Nightbane - Alex Aster - E-Book
SONDERANGEBOT

Nightbane E-Book

Alex Aster

0,0
16,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Erfolgsfantasy von Alex Aster geht weiter! Enemies to Lovers at its finest!  Endlich: Isla hat den Fluch, der auf den sechs Völkern lastete, gebrochen! Nun ist sie nicht nur die Anführerin des Wild Folk, sondern herrscht auch über Lightlark. Statt sich jedoch ihrer neuen Aufgabe zu widmen, sucht sie nach Ablenkung, denn der Schmerz über den Vertrauensbruch – insbesondere von Grim – sitzt tief. In der Zwischenzeit werden die Stimmen ihrer Gegner immer lauter. Nicht jeder gönnt Isla ihre gewonnene Macht. Als dann auch noch lang gehegte Geheimnisse ans Licht kommen und eine neue tödliche Gefahr droht, Lightlark endgültig zu zerstören, muss Isla sich entscheiden: Stellt sie sich ihrer Verantwortung als Herrscherin oder hört sie auf den größten Verräter von allen – ihr eigenes Herz? - Das düster-betörende Finale der Bestsellerreihe aus den USA  - Großartiges Worldbuilding, spannende Twists und vielschichtige Figuren  - Eine Fantasy, die ihre Leser bis zuletzt in Atem hält  Alle Bände der ›Lightlark‹-Reihe: Band 1: Lightlark Band 2: Nightbane Die Reihe ist abgeschlossen. Die Bände sind nicht unabhängig voneinander lesbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 610

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alex Aster

Nightbane

Band 2

Aus dem Englischen von Michelle Landau

 

 

 

 

Für Rron –

Du machst die reale Welt besser als jede fiktionale.

 

 

 

 

»Ich habe zugleich meinen Fluch und meine Erlösung vor mir.«

– J. Addison, ›Cato: A Tragedy‹, 1713

Kapitel 1

Geheimkammer

Isla Crown schmeckte den Tod auf ihrer Zunge.

Wenige Augenblicke zuvor hatte sie die geheime Kammer im Palast der Spiegel geöffnet. Im Inneren brodelte Macht, flüsterte in einer Sprache, die sie nicht verstand, berührte etwas tief in ihren Knochen. Es fühlte sich drängend an, offensichtlich, wie die Antwort auf eine Frage, die sie vergessen hatte.

Der Rest des verlassenen Palastes zerfiel, doch diese Tür war allen Flüchen zum Trotz verschlossen geblieben. Ihre Vorfahren hatten darum gekämpft, die Kammer geheim zu halten. Ihre Krone war der einzige Schlüssel und als Isla die Tür mit einem kreischenden Quietschen aufzog, war sie sich sicher, dass sie die Geheimkammer aus gutem Grund so sorgfältig versteckt hatten.

Mit rasendem Herzen spähte sie ins Innere. Doch bevor sie einen Blick auf irgendetwas erhaschen konnte, brach eine Energiewelle durch den Spalt, traf sie mitten in der Brust und schleuderte sie quer durch den Raum.

Krachend fiel die Tür wieder ins Schloss.

Einen Moment lang herrschte Stille. Es war beinahe friedvoll, etwas, das zu einem begehrten und seltenen Luxus geworden war. Mehr wagte sie sich dieser Tage kaum zu wünschen. Ruhe vor dem Schmerz, der in ihrer Brust pulsierte, wo ein Pfeil ihr Herz entzweigerissen hatte. Ruhe vor den Gedanken, die sie heimsuchten wie Insekten, die sich an Fäulnis labten. In den letzten Wochen war so viel verloren und gewonnen worden, und das nicht zu gleichen Teilen.

Doch während dieser einen Sekunde war sie endlich in der Lage, sich von ihren Gedanken zu befreien.

Bis ihr Kopf auf dem Steinboden aufschlug und ihr Frieden durch Visionen eines Blutbades ersetzt wurde.

Leichen. Blutüberströmt. Verbrannt. Sie konnte nicht erkennen, aus welchen Reichen sie stammten; sie sah nur Haut und Knochen. Dunkelheit umwaberte die toten Körper wie verlaufene Tinte, doch sie setzte sich nicht ab, bildete keine Pfützen, verschwand nicht.

Nein. Diese Dunkelheit verschlang.

Sie vertilgte die übrig gebliebenen Leichen, wandte ihre Aufmerksamkeit dann Isla zu. Die Schwaden kletterten an ihr hinauf, kalt und feucht wie leblose Gliedmaßen. Bevor sie sich regen konnte, drängten sich die Schatten bereits zwischen ihre Lippen, zwangen sie die Dunkelheit zu trinken. Sie schnappte nach Luft, schmeckte jedoch nichts als Tod.

Alles wurde schwarz, als wären die Sterne, der Mond und die Sonne nur Kerzen, die nacheinander ausgepustet wurden.

Dann sprach die Dunkelheit.

»Isla.« Die Dunkelheit hatte seine Stimme. Grims Stimme. »Komm zurück zu mir. Komm zurück …«

Ein Blinzeln und sie war wieder im Palast der Spiegel, erfüllt von gebrochenem Sonnenlicht und Ästen, die über das verbliebene Glas kratzten, nach ihr griffen wie Hände.

Und Oro. Sofort war er an ihrer Seite, zog sie in seine Arme. Er zeigte nur selten dramatische Reaktionen, was seinen entsetzten Blick umso besorgniserregender machte.

Als Isla eine Hand an ihr Gesicht hob, spürte sie Blut. Es lief aus ihrer Nase, ihren Ohren, ihren Augen, über ihre Wangen. Sie starrte das Blut auf ihren Fingern an, konnte an nichts anderes denken als an die Bilder, die sie eben gesehen hatte.

Was war das gewesen? Eine Vision?

Eine Warnung vor dem, was Grim tun würde, wenn sie nicht zu ihm zurückkehrte?

Sie wusste es nicht, aber eins stand fest: Kaum hatte sie die Tür geöffnet, hatte etwas sie wieder zugeschlagen. Irgendetwas war in dieser Kammer.

Und es wollte nicht von Isla gefunden werden.

Kapitel 2

Wahrheiten und Lügen

»Ich wurde abgewiesen«, sagte Isla. Es ergab keinen Sinn. Die Macht rief nach ihr, das konnte sie spüren. Wieso also hatte sich die Tür wieder geschlossen?

Die Krone des Königs schimmerte golden, als er den Kopf schief legte, sie musterte. Er stand so weit entfernt von dem Bett, auf dem sie saß, wie der Raum es zuließ.

Doch das machte keinen Unterschied. Selbst auf mehrere Meter Entfernung spürte sie den Faden, der sie verband. Ein bisschen wie Liebe.

Ein bisschen wie Macht.

Schließlich brach Oro sein Schweigen. »Du bist noch nicht bereit. Ich glaube, deine Krone ist nicht der einzige Schlüssel. Wenn die Kammer schwer zu öffnen sein sollte, könnte sie verzaubert worden sein, um nur einen Wildling-Herrscher einzulassen.«

»Ich bin eine …«

»Einen Herrscher, der seine Kräfte beherrscht.«

Oh.

Isla lachte auf. Sie konnte nicht anders. Natürlich hatte die Insel einen weiteren Weg gefunden, ihr das Gefühl zu geben unzureichend zu sein. Inzwischen war es fast schon eine Art Spiel. »Wenn das stimmt, wird die Kammer wohl verschlossen bleiben«, sagte sie, betrachtete dabei konzentriert einen Punkt an der Wand. Die einzigen Wildling-Meister, die noch lebten, waren ihre Hüterinnen – und wenn sie die jemals wieder zu Gesicht bekommen sollte, würde sie sie dafür töten, dass sie ihre Eltern ermordet hatten. Und für all die Lügen, die sie ihr eingetrichtert hatten.

Die Stille brodelte hoch, kochte über. Sie konnte Oros Sorge regelrecht spüren, wie beunruhigte Hitze lag sie in der Luft. Sie widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. Von einer aufgeblasenen Tür durch den Raum geschleudert zu werden war bei Weitem nicht das Schlimmste, was ihr in den letzten Wochen widerfahren war.

Sie verabscheute seine Besorgnis und sie hasste sich selbst für die Wut, die sich in ihrem Inneren zu einer Klinge verhärtet hatte, die selbst etwas so Unschuldiges wie Sorge bekämpfen wollte. Doch in letzter Zeit schien sie keine Kontrolle mehr über ihre Emotionen zu haben. Wenn sie morgens aufwachte, fehlte ihr manchmal sogar die Energie aufzustehen. Und manchmal war sie so wütend, dass sie sich nach Wild Isle teleportierte, nur um einen Ort zu haben, an dem sie so laut schreien konnte, wie sie wollte.

»Ich werde dich unterrichten«, sagte er.

»Du bist kein Wildling-Meister.«

»Nein«, gab er zu. »Aber ich beherrsche die Kräfte aus vier Reichen. Die Fähigkeiten sind zwar andere, aber die Ausführung ist ähnlich.« Seine Stimme war sanfter, als sie es verdient hatte. »Deswegen konnte ich auch deine Kräfte benutzen.«

Und nur deswegen hatte er sie retten können. Sie wäre im Kern der Insel lebendig gekocht worden, hätte Oro die Verbindung zwischen ihnen nicht genutzt, um im Palast der Spiegel ihre Kräfte zu gebrauchen. In dem Moment waren ihre Gefühle für ihn offenbart worden. Die Tatsache, dass er auf ihre Kräfte zugreifen konnte, bedeutete, dass sie ihn liebte.

Obwohl sie nicht einmal wusste, was das war – Liebe.

Sie hatte ihre Hüterinnen geliebt.

