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Lise Meitner (1878–1968) forschte und lehrte über dreißig Jahre lang an der Seite Otto Hahns. Als Erste begriff die bescheidene Physikerin die volle Bedeutung eines scheinbar misslungenen Forschungsprojekts, an dem sie bis zu ihrer erzwungenen Flucht 1938 mitgearbeitet hatte: Sie deutete das Ergebnis als Kernspaltung. Am Wettlauf um die Freisetzung der Kernenergie, der dadurch ausgelöst wurde, beteiligte sie sich nicht. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
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Seitenzahl: 177
Lore Sexl • Anne Hardy
Lise Meitner
Ihr Verlagsname
Lise Meitner (1878–1968) forschte und lehrte über dreißig Jahre lang an der Seite Otto Hahns. Als Erste begriff die bescheidene Physikerin die volle Bedeutung eines scheinbar misslungenen Forschungsprojekts, an dem sie bis zu ihrer erzwungenen Flucht 1938 mitgearbeitet hatte: Sie deutete das Ergebnis als Kernspaltung. Am Wettlauf um die Freisetzung der Kernenergie, der dadurch ausgelöst wurde, beteiligte sie sich nicht.
MMag. Dr. Hannelore Sexl, geboren 1939 in Wien, Studium der Mathematik, Physik und Philosophie in Wien, Dissertation bei W.Thirring (Elementarteilchenphysik), Forschungsaufenthalte u.a. in Genf (CERN), Washington D.C. (NASA). Gastvorlesungen: Bern, Universität München, Gießen, Erlangen, TU Berlin, Rom, Paris, ETH Zürich u.a. Seit 2008 Mitglied des Universitätsrats der Technischen Universität Wien. Als Mitglied der Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für die Geschichte der Naturwissenschaften, Mathematik und Medizin beschäftigt Lore Sexl sich vor allem mit Radioaktivität und Kernphysik, organisiert Vortragsveranstaltungen und Ausstellungen und entwickelt Schulprojekte, in deren Rahmen naturwissenschaftliche Themen fächerübergreifend für Schüler aufbereitet werden.
[…] ich fühle beinahe täglich mit Dankbarkeit, wieviel ich an Gutem und Schönem von zuhaus mitbekommen habe. Letzten Endes ist es noch heute der Boden, auf dem ich stehe […].[1]
Mitten in die Regierungszeit Kaiser Franz Josephs hinein wird Elise Meitner am 17. November 1878 als drittes von acht Kindern des Hof- und Gerichtsadvokaten Philipp Meitner und seiner Frau Hedwig, geb. Skovran, in Wien geboren. Durch das Versehen eines Beamten, ungefähr zehn Jahre später, der bei Elise Meitners Geburtsdatum die Ziffer 1 vergisst, wird der 7. November 1878 zu ihrem amtlichen Geburtstag. An diesem Tag wurde elf Jahre früher die Entdeckerin des Radiums, Marie Curie-Sklodowska, geboren.
