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Der Klassiker der Kulturgeschichte erstmal asl E-book, mit komplett überarbeiteter und neu kommentierter Bibliografie und Diskografie Greil Marcus begann seine Arbeit an »Lipstick Traces« aus Begeisterung für die Sex Pistols: jener Skandal-Band, die 1975 als radikales Statement erfunden wurde. »Ich bin ein Antichrist!«, schrie Johnny Rotten – wie kam eine solche Selbstbezichtigung in die Welt des Pops? Auf der Suche nach Antworten führt Marcus auf die dunklen Pfade der Gegengeschichte, eine Route voller Gotteslästerungen, Abenteuer und Überraschungen. Und obwohl die Sex Pistols hier den Anfang und das Ende markieren, ist »Lipstick Traces« kein Buch über Punk. Es geht vielmehr um ein Aufbegehren, das sich in den unterschiedlichsten Momenten in der Geschichte beobachten lässt: Marcus erzählt u. a. von den Häretikern des Mittelalters, von den Dadaisten, die Totenmasken trugen und in Zungen sprachen; von einem Jugendlichen, der 1950 die Ostermesse in Notre-Dame stürmte, um den Tod Gottes zu verkünden, von den Situationisten, die prophetische Graffiti und die provokanteste Gesellschaftskritik der 1950er- und 1960er-Jahre produzierten; von den Student:innen und Arbeiter:innen im Mai 1968, die kryptische Parolen auf die Stadtmauern kritzelten und Frankreich zum Stillstand brachten, und natürlich von den Sex Pistols, die nicht weniger als »Anarchy in the UK« forderten. Marcus arbeitet mit selten zitierten Aufsätzen, Manifesten und Filmen, mit Fotos, Dada-Gedichten, Punk-Songs und Klassikern von Marx bis Adorno und führt in eine verborgene Tradition ein, die fiktiv erscheinen würde, wenn sie nicht eine gemeinsame Haltung zur Welt einen würde: Utopie, Ablehnung, Aufbegehren … und plötzliches Verschwinden, wie die Spuren von Lippenstift auf einer Zigarette …
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Seitenzahl: 877
GREIL MARCUS
VON DADA BIS PUNK –KULTURELLE AVANTGARDENUND IHRE WEGEAUS DEM 20. JAHRHUNDERT
Deutsch von Hans M. Herzogund Fritz Schneider
Deutsch von Hans M. Herzog und Fritz Schneider.
»Eine Anmerkung zur Neuauflage von 2022«, »Zitierte und nachträglich aufgespürte Werke«, »Danksagungen« und »Der Autor« wurden von Fritz Schneider, einzelne Passagen von Ingo Rüdiger ins Deutsche übertragen.
Die Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel »Lipstick Traces. A Secret History of the Twentieth Century« bei Harvard University Press, Cambridge, MA. 1992 erschien bei Rogner & Bernhard, Hamburg, die deutsche Erstausgabe unter dem Titel »Lipstick Traces. Von Dada bis Punk – kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert«.
© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz 2022
Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages. Alle Rechte vorbehalten.
In Kooperation mit Tapete Records
print-ISBN print 978-3-95575-156-2
e-ISBN 978-3-95575-620-8
Covergestaltung: Oliver Schmitt
Ventil Verlag, Boppstraße 25, 55118 Mainz
www.ventil-verlag.de
PROLOG
Version eins:
DAS LETZTE KONZERT DER SEX PISTOLS
Version zwei:
DIE GEHEIME GESCHICHTE EINER VERGANGENEN ZEIT
— Gesichter
— Freiheitslegenden
— Die Kunst des Zusammenbruchs von gestern
— Der Zusammenbruch der Kunst von gestern
— Der Überfall auf Notre-Dame
— Der Angriff auf Charlie Chaplin
— Lippenstiftspuren (auf einer Zigarette)
EPILOG
Zitierte und nachträglich aufgespürte Werke
Quellennachweise
Personenregister
Danksagungen
Der Autor
Seit dem erstmaligen Erscheinen dieses Buchs im Jahr 1989 sind etliche der darin agierenden oder zu Wort kommenden Personen verstorben. Voller Demut gedenke ich ihrer: Es sind der politische Journalist und Patriot Walter Karp, 1934–89; das Monty-Python-Mitglied Graham Chapman, 1941–89; der Fotograf Ed van der Elsken, 1925–90; der politische Philosoph Henri Lefebvre, 1901–91; der Filmemacher und Mitbegründer der Lettristischen sowie der Situationistischen Internationale Guy Debord, 1930–94; der Lautdichter, Collagist und Mitbegründer der Lettristischen Internationale Gil J Wolman, 1929–95; der Redner und Lehrer Mario Savio, 1942–96; das visionäre Mitglied der Lettristischen Internationale Ivan Chtcheglov, 1933–98; der Sänger und Mitbegründer der Clash Joe Strummer, 1952–2002; das Mitglied der Lettristischen Internationale Jean-Michel Mension, 1934–2006; der Spiritus Rector des Lettrismus Isidor Isou, 1925–2007; der Historiker Norman Cohn, 1915–2007; der Gründer von Factory Records und Betreiber des Nachtlokals Hacienda Tony Wilson, 1950–2007; der Cartoonist Ray Lowry, 1944–2008; der Herausgeber und das Mitglied der Situationistischen Internationale Christopher Gray, 1942–2009; der Sänger Michael Jackson, 1958–2009; die Sängerin Ari Up von den Slits, 1962–2010; die Sängerin Poly Styrene von X-Ray Spex, 1957–2010; der Sex-Pistols-Manager und Künstler Malcolm McLaren, 1946–2010; die Songschreiberin und Managerin der Orioles Deborah Chessler, 1923–2012; das Firesign-Theater-Mitglied Peter Bergman, 1939–2012; das Firesign-Theater-Mitglied Phil Austin, 1941–2015; der Toaster Prince Buster, 1938–2016; die Gitarristin von Kleenex und Liliput Marlene Marder, 1954–2016; der Mitbegründer des Lettrismus Maurice Lemaitre, 1926–2018; das Monty-Python-Mitglied Terry Jones, 1942–2020; und der Gitarrist und Sänger der Gang of Four Andy Gill, 1956–2020.
Im selben Zeitraum ist jede Menge Material aufgetaucht, das mit diesem Buch auf direkte oder indirekte Weise in Zusammenhang steht – obskure, ephemere, unübersetzte oder lange nicht verfügbare Bücher, Zeitschriften, Flugblätter, Filme, Videos, Gemälde, Fotografien, Collagen und Tonaufnahmen –, und in dem jetzt mit »Zitierte und nachträglich aufgespürte Werke« übertitelten Abschnitt habe ich versucht, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. Von einigen Fehlerkorrekturen abgesehen, ist der Haupttext des Buchs unverändert geblieben.
Für John Rockwell, der mich drauf brachte.Für das Firesign Theater und Monty Python’sFlying Circus, die mich durchbrachten.
Aus dem Fenster eines Londoner Cafés schauen zwei gut gekleidete Frauen naserümpfend auf eine draußen im Regen stehende Gestalt. »Schon wieder dieser heruntergekommene Alte mit der Blechpfeife!« sagt die eine. Der Mann mit dem in die Stirn gezogenen, zerbeulten Filzhut versucht, sich Gehör zu verschaffen: »Ich bin ein Antichrist!« »Siebzehn lange Jahre«, so lautet der Text unter dieser Folge von Ray Lowrys Comicstrip-Chronik der Abenteuer des ehemaligen Möchtegern-Popheilands Monty Smith, »sind vergangen, seit Monty in der Gosse vor Malcolm MacGregors Sex ’n’ Drugs-Laden gesichtet wurde …«
Wahrhaftig eine lange Zeit; doch heute, während ich dies schreibe, halten Johnny Rottens erste Momente auf »Anarchy in the U.K.« – grollendes, erdbebenartiges Gelächter, ein unterdrückter Schrei, dann uralte, irgendwie von allem Geschwafel befreite und in den Straßen der Stadt gelandete Worte
I AM AN ANTICHRIST
– immer noch jedem Vergleich stand. Wenn ich mir die Platte heute anhöre, wenn ich höre, wie Johnny Rotten an seinem Text zerrt und dann die Teile der Welt ins Gesicht schleudert, wenn mir das alles verzehrende Lächeln einfällt, das er beim Singen aufsetzte, kriege ich eine Gänsehaut; ich schrecke zurück, während auf meiner Kopfhaut der Schweiß ausbricht. »Wenn du dir die Sex Pistols anhörst, ›Anarchy in the U.K.‹ und ›Bodies‹«, sagte einmal Pete Townshend von den Who, »merkst du sofort, dass das wirklich passiert. Da steht einer, einer mit ’nem Hirn zwischen den Ohren, und erzählt etwas, von dem er ehrlich glaubt, dass es in der Welt passiert, und das sagt er richtig giftig, richtig leidenschaftlich. Das lässt dich nicht unberührt, und es macht dir Angst … dir wird ganz mulmig: Als würde jemand sagen: ›Die Deutschen kommen! Und wir können sie unmöglich aufhalten!‹«
Es ist bloß ein Popsong, ein Möchtegernhit, ein ehemaliger Hit, eine billige Ware, und Johnny Rotten ist niemand, ein anonymer Vorbestrafter, dessen größte Leistung bis zu jenem Tag, als er im Jahre 1975 vor Malcolm McLarens Sex-Boutique in der Londoner King’s Road entdeckt wurde, darin bestand, ab und zu Passanten zu ärgern. Es ist ein Witz … und doch stellt die Stimme, die den Witz erzählt, etwas Neues im Rock ’n’ Roll dar, und damit in der populären Nachkriegskultur: eine Stimme, die sämtliche gesellschaftlichen Fakten leugnete und dadurch beteuerte, dass alles möglich war.