Sie hatte Celeste geliebt.

Irgendwann hatte sie auch Grim geliebt.

Die Vision. Tod und Dunkelheit und Zerfall. War es eine Drohung? Ein Blick in die Zukunft?

Das Gewicht um ihren Hals wog nun noch schwerer. Die Kette, die Grim ihr während des Centennials geschenkt hatte, ließ sich nicht abnehmen, und ja, sie hatte es versucht. Sie hatte zwar einen Verschluss, doch bisher hatte der sich nicht öffnen lassen. Es schien keine Möglichkeit zu geben die Kette abzunehmen. Nur sie konnte sie spüren. Oro wusste nicht einmal von ihrer Existenz.

Isla fragte sich, ob Grim wie diese Kette war – hartnäckig und unwillig sie gehen zu lassen. Würde er töten, nur um sie zurückzubekommen?

»Ich muss dir etwas sagen.« Sie hatte mit dem Gedanken gespielt es für sich zu behalten. Wäre es nur um sie gegangen, hätte sie es vielleicht getan. Sie hatte die Flüche gebrochen. Sie verdiente mehr Zeit, um sich zu erholen. Ihre Wunden und blauen Flecken vom Centennial waren verschwunden, doch manche Wunden waren unsichtbar und heilten viel langsamer als Haut und Knochen. »Im Palast der Spiegel … Ich hatte eine Vision.«

Er runzelte die Stirn. »Was hast du gesehen?«

»Den Tod«, sagte sie. »Er …« Sie brachte es nicht über sich seinen Namen auszusprechen, als könnte ihn das aus den Schatten hervorrufen, ihn auch außerhalb ihrer Gedanken zum Leben erwecken. »Er war umgeben von Dunkelheit. Überall waren Leichen. Die Schatten haben nach mir gegriffen …« Sie verzog das Gesicht. »Es sah aus wie … Krieg.«

Es sah aus wie das Ende der Welt.

Schärfere Hitze zuckte durch das Zimmer, der einzige Hinweis auf Oros Zorn. Sein glattes Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos. »Er wird nicht aufhören, bis er dich hat.«

Isla schüttelte den Kopf. »Ich habe mich für dich entschieden … Er fühlt sich betrogen. Vermutlich bedeute ich ihm gar nichts mehr.« Oro sah nicht überzeugt aus. Sie schloss die Augen. »Und selbst wenn, glaubst du wirklich, er würde nur wegen mir einen Krieg anfangen? Sein eigenes Volk in Gefahr bringen?«

»Ich glaube, das ist genau das, was er tun würde«, sagte Oro mit abwesendem Blick, als wäre er in Gedanken verloren. »Isla. Du musst mit deiner Ausbildung beginnen, und das nicht nur, um die Geheimkammer öffnen zu können.«

Ausbildung. Sie fand, das klang eindeutig zu anstrengend für jemanden, der sich jeden Tag selbst dazu überreden musste, überhaupt das Zimmer zu verlassen. Früher war sie anders gewesen. Das Training war ein Teil von ihr gewesen, fest verankert wie ein Edelstein im Griff eines Schwertes, ein Teil ihres Wesens.

Jetzt war sie nur noch müde, mehr geistig als körperlich. Sie wollte einfach nur etwas Zeit, um sich zu erholen, und wieso gab ihr allein der Gedanke daran das Gefühl, die selbstsüchtigste Person in ganz Lightlark zu sein?

Zum Glück hatte sie eine gute Ausrede parat. »Du weißt, dass das nicht möglich ist.« Als König war Oro der letzte Hiesige, der alle vier der verbliebenen Mächte von Lightlark beherrschte – Skyling, Starling, Moonling und Sunling. Eigentlich hätte es unmöglich sein sollen, dass jemand außerhalb seiner Familie mit mehr als einer Fähigkeit geboren wurde. Aurora zufolge – die Isla früher für ihre beste Freundin Celeste gehalten hatte – waren ihre Wildling- und Nightshade-Kräfte so miteinander verwoben, dass sie größtenteils unbrauchbar waren, bis ein Nightshade sie entfesselte. »Meine Kräfte …«

»Dafür habe ich einen Plan.«

Natürlich hatte er das. Unwillkürlich biss sie die Zähne zusammen. »Ich habe keine Zeit für eine Ausbildung. Ich muss zurück zum Wildfolk.«

»Eben für sie musst du so mächtig sein wie nur möglich.«

Wieso war er so erpicht darauf, sie auszubilden? Und wieso, wenn sie mal ehrlich mit sich war, wehrte sie sich so vehement dagegen? »Das wäre nur eine Ablenkung«, versuchte sie einzuwenden. »Lernen kann ich später noch. Nachdem ich mich um mein Reich gekümmert habe. Nachdem wir mehr über die Bedrohung der Nightshade herausgefunden haben, falls meine Vision wirklich die Wahrheit gezeigt hat.«

»Du hast jetzt die Macht einer Starfolk-Herrscherin, Isla«, sagte Oro sanft.

Isla hatte Aurora mit einem alten Relikt getötet, dem Bannbeschwörer, um dem Starling ihre Macht zu nehmen. Damit hatte sie ein Hintertürchen in der Prophezeiung gefunden, die besagte, dass ein Herrscher sterben muss, um die Flüche zu brechen. Die Macht eines Herrschers diente als Lebenskraft seines Volkes. Hätte Isla Aurora nicht ihre Macht genommen, wäre das gesamte Starfolk mit ihr gestorben.

Jetzt war sie für zwei Reiche verantwortlich, obwohl sie nicht einmal wirklich dafür geeignet war, eines zu regieren.

»Deine Wildling- und Nightshade-Kräfte sind vielleicht all die Jahre verborgen geblieben«, fuhr er fort, »aber diese Macht lässt sich nicht verstecken. Die Fähigkeiten sind zu stark. Wenn du nicht lernst sie zu kontrollieren, werden sie dich kontrollieren.«

Das kam ihr unwahrscheinlich vor. In den letzten Tagen hatte sie ein paarmal halbherzig versucht ihre Starling-Kräfte einzusetzen. Sie hatte versucht eine Feder zu bewegen. Eine Energiewelle von ihrem Balkon auszusenden. Nichts. Hätte das Starfolk nicht überlebt, hätte sie daran gezweifelt, dass der Bannbeschwörer überhaupt funktioniert hatte.

»Isla«, sagte Oro und der zärtliche Ton, mit dem er ihren Namen aussprach, nahm ihrer Wut und ihrem Schmerz ein wenig an Schärfe.

»Ja?«

Er machte einen Schritt auf sie zu, dann noch einen, bis seine Wärme sie einhüllte, obwohl er immer noch weiter entfernt von ihr stand, als ihr lieb war.

Vom Fuß des Bettes aus betrachtete Oro sie. »Versprich mir, dass du mit mir trainieren wirst. Und mein es ernst.«

»Meinetwegen«, sagte sie schnell und nur, weil sie wusste, dass er es hören wollte. Nur, weil sie dieser Tage alles tun würde, um nicht an das Centennial zu denken und an das, was passiert war. »Ich werde mit dir trainieren. Ehrlich.«

»Deine Begeisterung ist überwältigend«, erwiderte er trocken.

»Ich bin begeistert«, presste sie durch zusammengebissene Zähne hervor.

Sein Blick wurde schärfer. »Dir ist bewusst, dass ich weiß, wenn du lügst, oder?«

Natürlich tat er das. Das war seine Gabe, die zusätzliche Fähigkeit, die Herrscher oft von alten Blutlinien erbten. Sie konnte sich regelrecht ausmalen, wie das Schicksal über sie lachte: eine Lügnerin, die von jemandem geliebt wird, der die Wahrheit spüren kann.

Statt Oro wütend anzufunkeln, nutzte sie die Gelegenheit, um den Fokus auf ihn zu lenken. Neugier bot immer eine gute Ablenkung. Und bestand das Leben nicht nur aus schmerzhaften Momenten, die durch Ablenkungen verbunden waren? »Wie fühlt es sich an?«, fragte sie und setzte sich aufrechter hin.

Der dünne Stoff ihres Ärmels rutschte ihr über die Schulter. Ihr entging nicht, dass Oro der Bewegung mit dem Blick folgte.

Etwas summte in ihrer Brust. Sie hatte noch nicht oft bemerkt, dass Oro sie anstarrte. Bis zu dem Moment, als Aurora bestätigt hatte, dass der König sie liebte, war sie überzeugt davon gewesen, dass er sie nicht einmal mochte.

Langsam zog sie ein Bein über das Bett, bis ihre Zehen den Boden berührten. Dabei wurde ihr Kleid den Oberschenkel hinaufgeschoben und sie spürte die Hitze seines Blickes auf sich. Sie wiederholte die Bewegung mit dem zweiten Bein, bis beide Füße neben dem Bett standen.

Er betrachtete sie von oben bis unten und plötzlich war die Geheimkammer vergessen. Ihre Unzulänglichkeit – vergessen. Der Betrug? Vergessen.

Ein Teil von Isla fragte sich, ob seine Sorge um sie immer noch der einzige Grund war, wieso er sie so musterte, aber nein, nein, es war viel besser zu glauben, dass er sie aus anderen Gründen betrachtete.

»Wie fühlt es sich an, wenn jemand dich anlügt?« Langsam ging sie auf ihn zu, barfuß, ihr Rücken noch etwas verspannt nach der harten Landung. Ihr Kopf pochte schmerzhaft, die Wunde dort hatte sie erst vor Kurzem mit einem Wildling-Elixier geheilt, doch sie ignorierte den Schmerz.

Er rührte sich nicht, als sie vor ihm stehen blieb.

