Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die 14-jährige Lior steht vor der größten Herausforderung ihres Lebens. Nachdem ihre Mutter sie gegen ihren Willen in ein Kinderheim schickt, fühlt sie sich einsam und verlassen. Warum muss sie von ihrem Zuhause Abschied nehmen? Das Einzige, was Lior von ihrer Familie bleibt, ist das alte Notizbuch, gefüllt mit Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten. Entschlossen, eine Möglichkeit zu finden, um wieder nach Hause zurückzukehren, führt ihr Weg sie zum zauberhaften Laden Lumis Bücherwelt. Doch das ungewohnte Leben im Heim, die neuen Freundschaften und die unbekannten Gefühle für Christian stellen Lior vor eine herzzerreißende Entscheidung. Wird sie den Weg nach Hause finden? Ein bewegendes Abenteuer über Familie, Verlust und die unerwarteten Wege des Herzens.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 182
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Viktoria Nergiz wurde im Erzbistum Paderborn geboren und lebt dort mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten mit ihrer Familie, sei es in Fußballstadien, auf Städtereisen oder in gemütlichen Cafés. Manchmal sieht man sie gegenüber dem Paderborner Dom sitzen, wo sie mit einem Notizbuch in der Hand ihre Gedanken festhält. Ihre Leidenschaft fürs Schreiben wurde beflügelt, als sie bei Lesungen ihres Debütromans »Talvis Weihnachten – Keine Geschenke und doch so viele« erlebte, wie wichtig es ist, Kindern etwas Wertvolles mit auf den Weg zu geben. Diese Erkenntnis floss auch in ihr neues Buch »Lior – Der Weg nach Hause« ein, mit dem sie ihre kreative Reise fortsetzt.
veni.vidi.scripsi
www.viktorianergiz.com
Für meine Töchter Noëlia und Eléniund meinen Ehemann. Eure Liebe ist mein Zuhause.
Und für alle Menschen, die ihren Weg nach Hause suchen.
Kapitel 1
EIN KALTER ABSCHIED
Kapitel 2
EIN KOFFER VOLLER MUT
Kapitel 3
EIN REZEPT FÜRS HERZ
Kapitel 4
GESUCHT UND GEFUNDEN
Kapitel 5
EINE NACHRICHT FÜR LIOR
Kapitel 6
AGATHI
Kapitel 7
WUNDER GIBT ES!
Kapitel 8
CHRISTIAN
Kapitel 9
FREUNDSCHAFT
Kapitel 10
DAS GESCH ENK
Kapitel 11
EINE FRAGE DER ZEIT
Kapitel 12
AUF DEM WEG
Kapitel 13
NACH HAUSE
Kapitel 14
GALANTHUS
EPILOG
DANKSAGUNG
SOLANGE EIN MENSCH HOFFNUNG BESITZT, ERSCHAFFT ER AUCH DORT LICHT, WO ES DUNKEL IST.
Ein strahlend blauer Himmel und buntes Laub an Bäumen, das im Sonnenlicht golden funkelte. Die Blätter hielten sich noch sicher an ihren Ästen fest und verzierten mit ihren Herbstfarben alles Triste um sie herum. Nur ein einziges Blatt sah Lior mit dem Wind umherwehen und ihr tanzend entgegenfliegen, bis es sich schließlich in ihren Haaren verfing. Vorsichtig wollte sie das gelb leuchtende Laub aus ihrem geflochtenen Zopf befreien, als ein Windstoß es bereits wieder auf die Reise schickte. Ein wahrlich schöner Tag für all diejenigen, die heute mit dem Glück gesegnet waren, sich darüber freuen zu können. Lior – gehörte nicht dazu. Eine dichte dunkle Wolke, die niemand außer ihr sehen konnte, überschattete diesen frühen Septembermorgen. Am helllichten Tag, und als wollte die Sonne heute noch einmal ihre wohltuende Wärme spenden, ehe sie sich bald schon zurückziehen würde, schien Lior inmitten von Dunkelheit zu stehen. Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg – nach etwas Licht. Doch auch wie die Blätter bald vom Baum fallen würden, blieb ihr nichts anderes übrig, als loszulassen. Aber nicht tanzend wie das Herbstblatt, sondern wehmütig wehten ihre Gedanken nun umher. Wo wird meine Reise hinführen?