Lise Meitner wächst in einem liberalen, intellektuellen, von Musik und Kultur geprägten Elternhaus auf. Zeit ihres Lebens ist ihre Bindung an die Familie innig und stark. Noch im hohen Alter erinnert sie sich immer wieder an die ungewöhnliche Güte, die sie von ihren Eltern erfahren hat, und ist dankbar für die außergewöhnlich stimulierende intellektuelle Atmosphäre, in der sie und ihre Schwestern und Brüder aufwuchsen.[2]
Die Vorfahren von Lise Meitners Vater, Dr. Philipp Meitner, stammen aus dem mährischen Dorf Meiethein.[3] Als im 18. Jahrhundert unter Kaiser Joseph II. für alle Bürger der österreichisch-ungarischen Monarchie das Führen von Familiennamen angeordnet wird, nennen sich die Ururgroßeltern Lise Meitners «Meietheiner», das allmählich zu «Meitheiner» dann zu «Meithner» und schließlich zu «Meitner» wird. Der Großvater väterlicherseits, Moriz Meitner, genannt Reb Meitner (1803/04–1872/73), heiratet um 1835 Charlotte Löwy, geb. Kohn (1811–1896). Die junge Witwe mit zwei kleinen Söhnen besitzt eine Landwirtschaft mit kleinem Grundbesitz in Woechowitz, einem kleinen Ort in der Nähe von Mährisch-Weisskirchen, wo um 1840 Philipp Meitner geboren wird. Noch im Jahre 1915 gibt Lise Meitner auf ihrem Meldezettel als «Ursprungsland» Woechowitz in Mähren an, obwohl sie in Wien geboren ist.[4]
Gisela Lion, die ältere Schwester Lise Meitners, beschreibt die Großmutter Charlotte als diszipliniert, selbstbewusst, heiter und elegant. Den Großvater Moriz Meitner schildert sie als edlen, großzügigen Mann, der jeden Freitag vor den Türen der armen Juden im Dorf einen Laib Brot niederlegt. Er tut dies nach Einbruch der Dunkelheit, weil er nicht gesehen werden will.[5]
Die Großeltern mütterlicherseits stammen aus der Slowakei. Der Großvater Bernhard Skovran (1821–1872) wandert aus Russland in die Slowakei ein und heiratet um 1843 die dort geborene Julie Reinitz (um 1825–1909). Ihr jüngstes Kind ist Hedwig (1850–1924), die Mutter Lise Meitners. Sie ist ein besonders aufgewecktes und intelligentes Kind, das bereits mit fünf Jahren von einem Hauslehrer Lesen und Schreiben lernt. Kindheit und Jugend verbringt sie in Wien, wo ihr wohlhabender Vater zwei Häuser besitzt. Bernhard Skovran ist Heereslieferant für Gewehre und handelt mit Rebstöcken für Tokajer Wein.[6] Hedwig, das Lieblingskind des Vaters, macht bereits in jungen Jahren die Buchhaltung. Sie leidet allerdings unter der unglücklichen Ehe ihrer Eltern. In späteren Jahren erinnert sich Lise Meitners Mutter nur ungern an ihre Jugend und spricht mit ihren Kindern nicht viel über diese Zeit. «Die guten Tage kamen erst mit Papa»[7], berichtet ihre Tochter Gisela später. Sie beschreibt ihre Mutter als übermütigen, glücklichen und reiselustigen Menschen: «Sie trug vormittags kleine weiße Spitzenhäubchen mit bunten Maschen und schöne helle Kleider mit dem Schlüsselbund am Gürtel […]. Es gab immer ein großes Hallo von uns Kindern, wenn Vater die Mutter auf den Arm nahm und in der ganzen Wohnung herumtrug, wobei wir um sie herumsprangen. […] Mutter war mit allem, was sie zu tragen hatte, eine glückliche Frau.»[8]
Über die Jugend des Vaters Philipp Meitner ist weniger bekannt. Von Kindheit an träumt er davon, dass der Mensch imstande sei zu fliegen. «Ich bin fest überzeugt, daß die Menschen einmal fliegen werden», sagt er immer wieder zu seinen Kindern. Den ersten Schauflug in Wien 1908 verfolgt er mit Tränen in den Augen.[9]
Lise Meitners Vater gehört zu den ersten Studenten jüdischer Abstammung, die an der Wiener Universität studieren und promovieren dürfen. Im Dezember 1862 erhält «Philipp Meitner aus Woechowitz stammend» das Recht, an der «Facultatis juridico-politicae» der Universität Wien zu studieren.[10] Philipp Meitner ist Freidenker, liberal, tolerant und aufgeschlossen für alle religiösen, philosophischen und politischen Zeitströmungen.[11] Er ist ein brillanter und leidenschaftlicher Schachspieler, zu seinen Partnern gehören auch Mitglieder des Kaiserhauses.