»Tut es weh?« Sie neigte den Kopf. »Kann dir irgendetwas wirklich wehtun?«

Sein Blick machte klar, dass er ihre zweite Frage nicht beantworten würde, also versuchte sie es noch einmal mit der ersten. »Tun die Lügen weh?«

Oro war so groß, dass er das Kinn einziehen musste, um ihr in die Augen zu sehen. Er streckte eine Hand aus und fuhr mit dem Daumen über die Linien ihrer Krone. »Das kommt darauf an, wer lügt.«

Schuldgefühle krallten sich in ihre Brust. Die Vorstellung, dass ihre Lügen ihm Schmerz bereitet hatten, tat ihr auf unerklärliche Weise selbst weh.

War das Liebe?

Das ganze Centennial hindurch hatte sie ihn angelogen, doch er war immer ehrlich gewesen. Das wusste sie mit absoluter Sicherheit. Er war der Einzige, dem sie vertraute, der Einzige auf der ganzen Welt, und das, obwohl ihr klar war, wie himmelschreiend dumm es war, nach den Geschehnissen der letzten Wochen irgendjemandem zu vertrauen.

War das Liebe?

Isla legte eine Hand auf seine Brust, spürte, wie er sich sofort versteifte. Seine Wärme war angenehm, tröstend und weckte den Wunsch in ihr, seine nackte Haut unter ihren Fingern zu spüren. Er rührte sich keinen Zentimeter, als sie näher kam – und noch näher.

Sie hatten kaum ein Wort über die Verbindung zwischen ihnen verloren, über dieses unbestreitbare Band. Er hatte ihr Raum gegeben. Sie hatte die Sache langsam angehen wollen. Hatte nichts überstürzen wollen, wie sie es bei Grim getan hatte.

Doch in diesem Moment wollte sie keinen Abstand mehr zwischen ihnen.

Sie hob sich auf die Zehenspitzen, wollte endlich die Lücke zwischen ihren Lippen und seinen schließen, doch ganz egal wie sehr sie sich streckte, sie erreichte ihn nicht.

Oro starrte auf sie herab und runzelte die Stirn. »Soll das ein Versuch sein mich abzulenken?«

Definitiv. Sie wollte ihre Kräfte nicht beherrschen. Sie wollte nicht über ihre neu entdeckten Fähigkeiten nachdenken. Denn wenn sie einmal damit begann, würde sie auch über andere Dinge – und Leute – nachdenken müssen, die Narben hinterlassen hatten, die vielleicht niemals ganz verheilen würden. »Ja. Lässt du mich?«

Er senkte den Kopf. Seine goldene Krone funkelte im Licht.

Dann lagen seine Hände an ihrer Taille. Sie spürte seine langen Finger auf ihrem Rücken, drängte sich in seine Berührung. Er packte sie, so fest, dass sie nach Luft schnappte …

Doch bevor sie ihre Beine um seine Taille schlingen konnte, trug er sie zum Bett …

… und ließ sie zurück auf die Laken fallen.

Als ihr ein protestierender Laut über die Lippen kam, stand er schon wieder an der Tür. »Ruh dich aus, Isla«, sagte er. »In wenigen Stunden findet das Dinner statt.« Sie stöhnte. Es war das erste Treffen aller Repräsentanten, um die Nachwirkungen der Flüche zu diskutieren. »Danach beginnen wir mit deiner Ausbildung.«

Kapitel 3

Schwebendes Festmahl

»Mach mir ein Kleid, das mich aussehen lässt wie ein Schwert«, hatte Isla dem Starling-Schneider Leto gesagt. »Eines, das mehr aus Blut als aus Stahl besteht.« Eine Mischung aus Wildling und Starling. Und ebendieses Kleid trug sie nun, als sie den Speisesaal betrat.

Die Adligen des Sunfolk waren gemeinsam mit ihrem Herrscher als Erste angekommen. Sie saßen bereits, als Isla durch die Türen trat. Sofort richteten sich alle Augen auf sie – die Blicke scharf und hungrig – und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass sie nur gekommen waren, um an ihr herumzustochern und sie zu verschlingen.

Früher wäre sie unter ihren prüfenden Blicken zusammengesunken, doch nun schritt sie zur Tafel, als würde sie sie gar nicht bemerken. Was konnte irgendjemand auf dieser Insel ihr jetzt noch antun oder an den Kopf werfen? Sie hatten bereits ihr Schlimmstes gegeben. Adlige des Moonfolk hatten versucht sie umzubringen. Die anderen hatten sie bis auf die Knochen verurteilt. Auf dem Marktplatz wurde sie noch immer gemieden, denn die Leute hassten das Wildfolk wegen seines blutdürstigen Fluches, obwohl dieser nun gebrochen war. Ihr neues, aus rotem Metall gewobenes Kleid fühlte sich beinahe an wie eine Rüstung, es glitt flüsternd über den glatten Boden, attackierte die Stille, die den Raum schrumpfen ließ.

Im Vorbeigehen nahm sie schnell die Sunfolk-Adligen in Augenschein. Ein Mann mit dunkler Haut, langem goldenen Haar, das er zu einem Zopf zurückgebunden hatte, und ernstem Blick. Eine hochgewachsene Frau, die aus Tausenden von Sommersprossen zu bestehen schien und deren Haare die Farbe von Rost hatten. Ein Mann, der alt aussah – was erstaunlich war, da selbst Oro jung wirkte, obwohl er vor über fünfhundert Jahren geboren worden war. Sein Rücken bog sich zum Tisch hinunter wie die obere Hälfte eines Fragezeichens. Seine helle Haut legte sich in Falten, als er sie anlächelte, doch das Lächeln wirkte eher amüsiert als freundlich.

Oro saß am Kopfende des Tisches und auch er beobachtete sie. Der König sah noch exakt so aus wie zu Beginn des Centennials, bei jenem ersten Dinner – bis auf seine Augen. Damals waren seine Augen ausgehöhlt wie Honigwaben gewesen.

Jetzt brannte sich sein Blick mit einer solchen Intensität in ihren, dass all ihre Gedanken sich aufzulösen schienen. Die Bewegung seiner Augen war kaum wahrnehmbar, doch sie sah, wie sein Blick an ihr hinabwanderte. Über ihre nackten, gebräunten Schultern. Das Korsett aus Seide und Stahl. Den Schlitz im Rock ihres Kleides, der den Blick auf die kniehohen Stiefel freigab, die sie sich hatte schustern lassen, weil sie praktischer waren als ihre hohen Schuhe und Schläppchen. Ihr langes Haar, in das winzige rote Blumen geflochten waren. Und sie erwiderte seinen Blick, nur eine Sekunde lang. Sah seine breiten Schultern. Das goldene Haar. Die scharfen Züge seines ebenmäßigen Gesichtes. Vor wenigen Wochen noch war er blasser gewesen, nach so vielen Jahren ohne Sonnenlicht, doch jetzt strahlte er, glühte regelrecht. Er war so schön, dass es beinahe wehtat ihn anzusehen.

Damals beim ersten Dinner war ihr nicht aufgefallen, wie attraktiv er war.

War das Liebe?

Oro wandte schnell den Blick ab.

Als sie ihren Platz an seiner Seite einnahm, öffnete sich die Tür und ein Windstoß ließ ihr Haar aufwehen, brachte den angenehmen Duft von Pinien und die prickelnde Kühle der Bergluft mit sich. Azul schwebte mit dem Wind herein, ohne dass seine Füße den Boden berührten. Zwei weitere folgten ihm, keine Adligen, sondern gewählte Amtsträger. Das Skyfolk wurde demokratisch geführt, soweit das möglich war in einem System, in dem die Herrscher mit einem Großteil der Macht geboren wurden, einer Macht, von der das Leben aller abhing.

Während Azuls Haar so dunkel war wie seine Haut, erinnerte das Haar der Frau hinter ihm an den Himmel selbst, sogar ein paar weiße Strähnen durchzogen ihr Haupt – ein Zeichen dafür, dass sie sehr alt war, genau wie der gebeugte Sunling. Im Gegensatz zu dem alten Mann war ihre Haltung jedoch makellos. Ihre Haut war tiefbraun und sie war recht klein gewachsen.

Der Skyling neben ihr war gebaut wie ein Grabstein, so massiv, als wäre er aus den Singenden Bergen selbst gehauen. Er war so blass wie die Klippen von Lightlark und so groß, dass Isla seine Haarfarbe nicht erkennen konnte, solange er den Kopf hocherhoben hielt und starr geradeaus sah. Seine Größe erlaubte es ihm, mühelos drei Schwerter am Gürtel zu tragen, die an ihm alle winzig wirkten. Isla kam der unbehagliche Gedanke, dass ihr eigenes Schwert in der Hand dieses Riesen wie eine Feder wirken würde.

Azul trat um den Tisch herum, um Isla zu begrüßen, obwohl sein Platz auf Oros anderer Seite war. »Dein Stil hat sich verändert«, bemerkte er.

Seiner zum Glück nicht. Der Herrscher des Skyfolk trug eine seitlich geschlitzte Tunika mit großen Saphiren anstelle von Knöpfen. Jeder einzelne Finger wurde von einem Ring geschmückt.

Es war ihr erstes Wiedersehen seit dem Ende des Centennials. Du hättest Kontakt zu ihm aufnehmen sollen, flüsterte eine innere Stimme ihr zu. Ein weiterer Fehler.

Sie wollte ihn fragen, wie es ihm ergangen war, seit er mit ansehen musste, wie der Geist seines lang verstorbenen Ehemanns verschwunden war, als der Sturm sich aufgelöst hatte. Sie wollte sich dafür entschuldigen, dass sie auch nur einen Moment in Betracht gezogen hatte, dass er ihr Feind sein könnte. Sie wollte ihn fragen, wie es dem Skyfolk ging, seit die Flüche gebrochen waren.