Und während sie sich dies fragte, stellte sich eine junge Familie neben ihr an den Bahnsteig. Die Kinder freuten sich dem Anschein nach auf die bevorstehende Fahrt und zeigten aufgeregt auf den einfahrenden Zug. Liors Herz dagegen fühlte sich gebrochen an und schrie lautstark, wenn auch nur innerlich. Doch wenn weder ein noch so leiser Ton zu hören ist und nicht mal eine einzige Träne fließt, dann ist der Schmerz für den Leidenden umso unerträglicher. So erging es Lior. Sie wollte ja weinen, doch gab es keine Schulter, an die sie sich hätte lehnen können. Lior wollte auch schreien, aber wer würde ihr zuhören? Es fühlte sich an, als wären all ihre Tränen aufgebraucht, ihr Körper vor Kummer erstarrt und ihre Stimme verstummt. Das Herz in ihrer Brust schlug so schnell und laut, dass es selbst den Lärm der vielen Menschen und das Trillern der Pfeifen um sie herum übertönte. Aber niemand außer ihr hörte das Pochen in ihrer Brust. Lior glaubte, dass auch niemand ahnte, welch große Sorgen sie sich machte. Nicht mal die Person, die ihr gegenüberstand und sie nun in diesen Zug setzte.Ist es so einfach, mich wegzuschicken? Große Angst besetzte in diesem Moment Liors Körper so schwer wie Blei. Sie sah die Person vor sich an und begriff jetzt, wie furchtbar einsam sie doch war …
Von jemandem allein gelassen zu werden – der einem Menschen eigentlich die Welt bedeuten sollte –, ist eine bitterliche und schmerzliche Erkenntnis.
Enttäuscht wurde Lior jedoch nicht von jemandem, der für sie entbehrlich wäre. Und es war auch nicht der Tod, der diese Hiobsbotschaft – verlassen zu werden – an diesem traurigen Tag rechtfertigen würde. Nein, Liors Mutter lebte, selbst wenn jegliches Glück in ihr scheinbar gestorben war.
Und selbst wenn sich Mutter in gewissen Situationen bemüht hatte, ihre Mundwinkel zu einem Lächeln zu formen, blieben ihre Augen dennoch ganz leer. Lior vermutete, dass andere dies nicht auf Anhieb erkannten, doch für sie blieb die Trostlosigkeit in ihrem Blick nicht verborgen.
Lior sah Mutter an. Ihre blonden Haare waren so wie immer perfekt frisiert, ihre Kleidung elegant in Schwarz, und ihren Perlenschmuck um den Hals legte Mutter auch heute nicht ab. Sie war von recht großer Statur und stand stets mit geradem Rücken und zurückgezogenen Schultern vor ihr. Aber daran lag es ganz gewiss nicht, dass sie so unerreichbar wirkte. Im Vergleich zu ihr sah Lior ganz anders aus. Ihre dunklen Haare trug sie gerne offen oder zu zwei Zöpfen geflochten. Die blauen Augen von Papa, die tiefen Grübchen, wenn sie lachte, und die Sommersprossen im Gesicht zeigten keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Aber für Lior gab es viel mehr als Äußerlichkeiten, die sie von ihr unterschieden.
»Steig erst aus, wenn der Lokführer die Fahrt als beendet ankündigt«, begann Mutter, die Lior in den letzten Jahren beinahe fremd geworden war, zu sprechen. »Sie erwartet dich am Bahnsteig der letzten Station. Ich werde ein Telegramm erhalten, sobald du dort angekommen bist.« Mit zitternder Hand reichte sie Lior ein großes Blatt Papier. Ohne sie dabei anzusehen, fuhr sie fort. »Denk daran, du musst den Zettel sichtbar hochhalten, wenn du aussteigst. Sonst wird sie nicht wissen, dass du es bist.«
Mutter schluckte, als hätte sie einen Kloß im Hals. Lior hörte nun auch das Zittern in Mutters Stimme und starrte anschließend auf das Papier mit ihrem Namen darauf. Sie fühlte sich unfähig, darauf zu reagieren. Langsam hob sie ihren Blick und sah Mutter auch diesmal nur schweigend an. Diese senkte ihren jedoch sogleich zu Boden und sprach weiter.