Und sie bleibt neu, weil der Rock ’n’ Roll sie immer noch nicht eingeholt hat. Etwas Ähnliches hat man weder vorher noch nachher im Rock ’n’ Roll gehört … obwohl diese Stimme, als sie erklungen war, eine Zeit lang für jeden verfügbar zu sein schien, der sich traute, sie zu benutzen. Eine Zeit lang und wie durch Zauberkraft – die Popzauberkraft, bei der die Koppelung bestimmter gesellschaftlicher Fakten an bestimmte Sounds unwiderstehliche Symbole der Veränderung gesellschaftlicher Realität schafft – funktionierte diese Stimme wie eine neue Redefreiheit. In zahllosen neuen Kehlen sagte sie zahllose neue Dinge. Man konnte kaum das Radio einschalten, ohne überrascht zu werden; man konnte ihr kaum entkommen.
Heute klingen diese alten Stimmen noch genauso bewegend und beängstigend … teils, weil ihre Ansprüche unvermindert dieselben, teils, weil sie in der Zeit eingefroren sind. Die Sex Pistols waren ein kommerzielles Unternehmen und eine kulturelle Verschwörung mit dem Ziel, das Musikgeschäft zu verändern und an dieser Veränderung Geld zu verdienen – aber Johnny Rotten sang, um die Welt zu verändern. Das taten auch andere, die eine Zeit lang ihre Stimmen in seiner wiederfanden. In dem von ihnen hinterlassenen schmalen Œuvre hört man, wie es passiert. Beim Zuhören merkt man, wie man reagiert: »Das passiert wirklich.« Doch die Stimmen verharren in der Zeit, weil man sich nicht umdrehen und rückblickend sagen kann: »Das ist wirklich passiert.« Nimmt man Kriege und Revolutionen als Maßstäbe, hat sich nichts verändert; wir halten Rückschau aus einer Zeit, in der, wie es Dwight D. Eisenhower einmal formulierte, »die Dinge mehr so wie jetzt sind, als sie es je waren«. Gemessen an den absoluten Ansprüchen, die von den Sex Pistols für so kurze Zeit erzeugt wurden, hat sich nichts verändert. Der von den Ansprüchen der Musik ausgehende Schock wird zu dem Schock, dass etwas scheinbar so Absolutes im Lauf der Ereignisse letztlich fast unbemerkt vergehen konnte: »Das ist eigentlich doch nicht geschehen.« Die Musik strebt danach, das Leben zu verändern; das Leben geht weiter, die Musik bleibt zurück; nur darüber lässt sich noch reden.
Die Sex Pistols schlugen eine Bresche in das Popmilieu, in die Mauer überkommener kultureller Voraussetzungen, die Hörerwartungen und zu erwartende Reaktionen bestimmten. Weil überkommene kulturelle Voraussetzungen hegemonische Annahmen darüber sind, wie die Welt angeblich funktioniert – als Naturgesetze aufgefasste und erfahrene ideologische Konstrukte –, schlug die Bresche im Popmilieu auf den Bereich des Alltagslebens durch: auf das Milieu, in dem man als Pendler zur Arbeit fuhr, in der Fabrik, dem Büro oder dem Einkaufszentrum seinem Job nachging, ins Kino ging, Lebensmittel einkaufte, Schallplatten erwarb, fernsah, miteinander schlief, Gespräche führte, keine Gespräche führte oder auflistete, was man als Nächstes tun wollte, also auf die allgemeinen Lebensumstände der Menschen.
Den Ansprüchen nach zu urteilen, die eine Schallplatte der Sex Pistols an die Welt stellte, musste sie die Art verändern, wie sich jemand allmorgendlich zur Arbeit begab … mit anderen Worten, die Platte musste diese Handlung mit jeder anderen verknüpfen und dann das große Ganze in Frage stellen. So würde die Platte die Welt verändern.
Elvis Costello erinnert sich, wie es damals gelaufen war, als er noch Declan McManus hieß, Computerspezialist war und auf seinen Zug in die Londoner Innenstadt wartete. Man schrieb den 2. Dezember 1976, den Tag nach dem Werbeauftritt der Sex Pistols in einer Fernseh-Talkshow für ihre Platte, die die Welt verändern sollte: »›Mann, hast du gestern Abend die Sex Pistols gesehen?‹ Auf dem Weg zur Arbeit, ich stand morgens auf dem Bahnsteig, und alle Pendler lasen die Zeitung, als die Pistols in den Schlagzeilen auftauchten … weil sie in der Glotze FUCK gesagt hatten. Etwas so Schreckliches war offenbar noch nie dagewesen. Man sollte das nicht mit einem bedeutenden historischen Ereignis verwechseln, aber es war ein großartiger Morgen – allein mitzukriegen, wie der Blutdruck der Leute deswegen rauf und runter schnellte.« Ein alter Traum hatte sich erfüllt: Als hätten die Sex Pistols, oder einer ihrer neuen Fans, oder ein Pendler neben ihm oder das Fernsehen selbst glücklicherweise eine 1919 in Berlin von einem gewissen Walter Mehring erdachte Formel wiederentdeckt und diese Formel anschließend buchstabengetreu, wortwörtlich umgesetzt, wenn auch unter anderem Namen:
???Was istDADAyama???
DADAyama ist
vom Bahnhof nur durch ein’n Doppelsalto erreichbarHic salto mortale!
DADAyama bringt
das Blut in Wallung
sowie die Volksseele zum Kochenim Melting pot
– teils Stierkampf-Arena – teils
Nationalversammlung – teils
Rot-Front-Meeting
½ Blech ½ Eisen
versilbert
gleich Mehrwert dividiert durch:
∞ + Null komma Nichts
Durch ein halbes Jahrhundert voneinander getrennt, stellen Costello und Mehring die Frage, die sich durch dieses Buch zieht: Ist es ein Fehler, das Auftreten der Sex Pistols mit einem bedeutenden geschichtlichen Ereignis zu verwechseln … und was ist überhaupt Geschichte? Bedeutet Geschichte nichts weiter als Ereignisse, die wäg- und messbare Dinge zurücklassen – neue Institutionen, neue Landkarten, neue Herrscher, neue Sieger und Verlierer –, oder ist sie auch das Resultat von Momenten, die scheinbar nichts zurücklassen, nichts als das Rätsel von mysteriösen Verbindungen zwischen räumlich und zeitlich weit voneinander getrennten Menschen, die dennoch die gleiche Sprache sprechen? Wie kommt es, dass sowohl Mehring als auch Costello, wenn sie einen markanten Bruch beschreiben, von Bahnsteigen und Blutdruck reden? Dass sie übereinstimmende Worte verwenden, ist ein Zufall, könnte aber auf eine echte Geistesverwandtschaft hindeuten. Die beiden Männer sprechen über das gleiche, suchen nach Wörtern, um einen Bruch zu markieren; das ist womöglich kein Zufall mehr. Wenn die Sprache, die sie sprechen, der Impuls, dem sie Ausdruck verleihen, eine eigene Geschichte haben, könnte uns das nicht eine andere Story erzählen als die, die wir unser Leben lang gehört haben?
ist zu groß, um sofort in Angriff genommen zu werden … man muss sie beiseitelegen, sich selbst überlassen, damit sie zu ihrer eigenen Form findet. Was bleibt, ist Musik; hört man sich heute die Platten der Sex Pistols an, kommt es einem nicht wie ein Fehler vor, ihren Moment mit einem bedeutenden historischen Ereignis zu verwechseln. Hört man sich heute »Anarchy in the U.K.« und »Bodies« an, Elvis Costellos This Year’s Model, »Complete Control« von den Clash, »Boredom« von den Buzzcocks, »Oh Bondage Up Yours!« und Germfree Adolescents der X-Ray Spex, »Wake Up« von Essential Logic und »Fairytale in the Supermarket« der Raincoats, Chairs Missing von Wire und »Never Been in a Riot« von den Mekons, »An Ideal for Living« und Unknown Pleasures der Joy Division, »Once Upon a Time in a Living Room« von den Slits, »At Home He’s a Tourist« und »Return the Gift« der Gang of Four, »Kerb Crawler« der Au Pairs, »Ü« von Kleenex sowie (nachdem der Papiertaschentuchhersteller Kimberley-Clark die Band zu einer Namensänderung zwang) »Split« und »Eisiger Wind« von Liliput an, außerdem von den Adverts Crossing the Red Sea with the Adverts (auf dem Cover verschmierte Farbe, um die Fotocollage eines Wohnsilos sowie eine weiße Reklametafel mit dem Text »Land of Milk and Honey« in Behördenschrift: der Sound, von Anfang an chiliastisch, würde den Hörer zweifellos ins Gelobte Land oder vierzig Jahre lang in die Wildnis führen)… wenn man sich das heute anhört, und vor allem The Roxy London WC 2 (Jan–Apr 77), ein zusammengeschustertes Livealbum, auf dem man hinter Tischgesprächen und splitterndem Glas diverse Gruppen öffentlicher Stimmen vernimmt, die nicht einmal in den Köpfen ihrer Erfinder existierten, bevor Johnny Rotten sich einen Antichrist nannte … höre ich mir dieses relativ kleine Œuvre an, das heute in Cut-out-Kisten, auf Sonderangebotstische, Sammlerbörsen oder Flohmärkte verbannt ist, empfinde ich so etwas wie Hochachtung angesichts der Qualität dieser Musik, davor, wie gut sie die Zeit überdauert hat.