Im Jahr 1875 heiraten Dr. Philipp Meitner und Hedwig Skrovan. Im selben Jahr eröffnet Philipp Meitner eine Kanzlei nahe dem Prater in der Kaiser-Franz-Joseph-Straße 27 (heute Heinestraße 27). Hier in der Leopoldstadt leben viele bürgerliche, assimilierte jüdische Familien. Die Wohnung der Meitners ist der Kanzlei angeschlossen. Innerhalb von etwas mehr als zwei Jahren kommen hier die Töchter Gisela (1876), Auguste (1877) und Elise (1878) zur Welt. Gisela, genannt Illa, und Auguste, genannt Gustl, erhalten die Namen ihrer Urgroßmütter väterlicherseits, Gelle Meitner und Gitl Kohn. Zwei Jahre nach Lises Geburt wird der erste Sohn Moriz (Fritz) geboren. In den folgenden zehn Jahren folgen noch die Töchter Carola (Lola) und Frida und die Söhne Max und Walter.
Gisela Lion-Meitner erinnert sich später an die gemeinsam verbrachte Kinderzeit, irrt sich allerdings bei der Angabe der Wohnungsadresse: «Wir wohnten damals im Lloydhof in der Praterstrasse […]. In unserem Kinderzimmer standen zwei braune Kinderbetten mit grünen Netzen; eines dieser Betten hatte eine ‹Lade›, die am Abend herausgezogen wurde. In dieser Lade schlief Lise […]. Das Kinderzimmer ging in den Hof und hatte niemals Sonne, aber die Kanzleizimmerfenster sahen auf den Platz, wo jetzt die Fruchtbörse steht und hatten Abendsonne. In diese Zimmer gingen wir nach Kanzleischluß hinein und sahen die bunten Farben, die die Sonne aus den Glasprismen des Lusters zauberte; für uns war es zauberhaft, wie die Farbflecke sich an der Wand bewegten.»[12]
Wie ihre Geschwister wird auch Lise Meitner in das Geburtsbuch der israelitischen Kultusgemeinde eingetragen.[13] Trotzdem erziehen die Meitners ihre Kinder nicht im angestammten jüdischen, sondern wie viele assimilierte Juden des gehobenen Bürgertums im protestantischen Glauben. Lise Meitner und ihre Geschwister besuchen den evangelischen Religionsunterricht. Als Dreißigjährige tritt Lise Meitner am 29. September 1908 aus der israelitischen Kultusgemeinde aus[14] und lässt sich am selben Tag evangelisch taufen.[15] Im selben Jahr konvertieren ihre Schwestern Gisela und Carola zum Katholizismus.[16]
Philipp Meitner beschäftigt sich intensiv mit den vier älteren Kindern. «Bei den jüngeren haben leider Lise und ich uns erziehlich eingedrängt und obwohl es in bester Absicht geschah, wurden hiedurch die Eltern und die Kinder verkürzt»[17], schreibt später Gisela Lion-Meitner über diese Zeit. Der Vater unterrichtet seine Kinder selbst in Englisch, Französisch und Latein und überwacht das Klavierspiel, vor allem der drei älteren Töchter. Zweimal in der Woche kommt ein Klavierlehrer ins Haus. Gustl ist die begabteste; sie darf als erstes Mädchen mit besonderer Genehmigung die «Compositionsschule» am Wiener Konservatorium besuchen.[18] Aber auch Gisela und Lise werden gute Pianistinnen. Philipp Meitner besteht darauf, dass nicht nur seine Söhne, sondern auch die Töchter eine Berufsausbildung erhalten. Gisela wird Ärztin, Auguste Pianistin und Komponistin, Frida Mathematikerin. Von Carola Meitner ist nur bekannt, dass sie «Künstlerin» war.
