits von Lightlark und den neuen Ländern lagen, waren weitgehend unerforscht. Sie hatte schon immer mehr über sie wissen wollen. Dorthin zu reisen wäre ein Wagnis, aber sicher nicht gefährlicher als der Centennial.

Nein. Das konnte sie nicht tun. Nicht, wenn sie je wirklich frei sein wollte. Ihr Fluch würde ihr niemals gestatten, so zu leben, wie sie leben wollte, zusammen mit den Menschen, die ihr am Herzen lagen. Mit Terra. Poppy. Celeste.

Wenn alles nach Plan lief, würde man sie nie wieder wie ein Geheimnis verstecken müssen. Sie würde sich nie wieder dafür schämen, wer sie war. Sie könnte ihr Volk zu Wohlstand führen und nach Belieben die anderen Reiche bereisen und Celeste besuchen, wann immer ihr danach war.

Isla hatte unzählige Stunden ihres Lebens damit verbracht, andere Menschen zu studieren und ihre Beweggründe auszuloten.

Ihr eigener war Freiheit.

Oro betrachtete ihr tropfendes Haar und besaß auch noch die Frechheit zu lächeln. »Ich verstehe ja, unser Meer ist geradezu unwiderstehlich … aber bitte, beschränke deine Schwimmrunden in Zukunft auf den frühen Abend, um den Rest von uns nicht warten zu lassen.« Er reckte ganz leicht das Kinn. Die Krone auf seinem Kopf glänzte golden und ihre Zacken waren so scharf, dass man sich daran sicher leicht schneiden konnte. »Das war überaus unhöflich. Aber vielleicht waren meine Erwartungen an dein Reich auch einfach zu hoch.«

Cleos Augen funkelten schadenfroh und sie genoss sichtlich mit anzusehen, wie Islas Wangen sich tiefrot färbten. »Eine Schwimmrunde in dem Meer, um die Uhrzeit? Sie ist auf jeden Fall ein sehr wildes Spielzeug. Nicht mal ein Moonling würde auf die Idee kommen, so etwas während des Centennials zu machen. So etwas tut nur eine Närrin.«

Wild. Spielzeug. Närrin. Der Moonling hatte es geschafft, in wenigen kurzen Sätzen gleich mehrere Spitzen abzuschießen.

»Bei Vollmond sicher nicht«, sagte Isla ruhig und die Worte glitten ihr über die Lippen, bevor sie sie zurückhalten konnte.

Stille.

Irgendwo auf der anderen Seite des Raums klirrte Besteck gegen Geschirr.

Der Moonfolk-Fluch bewirkte, dass das Meer bei jedem Vollmond Dutzende von Moonfolk-Leben forderte, indem es alle ertränkte, die sich in der Nähe der Küste befanden. Fernhandel zu treiben war fast unmöglich, am Meer zu leben zu gefährlich und die Wirtschaft des Moonfolk war vollständig erlahmt.

Isla bereute ihre Worte sofort. Die Art, wie Cleo die Augen zu Schlitzen verengte und den Blick wie einen Pfeil, der sein Ziel anvisierte, direkt auf sie richtete, gab ihr das ungute Gefühl, dass sie sich gerade ihre erste Feindin gemacht hatte.

Bevor noch irgendwer ein weiteres Wort sagen konnte, wurde vor Isla ein großer Teller hingestellt. Darauf lag ein blutendes Herz.

»Es stammt aus einem unserer schlimmsten Gefängnisse«, sagte Oro leichthin. »Ein Frauenmörder.«

Isla kostete es ihre ganze Willenskraft, ihn freundlich anzulächeln. »Wie aufmerksam von Euch. Doch ich ziehe es vor, ohne Zuschauer zu speisen. Manche finden es wohl … verstörend.« Sie schaute sich nach dem Starfolk-Mädchen um, das sie in den Speisesaal geführt hatte. »Könnte man mir das später aufs Zimmer schicken?«

»Unsinn«, entgegnete Oro. Er starrte auf das Herz, dann schaute er wieder Isla an. »Iss.«

Sie spürte die Blicke aller Anwesenden auf sich ruhen. Es war schon eine Weile her, seit sie das letzte Mal mit einer aus dem Wildfolk zusammengekommen waren.

Isla nahm die Gabel und das Messer, nickte ihrem Gastgeber kurz zu und schnitt in das Herz. Eine Blutlache sammelte sich auf ihrem Teller. Ihr stieg der metallische Geruch in die Nase.

Dann nahm sie den ersten Bissen in den Mund.