Was an dieser Musik überdauert, ist ihr Wunsch, die Welt zu verändern. Es ist ein offenkundiger und schlichter Wunsch, doch hinter ihm steht eine unendlich komplexe Story … so komplex wie das Zusammenspiel alltäglicher Gesten, die einem sagen, wie die Welt funktioniert. Der Wunsch beginnt mit dem Anspruch, nicht als Objekt, sondern als Subjekt der Geschichte zu leben, so zu leben, als hänge von dem, was du tust, tatsächlich etwas ab, und dieser Anspruch eröffnet neue Perspektiven. Die Musik verdammte Gott und den Staat, Arbeit und Freizeit, Heim und Familie, Sex und Vergnügen, das Publikum und sich selbst und machte es dadurch für kurze Zeit möglich, alle diese Dinge nicht als Tatsachen, sondern als ideologische Konstrukte anzusehen, als etwas Fabriziertes, das sich ändern oder völlig abschaffen ließ. Es tat sich die Möglichkeit auf, diese Dinge als schlechte Scherze zu sehen und die Musik als den besseren Scherz. Die Musik wirkte wie ein Nein, das zu einem Ja wurde, dann wieder zum Nein und erneut zum Ja: Nichts ist wahr außer unserer Überzeugung, dass alles, was wir als wahr akzeptieren sollen, falsch ist. Wenn nichts wahr war, war alles möglich. Im Popmilieu, einer Arena, die sich die Gesellschaft hielt, um Symbole zu erzeugen wie zu entschärfen, in dem einzigen Milieu, wo ein Niemand wie Johnny Rotten eine Chance hatte, gehört zu werden, waren alle Regeln außer Kraft gesetzt. In Tönen, die die Popmusik noch nie von sich gegeben hatte, waren Ansprüche zu hören, die die Popmusik noch nie erhoben hatte.
Wegen Johnny Rottens lächerlicher Proklamation – wenn man so will, war er von seinem ersten auf Platte festgehaltenen Moment an ein heruntergekommener alter Mann im Regen, der seine irren Worte ausstoßen will (»I want to destroy passers-by«, krächzt der Antichrist und liest von seinem schmierigen Blatt Papier ab, »Ich will Passanten vernichten«; am besten macht man einen großen Bogen um den Penner) – kreischten Teenager Philosophie, verfassten Schläger Gedichte, entmystifizierten Frauen das Weibliche, benannte sich ein nettes jüdisches Mädchen namens Susan Whitby in Lora Logic um und erklomm die in einen Nebel von Gewalt und Chaos gehüllte Bühne im Roxy. Jeder schrie an der Melodie vorbei, dann am Reim, dann an den Harmonien, dann am Rhythmus, dann am Beat, bis der Schrei zum Grundprinzip, manchmal zum einzigen Prinzip der Sprache wurde. Alte Flüche wurden als Übermittler vergessener Verwünschungen, die wiederum verschüttete Wünsche enthielten, zu Plastikscheiben von sieben Zoll Durchmesser gepresst, in der Hoffnung, jemand würde die Codes knacken, von denen die Sprecher selbst nicht wussten, dass sie sie übermittelten.
Langsam fragte ich mich, woher diese Stimme kam. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich ab Ende 1975, fand an einem bestimmten Ort – erst London, dann überall in Großbritannien, dann hier und da auf der ganzen Welt – eine Negation aller gesellschaftlichen Fakten statt, die eine Behauptung beinhaltete, dass alles möglich war. »Ich sah die Sex Pistols«, sagte Bernard Sumner von Joy Division (später, nach dem Selbstmord ihres Sängers, New Order). »Sie waren schauderhaft. Ich fand sie großartig. Ich wollte aufstehen und auch schauderhaft sein.« Künstler machten sich zum Narren, zogen über ihre Vorfahren her und bespuckten ihr Publikum, das zurückspuckte. Ich fragte mich, woher diese Gesten kamen. Letztlich war es nichts anderes als ein künstlerisches Statement, doch solche Statements sind selten, in welcher Form auch immer sie übermittelt und rezipiert werden. Ich wusste eine Menge über Rock ’n’ Roll, aber darüber wusste ich nichts. Kamen die Stimme und die Gesten aus dem Nirgendwo, oder gab es eine Art Initialzündung? Und wenn sie gezündet wurden, wie und wodurch?
steht vor einem Mikrofon, erklärt sich zu einem alles verzehrenden Dämon und macht dann alles um sich her nieder … legt es in Schutt und Asche. Den Ansprüchen der Gesellschaft verweigert er sich mit Gelächter, und mit einer Vokalverschiebung, so gewaltsam, dass sie pure Freude auslöst, zieht er seiner Gesellschaft die Geschichte unter den Füßen weg. Die Früchte westlicher Zivilisation reduziert er auf eine Reihe von Guerilla-Abkürzungen, die grüne und liebliche Insel England zu einem Häuserblock Sozialwohnungen. »Unsere Architektur ist so banal und destruktiv für den menschlichen Geist, dass einen bereits der Gang zur Arbeit in Depressionen stürzt. Die Straßen sind schäbig, eklig und müllbedeckt, der Beton fleckig vom Regen und graffitibeschmiert, die Treppenhäuser der Experimente sozialer Ingenieurskunst von Scheiße, Junkies und Graffiti übersät. Niemand verlässt sein Zimmer. Es gibt keinerlei Gemeinschaftsgefühl, weshalb alte Leute verzweifelt und einsam sterben. Die Lebensqualität ist gesunken« – das stammt nicht von Johnny Rotten aus der Zeit, als er 1976 »Anarchy in the U.K.« aufnahm, sondern von »Saint Bob« Geldof (der als Organisator einer Kampagne von Popmusikern gegen den Hunger in Afrika 1986 beinahe den Friedensnobelpreis bekommen hätte), der damit die Gesellschaftskritik von »Anarchy in the U.K.« 1985 wiederholte. Genau das sagte dieser Song, zu einem bissigen Eintopf zusammengekocht … bloß dass es nicht weinerlich klang, wenn ihn die Sex Pistols vortrugen, sondern sardonisch-vergnügt.
Is this the em pee el ay
Or is this the yew dee ay
Or is this the eye rrrrrr ay
I thought it was the yew kay
Or just
Another
Country
Another council tenancy!
Es war der Sound der einstürzenden Stadt. Aus dem wohlüberlegten, beabsichtigten Lärm, in dem die Worte sich so überschlugen, dass man sie kaum auseinanderhalten konnte, hörte man, wie gesellschaftliche Fakten zerfielen; wenn Johnny Rotten seine Rs rollte, klang es, als hätte er nadelspitz zurechtgefeilte Zähne. Dieser Code musste nicht entschlüsselt werden: Wer kannte schon die MPLA, und wen kümmerte es? Die Welt kurz und klein schlagen, das klang nach Spaß. Es hörte sich nach Freiheit an. Es war die Freiheit, zur Feier der Nachricht, in San Diego habe ein junges Mädchen namens Brenda Spencer in ihrer High-School um sich geschossen und drei Menschen getötet, weil sie keine Montage mochte, einen Song zu schreiben – wie es Bob Geldof tat.
»I Don’t Like Mondays« war ein Hit; in den USA hätte er die Nummer Eins werden können, wäre nicht Brenda Spencers Recht auf ein faires Gerichtsverfahren dazwischengekommen. Zu schade … stand ein Song wie »I Don’t Like Mondays« nicht für alles, was »Punk« ausmachte, wie man die von den Sex Pistols hervorgebrachte, vermutlich nihilistische Musik nennen sollte? Aber was machte sie aus? Im Verlauf eines Interviews klingt Geldofs Version von »Anarchy in the U.K.« ebenso wie die Erklärungen, die Johnny Rotten 1976 und 1977 für Interviewer parat hatte, völlig rational. Aber auf Schallplatte erinnern einen sowohl Fleischfresser Johnny als auch Saint Bob an die Worte des Surrealisten Luis Buñuel; der nannte, wie die Filmkritikerin Pauline Kael schreibt, »einmal diejenigen, die Un Chien andalou lobten, ›jenen Haufen Kretins, die den Film schön oder poetisch finden, obwohl er im Grunde genommen ein verzweifelter und leidenschaftlicher Aufruf zum Mord ist‹«.
Es geht um Nihilismus … doch »Anarchy in the U.K.« war, wie ein Fan gern glauben möchte, etwas anderes: eine Farce zum Zwecke der Negation. »›Anarchy in the U.K.‹ ist ein Ausdruck von Selbstbestimmung, von höchster Unabhängigkeit, von Die-Dinge-selbst-in-die-Hand-nehmen«, sagte Malcolm McLaren, der Manager der Sex Pistols, und was immer das heißen mochte (was selbst in die Hand nehmen?), Nihilismus war es nicht. Nihilismus ist der Glaube an nichts und der Wunsch, nichts zu werden; das Vergessen ist seine Hauptleidenschaft. Seine beste Darstellung findet sich in Tulsa von Larry Clark, seinen fotografischen Memoiren über Jugendliche in den frühen sechziger Jahren, die sich lieber mit Speed zu Tode spritzen, als so zu werden, wie sie bereits aussahen: Charley Starkweathers und Caril Fugates aus Tulsa, Oklahoma. Nihilismus kann in der Kunst zwar eine Stimme, aber niemals Befriedigung finden. »Wir spielen hier nicht Theater, Larry«, sagte einer seiner Nadelkumpane zu ihm, als er einmal ein Foto zu viel geschossen hatte. »Das ist das beschissene echte Leben.« »Andere glaubten also, es sei kein Theater«, erinnerte sich Clark Jahre später, »ich schon« – obwohl er mitgemacht und einen Selbstauslöser benutzt hatte, um zu fotografieren, wie das Blut an seinem Arm runterlief.