Bevor sie ein Wort hervorbringen konnte, sagte Azul: »Wir könnten sicherlich Zeit für ein privates Treffen finden, wenn du möchtest.«

»Das würde mich sehr freuen«, erwiderte sie.

»Gut.« Er neigte das Kinn und flüsterte: »Sei vorsichtig. Man wird hier immer beobachtet.«

Er hatte recht. Im Saal hatten sich Gespräche entsponnen, doch sie konnte immer noch einen Großteil der Aufmerksamkeit auf sich spüren. In den Tagen nach dem Centennial, während sie in ihrem Zimmer geblieben war, hatte Oro den Adligen der Insel verkündet, dass Isla die Flüche gebrochen hatte und die Macht der Starling-Herrscherin auf sie übergegangen war. Diese Neuigkeit hatte sich schnell in ganz Lightlark verbreitet.

Die Leute an diesem Tisch hatten miterlebt, wie sie durch die Wettkämpfe des Centennials gestolpert war. Sie mussten sich fragen, wie ausgerechnet sie die Herrscherin sein konnte, die den Flüchen ein für alle Mal ein Ende bereitet hatte.

Gerade als Azul Platz genommen hatte, schwangen die Türen ein weiteres Mal auf und ein einzelner Starling trat ein. Sie hatte hellbraune Haut, dunkle Augen und glattes, schwarz schimmerndes Haar. Sie war in einem verblassten Silberton gekleidet, der eher an Sturmwolken als an eine frisch geschliffene Klinge erinnerte. Sie erstarrte, als alle Anwesenden sich ihr zuwandten. Doch kaum eine Sekunde später hatte sie sich wieder gefangen und ging mit hocherhobenem Haupt weiter. Dank des früheren Fluches konnte Isla sich sicher sein, dass dieser Starling jünger als fünfundzwanzig Jahre war, also etwa so alt wie sie.

Ihre Blicke trafen sich und das Mädchen verzog das Gesicht. Trotzdem spürte Isla eine gewisse Verbindung zwischen ihnen. Zwei Frauen, die sich vollkommen fehl am Platz fühlten.

»Maren«, stellte der Starling sich schlicht vor, ehe sie sich setzte und sich voll und ganz auf die gerundete Kante der goldenen Tafel konzentrierte.

Nur ein Stuhl blieb leer. Cleos.

Es machte nicht den Anschein, als würde der Moonling sich ihnen anschließen. Ein Glockenschlag klang durch den goldenen Saal und verkündete die volle Stunde. Oro erhob sich. »Nach fünfhundert qualvollen Jahren sind die Flüche, die unsere Reiche heimgesucht haben, endlich gebrochen – dank Isla Crown, Herrscherin des Wildfolk.« Wieder spürte Isla aller Blicke auf sich. »In den letzten Jahrhunderten war das Überleben unsere einzige Priorität. Heute treffen wir uns, um zu beraten, wie es weitergehen soll. Ich sehe das Potenzial für Wachstum, in jedem Sinne des Wortes. Um das zu erreichen, müssen wir mit den Nachwehen umgehen, die die letzten fünfhundert Jahre hinterlassen haben, in denen unsere Völker zerklüftet und unsere Kräfte beschränkt waren, bevor wir uns neuen Bedrohungen stellen können.« Er sah sie alle der Reihe nach an. »Aber zuerst wollen wir das Ende unseres Leids mit einem gemeinsamen Mahl feiern.«

Oro nahm Platz und die Gespräche am Tisch wurden wieder aufgenommen, doch Isla konnte sich nur auf ihren unsteten Atem konzentrieren. Nervosität brodelte in ihrem Magen. Die Aufmerksamkeit war schon auf sie gerichtet. Bald würden Fragen folgen. Was, wenn sie nicht die richtigen Antworten fand?

Niemand wusste von ihrer Vergangenheit mit Grim. Niemand wusste, dass sie insgeheim auch ein Nightshade war. Wüssten sie davon, hätte man sie sofort in den Kerker geworfen. Die Nightshade waren seit Jahrhunderten der Feind. Schon bevor die Flüche verhängt worden waren, hatten sie Krieg gegeneinander geführt. Und wenn man ihrer Vision Glauben schenken durfte, würden sie sich womöglich bald wieder in einem solchen Krieg befinden.

»Wir sind Monster, Herzverschlingerin«, raunte ihr jemand ins Ohr. »Oder zumindest denken sie das.«

Grim. Er war hier.

Sie fuhr zusammen. Ihr Herz raste. Hektisch ließ sie den Blick über den Tisch huschen, erwartete, ihn ganz in der Nähe zu entdecken oder irgendeine Reaktion der anderen zu sehen.

Doch er war nirgendwo. Vielleicht war er unsichtbar. Sie strengte ihre Augen an, um auch nur das kleinste Wabern in der Luft zu erkennen, das ihn verraten würde. Sie wartete darauf, dass er vor ihnen erschien. Ganz langsam streckte sie die Hand nach Oro aus, um ihn zu warnen …

Nichts.

Sie wusste, was sie gehört hatte. Oder? Es war möglich, dass ihr Verstand ihr einen Streich gespielt hatte. Vor über einem Monat hatte Grim ebendiese Worte zu ihr gesagt, damals, als er noch so getan hatte, als würde er sie nicht kennen.

Tatsächlich hatte er alles über sie gewusst. Sie hatten ein ganzes Jahr voller gemeinsamer Erinnerungen, die er ihr genommen hatte, um seinen eigenen Plan für das Centennial umsetzen zu können. Er hatte einen Teil ihres Lebens abgeschnitten, und das mit derselben Leichtigkeit, mit der Leto überflüssigen Stoff abtrennte.

Sie wusste nicht, was sie tun würde, sollte sie ihn jemals wiedersehen, aber im Moment musste sie sich keine Sorgen darum machen.

Grim war nicht hier.

Sie musste sich die Stimme eingebildet haben. Vielleicht war die Stimme, die sie im Palast der Spiegel gehört hatte, auch ihrer eigenen Vorstellungskraft entsprungen. Es konnte nicht wahr sein. Grim würde keine Unschuldigen töten, um sie zurückzubekommen.

Wieder sah sie Bilder der Vision vor ihrem inneren Auge. Tod. Kinder …

»Atme«, sagte sie zu sich selbst, bevor sie tief Luft holte. Ihr war bewusst, wie lächerlich es war, dass sie ihren Körper mündlich an eine seiner Grundfunktionen erinnern musste. Sie grub die Fingernägel in die Handballen, versuchte sich im Hier und Jetzt festzuhalten, als würde sie sich an einen Anker klammern, um nicht von den wankelmütigen Strömungen ihrer Gedanken davongetrieben zu werden.

»Vergiss nicht auch wieder auszuatmen.« Oro.

Unter dem Tisch legte er ihr eine Hand aufs Knie. Mit dem Daumen strich er über die Innenseite ihres Oberschenkels. Sie wusste, dass die Geste sie beruhigen sollte, doch für einen Moment richteten sich all ihre Sinne auf seine Berührung. Sie begegnete seinem Blick. Er zog die Hand zurück.

Ein besonderes Getränk wurde ausgeschenkt, eine Spezialität des Sunfolk. Starfolk-Diener servierten die flammenden Kelche auf schwebenden Tabletts, benutzten dafür ihre Kräfte. Isla fiel auf, dass sie Maren, der Repräsentantin des Starfolk, dabei freundlich zulächelten.

Oro nahm einen Schluck aus seinem Kelch und die Flammen erloschen, hinterließen keinerlei Brandwunden. Die Sunfolk-Adlige mit dem dunkelroten Haar leerte ihren Kelch in erstaunlich kurzer Zeit.

Würde das Getränk Isla verbrennen, weil sie kein Sunling war? Nein, natürlich nicht. Oro würde seinen Gästen niemals etwas servieren, das ihnen schaden könnte. Sie hob als Nächste den flammenden Kelch an ihre Lippen.

Das Getränk schmeckte nach Honig und brannte wie Schnaps. Die Flammen am Rand des Kelches streichelten ihre Wangen, während sie trank, sanken dann in den Rest der Flüssigkeit, bevor sie vollständig erloschen.

Der erste Gang war durch und durch Skyfolk. Es war ein schwebendes Festmahl, serviert in einem Blumentopf – Miniaturgemüse, das noch an den Wurzeln hing, aber über der Erde flog, sodass man es mit der Gabel einfangen musste, um es zu essen. Isla konnte nicht jedes Gemüse benennen, eins hatte die vertraute Konsistenz von Kartoffeln, war lila und hatte einen überraschend süßen Nachgeschmack. Ein paar der Gemüsesorten schienen ihren eigenen Willen zu haben, wichen spielerisch den Gabeln aus, schwebten an ihren Wurzeln hin und her. Oro beobachtete sie beim Versuch, eine besonders aktive Rote Beete einzufangen, und seine Mundwinkel zuckten amüsiert.

Der zweite Gang stammte aus dem Reich des Starfolk. Die dünnen Silberteller enthielten eine einzelne Kugel. Nachdem alle Teller serviert waren, schnippten die Starfolk-Bediensteten gleichzeitig mit den Fingern und die Kugeln explodierten, gaben den Blick auf ein Stück unbekanntes Fleisch frei, das in exakt gleich große Stücke geschnitten war. Große salzähnliche Kristalle bildeten einen Ring um das Fleisch. Isla biss in einen davon und erschrak, als er wie ein Knallkörper in ihrem Mund zerplatzte.

Der Moonfolk-Gang bildete den Abschluss.