Auch in gesundheitlichen Fragen denkt Philipp Meitner fortschrittlich; so setzt er zur Behandlung von fiebrigen Erkrankungen seiner Kinder das damals noch selten gebräuchliche Chinin ein. Die Töchter der Familie Meitner gehören auf Wunsch des Vaters zu den ersten Mädchen in Wien, die meistens «ungeschnürt» sind, also kein Mieder tragen. Zu dieser Zeit ist es noch üblich, dass Mädchen aus dem Bürgertum von dreizehn Jahren an eine geschnürte Taille tragen.[19]
Philipp Meitner konfrontiert seine Kinder von früher Jugend an mit dem politischen Geschehen. Lise Meitner bewahrt dieses ausgeprägte politische Interesse ihr Leben lang. Mein bewusstes Erleben verdanke ich vorallem meinem politisch sehr interessierten Vater, […] der mir schon als junges Mädchen die grosse Bedeutung politischer Probleme klar zu machen versucht hat.[20] Als Erwachsene bedauert sie immer wieder, dass ihr historischer Schulunterricht sehr dürftig war. Bei uns endete das 19. Jahrhundert mehr oder weniger mit dem Wiener Kongreß. Was darüber war, war von Übel.[21]
In der Familie und unter den Geschwistern spielt Lise Meitner eine besondere Rolle. Sie ist die kleinste und zarteste; ihr Spitzname ist «Wutzerl», was im Wienerischen «ein winziges Stückchen» bedeutet.[22] Lise fühlt sich den Schwestern nicht nur wegen ihrer geringen Größe, sondern auch an Schlagfertigkeit und Witz unterlegen.[23] Sie ist dagegen die intellektuellste, belesenste und vielleicht auch die schwierigste unter den Geschwistern. «Lise war in einer speziellen Art ein für die Mutter schwer erziehbares Kind. Sie war die einzige von uns, die die Mutter zu Jähzorn und Schlägen hinreißen lassen konnte»[24], berichtet später Gisela Lion-Meitner. Lise Meitner schreibt mit 77 Jahren über ihre Volksschulzeit: Ich erinnere mich selbst sehr genau an meinen vergeblichen Kampf mit Tintenflecken, die ein richtiger Kummer für meine Eltern waren und sie fast zu der Überzeugung brachten, ich sei ein ganz hoffnungsloses Kind. Von den alten Lehrern […] habe ich noch den Namen Frau Scheel im Gedächtnis und eine dunkle Ahnung, dass ich sie nicht gerade gern gehabt habe.[25]
Schon als Mädchen ist Lise Meitner kritisch und stellt an sich und ihre Umwelt hohe Ansprüche. Von Kindheit an interessiert sie sich für mathematische und naturwissenschaftliche Probleme.[26] So denkt sie darüber nach, wie die Farben eines Ölflecks auf Wasser zustande kommen.[27]Ich habe schon als Kind eine sehr ausgesprochene Neigung für Mathematik und Physik gehabt[28], schreibt sie im Alter an eine Schulkollegin. Ihre Schwester Frida erzählt in einem Radiointerview, dass die achtjährige Lise mit ihrem Mathematikbuch unter dem Kopfkissen geschlafen hat.[29] Allerdings ist Lise für praktische Arbeiten wenig begabt und versucht sich, wenn möglich, vor Hausarbeiten zu drücken. Ihre Geschwister kommentieren häufig: «Das kann die Lise nicht, das steht nicht im Physikbüchl.»[30]
Das Jahreszeugnis vom ersten Jahr der Bürgerschule in Wien 1889/90 zeigt die Interessen und Begabungen der Elfjährigen.[31] Während Lise in allen acht Wissensfächern wie Unterrichtssprache in Verbindung mit Geschäftsaufsätzen, Geographie und Geschichte, Naturlehre, Rechnen, Geometrie und Französisch mit der Note «sehr gut» beurteilt wird, erreicht sie in «weiblichen Handarbeiten», Schönschreiben und Freihandzeichnen nur die Note «genügend», also die schlechtest mögliche positive Note. Lise Meitners sittliches Betragen ist nur «entsprechend» und nicht «vollkommen entsprechend», wie man es von einem Mädchen aus bürgerlichem Hause erwarten würde. Offenbar ist sie zu dieser Zeit noch nicht so schüchtern, wie sie später beschrieben wird. Die Note für Fleiß ist nur «befriedigend». Lise Meitner arbeitet nur dann ausdauernd und fleißig, wenn sie sich wirklich für eine Sache interessiert.