Nihilismus bedeutet, die Welt in ihren eigenen selbstverzehrenden Impuls einzuschließen; die Negation als Tat macht jedem klar, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint … doch nur wenn diese Tat derart weitgreifend angelegt ist, dass sie die Möglichkeit offenlässt, die Welt könnte ein Nichts sein, Nihilismus wie Schöpfung könnten sich dieses plötzlich leeren Terrains bemächtigen. Ganz gleich wie viele Menschen der Nihilist (oder die Nihilistin) töten mag, sie bleiben immer Solipsisten: Keiner existiert außer dem Handelnden, und nur die Motive des Handelnden sind real. Wenn der Nihilist den Abzug betätigt, den Gashahn aufdreht, Feuer legt, die Ader trifft, endet die Welt. Negation ist immer politisch: Sie setzt die Existenz anderer Menschen voraus, ja ruft sie erst ins Leben. Dennoch sind die Werkzeuge, die zu benutzen der Negationist sich offenbar gezwungen sieht – echte oder symbolische Gewalt, Blasphemie, Ausschweifung, Verächtlichmachung, Verspottung – auch die des Nihilisten. Als Negation ließ sich »Anarchy in the U.K.« in Interviews rational übersetzen: Da er zu beweisen versucht, dass die Welt nicht so ist, wie sie zu sein scheint, erkennt der Negationist, dass die Welt für andere so ist, wie sie zu sein scheint. Doch als »Holidays in the Sun«, die vierte und letzte Single der Sex Pistols, im Oktober 1977 auf den Markt kam, wurden solche »Übersetzungen« weder angeboten, noch waren sie möglich.
erhoben zahllose neue Gruppen öffentlicher Stimmen unmögliche Ansprüche, und die Sex Pistols gerieten in ganz Großbritannien unter Beschuss. Während einer im Namen des öffentlichen Anstands, ja sogar der öffentlichen Sicherheit geführten Kampagne verboten die Behörden ihre Konzerte; Ladenketten weigerten sich, ihre Platten in ihr Sortiment aufzunehmen. EMI, die erste Plattenfirma der Sex Pistols, nahm »Anarchy in the U.K.« vom Markt, als die Platte gerade ihr Publikum erreichte; nach dem vom Fernsehen übertragenen »Fuck«, das Declan McManus so viel Spaß gemacht hatte, ließ die Firma sie fallen, rief die Platten zurück und schmolz sie ein. Patriotische Arbeiter weigerten sich, die Nachfolgesingle »God Save the Queen« herzustellen, eine dreiminütige Randale gegen das silberne Krönungsjubiläum von Elizabeth II.; A&M, die zweite Plattenfirma der Band, vernichtete die wenigen gepressten Exemplare. Als Virgin, das dritte Label der Sex Pistols, die Platte endlich veröffentlichte, wurde »God Save the Queen« aus den BBC-Charts gestrichen und stand als weißer Fleck an der Spitze der Hitparade, was zu der bizarren Situation führte, dass die beliebteste Schallplatte des Landes illegal war. Die Presse schürte eine moralische Panik, um ihre Auflagen zu steigern, doch bald gewann die Panik durchaus reale Züge: Im Parlament wurden die Sex Pistols als Bedrohung der britischen Lebensart angeprangert, von Sozialisten als Faschisten, von Faschisten als Kommunisten beschimpft. Man griff sich Johnny Rotten auf der Straße und schnitt ihn mit einem Rasiermesser, ein anderes Bandmitglied wurde gejagt und mit einer Eisenstange malträtiert.
Die Gruppe selbst war verfemt. Ende 1975, als die Sex Pistols zum ersten Mal in Erscheinung traten, sich in das Konzert einer anderen Band drängten und so taten, als seien sie die Vorgruppe, zog man nach zehn Minuten den Stecker raus; jetzt mussten sie, um in der Öffentlichkeit zu spielen, heimlich auftreten, unter falschem Namen. Die Leere des von ihnen erschlossenen Terrains – die zahllosen neuen Stimmen von unten, die Häufung der Schmähungen von oben, der Kampf beider Seiten um die Kontrolle dieses plötzlich freien Terrains – hatte sie zur Selbstzerstörung getrieben, in das jedem nihilistischen Lärm eigene Schweigen.
Diese Möglichkeit hatte von Anfang an bestanden … eine der Gassen, die von der offenen Straße wegführten. Im Herzen der Sex-Pistols-Musik gähnte ein schwarzes Loch, die mutwillige Lust an der Zerstörung von Werten, mit denen sich niemand anfreunden konnte, und vielleicht war Johnny Rotten deshalb von Anfang an der einzige wahrhaft furchterregende Sänger, den der Rock ’n’ Roll je erlebt hat. Doch der Schrecken nahm gegen Ende eine neue Gestalt an: Zweifellos hat noch keiner bis auf den Grund von »Holidays in the Sun« geblickt, und wahrscheinlich wird es auch keiner je tun.
Angefangen hatten die Sex Pistols, als verfolgten sie ein Projekt; in »Anarchy in the U.K.« verdammten sie die Gegenwart, in »God Save the Queen« die Vergangenheit so heftig, dass ihr Fluch die Zukunft gleich mitriss. »NO FUTURE« …
NO FUTURE
NO FUTURE
NO FUTURE FOR YOU
NO FUTURE
NO FUTURE
NO FUTURE
NO FUTURE FOR ME
… so lautete der ätzende Chorus am Ende des Songs. »No future in England’s dah-rrrreeming!«: Englands Traum einer glorreichen Vergangenheit, wie ihn die Queen verkörperte, die »Idiotin« (»moron«), zentrale Touristenattraktion des Landes, Stütze einer auf nichts basierenden Wirtschaft, Balsam für den kollektiven Phantomschmerz Englands nach dem Verlust des Empire. »We’re the future«, schrie Johnny Rotten und hörte sich mehr denn je wie ein Verbrecher, ein entflohener Geisteskranker, ein Höhlenmensch an … »Your future«. Die Sex Pistols waren von der Presse als Vorboten einer neuen Jugendbewegung gefeiert worden; mit »God Save the Queen« stritten sie dies ab. Jede Jugendbewegung stellt sich als Darlehen auf die Zukunft dar und versucht, es vorzeitig einzulösen, aber wenn es keine Zukunft gibt, sind alle Darlehen gestrichen.
Die Sex Pistols wollten mehr sein als ein Stichwort in der nächsten überarbeiteten Ausgabe eines soziologischen Nachschlagewerks über Jugendkulturen im Nachkriegsgroßbritannien. Was dieses »mehr« war, hätte man vielleicht einem Textfragment auf der Hülle von »White Riot« / »1977« entnehmen können, der ersten Platte der Clash: »Es gibt eventuell eine gewisse Spannung in der Gesellschaft, wenn vielleicht überwältigender Druck die Industrie zum Stillstand oder Barrikaden auf die Straßen bringt, Jahre nachdem die Liberalen diese Vorstellung als ›antiquierten Romantizismus‹ verworfen hatten«, schrieb ein ungenannter Mensch zu einem ungenannten Zeitpunkt, »dann erfindet der Journalist die Theorie, es handele sich dabei um einen Generationskonflikt. Jugend ist schließlich kein permanenter Zustand, und ein Generationskonflikt stellt für die Regierungskunst keine so fundamentale Gefahr dar wie ein Konflikt zwischen Herrschern und Beherrschten.«
Vielleicht ging es den Sex Pistols also um einen Konflikt zwischen Herrschern und Beherrschten. Als Nummer zwei der Londoner Punk-Bands hatten die Clash immer die Aufgabe, den Rätseln der Sex Pistols einen Sinn zu geben, und dieses Zitat klang durchaus sinnvoll … allerdings brauchte man sich »God Save the Queen« nur ein einziges Mal anzuhören, und jeder Sinn war dahin.
Der verzehrende Abscheu in Rottens Stimme (»We love our Queen / We mean it, man / God save« – damit endete dieser Vers), die grelle Unversöhnlichkeit der Musik waren so intensiv, dass sie Unversöhnlichkeit zu einem alles umfassenden neuen Wert schlechthin machten; allein wie »God Save the Queen« klingt, lässt an Forderungen denken, die keine Regierungskunst je erfüllen könnte. »God save«: Die Betonung deutete an, dass es keine Rettung gab. Ein Gitarrenlick riss den Song und jeden, der ihn hörte, entzwei.
Was blieb? Vielleicht Mummenschanz: Mit »Pretty Vacant«, ihrer dritten Single, waren die Sex Pistols aus seit Jahrhunderten erkalteten Gräbern als Lollarden wiederauferstanden, Verkünder der uralten britischen Ketzerei, die Arbeit mit Sünde gleichsetzte und beide verwarf. Arbeit ist laut Bibel Gottes Strafe für die Erbsünde, doch in der Bibel der Lollarden stand das nicht. Sie sagten, Gott sei vollkommen, Menschen seien Geschöpfe Gottes, also seien Menschen vollkommen und könnten nicht sündigen, außer gegen ihre eigene vollkommene Natur, indem sie arbeiteten, indem sie ihre gottgegebene Autonomie der Herrschaft der Mächtigen opferten, der Lüge, die Welt sei für etwas anderes als das eigene Vergnügen geschaffen. Im vierzehnten Jahrhundert war das ein gefährlicher Glaube, in einem Popsong des zwanzigsten Jahrhunderts klang diese Idee eher seltsam, aber da war sie nun einmal, und wer weiß, welche verschütteten Wünsche daraus sprachen?