»Das ist das Beste für dich.« Zögerlich fügte sie noch hinzu: »Ich bin ganz sicher, dass es dort besser sein wird.«
Dass dieses Ereignis tatsächlich geschehen könnte, hatte Lior bereits befürchtet, als ihre Oma immer schwächer wurde und ihre verbleibenden Tage absehbar waren. Seit ihr Papa nicht mehr lebte, war es ja nur noch ihre Oma, die sich um Lior gekümmert hatte. Mutter dagegen sah sich dazu nicht mehr in der Lage und verbrachte die meiste Zeit nur noch in Kliniken, um sich von ihrem Zustand zu erholen. Selbst ihrer Arbeit im Krankenhaus ging sie mittlerweile seit einigen Jahren nicht mehr nach. Und obwohl es Lior bewusst gewesen war, dass Mutter sich vermutlich nie von Papas Tod erholen würde und ebenso wenig ihren Pflichten der Fürsorge nachgehen könnte, war die Entscheidung, das eigene Kind wegzugeben, das Schlimmste, was man Lior hätte antun können.
»Ich komme dich besuchen, sobald ich hier alles geklärt habe«, versicherte Mutter, und kaum hatte sie diese letzten Worte ausgesprochen, ertönten erneut die Trillerpfeifen. »Türen schließen!«, rief ein Mann ganz laut, als sie sich auch schon von Lior abgewendet hatte und hastig aus dem Zug gestiegen war. Keine Umarmung, kein Kuss, keine einzige Berührung. Als würde Mutter sicherlich gleich wieder einsteigen, um Lior zu sagen, dass alles wieder gut wird und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, schaute Lior ihr hoffnungsvoll nach. Doch weder öffneten sich wieder die Türen, noch hörte sie ein tröstendes Wort. Das Einzige, was blieb, war nur ein kalter Abschied.
Eigentlich nichts Ungewöhnliches für Lior, die diese Kälte schon kannte. Selbst dann schon, als ihr Papa noch lebte, war Mutter häufig weit entfernt davon gewesen, Emotionen zu offenbaren. So fragte sich Lior oft, ob es vielleicht daran lag, dass Mutter täglich so viel Leid im Krankenhaus gesehen und miterlebt hatte. Konnte Mutter deswegen nicht für mich da sein? Mit diesen Gedanken, einem kleinen Koffer und dem eingerollten Papier in der Hand fuhr der Zug jetzt los. Während draußen viele Menschen ihren Liebsten, Freunden und Bekannten zuwinkten, war niemand mehr da, der Lior eine gute Reise wünschte. Mutter war fort.
»Sie hat nicht mal versucht, mich bei ihr zu behalten«, sprach Lior leise zu sich selbst, als sie ihr trauriges Spiegelbild in der Fensterscheibe erkannte. Lior zitterte. An diesem milden Herbsttag konnte es gewiss keine Kälte sein, die sie frieren ließ, sondern die unbeschreiblich große Enttäuschung, die sie wohl nie mehr würde vergessen können. Lior erinnerte sich an Papas Worte:
Das, was im Leben bleibt, sind Erinnerungen, die wir hinterlassen.
Draußen rasten die Bäume und Häuser an ihr vorbei, als würde Lior ihr eigenes Leben vorbeiziehen sehen. Lior spürte, wie eine warme Träne über ihre Wange herunterlief, und versuchte sogleich, weitere zu verdrängen. Mit aller Mühe rief sie sich die schönen Erinnerungen an ihren Papa und an ihre Oma hervor, die Lior in dieser Situation aber nur für einen unscheinbaren Moment etwas Trost schenken konnten. Ihre Oma war gerade erst wenige Monate im Himmel, und Liors Leben fuhr bereits mit diesem Zug in eine ungewisse Richtung, die ihr höllische Angst machte. Sie betrachtete gedankenverloren ihr trauriges Gesicht in der Glasscheibe, bis ihre schweren und müden Augen zufielen.
