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Ein ungewöhnlicher Ermittler aus Hamburg trifft auf die sonnenverwöhnte Algarve – Leander Losts erster Fall in Portugal. Das Septemberlicht an der Algarve ist von betörender Schönheit. Am Flughafen von Faro nehmen Sub-Inspektorin Rosado und ihr Kollege Esteves einen schlaksigen Kerl in schwarzem Anzug und mit schmaler Lederkrawatte in Empfang: Leander Lost, Kriminalkommissar aus Hamburg, für ein Jahr in Diensten der Polícia Judiciária. Eine Teambildung der besonderen Art beginnt, als die portugiesischen Sub-Inspektoren feststellen müssen, dass ihr neuer Kollege aus Deutschland nicht nur merkwürdig gekleidet ist, sondern sich auch merkwürdig verhält. Erst langsam kommen sie dem Mörder eines Privatdetektivs auf die Spur, sowie der Tatsache, dass Leander Losts Merkwürdigkeiten dem Asperger-Syndrom geschuldet sind – und dass seine besonderen Fähigkeiten äußerst hilfreich sind bei der Lösung des Falls um die schmutzigen Machenschaften eines Wasserversorgers an der atlantischen Küste Portugals. Mit genauem Gespür für Spannung, Humor und Lokalkolorit sowie einem Sinn für psychologische Details hat Gil Ribeiro einen Cosy Crime geschaffen, der mit seinem ungewöhnlichen Ermittler Leander Lost die Herzen der Krimi-Leser im Sturm erobert. »Lost in Fuseta« ist der Auftakt zu einer Krimireihe, die Lust auf einen Urlaub an der sonnenverwöhnten Algarve macht.
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Seitenzahl: 452
Gil Ribeiro
Ein Portugal-Krimi
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Gil Ribeiro, geboren 1965 in Hamburg, landete 1988 während einer Interrail-Reise quer durch Europa nur dank eines glücklichen Zufalls an der Algarve und verliebte sich umgehend in die Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Portugiesen. Seitdem zieht es ihn immer wieder in das kleine Städtchen Fuseta an der Ostalgarve, wo ihm die Idee zu »Lost in Fuseta« kam.
In seinem deutschen Leben ist Gil Ribeiro alias Holger Karsten Schmidt seit vielen Jahren einer der erfolgreichsten Drehbuchautoren Deutschlands. 2010 waren drei Filme für den Adolf-Grimme-Preis nominiert, zu denen Schmidt das Drehbuch geschrieben hatte; für »Mörder auf Amrum« erhielt er die Auszeichnung. Für »Mord in Eberswalde« erhielt er 2013 den deutschen Fernsehkrimipreis sowie 2014 erneut den Grimme-Preis. 2011 erschien sein Mittelalter-Thriller »Isenhart« bei Kiepenheuer & Witsch. Für »Auf kurze Distanz«, seinen ersten Kriminalroman, erhielt er 2016 den renommierten Burgdorfer Krimipreis.
Holger Karsten Schmidt lebt und arbeitet in Asperg.
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Das Septemberlicht an der Algarve ist von betörender Weichheit. Am Flughafen von Faro nehmen Sub-Inspektorin Rosado und ihr Kollege Esteves einen schlaksigen Kerl in schwarzem Anzug in Empfang: Leander Lost, Kriminalkommissar aus Hamburg, für ein Jahr in Diensten der Polícia Judiciária. Eine Teambildung der besonderen Art beginnt.
»Lasst uns die Besten austauschen« – so stand es in der Broschüre von Europol. Doch schon bald gibt der merkwürdig gekleidete Lost seinen portugiesischen Kollegen aus dem Küstenstädtchen Fuseta Rätsel auf: Warum spricht er schon nach drei Wochen Sprachkurs fließend Portugiesisch – und versteht dennoch keinen ihrer Witze? Warum starrt er die Menschen so komisch an – und ist dennoch von so rührend-altmodischer Höflichkeit?