»Wir hatten keine Ahnung, dass es sich so rasch ausbreiten würde«, gestand Bernard Rhodes, 1975 einer von Malcolm McLarens Mitverschwörern in der Sex-Boutique, später Manager der Clash. »Wir hatten kein Manifest. Wir hatten kein Regelbuch, hofften aber … Ich dachte daran, was mir Jackie Wilsons ›Reet Petite‹ gegeben hatte, die erste Platte, die ich mir kaufte. Mir musste keiner erzählen, worum es dabei ging, ich wusste es … 75 hörte ich Radio, irgendein Fachmann brabbelte über das, was 1979 passieren würde, wenn es 800 000 Arbeitslose gäbe, während ein anderer sagte, dann entstünde Chaos, es würde auf den Straßen regelrechte – Anarchie geben. Das war die Wurzel des Punk. Das wusste man.«
Sozialisten wie Bernard Rhodes wussten es; es war nie so richtig klar, was Malcolm McLaren oder sein Partner Jamie Reid – bevor sie die Sex-Boutique aufmachten, anarchistischer Verleger und Plakatmaler – zu wissen glaubten. Als »Pretty Vacant« im Juli 1977 veröffentlicht wurde, gab es in Großbritannien die unvorstellbare Zahl von einer Million Arbeitslosen, ein gesellschaftliches Faktum, mit dem sich die Punkband Chelsea auf ihrer Protestsingle »Right to Work« beschäftigte. Doch Johnny Rotten hatte die Sprache des Protests nie gelernt, mit der man zu seinem Recht kommen wollte, indem man die Macht um etwas anfleht und durch den Akt des Sprechens legitimiert: Darum ging es nicht. In »Pretty Vacant« beanspruchten die Sex Pistols das Recht, nicht zu arbeiten, und das Recht, sämtliche dazugehörigen Werte zu ignorieren: Beharrlichkeit, Ehrgeiz, Frömmigkeit, Sparsamkeit, Ehrlichkeit und Hoffnung, die Vergangenheit, zu deren Abgeltung Gott die Arbeit erfunden hatte, die Zukunft, die mittels Arbeit aufgebaut werden sollte. »Your God has gone away«, euer Gott ist verschwunden, wie Johnny Rotten bereits auf »No Feelings«, der B-Seite der ersten, eingeschmolzenen Pressung von »God Save the Queen« gesungen hatte, »Be back another day«. Verglichen mit Rhodes’ Soziologie redete Johnny Rotten in fremden Zungen. Es gab eine Million Arbeitslose, und da saßen die Sex Pistols in Hauseingängen herum, putzten sich heraus und kotzten die Worte aus: »We’re pretty / Pretty vacant / We’re pretty / Pretty vacant / We’re pretty / Pretty vacant / And we don’t care.« Das war ihre bis dato lustigste Platte und ihre professionellste. Sie klangen eher nach Beatles als nach Verkehrsunfall, doch Johnny Rotten sang sich beim letzten Wort die heraushängende Zunge wund; wie bei den früheren Singles entlockte »Pretty Vacant« dem Zuhörer Gelächter, um es ihm dann wieder in die Kehle zurückzustopfen.
Das war also das Projekt: Gott und der Staat, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Jugend und Arbeit, all das hatten die Sex Pistols bereits hinter sich, als sie auf das Ende ihres ersten und letzten Jahres in den Charts zusteuerten. Nun blieb nur noch »Holidays in the Sun« übrig: ein wohlverdienter Urlaub, wenn auch mit geopolitischem und welthistorischem Hintergrund, der mehr Terrain verschluckte, als die Sex Pistols je betreten, und mehr Jahre, als sie auf der Erde zugebracht hatten.
war köstlich: Für die Vorderseite hatte man sich den Reklame-Comicstrip eines Reisebüros ausgeliehen, auf dem sich glückliche Touristen am Strand, in einem Nachtclub, auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer tummelten und ihren Urlaub in Sprechblasen lobten, aus denen Jamie Reid die Werbesprüche entfernt und die er mit den Worten gefüllt hatte, die Johnny Rotten auf dem Vinyl singt: »Ein billiger Urlaub im Elend anderer Leute!« Auf der Rückseite fand sich eine idyllische Familienszene, Essenszeit, ein Foto, auf das Reid kleine Kommentare geklebt hatte: »nettes Bild«, »nette Möbel«, »nettes Zimmer«, »nette Dame mittleren Alters«, »netter Mann mittleren Alters«, »nettes Essen«, »nettes Foto«, »netter junger Mann«, »nette junge Dame«, »nette Geste« (der nette junge Mann hält die Hand der netten jungen Dame), »nettes kleines Mädchen« (es streckt gerade die Zunge raus) und sogar, am unteren Rand, »nette Plattenhülle«. »I don’t want a holiday in the sun«, setzte Johnny Rotten ein, »I want to go to the new Belsen.«
Und das tat er. Los ging’s nach Deutschland, hinter ihm die marschierenden Füße von Pauschaltouristen, angezogen von dem Schreckgespenst des KZ, das für die Briten die gleiche Funktion erfüllt wie Auschwitz für die Amerikaner: ein Symbol des modernen Bösen. »Ich will ein bisschen Geschichte sehen«, sagt er, doch die Geschichte ist unerreichbar; Belsen liegt hier gar nicht in Deutschland, sondern in etwas, das man »Ostdeutschland« nannte, weniger Ort als ideologisches Konstrukt, und so findet sich Johnny Rotten am Fuß der Berliner Mauer wieder, des ideologischen Konstruktes, das die Trennung zwischen den beiden die Welt beherrschenden Gesellschaftssystemen symbolisiert, eine Welt, die mehr so wie jetzt ist, als sie es je war.
Johnny Rotten steht an der Berliner Mauer. Leute glotzen ihn an, er findet es unerträglich; der Lärm marschierender Füße wird lauter, auch das findet er unerträglich. Als die Band hinter ihm in Raserei gerät, fängt er an zu schreien: Er will über die Mauer. Sind dort die echten Nazis? Ist Ost-Berlin so, wie der Westen in der von ihm bereits prophezeiten Nicht-Zukunft aussehen wird? Er kann nicht anders, er will unter der Mauer durch. Offenbar weiß er nicht, was er singt, aber die Musik treibt weiter und zwängt den Hörer ein wie die schrumpfende Kammer bei Edgar Allan Poe. Die Brüche in Johnny Rottens Stimme sind aberwitzig; kaum spricht er ein Wort aus, schon explodiert es in seinem Mund. Der Song macht wohl auch deshalb Angst, weil er scheinbar keinen Sinn ergibt, den Hörer aber dennoch in seine Absurdität hineinzieht und dort gestrandet zurücklässt; Zeit und Ort sind festgelegt, man könnte seine Position auf einer Karte bestimmen und wäre doch nirgendwo. Die einzige Entsprechung ist genauso festgelegt und genauso vage.
der zweiundvierzigjährige Anwalt Bascom Lamar Lunsford aus North Carolina eine alte Ballade auf, die den Titel trug »I Wish I Was a Mole in the Ground«; wie alt sie ist, weiß niemand. Da in ihr »the Bend« erwähnt wird, ein um die Jahrhundertwende benutztes Gefängnis im Staat Tennessee, ließe sich das Stück eventuell zeitlich und örtlich bestimmen, aber der Hinweis könnte genauso gut lange nach Entstehung des Songs hinzugefügt worden sein; gesichert war lediglich der Rhythmus von Lunsfords Banjo, der unerbittliche Takt seiner Stimme. Das Lied, sagte die Musik, war älter als jeder, der es sang, und würde jeden überdauern, der es hörte.
»I Wish I Was a Mole in the Ground« war kein »Tierlied« wie »Froggy Went A-Courtin’« oder »The Leatherwing Bat«, sondern ein Ausflug in die Mystik des Alltags; wir hören von einem Mann, der seinen Pflug fallen lässt, sich auf den Boden setzt, seine Stiefel auszieht und Wünsche heraufbeschwört, die er nie erfüllen wird. Er liegt auf dem Rücken in der Sonne:
Oh, I wish I was a mole in the ground
Yes, I wish I was a mole in the ground
Like a mole in the ground I would root that mountain down
And I wish I was a mole in the ground
Was der Sänger will, liegt zwar auf der Hand, ist aber fast unmöglich zu fassen. Er will von seinem Dasein befreit und in eine unscheinbare und verachtete Kreatur verwandelt werden. Er will nichts sehen und von keinem gesehen werden. Er will die Welt vernichten und sie überleben. Mehr will er nicht. Der Vortrag ist ruhig, gleichmäßig, und diese Ruhe bezieht uns mit ein: Man kann zuhören und über das Gehörte nachdenken. Man kann sich zurücklehnen und vorstellen, wie es wäre, das zu wollen, was der Sänger will. Es ist eine nahezu absolute Negation, an der Grenze zum puren Nihilismus, der Wunsch eines Beweises, dass die Welt nichts ist, der Wunsch, fast nichts zu sein, und doch hat er beruhigende Wirkung.
Dieser Song gehört zu der Strömung, die den Rock ’n’ Roll hervorbrachte … nicht weil eine Zeile aus ihm in Bob Dylans »Memphis Blues Again« auftauchte, sondern weil seine eigenartige Mischung aus Fatalismus und Verlangen, Hinnahme und Aufbegehren 1955 in »Mystery Train« von Elvis Presley auftauchte. In diesem grundlegenden Statement neigte er die Waagschale in Richtung Affirmation, verdeckte das Negative, ohne es je aufzugeben, sondern behielt es als Spannungs- und Reibungsprinzip bei, was dem »Ja« des Rock ’n’ Roll immer seinen Elan gab … und so sah die Geschichte des Rock ’n’ Roll aus, bis zum Oktober 1977, als die Sex Pistols zufällig auf den in der Form verschlüsselt vorhandenen zerstörerischen Impuls stießen, diesen Impuls gegen die Form wendeten und sie sprengten. Das Ergebnis war Chaos; man konnte sich nirgendwo hinlegen, und es war keine Zeit, über irgendetwas nachzudenken. Dies passierte wirklich. Während der letzten Minute von »Holidays in the Sun« ließen die Sex Pistols jede andere Band der Welt hinter sich: Johnny Rotten kletterte, wühlte mit den Händen, warf Mauerbrocken über die Schulter, schrie sein Unvermögen hinaus, mehr als seine Zuhörer von der Story zu verstehen, und verfluchte seine Unfähigkeit, das zu begreifen, was Bascom Lamar Lunsford 1924 als ihm unbegreiflich akzeptiert hatte.