Die Starfolk-Diener murmelten leise Entschuldigungen, als sie die Speise servierten, obwohl sie natürlich nur Befehle befolgten. Auf den Tellern standen Eisblöcke, in denen lebendige Fische schwammen. Mit weit aufgerissenen Augen versuchten sie sich in ihrem rasch schmelzenden Gefängnis zurechtzufinden.

Isla spürte die Hitze von Oros Zorn – beinahe genug, um die Fische zu befreien –, doch seine Miene blieb teilnahmslos.

Bevor Oro etwas sagen konnte, wurden die Türen zum Saal aufgeworfen. Isla rechnete damit, jetzt Cleos dramatischen Auftritt zu erleben.

Ein Moonling stand in der Tür … aber es war nicht die Herrscherin. Der Mann hatte langes weißes Haar, das ihm über den halben Oberkörper fiel, beinahe so blass wie seine Haut, und er hielt einen Stab in der Hand.

»Soren«, sagte Oro. »Wie schön, dass du dich zu uns gesellst. Ich nehme an, das hier ist deine Vorstellung eines Witzes?«

Der Moonling – Soren – schürzte die Lippen. »Eher eine Art Statement. Entschuldigt mein spätes Erscheinen, aber angesichts des Zustandes der Insel, der dem Eisblock vor Euch nicht ganz unähnlich ist, ist mir der Appetit vergangen.«

Das machte die Anwesenden wohl zu den Fischen.

»Cleo hat dich an ihrer statt geschickt?«, fragte Azul.

Soren nickte. Er nahm auf dem leeren Stuhl Platz, der für die Moonfolk-Herrscherin bestimmt war.

Oro erhob sich und die Mitte der goldenen Tafel sackte nach unten, bildete ein Becken. Die Eisblöcke rutschten hinein, schmolzen und füllten es mit Wasser. Die befreiten Fische drehten erleichterte Kreise.

Mit einem Blick, der des kalten Königs würdig war, für den Isla Oro vor dem Centennial gehalten hatte, betrachtete er Soren und sagte: »Nachdem das Dinner nun beendet ist, wieso eröffnest du das Gespräch nicht, indem du uns mitteilst, wo das Moonfolk steht?«

Mit seinem längsten Finger strich der Moonling über den Edelstein auf seinem Stab. »Euch ist natürlich bekannt, dass wir unsere Brücke zur Hauptinsel eingerissen haben.«

»Noch ein Statement?«, fragte Oro.

Der Moonling hob eine Schulter. »Und eine Schutzmaßnahme. Die Flüche haben gewisse Leute unter Kontrolle gehalten … und uns ist bewusst, dass wir Feinde auf der Insel haben.« Sein Blick landete auf Isla.

Am liebsten hätte sie gelacht. Das sollte der Grund sein? Sie? Moonfolk-Adlige hatten versucht sie zu ermorden und Cleo persönlich hätte es beinahe geschafft. So gesehen war es nicht einmal sehr abwegig zu denken, dass sie mit ihrer neu entdeckten Macht auf Rache aus war.

Trotzdem war diese Ausrede einfach lächerlich.

Oro musterte ihn. »Und eure Flotte?«

Der Moonfolk-Adlige trank gemächlich einen Schluck aus dem flammenden Kelch, der ihm serviert worden war. »Die brauchen wir, um in das neue Land des Moonfolk zu reisen«, sagte er. »Um unser Volk wieder zu vereinen.«

Das mochte zwar zum Teil der Wahrheit entsprechen, aber es war sicher nicht der einzige Grund und um das zu wissen, brauchte Isla nicht einmal Oros Gabe. Cleo hatte ihre Flotte von Kriegsschiffen in einer Zeit aufbauen lassen, in der weite Reisen ein Todesurteil für das Moonfolk bedeuteten.

»Inwiefern vereinen?«, fragte Azul. »Indem ihr diejenigen im neuen Land des Moonfolk nach Lightlark bringt? Oder diejenigen auf Lightlark ins neue Land?«

Spannungsgeladene Stille breitete sich im Saal aus. Aus ihren Gesprächen mit Oro wusste Isla, dass das die große Frage war. Nachdem die Flüche verhängt worden waren, hatten die meisten Reiche Lightlark verlassen, um ihre eigenen neuen Länder zu gründen, Hunderte von Meilen entfernt. Wenige waren auf der Insel geblieben. Würden die Herrscher entscheiden zurückzukommen, nachdem die Flüche nun gebrochen waren? Oder würden sie Lightlark für immer verlassen?

»Diese Entscheidung hat meine Herrscherin noch nicht getroffen«, erwiderte Soren ruhig.

Oro wandte sich von dem Moonling ab und richtete seinen Blick stattdessen auf Azul. »Und das Skyfolk?«

Azul deutete auf seine Repräsentanten. »Das hier sind die gewählten Amtsträger Sturm« – der Riese nickte, wobei er den Blick jedoch nicht von der gegenüberliegenden Wand abwandte – »und Bronte.« Die zierliche Frau zeigte ihnen den Hauch eines Lächelns.

»Jeder Skyling wird die Wahl haben«, sagte Bronte. »Im neuen Land bleiben oder zu uns nach Lightlark kommen.«

Das passte zu ihrem Reich.

Sturm nickte. »Wir haben bereits damit begonnen, der neueren Generation unsere Flugkünste beizubringen, allerdings ist die Reise vom neuen Land nach Lightlark noch zu weit. Wir haben Apparate, die das Fliegen ermöglichen, indem sie sich den Wind zunutze machen.«

Oro nickte. Er wollte sich gerade seinen eigenen Repräsentanten zuwenden, als Azul sagte: »Da ist noch etwas. Auf der Insel braut sich eine Rebellion zusammen. Unsere Spione haben das Flüstern im Wind gehört.«

Oro runzelte die Stirn. »Und was sagt dieses Flüstern?«

»Das Volk ist nicht glücklich darüber, wie lange es gedauert hat die Flüche zu brechen, und auch nicht über unsere Entscheidungen als Herrscher.«

»Welches Reich?«, fragte Oro.

»Alle. Zumindest die Angehörigen hier auf Lightlark«, sagte Azul. Sein Blick wanderte zu Soren. »Ja, auch Angehörige des Moonfolk.«

Rebellion. Würden die Einwohner Lightlarks wirklich versuchen Oro oder einen der anderen Herrscher zu stürzen? Ohne Erben war ihre Herrschaft die absolute Monarchie. Rebellion war sinnlos, wenn der Tod des Herrschers den Tod für das gesamte Reich bedeutete.

Die Mienen am Tisch waren ernst, doch niemand schien allzu überrascht, was Isla vermuten ließ, dass Rebellion auf Lightlark kein neues Konzept war.

»Ich habe vor, alle Inseln und neuen Länder zu besuchen, um persönlich mit den Menschen zu sprechen«, sagte Oro mit Blick zu Soren. »Hoffentlich wird das allen die Gelegenheit geben ihre Beschwerden zu äußern.«

Er nickte seinen Repräsentanten zu. »Enya, Urn und Helios werden mich begleiten«, sagte er. Das Sunfolk hatte kein neues Land – alle waren zusammen mit Oro geblieben, der zugleich Herrscher des Sunfolk und König von Lightlark war. »Wie viele von euch wissen, dienen sie auch am Hof der Hauptinsel. Unser Fokus liegt momentan darauf, die Infrastruktur wieder zu normalisieren, nachdem wir fünfhundert Jahre lang nachtaktiv waren.« Kurz begegnete er Islas Blick, bevor er sagte: »Außerdem bereiten wir unser Heer vor. Nachdem die Flüche nun gebrochen sind, müssen wir davon ausgehen, dass Grimshaw diese Gelegenheit zum Angriff nutzen wird.«

Isla wusste, dass er damit auf ihre Vision reagierte. Oro hatte sie ernst genommen.

Soren runzelte die Stirn. »Ihr glaubt, dass er dieselben Ambitionen hat wie sein Vater?« Isla wusste, dass Grims Vater mehrere Jahrzehnte vor den Flüchen gegen Lightlark in den Krieg gezogen war. Die Nightshade hatten die Kontrolle über die Insel an sich bringen wollen.

»Möglicherweise«, sagte Oro. »Mit Sicherheit wissen wir nur, dass Nightshade dank der gebrochenen Flüche und unserer geteilten Reiche mächtiger ist denn je. Wir müssen wieder zusammenarbeiten, um eine vereinte Front zu bilden.«

Zustimmendes Gemurmel raunte um den Tisch und leises Flüstern verriet Erstaunen über die Idee eines Nightshade-Angriffs.

»Wo wir gerade von Zusammenarbeit sprechen …«, sagte Soren. Er wandte sich an Isla. »Das Wildfolk hat Lightlark gesammelt verlassen. Wie ergeht es deinem Reich?«

Nach den Flüchen hatte Isla ihrem Land Kraft einverleibt, um ihr Volk zu retten, während sie sich erholte. Mitten in der Nacht hatte sie das Reich heimlich mithilfe ihres Sternenstabes besucht. »Das Wildfolk hat begonnen sein Hauptnahrungsmittel zu ersetzen.« Sie sah Abscheu in Sorens Miene, was vermutlich der Tatsache geschuldet war, dass ihr Volk sich bisher von menschlichen Herzen ernährt hatte. »Meine Untertanen ernten bereits die ersten eigenen Feldfrüchte, aber wir werden Unterstützung brauchen, um eine ausgewogene Ernährung und Landwirtschaft zu erreichen, nachdem wir nun darauf angewiesen sind. Ich …«

»Wie viele von euch sind denn noch übrig?«, unterbrach Soren sie.

Sie runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher. Wie du weißt …«

»Du bist dir nicht sicher?«, fragte Soren mit erhobenen Brauen.

Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Die Frage war berechtigt. Es war eine Frage, auf die ein guter Herrscher die Antwort wüsste.

»Können die meisten deiner Untertanen mit ihren Kräften umgehen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie sieht es mit Unterkünften aus? Was war die Geburtenrate im letzten Jahrhundert?«

»Das werde ich herausfinden müssen«, sagte sie durch zusammengebissene Zähne.

»Hast du …«

»Es reicht«, sagte Oro. Er wandte sich an den Moonling. »Soren, ich bin mir sicher, Isla würde dich gern im neuen Land des Wildfolk willkommen heißen, wenn du dich so sehr für ihr Volk interessierst.«

Soren sah aus, als würde er sich lieber eine Gabel ins Auge rammen, doch er blieb stumm.

Isla hielt den Blick auf die Tischplatte gesenkt. Ihre Kehle war eng. Das Atmen fiel ihr schwer, als wäre ihre Lunge auf die halbe Größe zusammengeschrumpft.

Sie hatte es nicht verdient Herrscherin zu sein. Das wusste sie schon seit einer Weile, aber Sorens Fragen hatten ihren Mangel an Wissen deutlich gemacht. Poppy und Terra hatten das Reich regiert, während sie für das Centennial trainiert hatte, und jetzt waren sie fort. Sie hatte sie verbannt.

Zum ersten Mal fragte Isla sich, ob das ein Fehler gewesen war.

Die Repräsentantin des Starfolk, die sich als Maren vorgestellt hatte, räusperte sich. Sie hatte eine Intensität an sich, eine Energie, die den ganzen Raum erfüllte. »Jahrhundertelang waren wir nur eine Randerscheinung. Ein kurzes Blinzeln in eurem langen Leben. Von vielen wurden wir als entbehrlich angesehen, wie Wegwerfware behandelt. In der Dunkelheit der Nacht entführt. Wir wurden Zwangsarbeit, Folter und manchmal Schlimmerem ausgesetzt.« Sie sah den König an. »Ihr habt die Schuldigen hinrichten lassen, aber viele sind entkommen.« Sie verzog das Gesicht. »Star Isle ist kaum mehr als eine Ruine. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dem neuen Land viel besser geht.« Sie wandte sich an Isla. »Wir brauchen einen Herrscher.«

Wie konnte der Starling Isla um Hilfe bitten, nachdem sie eben miterlebt hatte, wie erbärmlich sie den Zustand ihres eigenen Reiches wiedergegeben hatte?

Soren zog die Brauen zusammen. »Was du willst, ist unmöglich. Niemand kann gleichzeitig über zwei Reiche herrschen.«

»Sie hat die volle Macht eines Starfolk-Herrschers erhalten«, merkte Azul an.

Soren lachte bellend auf. »Dieses Mädchen kann nicht mal ihr eigenes Reich regieren. Und ihr wollt ihr gleich zwei geben?«

»Das Mädchen hat einen Namen – und einen Titel.« Oros Stimme schnitt durch den Saal. »Du wirst sie mit demselben Respekt ansprechen, den du allen Herrschern entgegenbringst, oder ich werde dich als Brennmaterial für den Schlossherd benutzen.«

Isla versteifte sich. Oros Verteidigung war schneidend. Sie warf einen kurzen Blick in die Gesichter am Tisch, doch die wirkten eher verlegen als misstrauisch.

Sorens Augen funkelten, doch er neigte respektvoll den Kopf. »Vergebt mir, mein König.«

»Entschuldige dich nicht bei mir«, erwiderte Oro.

Widerstrebend wandte Soren sich an Isla und sagte: »Ich entschuldige mich, Herrscherin.« Isla starrte ihn einfach nur an. Er drehte sich wieder zum König um. »Bei allem Respekt«, sagte er, betonte das S dabei auf besonders schlangenhafte Art, »es erscheint mir nicht klug, einem einzelnen Herrscher so viel Macht zu geben …« Er hielt inne, um seine nächsten Worte zu überdenken. »Ihr, mein König, seid der Einzige, der über mehrere Reiche herrschen sollte.«

Der Blick, den Oro dem Moonling schenkte, war nicht weit davon entfernt, diesen in Brand zu setzen. »Azul hat recht. Sie hat die gesamte Macht eines Starling-Herrschers und, wenn ich uns alle daran erinnern darf, nur wegen ihr ist das Starfolk überhaupt noch am Leben.« Er wandte sich an Isla. »Es liegt bei ihr, diese Verantwortung anzunehmen oder abzulehnen.«

Isla schwieg. Das konnte sie nicht hier und jetzt entscheiden. So gern sie ihn auch mit ihrem Dolch durchbohrt hätte, Soren hatte recht. Sie hatte gerade erst – sehr öffentlich – demonstriert, dass sie keine Ahnung hatte, wie man ein Reich anständig regierte, ganz zu schweigen von zweien. Zwei der schwächsten Reiche, die am meisten unter den Flüchen gelitten hatten und die jetzt am meisten Hilfe brauchten.

»Wie sollte das überhaupt funktionieren?«, fragte die Frau mit den dunkelroten Haaren. Enya. Ihre Stimme war rau und tief. Eindringlich musterte sie Isla, neigte dabei den Kopf zur Seite. »Würde sie gekrönt werden? Offiziell als Herrscherin anerkannt? Die Macht hat sie schon, es wäre also reine Formsache.«

»Den Völkern wird das nicht gefallen«, murmelte die Skyfolk-Frau, Bronte, doch ihre Worte klangen nicht unfreundlich. Sie stellte lediglich eine Tatsache fest.

»Natürlich wird es dem Volk nicht gefallen«, sagte Maren leise. »Denn das würde es ihnen schwerer machen, uns weiterhin auszubeuten.«

»Wie bitte?«, fragte der alte Sunling in etwas zu lautem Tonfall, als hätte er sie tatsächlich nicht verstanden.

»Das läuft ja alles wunderbar«, sagte Soren leichthin zum riesenhaften Sturm, der jedoch nicht einmal mit der Wimper zuckte und Soren keinerlei Beachtung schenkte.

»Ich sagte …«, begann Maren mit lauter werdender Stimme. Frustration und Wut stiegen ihr ins Gesicht.

»Ich tue es«, sagte Isla und setzte der verfahrenen Diskussion damit ein Ende.

Stille.

»Bist du dir sicher?« Oro sah ihr direkt in die Augen. Er sah sie an, als wären sie allein in diesem Saal.

»Ja«, sagte sie, obwohl sie sich nur einer Sache wirklich sicher war: Maren wusste, dass Isla nicht die beste Anführerin war … und sie hatte sie trotzdem um Hilfe gebeten. Das Starfolk musste wirklich verzweifelt sein. Sie war nicht die beste Wahl – natürlich war sie das nicht.

Nein, aber sie würde zur besten Wahl werden.

Isla konnte ihnen ihre Hilfe nicht verwehren, erst recht nicht, nachdem sie von den Grausamkeiten gehört hatte, die in den letzten Jahrhunderten begangen worden waren. Wer war sie, wenn sie einfach untätig dasaß, nachdem sie von diesem Grauen erfahren hatte? Was hätte es gebracht, ihre beste Freundin zu töten und die Flüche zu brechen, wenn Lightlark und seine Einwohner kurz darauf im Chaos versanken?

»Ich werde offiziell die Rolle der neuen Herrscherin des Starfolk annehmen«, sagte sie, begegnete dabei Sorens Blick. »Ich werde mich krönen lassen.«

Kapitel 4

Entscheidungen

»Ich weiß nicht, wie man regiert«, gestand sie. Azul saß ihr in Junipers ehemaliger Bar gegenüber. Die Glaskugeln hinter dem Tresen waren noch immer mit verschiedenen alkoholischen Getränken gefüllt. Auf den geschwungenen Stühlen und Tischen hatte sich noch kein Krümelchen Staub abgesetzt. Die Leiche und das Blut waren entfernt worden, trotzdem fühlte Isla sich beinahe an jenen Tag zurückversetzt, Wochen zuvor, als sie ihn tot vorgefunden hatte. Zusammen mit Celeste.

Aurora.

Der Wirt, der Geheimnisse bewahrte, war wegen ihr gestorben. Er hatte ihr geholfen. Er war einer der wenigen Inselbewohner gewesen, die ihr tatsächlich geholfen hatten.

Sein Opfer trieb sie dazu, sich bessern zu wollen, sich ihm als würdig zu erweisen.

»Deine Verkündung war sehr dramatisch. Das hat mir gefallen.« Azul lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, vor ihm auf dem Tisch glitzerte ein Glas Mineralwasser. Wenn die kleinen Bläschen platzten, gaben sie einen zarten Duft nach Beeren frei. »Willst du denn regieren, Isla?«

Nein. Das war ihre instinktive Antwort. Doch es schien ihr zu egoistisch, das laut auszusprechen, deswegen sagte sie: »Habe ich denn eine Wahl?«

Der Skyfolk-Herrscher hob eine Braue. »Man hat immer eine Wahl.«

Das Skyfolk schätzte die Möglichkeit zu wählen mehr als alles andere, was ihre demokratische Lebensart widerspiegelte. Isla fand das Prinzip durchaus verlockend. Was würde sie dafür geben, all diese Verantwortung an jemand anderen abzutreten.