Auf der schwierigen Suche nach dem Mörder eines Privatdetektivs, der mit seinem Boot auf einer vorgelagerten Atlantikinsel gestrandet ist, kommt das Trio nicht nur langsam den schmutzigen Geschäften eines Unternehmens auf die Spur, das die Wasserversorgung an der Algarve übernommen hat. Auch die vermeintlichen Defizite und Inselbegabungen des deutschen Kommissars entpuppen sich immer mehr als kriminalistischer Gewinn. Und Leander Lost erfährt im Laufe der Ermittlungen zum ersten Mal in seinem Leben, was es heißt, Teil eines Teams zu sein. Zumal Soraia, die hübsche und lebenskluge Schwester von Sub-Inspektorin Rosado, ein ausgeprägtes Interesse an ihm entwickelt …
Der brillante Beginn einer Krimireihe um einen deutschen Kommissar in Portugal – spannend, atmosphärisch dicht, warmherzig und mit feinem Humor.
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Widmung
Motto
Tag Eins
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
Tag Zwei
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
Tag Drei
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Tag Vier
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
Tag Fünf
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
Tag Sechs
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
Tag Sieben
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
Dank an
Über diesen Roman
Für Ira
Lesen heißt durch fremde Hand träumen.
– Fernando Pessoa –
Es war einer dieser Tage, der so verheißungsvoll begonnen hatte, dass man fürchtete, es müsse zwangsläufig etwas dazwischenkommen. Das Thermometer zeigte 28 Grad, klarer Himmel über Faro. Und es war der 14. September. Seit dem Wochenende waren die Schulferien in England, Deutschland und den Niederlanden zu Ende, was den Flugverkehr auf die Hälfte drosselte und die Strände an der Algarve, Portugals Südküste, leer fegte.
Das Licht im September wurde anders. Weicher.
An diesem Tag, den einige Bewohner von Fuseta, einem kleinen Fischerdorf an der Ostalgarve, noch am gleichen Abend den Schwarzen Mittwoch nennen sollten, kam großes Wehklagen über den Ort. Obwohl Portugiesen ohnehin zum Pessimismus neigen, was sich bereits mit der Erschaffung eines eigenen Wortes für diese nationale Trübsal manifestiert – die Saudade –, traf es Fuseta heute besonders hart. Denn heute verließ Rui Aviola die Bewohner des kleinen Fischerdorfes für ein Jahr.
Rui Aviola war Polizist der GNR, der Guarda Nacional Republicana, was etwas größer und aufregender klang als der Dienstalltag einzulösen in der Lage war. Denn die GNR war für alle Kleinigkeiten zuständig, die sich außerhalb der Ortschaften abspielten. Also für entlaufene Katzen und entlaufene Ehemänner, wie man auf den Fluren der Kripo im Regierungspräsidium in Faro frotzelte, wo man sich um erschlagene Katzen und erschlagene Ehemänner kümmerte.
Rui Aviola jedenfalls wurde den Deutschen in Hamburg im Zuge eines Austauschprogrammes für zwölf Monate ausgeliehen. Und in diesen zwölf Monaten konnte eine Menge passieren, darüber war man sich in den Bars von Fuseta einig: Vielleicht würde er im Dienst sterben oder – viel schlimmer – würde dort eine hübsche deutsche Frau treffen, die man sich in dem Fischerdorf vorstellte wie einen blonden, betuchten Roboter, würde Vater werden und in Deutschland bleiben.
»Das hat sich doch irgendein Schreibtischlöwe bei Europol ausgedacht, als er Langeweile hatte«, sagte Carlos Esteves, der auf dem Beifahrersitz des zivilen Polizeiwagens saß und dem der Schweiß den Nacken und von dort die Wirbelsäule herunterlief. Carlos war Sub-Inspektor der Polícia Judiciária, der portugiesischen Kriminalpolizei. Was man ihm nicht sofort ansah: Er trug Shorts, Espadrilles und ein weites hellblaues Hemd. Eine Ray-Ban mit schmalen Gläsern hatte er sich ins halblange Haar geschoben. Er war 38 Jahre alt und ein großer, massiger Kerl, der es erfolgreich vermied, sich schnell bewegen zu müssen.
Carlos sog am Strohhalm einer Diet Coke, während die Straße zum Flughafen an ihnen vorbeijagte. Graciana Rosado, die zierliche Kriminalkommissarin, schaltete kurz die Sirene ein, weil vor ihnen eine Touristenfamilie aus Frankreich in einem altersschwachen Citroën vor sich hin bummelte. Auf dessen Rückbank drängelten sich drei Kinder und ein Golden Retriever. Graciana trat das Gaspedal bis zum Bodenblech durch.