Was ist bloß los? Es hört sich an, als wären Hitlers Legionen von den Toten auferstanden und an die Stelle netter Touristen, netter ostdeutscher Bürokraten, netter westdeutscher Geschäftsleute getreten … oder als wären Nazis aus den Häuten der ihre Stelle einnehmenden Kapitalisten und Kommunisten getreten. Johnny Rotten gibt sich einem Sog hin wie Eisenspäne einem Magneten, doch er hält ein, bremst ab, versucht nachzudenken. Während Buñuel diejenigen verdammte, die seinen Film schön oder poetisch fanden, obwohl der doch im Grunde ein Aufruf zum Mord war, hatte man den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Versuch zugebracht, zu beweisen, das Schöne, das Poetische und der Aufruf zum Mord seien ein und dasselbe – und in den letzten Sekunden von »Holidays in the Sun« schien Johnny Rotten dies zu begreifen. Vielleicht wollte er das mit seinem ständigen Schrei »I DON’T UNDERSTAND THIS BIT AT ALL!« gegen Ende des Songs sagen, er schien zu sagen, dass er es nicht verstehen wollte; er schien sagen zu wollen, wenn er in die Leere des Jahrhunderts blickte, sähe er die Leere zurückstarren. Johnny Rotten ging durch die Mauer. »Please don’t be waiting for me«, wartet nicht auf mich, sagte er. Damit endete der Song.
Sein Ziel war vermutlich, all die Wut, Intelligenz und Kraft seines Seins zu nehmen und der Welt entgegenzuschleudern: damit die Welt Notiz nahm, damit die Welt ihre am meisten gehätschelten und am wenigsten bezweifelten Ansichten in Frage stellte, damit die Welt mit der Münze des Alptraums für ihre Verbrechen zahlte. Und damit die Welt unterging – symbolisch, wenn nicht anders möglich. Und einen Moment lang schaffte er das auch.
So ließen die Sex Pistols die Welt untergehen, jedenfalls ihre eigene. Als Nächstes hörte man von Auflösung, Mord, Selbstmord … und auch wenn die Fakten in jedem Fall in den zuständigen Zivil- und Strafprozessen festgehalten wurden, wer weiß schon, ob die Ereignisse dort stattfanden, wo die Menschen wirklich leben, oder im symbolischen Reich des Popmilieus? Den Nihilisten macht man für die Verfehlungen seines Doubles, des Negationisten, verantwortlich; meistens mieten sie dieselben Zimmer, manchmal zahlen sie dieselben Rechnungen. Der Leichenbeschauer – ob er nun Fan, Epigone, Kritiker oder bester Freund ist – kann den Unterschied gewöhnlich nicht durch einen Blick auf die Leiche feststellen. Die Sex Pistols waren eine Masche, der Versuch, mit Skandalen Erfolg zu schinden, »Cash aus Chaos«, wie einer von Malcolm McLarens Slogans lautete. Außerdem waren sie ein sorgfältig konstruierter Beweis dafür, dass sämtliche überlieferten hegemonistischen Thesen darüber, wie die Welt angeblich funktionierte, eine so komplette und korrupte Fälschung waren, dass sie unbedingt so komplett zerstört werden mussten, bis jede Erinnerung an sie ausgelöscht war. In dieser Asche wäre alles möglich und erlaubt: die intensivste Liebe, das beiläufigste Verbrechen.
Alchemie am Werk. Ein uneingestandenes Erbe von Verlangen, Abneigung und Abscheu wurde so lange gekocht und eingeschmolzen, bis es einen einzigen Akt öffentlicher Rede ergab, der bei einigen Menschen überkommene Gewissheiten, eingebildete Wünsche und eingegangene Kompromisse platzen ließ. Es war, wie sich herausstellte, eine verdrehte Geschichte.
Dieses Buch behandelt eine einzige beziehungsreiche Tatsache: Ende 1976 kam in London eine »Anarchy in the U.K.« betitelte Schallplatte auf den Markt, ein Ereignis, das weltweit die Popmusik veränderte. Der von einer vierköpfigen Band namens Sex Pistols aufgenommene und von deren Sänger Johnny Rotten geschriebene Song destillierte, in kruder poetischer Form, eine Kritik der modernen Gesellschaft, wie sie einmal von einer kleinen in Paris beheimateten Gruppe von Intellektuellen aufgestellt worden war. 1952 als Lettristische Internationale gegründet, wurde die Gruppe 1957 auf einer Konferenz der europäischen Avantgarde als Situationistische Internationale neugegründet und erregte während der französischen Revolte im Mai 1968 am meisten Aufmerksamkeit, als die Prämissen ihrer Kritik, zu groben poetischen Slogans verarbeitet, auf die Mauern von Paris gesprayt wurden; anschließend wurde die Kritik der Geschichte überlassen, und die Gruppe verschwand. Besagte Gruppe berief sich auf die Surrealisten der zwanziger Jahre, auf die Dadaisten, die sich während des Ersten Weltkriegs und kurz danach einen Namen machten, auf den jungen Karl Marx, Saint-Just, diverse mittelalterliche Ketzer sowie die Ritter der Tafelrunde.
Meiner Überzeugung nach sind solche Verbindungen in erster Linie seltsam. Dass die gnomische, gnostische Kritik, von einer Handvoll Kaffeehaus-Propheten am linken Seineufer erdacht, ein Vierteljahrhundert später erneut auftaucht, um die Charts zu erobern, und anschließend als ganz neuer Forderungskatalog an die Kultur zu Leben erwacht – das ist schon beinahe auf transzendente Weise seltsam.
zwischen den Sex Pistols, Dada und dem so hochtrabend Situationistische Internationale genannten Gebilde bis hin zu vergessenen Ketzereien wurden nicht von mir entdeckt. In den frühen Tagen des Londoner Punk fand sich kaum ein Artikel zum Thema, in dem das Wort »Dada« fehlte: Punk sei »wie Dada«, sagten alle, doch keiner erklärte, warum, ganz zu schweigen davon, was das heißen sollte. Anspielungen auf Malcolm McLarens angebliche Kontakte zu der geheimnisvollen »S.I.« wurden in der britischen Pop-Presse als Insiderwissen gehandelt, aber dieses Wissen brachte einen anscheinend nicht weiter.
Dennoch hörte sich das alles interessant an, auch wenn »Dada« für mich allenfalls ein Wort war, das nur vage an eine verflossene Kunstrichtung erinnerte (Paris in den Goldenen Zwanzigern? etwas in der Art); auch wenn ich von der Situationistischen Internationale noch nie gehört hatte. Ich stöberte also herum, und je mehr ich herausfand, desto weniger wusste ich. Alle möglichen Leute hatten diese Verbindungen hergestellt, aber keiner hatte etwas daraus gemacht … und ziemlich bald führte mich mein Versuch, etwas daraus zu machen, vom Katalog der Universitätsbibliothek in Berkeley zum Dada-Gründungsort in Zürich, von Gil J. Wolmans Bohèmewohnung in Paris zu Michèle Bernsteins Pfarrhaus in Südengland, von Alexander Trocchis Junkieabsteige in London zurück zu Büchern, die dreißig Jahre lang in Bibliotheksregalen verstaubt waren, bevor ich sie auslieh. Er führte mich zu Mikrofilmgeräten, auf denen sich die unzweideutigen öffentlichen Äußerungen aus der Zeit meiner Kindheit abspulten; es ist eigenartig, alte Zeitungen zu durchforsten, auf der Suche nach dem bestätigenden Datum für das Fragment einer privaten fixen Idee, die man in eine öffentliche Äußerung zu verwandeln hofft, sich von Anzeigen ablenken zu lassen, die nach all der Zeit so plump und durchsichtig wirken, zu fühlen, ja, die Vergangenheit ist ein anderes Land, eine nette Gegend für einen Besuch, aber man möchte dort nicht leben, um auf die ersten Meldungen über den Sturz der guatemaltekischen Regierung Arbenz zu stoßen, die toten Nachrichten zu lesen, als wären sie eine miese Parodie von CIA-Desinformationen, und anschließend in der aktuellen Tageszeitung die Konsequenzen zu verfolgen: Gesichter, schreibt der Reporter 1984, drei Jahrzehnte nachdem Arbenz in die Mikrofilmarchive einging, die heute von dubiosen Bürgern mittels Bajonetten entfernt und dann an Bäume gehängt werden, bis sie zu Masken getrocknet sind. Die Zeit schreitet fort.
Es war keine heroische Suche; einige der Bücher verdienten es, auch die nächsten dreißig Jahre übersehen zu werden. In erster Linie war es ein Spiel, oder auch ein Jucken, das gekratzt werden wollte: das Aufspüren einer echten Story oder das Verfolgen einer falschen Fährte um des Vergnügens willen, das nur eine falsche Fährte bereitet. Die Recherche bewirkt, dass die Zeit voranschreitet, rückwärts läuft oder stehenbleibt. Zwei Jahre und fünfzehntausend Kilometer später lagen die ersten Nummern von Potlatch vor mir, einem Mitteilungsblatt der Lettristischen Internationale, das Mitte der fünfziger Jahre in Paris verteilt wurde; auf seinen hektographierten Seiten firmierte »Kritik der Architektur« als Schlüssel zur Kritik des Lebens. Hier wurde der große Architekt Le Corbusier als »M. Sing-Sing« und »Erbauer von Slums« verdammt. Seine Strahlende Stadt wurde als autoritäres Experiment sozialen Maschinenbaus verworfen, als Ansammlung »vertikaler Gettos« und turmhoher »Leichenschauhäuser«; die wahre Funktion von Le Corbusiers gefeierten »Wohnmaschinen«, so las man in Potlatch, sei es, Maschinen zu produzieren, die in ihnen wohnten. »Das Dekor bestimmt die Gesten«, schrieb die L.I.; »wir werden leidenschaftliche Häuser bauen.« Von einem Größenwahn beseelt, der im Gegensatz zu ihren verschmierten maschinegeschriebenen Seiten stand, brachte die L.I. Worte zu Papier, die »Anarchy in the U.K.« später in Bob Geldofs Mund legen sollten – das konnte man sich durchaus vorstellen. Doch als mir meine guatemaltekischen Reisen im Mikrofilmraum einfielen, fragte ich mich, ob es für die Geschichte der Sex Pistols etwas bedeutete, dass die Potlatch-Autoren (Gil J. Wolman, Michèle Bernstein und die vier anderen, die damals ihre Namen auf das Papier schrieben) im Sommer 1954 den Sturz des Reformers Arbenz durch die CIA als zentrales gesellschaftliches Ereignis wählten, als Metapher und als Mittler zu der Sprache der »alten Welt«, die sie zerstören wollten, zu der »neuen Zivilisation«, die sie schaffen wollten.