»Bitte aussteigen! Die Zugfahrt endet hier!« Als die laute Stimme durch die Gänge hallte, zuckte Lior vor Schreck zusammen. Vor Müdigkeit benommen, blieb sie sitzen und sah besorgt aus dem Fenster. Draußen waren viele Reisende unterwegs, die eilig hin- und herliefen. Viele von ihnen wurden empfangen und umarmt. Einige bekamen sogar Blumen. Liors Blick fiel auf ein Geschäft, welches jetzt schon weihnachtlich dekoriert war. Lumis Bücherwelt stand in großen Buchstaben auf einem grün-rot verzierten Metallschild. Sie war irritiert, schließlich waren es noch ganze drei Monate bis zum Fest. Weiter auf ihrem Platz sitzend, beobachtete sie das Geschehen um sie herum. In all dem Trubel fiel ihr ein junger Mann mit einem Notizbuch in seinen Händen auf, der durch den Gang in ihre Richtung rannte und schließlich dabei ihren Koffer umstieß. Er machte ein paar Schritte zurück und stellte ihr Gepäck wieder auf.
»Ich bitte um Verzeihung«, rief er, sah sie dabei lächelnd an und sprang auch schon im nächsten Moment aus dem Zug. Sie sah, wie er das sonderbare Geschäft betrat und zeitgleich Kunden mit verpackten Geschenken den Laden verließen.
Nun sah sich Lior das Schaufenster genauer an, und aus der Ferne erkannte sie viele Bücher und Spielwaren darin. Warum konnte das, was ich heute erleben muss, nicht eine von den Geschichten aus den vielen Büchern sein, die ich abends immer in meinem Zimmer gelesen habe?
Sie schaute um sich. Jetzt war niemand mehr im Zug, und auch Lior musste nun aussteigen. Beunruhigt stand sie von ihrem Platz auf, doch bevor sie den ersten Schritt nach draußen setzte, rollte sie, wie von Mutter aufgetragen, den Zettel mit ihrem Namen aus und klammerte sich gedanklich an die Worte ihres Vaters:
Solange ein Mensch Hoffnung besitzt, erschafft er auch dort Licht, wo es dunkel ist.
»Und Lior bedeutet Licht«, sprach sie sich ermutigend zu. So mutig, wie nur ein Kind voller Angst es in diesem Moment tun konnte.
Das Trillern und Pfeifen an den Bahnschienen signalisierte, dass die Türen des Zuges sich gleich schließen würden. Lior stieg gerade rechtzeitig aus, stellte ihren Koffer ab und hielt das Papier mit ihrem Namen sichtbar vor sich. Ihre Lippen zitterten vor Machtlosigkeit. Die Menschen liefen mit ihrem Gepäck an ihr vorbei, rempelten sie sogar an, aber dennoch schien sie niemand zu beachten, geschweige denn sie zu bemerken. Lior fühlte sich auf eine traurige Weise unsichtbar. Das Namensschild zerknitterte unter ihrem festen Griff. Unsicher schaute sie um sich und wartete, bis die Menschenmasse vor ihren Augen weniger und die Sicht auf den auffälligen Buchladen wieder frei wurde. Wie aus einer bunten Weihnachtskarte ausgeschnitten, leuchtete es an diesem so grau scheinenden Tag. Das alleinstehende Gebäude mit den Schleifen und Lichtern wirkte auf sie, als würde es gar nicht an diesen Ort gehören. Lior lief ein paar Schritte darauf zu, als zeitgleich ein kühler Wind über den Bahnhof wehte und mit ihm ein süßlicher Geruch aus dem Geschäft in ihre Richtung strömte. Sie folgte dem Duft und blieb wie angewurzelt vor dem geschmückten Schaufenster stehen. Für einen winzig kleinen Moment konnte sie beinahe vergessen, warum sie jetzt überhaupt hier an diesem Ort war. Staunend betrachtete sie jedes einzelne Buch mit den außergewöhnlich schön verzierten Einbänden. Für Lior waren Bücher wie magische Tore zu einer anderen Welt. Wenn sie zu Hause unglücklich gewesen war, tauchte sie in Geschichten ein, um ihrer Trauer oder Wut zu entkommen.