Carlos kannte niemanden, der so sehr in seiner Mitte ruhte wie seine Kollegin. Aber in ihrem Auto, einem dunklen Volvo Kombi, wurde Graciana zu einer Rallye-Fahrerin. Ihr Freund João, der Journalist, hielt sich immer an der Tür fest, wie Carlos beobachtet hatte.
Graciana Rosado, die ihr dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz gebändigt hatte und zu Jeans und Bluse ein dünnes Jackett trug, um die Dienstwaffe zu verbergen, hatte man wegen ihrer 162 Zentimeter Körpergröße den Beinamen Piaf verpasst. Genauer gesagt ihr beruflicher Ziehvater Raul da Silva vom Kommissariat I in Faro, weil sie nicht nur so klein war, sondern auch eine ähnlich schnarrende Stimme besaß wie Edith Piaf – aber leider nicht ihr Gesangstalent. Mit Ausnahme von Raul da Silva benutzten die Kollegen den Spitznamen allerdings nur, wenn Graciana Rosado sich nicht in Hörweite befand.
»Hattest du eigentlich mal was mit Rui?«, fragte Carlos.
Graciana warf ihm einen prüfenden Blick zu. Nur kurz, weil sie gerade dicht auf ein holländisches Wohnwagengespann auffuhr.
»Soll das ein Witz sein?«
Im Gegensatz zu ihr war Carlos nicht gebunden, er hatte keine Frau, jedenfalls nicht immer dieselbe, wie er es ausdrückte. Er breitete in einer Unschuldsgeste die Unterarme auseinander: »Wäre ja kein Verbrechen.«
Graciana seufzte. Das wäre es in der Tat nicht gewesen. In der Zeit, als sie João gerade erst kennenlernte, wäre es eines Abends fast passiert. Draußen, in den Dünen der Ria Formosa, in der Dämmerung. Alleine die Erinnerung daran war immer noch für einen Schauer gut.
Denn Rui Aviola sah aus, als hätte ihn Michelangelo höchstpersönlich modelliert. Ein Körper zum Niederknien, tiefblaue Augen, das Gesicht von dunklen Locken umrahmt. Rui war der Inbegriff eines Kerls. Er trug jene markige Selbstverständlichkeit durch die Gegend, die ihn von einer Laufstegschönheit unterschied. Und er bildete sich nichts darauf ein. In Fuseta galt er als dreifaches Ideal: als Liebhaber, Schwiegersohn und Vater. Lediglich der matte Glanz der Augen war der gesamten Erscheinung etwas abträglich.
Graciana hätte sich möglicherweise verführen lassen an jenem Abend unten in der Hafenbar Farol, die in einem achteckigen, mit dunklem Holz verschalten Gebäude mit zwei Eingängen untergebracht war und vor der die Gäste nachts, selbst noch im Dezember, draußen saßen und auf die bunten Fischerboote schauten, die nur zehn Meter entfernt an der kleinen Hafenmauer vor Anker lagen und sanft im Wasser schaukelten.
Sie hatte etwas getrunken, Rui hatte ihr schon zwei oder drei Medronhos bestellt. Die Früchte des Erdbeerbaums, der ausschließlich hier an der Algarve weiter nördlich im Hinterland wuchs, wurden von den Bauern per Hand gepflückt und später zu Schnaps destilliert. Das Schwarzbrennen war eigentlich verboten, aber es hatte in Portugal eine lange Tradition. Und so sah die GNR davon ab, das Treiben der Bauern zu unterbinden.
Die Medronhos, die Rui Aviola an jenem Abend ausgegeben hatte, hatten ihn noch attraktiver und unwiderstehlicher wirken lassen, aber Carlos, dem Aviolas Absicht und Gracianas Zustand nicht verborgen geblieben war, hatte sie wortlos untergehakt und nach Hause geleitet, nur fünfhundert Meter weiter in die Virgílo Inglês No. 5, eine Fußgängerzone, deren Pflastersteine durch achtzig Jahre Benutzung so abgewetzt waren, dass die Kinder barfuß darauf spielten.
Manchmal – in jenem Zustand, bevor einen der Schlaf ganz zu sich holt – bedauerte Graciana, dass Carlos an jenem Abend Ruis Absichten durchkreuzt hatte.