Grim stellte energisch seinen Weinkelch auf den Tisch. »Isla, so gut dir das Blut auf deinen Lippen auch steht, ich spüre deutlich die Abneigung meines Freundes Azul gegen diese Wildling…freuden.« In der Tat machte der Skyling einen ziemlich mitgenommenen Eindruck, wobei er sich sichtlich bemühte, Höflichkeit zu wahren. Grim winkte einen Diener heran. »Bring das bitte auf ihr Zimmer.«

Er benahm sich, als wäre es sein Schloss und nicht das von Oro. Der Sunfolk-Herrscher blinzelte, hielt den Diener jedoch nicht davon ab, Islas Teller wegzutragen. »Schwacher Magen, Grimshaw?«

Der Nightshade lächelte und seine Grübchen kamen wieder zum Vorschein. »Wir haben alle unsere Schwachpunkte, Oro«, sagte er. »Und darauf baue ich.«

Irgendwie schaffte Isla es, den Rest des Abendessens durchzustehen, ohne sich bei den anderen vorzeitig zu entschuldigen.

Dann verbrachte sie die Nacht damit, Blut zu würgen.

Kapitel 4

Regeln

Isla war ohne den Fluch des Wildfolk geboren worden – und ohne deren Macht. Seit ihrer Geburt hatte sie eingesperrt gelebt, beschützt von Poppy und Terra, aus Angst, dass ihre Untertanen ihr Geheimnis entdecken würden.

Ihre Mutter war schuld. Sie hatte gegen die wichtigste Regel verstoßen – und sich verliebt. Dann hatte sie es nicht geschafft, ihren Geliebten zu töten. Terra und Poppy sagten immer, dass es Konsequenzen hatte, wenn man die Regeln brach … Und so hatte ihr Vater ihre Mutter unmittelbar nach Islas Geburt ermordet, wodurch ihr gemeinsames Kind seiner Macht beraubt wurde. Das war ihr Fluch, eine unmittelbare Folge davon, dass ihre Mutter den ihren sabotiert hatte. Islas Fluch bestand nicht darin, Herzen zu essen oder Geliebte zu töten. Doch eine Herrscherin zu sein, die ohne Kräfte geboren worden war, war ebenso fatal.

Von den Herrschern und Herrscherinnen wurde erwartet, dass sie ihre Länder mit ihrer Kraft nährten, um ihr Volk stark zu halten. Deshalb strotzte Lightlark vor Energie und so hatten auch die Völker in den neuen Ländern überlebt, die sie nach ihrer Flucht von der Insel gegründet hatten. Ohne Kraft, die Isla geben konnte, starb ihr Reich einen schleichenden Tod. Bisher hatte ihr Volk die Flüche und das lange Getrenntsein von Lightlark für das Sterben verantwortlich gemacht. Aber langsam wurden einige von ihnen Isla gegenüber misstrauisch.

Es war ihr größtes Geheimnis. Eines, das beim Centennial ihr Todesurteil sein würde.

Gemäß der Prophezeiung musste einer der sechs Herrscher sterben, um die Flüche zu brechen. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Die Macht eines Herrschers war die Lebenskraft seines Volkes. Wenn also ein Herrscher starb, ohne einen Erben zu hinterlassen …

Würde das ganze Volk mit ihm sterben.

Das stand auf dem Spiel: Die Flüche zu zerschlagen bedeutete, ein ganzes Reich auszulöschen.

Der erste Centennial war ein Blutbad gewesen. Alle eingeladenen Herrscher hatten einander umbringen wollen und viele Inselbewohner waren dabei ins Kreuzfeuer geraten. Doch die Anführer der Reiche waren alle schon zu alt, zu erfahren gewesen. Und so hatten am Ende der hundert Tage alle von ihnen überlebt und die Flüche waren noch immer in Kraft. Es wurde beschlossen, dass zukünftige Centennials geordnet ablaufen sollten. Es wurde entschieden, dass es Regeln geben würde.

 

 

Oro saß nicht auf seinem goldenen Thron, sondern stand auf den Stufen davor. Das war das Erste, was Isla auffiel, als sie den Prachtsaal betrat. Anführer schienen die Menschen um sie herum ständig an ihre Autorität erinnern zu wollen. Während ihrer wenigen Abstecher ins Land des Moonfolk hatte sie unzählige Eisstatuen gesehen, die nach dem Abbild ihrer Herrscherin geschaffen worden waren, und die Bewohner des Reiches über ihre monatlichen Abgaben reden hören und die Patrouille gesehen, die Cleo ständig durch die Straßen streifen ließ.

Gab es einen Grund, warum der König zögerte, sich auf seinen Thron zu setzen?