»Kein Buch der Welt wird mir aber hierbei helfen können«, wisperte sie. Bedrückt schaute sie sich all die Gegenstände hinter dem Fenster an und konnte sogar einen Blick weiter hinein in das Geschäft werfen. Eine schwarz-rot-goldene Spielzeuglokomotive fuhr zwischen den Bücherregalen, und fast überall hing glitzernder Baumschmuck. An der Wendeltreppe waren grüne Girlanden mit goldenen Glöckchen und Schleifen befestigt. Plötzlich wurde ihr Blick abgelenkt, als sich in der Schaufensterscheibe das Spiegelbild einer Frau zeigte, die wohl direkt hinter ihr stand. Mit dem Zettel in der Hand drehte sich Lior um.
Die fremde Dame mit dem schicken Federhut auf dem Kopf schaute kurz auf das Namensschild und lächelte höflich. Sie beugte sich etwas runter und streckte ihre Hand aus. »Guten Tag, Lior! Ich heiße Agathi und habe dich schon erwartet.«
Lior lächelte nicht wie gewöhnlich zurück und reichte dieser unbekannten Frau auch nicht die Hand. Etwas zögerlich erwiderte sie schließlich: »Wenn Sie mich erwartet haben, dann müssten Sie mehr als nur meinen Namen kennen. Jeder könnte mich hier ansprechen!« Anscheinend verblüfft, zog Agathi die Augenbrauen hoch, sah dabei aber keineswegs verärgert aus. Die Frau, die einen grünen Mantel trug, nickte zustimmend und lächelte. »Da gebe ich dir recht. Es ist sehr klug, Dinge zu hinterfragen, damit du dir ganz sicher sein kannst.« Sie griff in ihre braune Ledertasche, holte einen Umschlag heraus und überreichte den darin liegenden Zettel. Lior runzelte die Stirn und las den Brief, auf dem sowohl ihr Name als auch der von Mutter geschrieben stand. Zweifellos bestätigte dieses Dokument, dass Lior nun hierbleiben musste und zu einem Pflegekind geworden war. All der Mut, den sie in sich trug, verschwand wieder bei den gelesenen Worten. Sie senkte den Kopf. Warum nur? Für Lior war es unbegreiflich.
»Ich hatte auch Angst. Genauso wie du! Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst«, sagte die Frau und zog dabei einen ihrer Handschuhe aus. Sie legte ihre warme Hand auf Liors Schulter. »Du brauchst dich nicht zu fürchten!«
»Ich habe keine Angst«, stritt Lior entschieden ab und beabsichtigte mit erhobenem Haupt, so glaubwürdig wie möglich zu klingen. Und wenn Lior es in diesem Moment nicht besser gewusst hätte, würde sie wohl selbst dem Mut ihrer Stimme glauben. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Lior hatte sich in den letzten Jahren die Eigenschaft angeeignet, nach außen stark wirken zu wollen. Dadurch erhoffte sie sich, dass es innerlich nicht mehr so sehr wehtun würde, wenn sie Kummer hatte.
Agathi schaute Lior eindringlich an, lächelte sanft und zeigte anschließend mit der Hand nach rechts. »Durch diese kleine Gasse geht es lang. Wir gehen zu Fuß, es ist nämlich nicht weit. Ich trage deinen Koffer, ist das in Ordnung?«
Liors Herz pochte. Soll ich einfach wegrennen? Während sie sich noch mit diesem Gedanken beschäftigte, ergriff Agathi völlig unerwartet ihre Hand. Kann es sein, dass Agathi wirklich weiß, wie ich mich fühle? Hat sie mich deswegen festgehalten? Damit ich nicht weglaufen kann?