»Rui, Rui!«
Junge Frauen zwischen vierzehn und sechzig hatten sich am Gate versammelt, um Rui Aviola zu verabschieden, den zum Flughafen in Faro zu fahren sich die Kolleginnen von der GNR nicht hatten nehmen lassen. Mit einer engen Jeans und einem lässig aufgeknöpften Hemd über der braun gebrannten Brust nahm er das Handgepäck vom Kontrollband und schickte ihnen einen Handkuss zu. Graciana und Carlos, der sich schnell ein Sandwich besorgt hatte, standen etwas abseits – aber auch sie wurden von Rui mit einem Winken bedacht, bevor er um die Ecke bog und verschwunden war.
Für ein Jahr. Im Europol-Austauschprogramm, das ihnen in Fuseta einen Deutschen aus Hamburg zuschanzte.
Der beste Mann. Das war der Untertitel des Flyers.
Wir wollen voneinander lernen. Lasst uns die Besten austauschen.
Böse Zungen behaupteten, die Initiatorin dieses Programms, eine Frau Kiefer bei Europol, habe sich diese Initiative ausgedacht, um ihre eigene Planstelle zu retten, die angeblich kurz vor der Streichung gestanden hatte. Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in eigener Sache.
Wie auch immer: Das Programm lief seit sechs Monaten. Lissabon hatte eine lebenslustige Kommissarin aus Ungarn bekommen, Porto einen Kollegen aus Edinburgh. Nun war Faro an der Reihe. Man erhoffte sich davon, gerade bei jenen Polizeieinheiten die Skepsis vor einer europäischen Polizeibehörde abzubauen, die den Folgen eines solchen Schrittes zwangsläufig als erste ausgesetzt sein würden.
Und ausgerechnet Rui hatte sich freiwillig für dieses Programm gemeldet.
»Warum denn das?«, hatte Carlos ihn kopfschüttelnd gefragt. »Da ist es kalt. Da sind lauter Deutsche – vermutlich musst du in einer Bar ein Handtuch über den Hocker werfen, um ihn dir zu sichern.«
»Mag sein«, hatte Rui geantwortet, an dem Carlos’ Ironie spurlos vorübergegangen war, »aber hier in Fuseta … Ich will mal raus. Mal was anderes sehen. Weißt du, was die Reeperbahn ist?«
»Mal gehört. Aber das hast du doch nicht nötig.«
»Mir ist es hier zu eintönig. In Faro wird keine Planstelle frei. Und in Lissabon auch nicht.«
Nach dieser Erklärung von Rui hatte Carlos Esteves leise geseufzt und vermieden, ihm dabei in die Augen zu schauen.
Sein Vorgesetzter Raul da Silva, der nur über drei Kommissare verfügte, war heilfroh, dass der Adonis aus Fuseta sich freiwillig gemeldet hatte – auf diese Art konnte er den Deutschen einen Provinzpolizisten als Kommissar unterjubeln und eine Unterbesetzung im eigenen Haus verhindern.
Auch Graciana Rosado kannte die Wahrheit hinter Ruis vergeblichen Versuchen, zur Polícia Judiciária zu wechseln: Rui Aviola würde niemals auf eine Planstelle für Kommissare rücken. Dazu war er zu beschränkt. Sie hatte mit ihrer schwedischen Freundin Agnes, die als Backpackerin in Fuseta hängen geblieben war und jetzt schon seit sechs Jahren im Farol am Hafen arbeitete, darüber gesprochen. Agnes war auf ein Date mit Rui aus gewesen.
»Agnes, Rui würde beim Schachspiel gegen den Ecktisch verlieren.«
»Ich weiß«, hatte Agnes geantwortet, »aber ich will ja auch nicht mit seinem Gehirn schlafen.«
Fuseta war jetzt für zwölf Monate ohne Rui. Die Traube aus untröstlichen Frauen am Abflugschalter löste sich nur langsam auf. Carlos Esteves stopfte sich den Rest des Sandwiches in den Mund.
Graciana Rosado musste bei dem Anblick ihres Kollegen schmunzeln. Sie kannte Carlos von klein auf. Wenn sie lange genug in ihrem Gedächtnis kramte, konnte sie sich bestimmt an über hundert Situationen mit ihm erinnern. Vielleicht noch mehr. Aber sie würde sich wirklich anstrengen müssen, eine zu finden, bei der er nichts Essbares in der Hand hielt.