Ein Geburtstagsgedicht für ihre Eltern, in dem die damals ungefähr Dreizehnjährige über sich selbst berichtet, spiegelt die Erziehung der Eltern Meitner, aber auch Lises eigene Einstellung.
Die Arbeitslust, die Consequenz, der Wille
Zu End zu führen, was ich unternommen
Und viel zu leisten in der Stille,
Sind Gaben, die ich von Mama bekommen.
Es lehrte mich Papa das Wort,
den mütterlichen Schatz zu heben
Zu rechter Zeit, am rechten Ort
Und nach den rechten Dingen streben.
Es zeigte mir wie hohl und morsch die Schranken
in die das Vorurteil uns eingeengt,
Papa gab mir die Freiheit der Gedanken
Die Lust zur Wissenschaft, und hat mich ihr geschenkt.[32]
Philipp Meitner führt seine Kinder in das reiche kulturelle Leben der Stadt ein und unternimmt mit ihnen Wanderungen in die Umgebung Wiens. «Vater nahm uns mit auf Spaziergänge und zeigte uns den Albrechts- und Donnerbrunnen, den alten Universitätsplatz und die Ofenlochgasse. Er nahm uns mit in die Oper und in die Museen, ins Theater an der Wien und zum Wettrennen. Wir kannten die besten Pferde und Jockeys bei Namen und die Farben der Rennstallbesitzer.»[33]
Auf Spaziergängen mit dem Kindermädchen beobachten die Geschwister das Exerzieren der Rekruten auf dem Wiener Radetzkyplatz; sie sehen Kaiserin Elisabeth auf der Praterbrücke ganz in ihrer Nähe in einer Kutsche vorbeifahren. Von einem Fenster ihrer Wohnung aus beobachten sie im Jahr 1881 den Brand des Ringtheaters. Mit den Kindern der Familie Hofmannsthal, Verwandten des Dichters, die im selben Haus in der Kaiser-Franz-Joseph-Straße wohnt, tauschen sie regelmäßig Muscheln und Perlmutterknöpfe aus, die in kleinen an Schnüren aufgehängten Säckchen von Fenster zu Fenster transportiert werden.[34] Mehr als zwanzig Jahre später wird Lise Meitner diese Methode am Kaiser-Wilhelm-Institut anwenden; auf ihre Anordnung hin werden radioaktive Präparate in kleinen Säckchen vor dem Fenster aufgehängt, um die Kontamination der Laborräume zu verhindern.
In den Jahren vor der Jahrhundertwende legen Lise Meitners Elternhaus und die von ihm ausgehenden Anregungen den Grundstock für ihre enge Verbundenheit mit Wien. Als sie 1950 nach den Jahren der Emigration zum ersten Mal wieder nach Wien kommt, schreibt sie: Ich bin durch Wien wie in einem Traumzustand gegangen; meine ganze frohe Jugend ist in mir so lebendig geworden, dass daneben alle die schweren Jahre, die jeder von uns erlebt hat, sehr in den Hintergrund traten. Ich bin wirklich seit Jahren nicht mehr so froh gewesen, wie in diesen Tagen in Wien.[35]
Ihr Leben lang bleibt Lise Meitner Österreicherin. Im Mai 1922, als sie bereits fünfzehn Jahre in Berlin gelebt hat, zahlt sie 60000 Kronen für ihre «Heimatrechttaxe» an den Magistrat der Stadt Wien, um österreichische Staatsbürgerin zu bleiben.[36] Die schwedische Staatsbürgerschaft nimmt sie im Jahr 1950 erst an, als sie sicher ist, die österreichische behalten zu können.[37]
Lise Meitner schließt die Bürgerschule am 15. Juli 1892 ab. Ihr Jahreszeugnis trägt den Vermerk «Entlassungszeugnis».[39] Damit ist die Schulbildung der noch nicht Vierzehnjährigen abgeschlossen. Doch Lise will unbedingt weiterlernen.