»Wirklich?«, fragte sie rauer als beabsichtigt. »Ich habe die Herrschermacht des Starfolk und des Wildfolk. Wer außer mir könnte die beiden Reiche wieder aufbauen?« Da Azul sie einfach nur ansah, fuhr sie fort. Aus irgendeinem Grund machte sein Schweigen sie wütend, denn all diese Fragen waren ernst gemeint und sie wollte Antworten. »Hmm?«, sagte sie. »Soll ich mich einfach in mein Zimmer verkriechen und sie alle sterben lassen?«

»Das könntest du tun«, sagte er. Azul zuckte mit den Schultern und betrachtete einen seiner perfekt manikürten Nägel. Jeder Zentimeter an ihm war makellos wie immer. »Aber du hast dich entschieden es nicht zu tun.« Er sah ihr in die Augen. »Richtig?«

Sie hatte um dieses Treffen gebeten. Sie hatte den Adligen und Repräsentanten verkündet, dass sie sich krönen lassen würde. Sie hatte nicht nur eine Entscheidung getroffen, sondern mehrere.

»Richtig«, murmelte sie.

Sein Lächeln ließ seine perfekten Zähne aufblitzen. »Gut. Nachdem das geklärt ist … Natürlich weißt du nicht, wie man regiert, Isla.« Das Mitgefühl in seiner Stimme traf sie unvorbereitet. »In deinem Alter war ich zu beschäftigt damit, mit Jungs rumzufliegen und jede erdenkliche Nebelart zu trinken, um an irgendjemanden außer an mich selbst zu denken.« Sein Lächeln wurde traurig. »Wenn man sich entscheidet zu regieren, legt man damit das Versprechen ab, das Wohlergehen und das Glück seiner Untertanen über das eigene zu stellen.«

Isla runzelte die Stirn. Sie schämte sich dafür, wie grauenhaft das in ihren Ohren klang.

Sie wollte das Glück anderer nicht über ihr eigenes stellen, nicht nach dem, was sie durchgemacht hatte. Ein Mensch konnte nicht unendlich viel ertragen. Ihr Vertrauen war missbraucht worden, ihr Herz gebrochen. Sie hatte kaum noch etwas zu geben. Mit dem wenigen, das noch übrig war, wollte sie selbstsüchtig sein. Hatte sie sich das nicht verdient?

»Ich verstehe«, sagte er.

»Was verstehst du?«

Azul begann leise vor sich hin zu summen und der Wind schien es ihm nachzumachen. Von irgendwoher wehte eine Brise durch den Raum und ließ ihr Haar flattern, obwohl alle Türen und Fenster der Bar geschlossen waren. »Natürlich.«

»Natürlich was?«

Der Skyfolk-Herrscher faltete die Hände vor sich. »Stehst du deinen Wildfolk-Untertanen nahe, Isla?«

»Nein.«

»Sie wussten nicht, dass du dich für machtlos gehalten hast?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wie sah deine Beziehung zu ihnen aus?«

Isla hob eine Schulter. »Nicht existent. Meine Hüterinnen haben alle Entscheidungen getroffen. Sie haben regiert. Aufgrund meines … Geheimnisses … wurde ich auf Abstand gehalten. Wurde nur zu besonderen Anlässen vorgeführt und auch dann nur aus der Ferne.« Sie biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, eine Angewohnheit, für die Poppy ihr mit dem Fächer einen Klaps aufs Handgelenk gegeben hätte. »Wenn ich ganz ehrlich bin … Sie sind mein Blut, sie sind meine Verantwortung, ich würde alles für sie tun … aber sie fühlen sich an wie Fremde.«

Azul nickte. »Natürlich tun sie das«, sagte er und die Art, wie er ihre Gefühle anerkannte … das Mitgefühl in seiner Stimme … So etwas hatte sie noch nie erlebt. »Und die Angehörigen des Starfolk hier sind tatsächlich Fremde. Sie bedeuten dir nichts.« Er zuckte mit den Schultern. »Diese Insel bedeutet dir nichts.«

In seiner Stimme lag keinerlei Anklage. Sein Blick zeigte keine Abscheu. Azul schüttelte einfach nur den Kopf. »Und wie könnte es auch anders sein? Du bist erst seit wenigen Monaten hier. Vermutlich hast du die schlimmsten Momente deines Lebens hier auf Lightlark durchlebt. Du hast keine schönen Erinnerungen an die Zeit vor den Flüchen und die meisten hier hassen dich, weil sie ein gewisses Bild vom Wildfolk haben.«

All das stellte er ganz nüchtern fest. Isla war sich nicht sicher, ob seine Worte durch den emotionslosen Tonfall mehr oder weniger schmerzten.

»Wirst du ins neue Land des Wildfolk zurückkehren, Isla?«

»Das habe ich vor.« Sie erzählte ihm von ihrem Sternenstab und davon, dass sie ihr Reich besucht hatte. Sie bot an ihn ins neue Land des Skyfolk zu teleportieren, sollte das nützlich sein.

Azuls Augen funkelten neugierig. »Sehr nett«, sagte er. »Ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber was ich eigentlich meinte … Wirst du dauerhaft ins neue Land des Wildfolk zurückkehren?«

Dauerhaft. Nach dem Ende des Centennials hätte Isla sich niemals vorstellen können auf Lightlark zu bleiben. Aber die Dinge hatten sich verändert. Sie hatte sich verändert.

»Nein.«

»Dann ist dies nun dein Zuhause«, sagte Azul. »Dein erwähltes Zuhause.« Er stand auf und sein hellblaues Cape bauschte sich hinter ihm in einer Brise, die nur ihn zu treffen schien. »Lerne es zu lieben, ebenso wie deine zwei Reiche. Es ist Aufgabe des Herrschers, nicht der Untertanen, eine Verbindung herzustellen.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Komm mit mir.«

Ohne zu zögern, nahm sie seine Hand, die Ringe an ihren Fingern klimperten aneinander wie ein Windspiel. »Wir fliegen doch nicht … oder?«

Azul lächelte. »Vertraust du mir?«

»Ja«, sagte sie und es war die Wahrheit. Ihr war klar, dass es nach allem, was passiert war, dumm war, irgendjemandem zu vertrauen. Das wusste sie, aber was war die Alternative? Sich für immer abzukapseln? Seit dem Centennial spürte sie eine Wand um sich herum aufragen, die immer dicker wurde. Wenn sie nicht vorsichtig war, würde sie bald undurchdringlich sein.

Sie hatte Azul um Hilfe gebeten. Das Mindeste, was sie im Gegenzug tun konnte, war, ihn einzulassen.

Durch die Hintertür der Bar traten sie in eine kleine Gasse. Er reichte ihr auch seine zweite Hand. »Darf ich?«

Sie schlang ihre Finger um seine.

Dann waren sie in der Luft. Und Azuls Flugkünste waren um Welten angenehmer als Oros.

Seit die Flüche gebrochen worden waren, hatte Sky Isle sich verändert. Die untere Stadt war für die darüberschwebende verlassen worden und ein Großteil des Skyfolk hatte das Laufen sofort zugunsten des Fliegens aufgegeben. Hoch in den Wolken stand ein Schloss, dessen Türme in den Himmel ragten wie Schreibfedern, die darauf warteten, eine leere Seite zu schmücken. An der Vorderseite des Palastes entsprang ein Wasserfall, der in sämtlichen Farben schimmerte, die man sich nur vorstellen konnte, bevor er in einem glitzernden Bogen in ein Becken floss.

Und alle hier flogen.

Es wirkte ganz natürlich, als würde all der leere Luftraum endlich sinnvoll genutzt. Bisher hatte Isla nur Oro fliegen sehen – und jetzt Azul. Sie hätte nie gedacht, dass es so kunstvoll aussehen konnte. Fliegen schien ein bisschen wie Handschrift zu sein. Manche waren elegant wie Azul, schienen beinahe zu tanzen. Andere ähnelten Oro, liefen mit kräftigen Schritten durch die Luft wie über Brücken, die nur sie sehen konnten.

Manche flogen gar nicht. Sie glitten auf geflügelten Apparaten durch die Luft, nutzten ihre Kontrolle über den Wind, um ihre Erfindungen anzutreiben.

Azul hatte sie in Wind gehüllt. Sie schwebte direkt neben ihm – eine Hand fest um sein Handgelenk geklammert, nur für den Fall – und nahm alles in sich auf, so gut sie konnte.

»Der Fluch deines Reiches …«

»War einer der weniger schlimmen«, beendete er den Satz.

Fünfhundert Jahre lang nicht fliegen zu können musste schrecklich gewesen sein für ein Volk, das seine Macht offensichtlich so sehr mit dem Alltagsleben verwoben hatte, aber es war bei Weitem nicht so schrecklich, wie mit fünfundzwanzig zu sterben oder Herzen essen zu müssen, um zu überleben. Das bedeutete jedoch nicht, dass der Fluch nicht tödlich gewesen war. »Azul. An dem Tag, als es passiert ist …«

»Wir haben viele verloren. Sie sind alle einfach … vom Himmel gefallen.«

Isla schloss die Augen. Die Vorstellung, wie all diese Menschen ohne Erklärung, ohne Vorwarnung einfach in ihren Tod gestürzt waren … Sie schloss die Finger noch fester um Azuls Handgelenk.

»Das Fliegen liegt in unserer Natur. Selbst diejenigen, die kaum Kräfte haben, können fliegen. Aber alle, die nicht geschickt genug – oder schnell genug – waren, um mithilfe des Winds ihren Sturz abzufedern … sind gestorben.«

Inzwischen hatten sie das Schloss erreicht. Statt auf den Wolken zu landen – denen Isla nicht im Geringsten vertraute –, schwebten sie einfach weiter, direkt durch das Eingangsportal.

Es gab keine Decke. Man konnte einfach in und durch den Palast schweben. Das Schloss hatte Flure, aber keine Treppen. Um aus dem Innenhof in ein anderes Stockwerk zu gelangen, musste man fliegen. Nun verstand sie, wieso dieser Palast nach dem Verhängen der Flüche aufgegeben worden war.