»Was gibt’s zu grinsen?«
»Nichts. Schon gut.«
»Du denkst, ich esse zu viel.«
»Nein.«
»Hmmm«, brummte Carlos und warf einen Blick auf die Anzeigetafel.
Carlos Esteves war ein Genussmensch, der einem exquisiten Stück Rabenfisch – am besten zu gerösteten Ananasscheiben – ebenso Aufmerksamkeit entgegenbrachte wie einer selbst gedrehten Zigarette, der sich im Fußballstadion mit derselben Hingabe ereiferte, mit der er einen Sonnenuntergang auf einer Düne in sein Herz aufnahm und dort für immer bewahrte. Graciana beneidete ihn hin und wieder darum.
Carlos deutete mit einer Kopfbewegung zu der Anzeigetafel. Graciana folgte seinem Blick: Flug LH 2409 aus Hamburg. Arrived.
»Lost?«
Carlos, der sie um eine ganze Kopflänge überragte, zückte ein etwas zerknittertes Stück Papier, auf dem der komplette Name des neuen Kollegen aus Deutschland stand: Leander Lost.
Sie hatten sich im Vorfeld nicht allzu viele Gedanken um ihren Gast gemacht, sie hatten von ihm nur als dem Alemão gesprochen, dem Deutschen. Was keinerlei Rückschluss auf ihre Gastfreundschaft zuließ. Wie alle Portugiesen waren sie zu einer Gastfreundlichkeit erzogen worden, die – von findigen Touristen schamlos ausgenutzt – bisweilen an Selbstaufgabe grenzte.
Deutschen waren sie hier an der Algarve schon oft begegnet. Alemães waren pünktlich und aßen bevorzugt dort, wo sie große Portionen erhielten, und nicht dort, wo es gutes Essen gab. Sie sparten beim Trinkgeld und beim Lob. Portugiesen an Nachbartischen sahen beschämt woandershin, wenn sie in einem Restaurant die Rechnung überprüften. Die Deutschen waren stolz auf ihre Autoindustrie. Und sie waren Europameister im Nörgeln.
Nach den ersten kinderlosen Touristen, die mit ihren Koffern aus der Gepäckabfertigungshalle kamen und außerhalb der Schulferien verreisen konnten, erschien ein schlaksiger Kerl in einem dunklen Anzug mit weißem Hemd und schmaler Lederkrawatte. Das volle, dunkle Haar war auf zweckmäßige Millimeter zurechtgestutzt.
Leander Lost sah das Papier, das Carlos sich vor den Bauch hielt, und kam auf sie zu. Mit drei riesigen Koffern und zwei ausladenden Kleiderhüllen, die er sauber gestapelt auf einem Gepäckwagen vor sich herschob.
Das Erste, was Kommissarin Graciana Rosado an Leander Lost auffiel, war, dass er kaum blinzelte.
»Gott, er ist ein Kind«, raunte Carlos Esteves.
»Quatsch, Carlos. Er ist bestimmt Mitte dreißig.«
»Blass ist er. Er sieht aus, als hätte er Leukämie.«
»Du könntest etwas netter sein.«
»Ich bin etwas netter.«
»Senhor Lost?«
»Yes.«
Sie reichte ihm die Hand.
»Graciana Rosado, Sub-Inspektor von der Polícia Judiciária, mein Kollege Senhor Carlos Esteves«, fügte sie auf Englisch hinzu.
»Olá.«
Carlos schüttelte die Hand des Deutschen.
»Olá«, erwiderte Leander Lost leidenschaftslos, aber nicht lässig. Er wirkte korrekt. Deutsch.
Graciana Rosado nahm von Faro aus die Nationalstraße N 125 nach Osten. Sie und Carlos wohnten in Fuseta. Sie hatten sich nach einigem Hin und Her entschieden, Leander Lost in der Villa Elias unterzubringen. Einem kleinen, landestypischen Haus, das den Eltern von Graciana gehörte und seit sieben Jahren leer stand.
Carlos saß wieder neben ihr, er knabberte an einem Fleischspieß. Leander Lost hatte sich auf der Rückbank angeschnallt, er sog die vorbeiziehende Landschaft in sich auf.