Hier fanden sich hellsichtige Versionen der Nachrichten der folgenden Woche, als Potlatch Saint-Just von der Guillotine zurückholte, um ein »Voraburteil« über Arbenz’ Weigerung abzugeben, Guatemalas Arbeiter gegen den unvermeidlichen Putsch zu bewaffnen (»Wer eine Revolution nur halbherzig macht, schaufelt sein eigenes Grab«). Außerdem fanden sich kryptische Verweise auf die Katharer, Ketzer im Frankreich des dreizehnten Jahrhunderts, sowie die neuesten Erkenntnisse der Teilchenphysik. Hier tauchte auch die erste Notiz eines immer wiederkehrenden situationistischen Themas auf: der Vorstellung vom »Urlaub« als einer Art Teufelskreis von Entfremdung und Unterjochung, ein Symbol der falschen Versprechungen des modernen Lebens, ein Gedanke, der mit CLUB MED – EIN BILLIGER URLAUB IM ELEND ANDERER LEUTE im Paris des Mai 1968 als Graffito auftauchte und sich später, so schien es, in »Holidays in the Sun« verwandelte. »Nach Spanien oder Griechenland kann sich nun auch Guatemala zu den für den Tourismus geeigneten Ländern zählen«, schrieb die L.I. kühl und merkte an, dass die Exekutionskommandos der neuen Regierung bereits die Straßen von Guatemala City säuberten. »Wir hoffen, irgendwann mal hinzufliegen.«
nach einer Ahnenreihe in der Kultur ist müßig. Jede neue Manifestation in der Kultur schreibt die Vergangenheit um, macht aus alten Unpersonen neue Helden und aus alten Helden Leute, die besser nie geboren worden wären. Neue Akteure durchkämmen die Vergangenheit nach Ahnen, schließlich bedeuten Ahnen Legitimität, und Neuheit bedeutet Zweifel – aber zu allen Zeiten tauchen vergessene Akteure aus der Vergangenheit nicht als Ahnen, sondern als Vertraute auf. Im Amerika der zwanziger Jahre war es Herman Melville, in der Rock ’n’ Roll-Ära der sechziger Jahre war es der Mississippi-Bluesman Robert Johnson aus den Dreißigern, in den entropischen siebziger Jahren des Westens war es der sorgfältig absolutistische deutsche Kritiker Walter Benjamin aus den Zwanzigern und Dreißigern. 1976 und 1977 sowie in den folgenden, symbolisch von den Sex Pistols umgestalteten Jahren waren es vielleicht Dadaisten, Lettristen, Situationisten sowie diverse mittelalterliche Ketzer.
Hörte man sich nur die Platten an, war das nicht besonders aufschlussreich. Als ich mir die Verbindungen ansah, die andere hergestellt und vorausgesetzt hatten (überprüfte man eine Angabe, führte sie zu nichts), verstrickte ich mich plötzlich in etwas, bei dem es weniger um kulturelle Ahnenforschung ging oder darum, die Beziehung zwischen den einzelnen Teilen einer Story zu verfolgen, als darum, eine Geschichte zu erfinden. Aus dem Schatten bekannter Ereignisse schälte sich eine unwesentliche Geschichte heraus; jede Manifestation beanspruchte während ihres kurzen Moments die ganze Welt, um dann zu einer zehnstelligen Zahl im Deweyschen Dezimalsystem reduziert zu werden. Wenn diese Story vor dem Hintergrund von Kriegen und Revolutionen auch annähernd stumm war, schien sie doch für dieses Jahrhundert charakteristisch zu sein, eine Geschichte, die immer wieder die Stimme erhebt und sie von neuem verliert; es schien eine Stimme zu sein, die sich nur erheben musste, um wieder verloren zu gehen.
Bei meinem Versuch, dieser Story zu folgen – wobei die Protagonisten immer wieder in die Kleider der anderen schlüpften, bis ich es aufgab, sie zum Stillhalten zu bewegen –, reizten mich ihre Lücken sowie jene Momente, in denen die Story, die ihre Stimme verloren hatte, diese irgendwie wiedergewinnt, und was sich danach entwickelt. Lange bevor ich Potlatch aufspürte, hatte ich eine »Die vergoldete Legende« überschriebene Anzeige dafür aus dem Jahr 1954 entdeckt, eine Seite in Les Lèvres nues, einer belgischen, auf Hochglanzpapier gedruckten neosurrealistischen Zeitschrift. »Das Jahrhundert hat ein paar große Brandstifter gekannt«, stand in der Anzeige. »Heute sind sie entweder tot, oder sie putzen sich vor dem Spiegel heraus … Überall entdeckt die Jugend (wie sie sich selbst nennt) unter dreißig Jahren Staub und Schutt ein paar stumpf gewordene Messer, ein paar entschärfte Bomben; die Jugend schleudert sie, schlotternd vor Angst, auf den willigen Pöbel, der sie mit schmierigem Lachen begrüßt.« Der L.I.-Publizist versprach, Potlatch wisse einen Weg aus dieser Sackgasse, und erwähnte dann, welche Fragmente surrealistischer Messer und Dada-Bomben es noch gebe. Heute scheint mir, als sei die Lettristische Internationale (bloß eine Handvoll junger Leute, die sich ein paar Jahre lang unter diesem Namen zusammenschlossen, um sich gut zu amüsieren, um die Welt zu verändern) selbst eine damals unbeachtete Bombe gewesen, die Jahrzehnte später als »Anarchy in the U.K.« und »Holidays in the Sun« explodierte.
Eine solche Behauptung ist weniger eine These zu dem Thema, wie die Vergangenheit die Gegenwart formt, als ein Hinweis darauf, dass die Verquickung von heute und gestern im Grunde ein Rätsel ist. Potlatch entlehnte nämlich nach eigener Auskunft seinen Namen »der unter nordamerikanischen Indianern geläufigen Bezeichnung einer vorkommerziellen Form von auf dem Austausch aufwendiger Geschenke beruhendem Warenverkehr«; die »unverkäuflichen Waren, die beispielsweise eine kostenlose Druckschrift verteilen kann, sind bislang unveröffentlichte Wünsche und Fragen, und lediglich ihre gründliche Analyse durch andere stellt ein Gegengeschenk dar«. Dieses Buch entstammt dem Wunsch, die geballte Kraft von »Anarchy in the U.K.« als Musik zu begreifen, seine Fruchtbarkeit als Kultur zu verstehen. Vielleicht liegt der Schlüssel zu diesen Fragen nicht darin, dass die Sex Pistols ihre Existenz auf das Geschenk der L.I. zurückführen konnten, sondern dass sie das Geschenk blind zurückgaben, und zwar in einer Form, die die Schenkenden nie erkannt hätten – Ästheten, die entsetzt miterlebt hätten, wie ihre Theorien zu billigen Waren wurden. Wenn »Anarchy in the U.K.« tatsächlich eine alte vergessene Gesellschaftskritik aufnahm, so ist das interessant; doch wenn »Anarchy in the U.K.« als ein Teil eines neuen »Potlatsch«, eines Gesprächs zwischen ein paar tausend Songs, dieser Kritik Leben einhauchte … das wäre weit mehr als interessant.
Diese Story, falls es denn eine ist, erzählt sich nicht von allein; als ich ihre Umrisse gesehen hatte, wollte ich die Story so formen, dass jedes Fragment, jede Stimme ein Urteil über alle anderen abgab, auch wenn die Menschen hinter den einzelnen Stimmen noch nie voneinander gehört hatten. Besonders dann; besonders wenn, wie in »Anarchy in the U.K.«, ein Zwanzigjähriger namens Johnny Rotten eine Gesellschaftskritik neu formulierte, von Leuten erdacht, die es, wenn man ihn fragte, nie gegeben hatte. Wer wusste denn, was sonst noch zu dieser Geschichte gehörte? Wenn man, statt weiter auf die Vergangenheit zu starren, ihr stattdessen zuhörte, könnte man eventuell den Widerhall eines neuen Gesprächs hören; dann wäre der Kritiker damit beschäftigt, Sprecher und Zuhörer, die von der Existenz des anderen nichts wissen, zu einem gemeinsamen Gespräch zu führen. Aufgabe des Kritikers wäre es dann, seine Fähigkeit zu bewahren, über den Fortgang des Gesprächs überrascht zu sein und dieses Gefühl der Überraschung anderen Menschen mitzuteilen, da ein Leben mit Überraschung besser ist als ein Leben ohne.
Mein Wunsch, aus dem anfänglichen Entwurf schlau zu werden, wandelte sich zum Wunsch, aus der Verwirrung schlau zu werden, die der Entwurf umgehend bewirkte – aus kryptischen Erklärungen schlau zu werden, die ungeniert das ganze Gewicht der Geschichte für sich reklamierten, wie jene des marxistischen Soziologen Henri Lefebvre aus dem Jahr 1975:
wenn der Begriff Modernität überhaupt eine Bedeutung hat, ist es diese: von Anfang an trägt er eine radikale Negation in sich … Dada, jenes Ereignis, das in einem Züricher Café stattfand.
Oder die der Situationisten aus dem Jahr 1963: »Der Moment der wirklichen Poesie … bringt die nicht beglichenen Schulden der Geschichte noch einmal ins Spiel.« War diese Zeile, so fragte ich mich, wohl ein Hinweis auf das Versprechen der Berliner Dadaisten von 1919?
dada ist die einzige Sparkasse, die in der Ewigkeit Zins zahlt.