Die Wärme durch ihre Berührung zu spüren, war ungewöhnlich. Aber nicht, weil ihr diese Frau völlig fremd war, sondern weil es sich unerklärlich vertraut anfühlte. Jetzt hielten Liors Finger eine tröstende Hand fest, und dies war irgendwie sonderbar. Wann hatte mich zuletzt jemand an die Hand genommen? Ihren ganzen Mut nahm Lior wieder zusammen und bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen. Wie das Herbstblatt, das vom Wind auf seiner Reise getragen wurde, folgte Lior nun dieser unbekannten Frau. Der gemeinsame Weg führte zuerst zur Poststelle, gleich in der Gasse neben dem Buchladen, von dem Agathi ein Telegramm an Liors Mutter versenden ließ. Anschließend ähnelte der Weg eher einem sorglosen Spaziergang. Als hätte Agathi kein bestimmtes Ziel, lief sie unbeschwert langsam und blieb immer wieder stehen, um Lior diesen Ort zu zeigen. Alle paar Schritte hielt sie an und grüßte die Menschen, die an ihnen vorbeigingen. Sie kannte jeden Einzelnen beim Namen, und offenbar wusste auch jeder, wer sie war.
»Gleich hier ist der Markt. Dort holen wir jeden Freitag frische Milch, Eier und Käse. Ich liebe Käse«, informierte sie Lior lachend. »Aber Brot backen wir immer selbst. Der Duft, der sich dann im Haus verteilt, ist himmlisch.« Sie erzählte so heiter, als wäre Lior nur ein Gast, der hier Urlaub machte. »Morgen ist ja schon Freitag! Möchtest du vielleicht etwas Bestimmtes haben?« Lior schüttelte den Kopf. »Und in dieser kleinen Kirche findet jeden Sonntag eine Messe statt. Hier kennt jeder jeden, und das mag ich in unserem Dorf ganz besonders. Man hat das Gefühl, es ist eine große Familie.« Agathi bemühte sich offensichtlich, sich mit Lior zu unterhalten, aber nur wenige Worte erreichten ihr Gehör. Wie konnte sie denn auch die ganze Zeit aufmerksam sein? Heute Morgen ist sie noch zu Hause gewesen, und nun lief sie händchenhaltend mit einer Fremden über die Pflastersteine eines Dorfes, von dem sie nie zuvor gehört hatte.
»Da ist es. Wir sind schon da!«, rief Agathi bereits nach wenigen Gehminuten und zeigte auf ein weißes Fachwerkhaus mit braunem Reetdach. Mittlerweile war die Abenddämmerung gekommen, und zwei Laternen leuchteten und erhellten den Weg zur roten Holztür, an der EGO HIC DOMI geschrieben stand. Was diese Worte wohl bedeuten sollen? Gerade erst hatte Agathi Liors kleinen Koffer abgestellt und die Tür geöffnet, da liefen wie aus heiterem Himmel auch schon fünf Kinder eilig die Treppe herunter und stellen sich neugierig vor ihnen. »Das ist Lior. Sie wird jetzt auch bei uns wohnen! Aber lasst uns erst mal rein«, bat sie die Kinder freundlich. Diese flüsterten sich etwas zu und stellten sich sogleich seitlich hin, sodass Lior eintreten konnte.
Der Duft im Haus weckte Erinnerungen. Es roch nach Äpfeln, Vanille und Zimt. Der Geruch ließ Lior an die Zeit mit Oma zurückdenken. Sie hatte nämlich ausschließlich mit ihr gebacken. Agathi nahm Lior ihren Mantel ab und stellte den Koffer an die Treppe, wo sie ebenso ihren eigenen feinen Wollmantel an den Jackenständer der Garderobe gehangen hatte.