Die meisten Fahrzeuge, denen sie begegneten, hätte der deutsche TÜV umgehend stillgelegt. Zu beiden Seiten der Fahrbahn war es staubig. Die Mittagssonne betonte die Farben der Häuser, der Straßenschilder, der Plastikstühle vor den kleinen Bars, auf denen ältere Männer saßen und rauchten und Bier tranken. Alle paar Hundert Meter standen große, bereifte Müllbehälter am Straßenrand, und von den Häusern, meist in Weiß gehalten und mit blauer, roter oder gelber Farbe an den Rändern und um die Fenster herum verziert, blätterte der Putz ab und wurde von dunklem Staub ersetzt, der sich dort festfraß. Über allem ein Himmel in tiefstem Azur.
Leander Lost fühlte sich nicht wohl. Er war hier fremd. Er kannte diese Leute nicht. Er kannte diese Gegend nicht. Er kannte das Land nicht.
Deshalb zählte er ein paar Ecken. Das beruhigte. Seit er im Alter von elf Jahren auf dieses Wundermittel gestoßen war – er hatte die Ecken der Holzknüppel gezählt, mit denen die anderen Kinder ihn vermöbelten –, hatte er das Eckenzählen professionalisiert. Ein viereckiger Raum hatte immer acht Ecken. Eine Tür, die sich in die Zarge fügte, hatte zwölf Ecken. Die Zarge selbst, sofern nicht in die Wand eingelassen, sondern auf dem Putz aufliegend, ebenfalls zwölf. Fenster wiesen für gewöhnlich acht Ecken auf (die des Rahmens mitgerechnet). Und schon verfügte ein normaler Raum mit einer Tür und einem Fenster und nichts sonst darin über 40 Ecken. Spannend wurde es, wenn er komplett gefliest war.
Graciana Rosado musterte ihren Fahrgast über den Innenspiegel. Ihr großes berufliches wie privates Pfund war ihre Intuition. Sie spürte, wenn sie jemand belog. Sie spürte, wenn etwas nicht stimmte.
Ihr Freund João stimmte. Carlos auch, wenn auch auf einer anderen Ebene.
Ihre Intuition wurde für Graciana im Lauf der Jahre zu einer Stimme, die nur sie selbst hören konnte. Sie flüsterte ihr zu, wenn jemand log. Und wenn jemand die Wahrheit sprach. Obwohl ihre Eltern religiös waren, vermutete Graciana hinter dieser Befähigung keine christliche Wundergabe, sondern das, was man heutzutage emotionale Intelligenz nannte. Die hatte sich in Bezug auf João gemeldet und auch auf Carlos. Bei Leander Lost hingegen blieb sie stumm.
»Wir hatten eigentlich eine Wohnung direkt in Fuseta für Sie gemietet, aber leider mussten wir umdisponieren«, erklärte Carlos Esteves in seinem Schulenglisch und wandte sich zu dem deutschen Gast um. »Der Wohnblock hat gerade Engpässe bei der Wasserversorgung. Sie bekommen stattdessen eine Unterkunft in Alfandanga, das liegt bei Fuseta um die Ecke, nur zwei Kilometer entfernt. Es ist ein Haus, aber es ist nicht riesig. Normalerweise reicht es für zwei Personen. Sehr idyllisch.«
»Gut«, erwiderte Leander auf Englisch.
»Da gibt es ein Lokal gegenüber, da bekommt man große Portionen.«
Graciana verpasste Carlos einen kleinen Hieb mit dem Ellbogen.
»Wir haben für Sie den Kühlschrank gefüllt«, fügte sie hinzu, »aber wenn Sie etwas Spezielles haben möchten, können wir am Supermarkt halten.«
»Ist Käse dabei?«
»Ja.«
»Dann brauche ich nichts.«
»Und wir haben Bier gekauft«, sagte Carlos, »Sagres.«
»Sehr freundlich von Ihnen.«
Kurz herrschte Schweigen in dem Volvo. Leander Lost war bei Ecke 57 angekommen, als Carlos sich erneut an ihn wandte: »Mögen Sie Fußball?«
»Ja.«
Carlos lächelte – das war doch immerhin etwas.
»Was halten Sie von Cristiano Ronaldo?«
»Er ist ein großartiger Fußballer«, sagte Leander Lost, »der beste Spieler der Welt.«
Carlos wandte sich abermals um: »Ist das Ihr Ernst? Oder wollen Sie höflich sein?«
Leander Lost überlegte kurz: »Das eine schließt das andere nicht aus. Ich meinte das ernst und höflich.«
Carlos grinste breit und zufrieden.