Als Nächstes bemerkte Isla das halbe Dutzend Kronleuchter aus Flammen, das an der Decke hing und einen hellen Schein verbreitete, ähnlich dem von flackernden Kaminen. Sie musste an die Bemerkung ihrer Dienerin denken, dass der König nicht wollte, dass die Feuer in den Zimmern je erloschen.

Warum nicht?

Die Herrscher und Herrscherinnen bildeten einen Kreis, Isla richtete sich zu voller Größe auf und ignorierte ihren knurrenden Magen. Sie war heute in aller Frühe in die Küche geschlichen, wo sie aber nur einen alten Brotkanten, eine Tasse Milch und Früchte hatte auftreiben können, die ein bisschen so aussahen wie die Mura-Beeren aus dem Wildfolk-Reich. Sie brauchte dringend eine längerfristige Lösung für ihr Essensproblem.

Celeste, die ihr gegenüberstand, sah ausgeruht aus, ihre Haut strahlte. Isla vermutete, dass ihre Freundin heute Morgen zum ersten Mal Star Isle besucht hatte. Vielleicht hatte es eine Zeremonie zu ihren Ehren gegeben. Ohne regelmäßigen Kontakt zu ihren Anführern hatten die Angehörigen des Skyfolk, Starfolk und Moonfolk, die auf Lightlark geblieben waren, ihre eigenen Unterregierungen aufgestellt. Ihre eigentlichen Herrscher waren für sie wie lebende Legenden, denen sie sich unterwarfen und die sie nur alle hundert Jahre für wenige Monate sahen. Traditionellerweise verbrachten während des Centennials alle Herrscher die meiste Zeit auf der Hauptinsel. Aber hin und wieder gab es Ausnahmen.

Isla hatte sich immer gefragt, wie die verschiedenen kleinen Inseln, aus denen sich Lightlark zusammensetzte, wohl aussahen. Sie brannte darauf, ihre Freundin darüber auszufragen. Sie wünschte, sie wüsste, wie ihr Sternenstab auf kürzere Distanzen funktionierte, dann könnte sie in Celestes Zimmer auftauchen, wann immer sie wollte. Stattdessen mussten sie die Flure im Schloss benutzen. Doch es war riskant, sich gleich zu Beginn des Wettbewerbs allzu häufig zu treffen.

Isla drehte sich um und stellte sich versehentlich Cleo in den Weg. Die Moonfolk-Herrscherin beäugte sie mit zu viel Interesse. In ihrem Blick lag ein scharfes Funkeln wie von einem Raubtier, das seine Beute ins Visier nahm.

Isla würde für ihre Bemerkung vom Vorabend büßen müssen. Dessen war sie sich sicher.

Schließlich ergriff Oro das Wort. »Lasst uns mit den Regeln des Centennials beginnen.«

Die Luft war elektrisch, summte vor Energie.

»Die erste Regel: Ein Herrscher darf bis zum fünfzigsten Tag keinen anderen Herrscher ermorden oder dies auch nur versuchen.« Diese Regel war für Isla eine Erleichterung. Zumindest für die erste Hälfte des Centennials wäre sie sicher – Machtlosigkeit hin oder her. Aus diesem Grund planten sie und Celeste, noch vor dem Ball, der am fünfzigsten Tag stattfinden würde, die Insel zu verlassen. »Und wenn am fünfundzwanzigsten Tag die Zweierteams feststehen, dürfen die Herrscher ihre jeweiligen Teampartner nicht ermorden.«

Nach den chaotischen Zuständen beim ersten Centennial hatte man die hundert Tage strukturiert und in Abschnitte unterteilt. In den ersten fünfundzwanzig Tagen fanden verschiedene Wettkämpfe statt, die jeweils von einem Herrscher angeleitet wurden. Sie sollten Aufschluss über die Stärken der Teilnehmer geben – und darüber, wer es würdig war, am Leben zu bleiben. Aus jedem Wettkampf ging ein Sieger hervor. Der Teilnehmer, der die meisten Siege für sich verbuchte, entschied darüber, welche zwei Herrscher jeweils für die restliche Dauer des Centennials zusammen ein Team bildeten.

»Die zweite Regel: Alle Herrscher und Herrscherinnen müssen zu jedem Centennial-Event erscheinen und daran teilnehmen.« Diese Regel erschien harmlos, war aber gefährlich, je nachdem, um was für ein Ereignis es sich handelte.

»Die dritte Regel: Ein Herrscher darf nur am Centennial teilnehmen, wenn er ohne Erben ist.« Mit dem Tod eines Herrschers wären seine Familienlinie erfolgreich ausgelöscht und gemäß der Prophezeiung die Flüche gebrochen. Und es würde außerdem das Ende seines ganzen Reiches bedeuten.