Liors Augen schweiften durch die Räume, während die der Kinder immer noch auf sie gerichtet waren. Sie entdeckte einen Kaminofen mit knisterndem Holzfeuer, ein großes Sofa mit Blumenmuster und viele Bilder an den Wänden. So hatte sich Lior ein Heim gar nicht vorgestellt. Es ist so freundlich eingerichtet. Gerade als Lior im Flur ein eingerahmtes Hochzeitsfoto an der Wand entdeckte, bat Agathi sie darum, ihre Stiefel auszuziehen.
»Bei uns bekommt jedes Kind seine eigenen Hausschuhe. Sauberkeit ist mir nämlich sehr wichtig. Und wenn alle die Regeln befolgen, bleibt uns dadurch viel mehr Zeit für schöne Dinge, anstatt das Haus zu putzen!«, erklärte Agathi und zwinkerte Lior dabei zu. »So, dann wascht bitte eure Hände und setzt euch alle an den Tisch.«
»Hier geht es lang«, erklärte einer der Jungen und zeigte Lior den Weg zum Waschbecken. Sie bemerkte, wie fröhlich alle waren und miteinander kicherten. Nur ein Mädchen mit blonden Haaren war sehr still.
»Jedes Kind hat bereits seinen Lieblingsplatz, deswegen erhältst du den freien Stuhl hier neben Isabell.«
Lior schaute das blonde Mädchen an, das Lior wiederum mit ihren eisblauen Augen anstarrte. Sie sah bedrückt aus, und sie tat ihr etwas leid. In ihrem traurigen Blick erkannte sich Lior wieder und wollte nicht unhöflich wirken, indem sie nur schweigen würde.
»Hallo, Isabell«, grüßte Lior sie, aber das Kind antwortete nicht.
»Unsere Isabell spricht nicht. Sie versteht alles, was wir sagen, und wir hoffen, dass sie eines Tages ihre verloren gegangene Stimme wiederfindet«, erklärte Agathi und streichelte dem Mädchen mit der Hand über den Kopf. »Isabell ist sechs Jahre alt«, ließ sie Lior zudem wissen. »Und nun schlage ich vor, dass sich bitte jeder von euch selbst vorstellt! Wer mag anfangen?«
Sogleich hatte der größere der beiden Jungen begonnen. »Ich bin Arthur und schon zehn Jahre alt. Ich bin der Älteste hier«, sagte dieser mit Stolz in der Stimme. Ihm saß ein Mädchen mit rötlich-braunen Locken und grünen Augen gegenüber, die sich als nächstes vorstellte. »Ich heiße Fiona und bin neun Jahre.« Dann nannte auch Peter seinen Namen, der so wie Isabell sechs Jahre alt war, und schließlich sprach auch Svea, mit verlegenem Blick. »Und ich bin acht Jahre.«
Lior überlegte, was der Grund gewesen sein musste, dass auch der Weg dieser Kinder in ein Heim geführt hatte. Sie war nun die Älteste hier. Erst vor wenigen Wochen war sie vierzehn Jahre geworden.
Agathi schnitt den Kuchen an und reichte Lior das erste Stück. Erst als alle einen gefüllten Teller vor sich hatten, nahm auch sie etwas davon für sich und zündete eine weitere weiße Kerze in der kleinen Laterne an.
Die Kinder schauten einander an und blickten immer wieder in Liors Richtung. Vermutlich wollten sie ihr Alter erfahren, aber Lior war in Gedanken versunken und schwieg.
»Noch sind wir dir recht fremd«, sagte Agathi mit ausdrucksstarker Stimme. »Doch eine Gemeinsamkeit verbindet uns alle. Jeder von uns glaubt, schon viel zu oft vom Glück verlassen worden zu sein. Wer aber Liebe und Hoffnung in sich trägt, zu dem findet das Glück auch wieder zurück.« Sie lächelte jedes Kind an, als wollte sie erreichen, dass auch sie an das wiederkehrende Glück glaubten, welches Agathi mit ihren Worten versprochen hatte. Zum Schluss wandte sich Agathi nochmals an Lior. »Hier muss niemand allein sein. So wie es an unserer Tür steht! EGO HIC DOMI