Oder auf den Reiz von »NO FUTURE«, dem berühmtesten Slogan der Sex Pistols? Auf die No-future-Kälte im Gesicht des Lettristen Serge Berna, als er 1952 für die Kamera posierte? Auf das ein paar Seiten starke Manifest eines gewissen Guy-Ernest Debord, das sich in demselben obskuren Band fand, der auch Bernas Porträtfoto enthielt: »Die Kunst der Zukunft wird der Umsturz von Situationen sein, oder sie wird nichts sein«? Oder auf die 1964 von den Situationisten hinterlassene Prahlerei:
Während die zeitgenössische Unfähigkeit sich in diesen Jahren am verspäteten Projekt weidet, »ins XX. Jahrhundert einzutreten«, muss man unseres Erachtens so bald wie möglich diesem Leerlauf ein Ende setzen, der das Jahrhundert beherrscht hat – so wie übrigens bei derselben Gelegenheit auch das christliche Zeitalter. Hier wie anderswo handelt es sich darum, das Maß zu überschreiten. Unser Unternehmen ist das Beste, was bisher gemacht wurde, um das XX. Jahrhundert zu verlassen.
Nun sind wir bei etwas ganz anderem als einem Popsong angelangt … aber ein Popsong war schließlich auch etwas ganz anderes als »I am an antichrist«. Wir sind bereits an einem Punkt, wo wir beinahe nichts Wissenswertes erfahren werden, wenn wir den Rock ’n’ Roll befragen, obwohl es sich hierbei letzten Endes um eine Rock ’n’ Roll-Story handelt. Echte Rätsel lassen sich nicht lösen, aber sie lassen sich in bessere Rätsel verwandeln.
Seine Zähne waren nadelspitz geschliffen. Das hörte man, wenn Johnny Rotten seine Rs rollte; als der Kriegsdienstverweigerer Richard Huelsenbeck 1918 einem höflichen Berliner Publikum, das sich eingefunden hatte, um einen Vortrag über eine neue Kunstrichtung zu hören, erzählte: »Wir waren für den Krieg, und der Dadaismus ist heute noch für Krieg. Die Dinge müssen sich stoßen: es geht noch lange nicht grausam genug zu«; als 1649 der Ranter Abiezer Coppe seine Feurige Fliegende Rolle entfaltete (»So spricht der HERR, Ich sage Euch, ich werde umstürzen alles, was da besteht«); als 1961 die Situationistische Internationale eine Prophezeiung veröffentlichte, eine »Bekanntmachung an die Ruinenbauer: auf die Urbanisten werden die letzten Höhlenbewohner von Wellblechbaracken und Elendsquartieren folgen. Sie werden bauen können. Die Privilegierten der Schlafstädte werden nur zerstören können. Von einem solchen Zusammentreffen ist viel zu erwarten: es definiert die Revolution.«
Das hörte man, als Johnny Rotten seine Rs rollte; das hätte man jedenfalls hören können.
sich ein Teenager, der sich später Johnny Rotten nannte, in ein lebendes Plakat und stolzierte die Londoner King’s Road hinunter bis nach World’s End, dem Ende der Straße; auf sein mit einem Pink-Floyd-Logo bedrucktes T-Shirt hatte er »I HATE« gekritzelt. Die Reste seiner gerupften Haare hatte er grün gefärbt, und während er sich durch die Touristenmassen schob, spuckte er Hippies an, die ihn zu ignorieren versuchten. Eines Tages machte man einen Geschäftsmann auf ihn aufmerksam, der gerade eine Band zusammenstellte. Der Drummer erinnerte sich an das Vorsingen dieses Burschen, das sich vor einer Jukebox abspielte, wobei der Junge so tat, als sänge er den Text zu Alice Coopers »Eighteen« mit: »Wir dachten, er hat das, was wir wollen. Leicht irre, ein front man. Danach suchten wir: nach einem front man, der genaue Vorstellungen davon hatte, was er tun wollte, und die hatte er ohne Frage. Und wir wussten sofort Bescheid. Auch wenn er nicht singen konnte. Das interessierte uns nicht besonders, weil wir damals gerade erst lernten, auf unseren Instrumenten zu spielen.«
Möglich, dass die Sex Pistols nach den Plänen ihres selbsternannten Impresarios Malcolm McLaren, des Besitzers einer Boutique an der King’s Road, nie mehr sein sollten als ein kurzer Erfolg, ein billiges Vehikel zum schnellen Geldverdienen, gut für ein paar Lacher, für einen Touch des alten épater la bourgeoisie. Er hatte sie aus seinem Laden rekrutiert, ihnen einen Übungsraum beschafft, ihnen einen lachhaft anstößigen Namen gegeben, ihnen von der Hohlheit der Popmusik sowie den Möglichkeiten von Hässlichkeit und Konfrontation gepredigt, ihnen erzählt, sie hätten eine ebenso große Chance wie jeder andere auch, Aufsehen zu erregen, und es sei ihr gutes Recht. Falls alles andere schiefginge, könnten sie immer noch ein lebendes Schild für seinen Laden sein, der ein neues Ladenschild immer gebrauchen konnte: Bevor er sich 1977 für »Seditionaries« entschied, nannte Malcolm McLaren sein Geschäft »Let It Rock«, als er 1971 Teddy-Boy-Klamotten und alte Singles verkaufte; »Too Fast to Live Too Young to Die« 1973, als er Rockerklamotten und diverses Zubehör für Jugendgangs im Angebot hatte, »Sex« war 1974 angesagt, als Ketten, Sexpräparate sowie »God Save Myra Hindley«-T-Shirts verkauft wurden, letztere zum Gedenken an die Frau, die zusammen mit Ian Brady 1965 die Moormorde begangen hatte – Morde an Kindern, die Hindley und Brady als künstlerisches Statement auf Band festgehalten hatten. Gut möglich, dass die Sex Pistols in den Plänen ihres führenden Theoretikers und Propagandisten, des Kunststudenten der sechziger Jahre und ehemaligen sowie Möchtegern-Anarchisten und Provokateurs Malcolm McLaren, dazu bestimmt waren, das Land in Staunen zu versetzen, jene Intensität zu neuem Leben zu erwecken, die McLaren zuerst bei Jerry Lee Lewis’ Song »Great Balls of Fire« erlebt hatte (»So etwas hatte ich noch nie gesehen«, sagte er einmal, als er berichtete, wie ein Mitschüler diesen Song bei einem Talentwettbewerb seines Gymnasiums vorgetragen hatte. »Ich dachte, ihm fiele jeden Moment der Kopf ab«), und schließlich Musik und Politik zu vereinen, um die Welt zu verändern. Der von der französischen Mai-Revolte 1968 begeisterte McLaren hatte in London Solidaritätsdemonstrationen mitorganisiert und später T-Shirts mit aufgedruckten Mai-68-Slogans verkauft, auch wenn »ICH HALTE MEINE SEHNSÜCHTE FÜR REALITÄT, WEIL ICH AN DIE REALITÄT MEINER SEHNSÜCHTE GLAUBE«, der Wahlspruch einer winzigen Studentenclique, der Enragés, die den Aufstand begannen, in dem Laden lediglich verklemmte Geschäftsleute ermutigen sollte, McLarens Gummianzüge zu kaufen. McLaren verkaufte alles; Ende 1978, als der ehemalige Sex Pistols-Bassist Sid Vicious wegen Mordes an seiner Freundin Nancy Spungen verhaftet worden war, warf McLaren Sid Vicious-T-Shirts mit der Aufschrift »I’M ALIVE – SHE’S DEAD – I’M YOURS« auf den Markt (angeblich, um Geld für Vicious’ Verteidigung aufzutreiben). Doch kurz zuvor war er noch mit Exemplaren von Christopher Grays Leaving the 20th Century herumgelaufen, der ersten englischsprachigen Anthologie situationistischer Schriften, an deren Veröffentlichung er und Jamie Reid 1974 beteiligt gewesen waren.
Amerikanische Variante von Malcolm McLarens Laden
Er versuchte, andere zum Lesen des Buches zu bewegen. »Es ist wenig mehr als eine moderne Interpretation marxistischer Essays über entfremdete Arbeit«, sagte Peter Urban, Manager der Dils, einer Punkband aus Los Angeles, die »auf Klassenkampf stand« (der Haupterfolg ihrer ersten Single, »I Hate the Rich«, bestand darin, dass die rivalisierende Gruppe Vom ein »I Hate the Dils« betiteltes Stück herausbrachte). »Damit hat es auch zu tun«, meinte McLaren, »aber es ist sehr, sehr intensiv. Das Gute daran waren die vielen Parolen, die man übernehmen konnte, ohne irgendeiner Bewegung anzugehören. Einer Bewegung anzugehören erstickt oft kreatives Denken sowie, von der Warte eines Jugendlichen aus gesehen, die Fähigkeit, sich selbst auszudrücken … Das Größte an dem Buch ist, dass es dir das erlaubt. Es enthält eine gewisse erregende Aggression und Arroganz …« Ein alter Hut, sagte Urban und schenkte McLarens interessanten Folgerungen ebenso wenig Beachtung wie einem Sticker auf dem Buchumschlag, den ein Zitat aus einer Rezension John Bergers zierte: »… eine der hellsichtigsten und ehrlichsten politischen Aussagen der sechziger Jahre«. »Verlorene Propheten« war Bergers Besprechung überschrieben; wäre der Rest auch noch irgendwie auf den Sticker gequetscht worden, hätte er das Gespräch noch weiter auf Abwege oder mehr auf den Punkt bringen können.
Das Gespräch erschien 1978 in der Mai-Ausgabe von Slash, einem Punk-Magazin aus L.A. Die Nummer, besagte ein Hinweis auf der Seite mit dem Inhaltsverzeichnis, war »der Handvoll enragés