Isla fragte sich, von wie vielen wichtigen Ressourcen das Skyfolk wohl plötzlich abgeschnitten worden war, weil sie nicht mehr fliegen konnten. Bei ihrem ersten Besuch auf Sky Isle hatte sie den höchsten Turm der Stadt bewundert, der die Unterseite des Palastes berührte. Jetzt wurde ihr klar, dass dieser Turm die einzige Möglichkeit gewesen war, das zu erreichen, was sie verloren hatten. Sie hatten sich einen neuen Zugang bauen müssen.

Die Luft hier oben fühlte sich dünner an und es war so kalt, dass sie Gänsehaut bekam, doch dem Skyfolk schien das nichts auszumachen. Alle trugen zu Ehren ihres Reiches Gewänder in hellem Blau, doch die Stile und Schnitte waren deutlich vielfältiger, als sie es in anderen Reichen gesehen hatte. Kleider schienen nicht sehr beliebt zu sein, was vermutlich praktische Gründe hatte. Isla war dankbar, dass ihr eigenes Kleid und das dazugehörige Cape schwer genug waren, um sie auch im Flug bedeckt zu halten.

Alle, denen sie begegneten, nickten Azul respektvoll zu, freudig, lächelnd, einige legten ihm im Vorbeifliegen sogar eine Hand auf die Schulter. Die meisten nickten auch Isla zu. Manche starrten sie neugierig an. Andere lächelten offen.

Sie flogen durch das Schloss nach oben und durch das offene Dach, um den Palast und seine schwebende Stadt von oben betrachten zu können. Er deutete auf die vielen Menschen auf dem Marktplatz, die von hier oben winzig aussahen, dann auf eine Bergkette in der Ferne. Sky Isle erstreckte sich so weit, dass sie kein Ende sehen konnte.

»Sie sind meine Bestimmung«, sagte Azul. »Es war nicht leicht Lightlark nach den Flüchen zu verlassen, aber mein Volk hat abgestimmt und die Mehrzahl wollte die unsichere Zukunft der Insel hinter sich lassen. Ich bin stolz auf das neue Land des Skyfolk und auf all das, was wir uns dort in den letzten Jahrhunderten aufgebaut haben, aber es besteht kein Zweifel daran, dass das Herz unserer Macht hier ist.« Er atmete tief ein, als könnte er ebenjene Macht, die durch die Insel pulsierte, riechen und schmecken. Er sah sie an. »Ich kann dir nicht beibringen, wie man regiert, Isla. Das musst du selbst herausfinden. Ich weiß nur, dass ich die Interessen und das Wohlergehen meiner Untertanen weit über meine eigenen stelle. Jeden Tag. Sie geben mir die Kraft weiterzumachen, selbst in meiner Trauer.« Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Nachdem die Flüche nun gebrochen sind, wird man bald einen Erben von dir erwarten.«

Isla fuhr zu ihm herum. »Was?«

»Dein Volk wird seine Zukunft sichern wollen.« Er seufzte. »In den letzten Jahrhunderten wurden viele Vorkehrungen getroffen, um die Herrscher zu schützen. Mein Volk hat entschieden, dass ich beinahe ununterbrochen von einem ganzen Heer umgeben sein sollte. Ich durfte keins der anderen neuen Länder bereisen.«

Das ließ Islas eigene Reisen mit dem Sternenstab umso leichtsinniger erscheinen. Allmählich verstand sie, wieso Poppy und Terra so streng gewesen waren.

Isla wollte keinen Erben zeugen.

Sie war nicht bereit. Machte sie das zu einem schlechten Menschen? Noch selbstsüchtiger?

Andererseits wollte sie auch nicht den Rest ihres Lebens in Isolation und unter ständiger Überwachung verbringen, in dem Wissen, dass ihr Tod den Tod all ihrer Untertanen bedeutete …

»Es gibt andere Möglichkeiten, einen Erben zu haben, als die offensichtliche«, sagte Azul. »Es ist möglich die Herrschermacht auf jemanden zu übertragen, durch einen Liebesbund oder bestimmte Artefakte.« Wie dem Bannbeschwörer, dachte Isla. »Doch der Preis dafür ist hoch. Seine Macht dauerhaft auf jemand anderen zu übertragen verkürzt die Lebensdauer eines Herrschers drastisch.«

Das schien also auch keine brauchbare Option zu sein. Ihr Leben hatte kaum begonnen. Sie wollte es auskosten.

»Du siehst aus, als wäre dir übel«, sagte Azul.

»Das liegt an der Höhe.«

Der Laut, den Azul von sich gab, ließ vermuten, dass er die Wahrheit kannte. »Es ist eine Ehre zu regieren, Isla, aber nicht immer eine Freude.« Er drückte ihre Hand. »Geh dein Volk besuchen. Stell dich ihnen. Sei ehrlich mit ihnen. Du bist ihre Herrscherin. Ob du dich selbst für würdig hältst oder nicht, du bist alles, was sie haben.«

Genau das, stellte Isla fest, machte ihr die größte Angst.

Kapitel 5

Krönung

Vom Wildfolk war noch weniger übrig geblieben, als sie gedacht hatte.

Vor mehreren Monaten hatte sie zum letzten Mal zu ihrem Volk gesprochen. Nun hatte sich nur noch ein Bruchteil davon vor ihr versammelt. Alle machten einen geschwächten Eindruck. Da waren Details, die ihr nicht aufgefallen waren, als sie zu sehr auf ihre Reise zum Centennial fokussiert gewesen war. Doch jetzt sah sie die Zeichen deutlich. Eine Frau mit stümperhaft kurz geschorenen Haaren trug ein zerschlissenes weißes Oberteil, unter dem die Rippen sichtbar hervortraten. Eine andere war viel zu blass, ihre Lippen waren rissig, ihrem Gesicht fehlte jegliche Farbe. Sie hatten gelernt ausreichend Essen anzubauen, das hatte sie selbst gesehen. Sie nahm an, dass es wohl einfach eine Weile dauern würde, bis die ausgewogene Ernährung sie wieder gesund aussehen ließ.

Manche Details waren unverändert. Wie an dem Tag ihrer Abreise hatte ein Teil der Bevölkerung auch jetzt tierische Begleiter an seiner Seite. Das Wildfolk war für seine Verbundenheit mit dem Tierreich bekannt. Poppy hatte einen Kolibri, der um ihre Frisur flatterte. Terra einen großen Panther.

Isla hatte sich immer einen tierischen Gefährten gewünscht. Das hätte ihrem Leben viel von seiner Einsamkeit genommen.

Terra hatte immer Nein gesagt.

Isla öffnete den Mund. Doch bevor sie etwas sagen konnte, taten ihre Untertanen etwas, mit dem sie niemals gerechnet hätte. Etwas, das sie nicht verdiente.

Einer nach dem anderen verbeugte sich.

»Nein, ich …«

Das hatten sie noch nie zuvor getan. Isla hatte es nie verlangt. Es war eine Sitte, an die sie nicht gewöhnt war.

Es gefiel ihr nicht. Nervosität kribbelte über ihre Haut und am liebsten hätte sie gerufen, dass sie sie anschreien sollten, sie beschimpfen sollten, ihr alles an den Kopf werfen sollten, was sie bisher falsch gemacht hatte. Ihre Untertanen sahen aus, als stünden sie immer noch kurz vor dem Tod. Sie war eine Versagerin, keine Heldin.

Isla wich zurück, die Worte waren ihr im Hals stecken geblieben, da sagte eine Frau mit einem Wasserschwein an ihrer Seite: »Sie haben die Flüche gebrochen. Sie haben getan, was kein anderer Herrscher in den letzten Jahrhunderten geschafft hat.«

Sie runzelte die Stirn. »Woher … woher weißt du das?«

»Terra hat es uns erzählt.«

Terra? Der Name war wie ein Dolch in ihrer Brust. Wie hatten ihre Hüterinnen überhaupt erfahren, dass sie diejenige war, die die Flüche gebrochen hatte? Wieso hatte Terra den anderen davon erzählt, nachdem sie verbannt worden war?

Hatte sie sich Islas Befehlen widersetzt? War sie noch hier im neuen Land?

»Wo ist Terra jetzt?«, fragte die Frau. »Sie war hier … und dann ist sie verschwunden. Und Poppy?« Nein. Nicht mehr hier.

»Ich weiß es nicht«, gab Isla ehrlich zu. Sie zog in Erwägung, ihnen von der Verbannung zu erzählen, doch zuerst musste sie ein Gespür für die Loyalität ihrer Untertanen bekommen. Würden sie zu ihr stehen … oder zu den Hüterinnen, die das Wildfolk seit ihrer Geburt regiert hatten? »Bitte erhebt euch«, sagte sie. Dann erzählte sie ihnen alles. Dass sie geglaubt hatte ohne Kräfte geboren worden zu sein. Dass sie einen Gegenstand besaß, der es ihr erlaubte jederzeit ein Portal zu öffnen. Dass sie jetzt auch über Starfolk-Kräfte verfügte. Nachdem sie geendet hatte, sagte sie: »Ich war euch keine gute Herrscherin. Ich kenne eure Probleme nicht. Bitte sprecht ganz offen. Ich bin sicher, ihr habt Fragen. Stellt sie. Sagt mir, was ihr braucht.«

Aus dem Augenwinkel nahm sie ein kurzes Flackern wahr. Isla wandte den Kopf und für den Bruchteil einer Sekunde sah sie Grim in der Menge stehen und sie beobachten.

Sie erstarrte. Panik sank ihr wie ein schwerer Stein in den Magen.

Ein Blinzeln und er war fort.

Jemand hatte eine Frage gestellt und sie hatte sie nicht gehört.