Ich war seit meinem 13. Jahr von dem Wunsch besessen, mich zur Gymnasial Matura vorzubereiten, um Mathematik und Physik zu studieren, was nicht die Zustimmung meiner Eltern fand, vermutlich weil sie nicht an die Ernsthaftigkeit meines Wunsches glaubten.[40]
Der Philosoph und Arzt Leo Frischauer, Ehemann ihrer Schwester Frida, berichtet über diese Phase: «Lises Vater wollte nicht, dass sie studiere. Er hielt sie für zu fragil und hatte im Sinn, sie Pianistin werden zu lassen. Deshalb kontrollierte er streng, dass die Lichter in ihrem Zimmer nach dem Schlafengehen ausgelöscht werden. Aber er rechnete nicht mit der Lernbegier und Einfallskraft Lises. Sie legte sich monatelang nachts mit ihren Büchern unter einen Teppich, eine elektrische Birne an einer langen Schnur gab ihr genug Licht zu studieren, ohne dass man einen Schein von aussen wahrnehmen konnte.»[41]
Die Schulpflicht in Österreich beträgt damals acht Jahre, in der Großstadt fünf Jahre Volksschule und drei Jahre Bürgerschule. Knaben können statt der Bürgerschule für acht Jahre ein Gymnasium besuchen. Mädchen haben nur die Möglichkeit, Privatgymnasien ohne Öffentlichkeitsrecht zu besuchen, das heißt, die Prüfungen werden nicht für ein Universitätsstudium anerkannt.
Schließlich gelingt es Lise Meitner doch, ihren Vater von der Ernsthaftigkeit ihres Studien-Wunsches zu überzeugen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen sie und ihre ebenfalls studierwillige Schwester Gisela die Externistenmatura ablegen. Das bedeutet Vorbereitung durch teure, von den Eltern finanzierte Privatstunden. Als anerkannte Naturwissenschaftlerin erinnert sie sich mit 72 Jahren: Wenn man an die Zeit vor mehr als 50 Jahren – meine Jugendzeit – zurückdenkt, so stellt man mit einem gewissen Erstaunen fest, wie viele Probleme es damals im Leben bürgerlicher junger Mädchen gab, die jetzt so völlig verschwunden sind, daß sie heute fast unvorstellbar erscheinen. Zu den schwierigsten dieser Probleme gehörte die Möglichkeit einer normalen geistigen Ausbildung.[42]
Wie sehr sich Lise Meitner mit diesen Problemen in ihrer Jugend auseinander setzte, zeigt ihre Erinnerung an einen Brief, den die Achtzehnjährige an ein gleichaltriges Mädchen schrieb: Ich hatte das Mädchen zufällig in einer größeren Gesellschaft kennen gelernt u. wünschte ihr nahe zu kommen. […] Sie litt unter ständigem geistigen Hunger, ihre sehr reaktionären Eltern (wie ich heute glaube, nicht wirklich gebildet) vertraten sehr energisch die Auffassung, ein anständiges bürgerliches Mädchen habe zuhause zu sitzen und nähen und kochen zu lernen. […] So setzte ich mich hin und schrieb ihr einen Brief über «Maria Magdalena» von Hebbel, die ich gerade gelesen und die mir einen sehr starken Eindruck gemacht hatte. […] Ich habe noch heute die Worte des Vaters der Maria Magdalena, der Tischler ist, in warnender Erinnerung. «Ich hoble mir wohl die Bretter zurecht mit meinem Eisen, aber nie die Menschen mit meinen Gedanken».[43]