»Nur bedauerlich«, fügte Leander hinzu, »dass er in Spanien spielt. Und bemerkenswert, dass die portugiesische Nationalmannschaft bis jetzt immer verloren hat – außer ohne Ronaldo bei der Europameisterschaft.«
Carlos’ Mundwinkel bewegten sich wieder aufeinander zu. Er drehte sich zur Fahrbahn.
»Denkst du, er meint, was er sagt?«, fragte er Graciana auf Portugiesisch.
»Ich weiß nicht. Schwer zu sagen. Er sieht aus, als würde er nicht viel lachen.«
»Ja«, bestätigte Carlos, »er hat ein Gesicht wie aus Botox.«
Graciana nickte: »Kaum Falten.«
»Er starrt auch so, wenn er einen ansieht«, ergänzte Carlos zwischen zwei Bissen.
»Hübsche Augen hat er«, sagte Graciana, während sie in aller Gemütsruhe einen Lkw bei Gegenverkehr überholte und sie dabei alle auf wundersame Weise dem Unfalltod entgingen. Und auf Englisch zu Lost gewandt: »War was Internes.«
Lost nickte. Er war bei 121 Ecken.
Der Funk knisterte.
»Graciana?«
Es war die Stimme von Luís Dias. Er musste sich irgendwo befinden, wo sich zu dem Funkrauschen noch ein weiteres gesellte.
Luís Dias und Ana Gomes hatten heute die Tagesschicht der GNR. Zusammen mit vier anderen Kollegen waren sie in einem rosafarbenen zweigeschossigen Gebäude mit weißen Sprossenfenstern in Moncarapacho untergebracht, was etwa vier Kilometer nördlich von Fuseta lag. Fuseta selbst verfügte über keinen eigenen Polizeiposten. Und die Polícia Judiciária, der Graciana und Carlos angehörten, hatte nur einen Sitz an der Algarve: in Faro.
Carlos Esteves nahm das Funkgerät.
»Graciana fährt. Was gibt’s, Luís?«
Luís Dias und Ana Gomes stammten aus Moncarapacho. Sie hatten in ihrem Leben noch nie ein anderes Land betreten.
Wie alle Orte in der »zweiten Reihe« der Algarve, die nicht direkt an der Atlantikküste lagen, war der 8.000-Seelen-Ort im Sommer gnadenlos der Hitze ausgesetzt. Wer es sich leisten konnte, baute sein Haus in der weitläufigen Hügellandschaft am nordwestlichen Rand der Kleinstadt. Dort oben ging immer eine leichte Brise und es gab alles, was man zum Leben brauchte. Auch der Tourismus hatte Moncarapacho nur in seiner feinsten Erscheinung heimgesucht: in Form von Menschen, die an Land und Leuten interessiert waren.
»Wir haben einen Toten.«
»Wo?«
»Auf der Ostinsel. Ich bin mit Ana hier. Es ist O Olho. Sieht aus, als wäre er zusammengebrochen.«
»Sperrt die Gegend ab«, wies Carlos ihn an.
Während der westliche Teil der Algarve von Faro bis Lagos von Touristen und Immobilienhaien heimgesucht worden war, die – einer biblischen Heuschreckenplage gleich – Ende des 20. Jahrhunderts Betonbettenburgen und Speisekarten auf Englisch, Spanisch, Holländisch und Deutsch hinterlassen hatten, war die Ostalgarve von Faro bis Tavira weitgehend verschont geblieben. Wie ein schützender Gürtel lag die Lagune Ria Formosa, ein sechzig Kilometer langes Naturschutzgebiet, vor der Küste. Wer ein Bad im Meer suchte, musste sich zunächst von einer der kleinen Fähren in einer zehnminütigen Fahrt auf eine der Inseln übersetzen lassen. Kein Hotel fand sich deshalb an Fusetas Küstenlinie, keine Armee aus Sonnenschirmen, keine Eisverkäufer, keine Promenade, keine Restaurants mit Blick auf den Atlantik, kein mit rarem Wasser gesprengter Golfplatz, nein, keines dieser Gräuel – von einem Campingplatz einmal abgesehen – hatte dank der Ria Formosa Einzug halten können. Stattdessen war sie Heimat von über zwanzigtausend Vögeln.