Die Ausbildung der um zwei Jahre älteren, dynamischen Schwester Gisela hat allerdings Vorrang; sie macht 1899 die Externistenmatura und beginnt 1900 mit dem Medizinstudium. Gustl, ein Jahr älter als Lise, erhält eine Ausbildung zur Komponistin und Pianistin. Auf Drängen ihrer Eltern überbrückt Lise die Zeit bis zum Studium mit einer Ausbildung zur Französischlehrerin an einer «Höheren Töchterschule». Um die Studien der beiden älteren Schwestern finanziell zu unterstützen, gibt sie Privatstunden.[44]
Zwischen ihrem vierzehnten und zwanzigsten Lebensjahr liest Lise Meitner vorwiegend deutschsprachige und französische Literatur, die sie in der reichhaltigen Bibliothek ihrer Eltern findet. Eine meiner frühesten Jugenderinnerungen ist eine vollständige französische Ausgabe von Rousseaus Werken in hellgrünem Einband, die mein Vater zu lesen pflegte. Später, als ich auf Umwegen zum Physikstudium u.a. auch [die] französische Staatsprüfung gemacht habe, habe ich auch etwas von Rousseau gelesen.[45]
In ihrer Freizeit arbeitet sie bei verschiedenen sozialen Hilfsorganisationen und bereitet sich selbständig, ohne Wissen ihrer Eltern, auf die Matura vor. Eine Freundin übernimmt Lises Pflicht, den dreizehn Jahre jüngeren Bruder Walter von der Schule abzuholen, damit sie Zeit zum Lernen gewinnt.[46]
In dieser Zeit verändert sich das Weltbild der Naturwissenschaften tiefgreifend. 1895, als Lise Meitner achtzehn Jahre alt ist, revolutioniert die Entdeckung der Röntgenstrahlen die Medizin. Ein Jahr später findet Henri Becquerel in Paris eine durchdringende Strahlung, die von Uranerzen ausgeht. 1898 entdecken Marie Curie-Sklodowska und Pierre Curie die radioaktiven Elemente Polonium und Radium. Die Entdeckung der spontanen Strahlung schwerer Elemente wie Uran, Thorium, Radium und Polonium, die Marie Curie als «Radioaktivität» bezeichnet, fasziniert die Wissenschaftler: Die alten Vorstellungen von der Unveränderlichkeit der Atome sind damit ungültig geworden. Ernest Rutherford und Frederick Soddy erkennen 1903, dass Atome nicht stabil sind, sondern durch Strahlung in andere Atome übergehen können. Die Suche nach neuen radioaktiven Elementen setzt ein, viele Fragen sind noch zu beantworten. Auch Lise Meitner wird sich in ihren wissenschaftlichen Arbeiten an der Aufklärung der inneren Struktur der Atome beteiligen.
Obwohl ihr bewusst ist, dass sie wertvolle Jahre verliert[47], weiß Lise Meitner, dass andere Mädchen wesentlich größere Schwierigkeiten überwinden mussten, um studieren zu können. Dazu kam, dass viele Eltern die Vorurteile der damaligen Zeit gegen eine solche Ausbildung der Mädchen teilten, so dass deren Töchter entweder auf die von ihnen gewünschte Ausbildung verzichten oder sie erkämpfen mussten. […] Ich selbst hatte mit keinerlei derartigen Schwierigkeiten zu kämpfen. Aber ich hatte das Gefühl, dass anfangs, als erst meine ältere Schwester und dann ich [1901] die Matura ablegten, meine Mutter sich dadurch innerlich etwas bedrückt fühlte; nur war sie eine viel zu liebevolle Mutter, um es irgendwie zu äussern.[48]
Im Alter von zwanzig Jahren erhält sie endlich die ersehnten, von den Eltern finanzierten Privatstunden, um sich auf die Externistenmatura vorzubereiten. Ein junger Lektor am physikalischen Institut der Universität Wien, Arthur Szarvassi[49], unterrichtet Lise Meitner und drei andere Mädchen in Mathematik, Physik und Chemie.[50]