»Schon passiert«, gab Luís Dias zurück, »Capitão de Avis hat gegenüber drei Touristen schon einen Platzverweis ausgesprochen. Hier ist niemand mehr.«
Graciana und Carlos kam synchron ein Seufzer über die Lippen.
De Avis war Kapitän der Autoridade Marítima Nacional, der portugiesischen Küstenwache. Er versah seinen Dienst in dem dunkelblauen Anzug, weißen Hemd und marineblauer Krawatte, die die Beamten der Behörde sonst nur bei offiziellen Anlässen trugen. Sein lichter werdendes Haar verbarg er unter einer weißen Schirmmütze.
De Avis war felsenfest davon überzeugt, ein direkter Nachkomme von Dom Henrique de Avis, Heinrich dem Seefahrer, zu sein, jenem Mann, unter dem Portugal in die Liga der Kolonial- und Weltmächte aufgestiegen war, eine Größe freilich, die sich in den letzten 400 Jahren aus dem Staub gemacht hatte, und ein Verlust, den die Portugiesen ebenso bedauerten wie Capitão de Avis den seines Haupthaares. De Avis ließ jeden spüren, dass er zu Größerem bestimmt war und die Stelle als Leiter der Küstenwache im benachbarten Olhão nur bis zu jenem unzweifelhaft eintretenden Zeitpunkt innehaben würde, an dem das Parlament in Lissabon seinen Fehler einsehen und ihm die Leitung der portugiesischen Marine übertragen würde.
»Wir sind unterwegs. Rührt nichts an. Ist Doutora Oliveira schon informiert?«, fragte Carlos nach.
»Wir waren uns nicht sicher«, antwortete Luís Dias, »es war wohl ein Unfall.«
Carlos seufzte.
Graciana nahm ihm das Funkgerät aus der Hand.
»Luís?«
»Ja?«
Was im Hintergrund rauschte, war der Atlantik.
»Ruf Doutora Oliveira an, sie soll bitte rauskommen. Besorg einen Sonnenschirm und schütz O Olho vor der Sonne. Bis gleich.«
Klack. Sie hängte die Sprechmuschel ein, bevor sie wieder ins Englische verfiel: »Wir müssen runter an die Küste. Da ist ein Toter gefunden worden. Wir setzen Sie vorher ab. Ich schaue dann später noch mal bei Ihnen vorbei, wenn es Ihnen recht ist.«
»Nicht nötig«, antwortete Leander Lost auf Portugiesisch, »ich begleite Sie. Ab jetzt arbeiten wir ja ohnehin miteinander. Ich denke, es ist fair, wenn Sie wissen, dass ich Sie verstehe, wenn Sie sich in Ihrer Muttersprache austauschen.«
Graciana und Carlos erstarrten. Sicher, er sprach mit einem harten, deutschen Akzent, aber bis auf die eine oder andere Betonung war sein Portugiesisch einwandfrei. Die beiden Kommissare spürten, wie ihre Wangen von einem Brennen heimgesucht wurden, das die Scham hervorrief.
»O Olho – das Auge. Das ist wohl kaum sein richtiger Name«, fuhr Lost ungerührt fort.
Carlos räusperte sich vernehmlich.
»Sie sprechen unsere Sprache. Das … ähm … erleichtert natürlich einiges.«
»Ich dachte, es optimiert unsere Kommunikation. Deshalb habe ich mir das Nötigste beigebracht, als feststand, dass ich die Kriterien für den Austausch erfülle.«
»Das ist bewundernswert«, sagte Graciana und deutete nach links, wo zwischen einem Haus mit zugenagelten Fenstern und einem riesigen Kaktus ein Sandweg an der Straße mündete. »Den Weg dort hinein, vielleicht dreihundert Meter. Da ist Ihr neues Zuhause.«
Lost nickte.
Für das Nötigste, dachte Carlos Esteves, kannte der Alemão schon eine Menge Wörter.
Graciana Rosado ließ kurz die Sirene aufjaulen, und schon teilte sich der Verkehr vor ihr auf der N 125 nach links und rechts und stoppte. Als hätte Moses das Rote Meer geteilt. Sie schoss mit dem Wagen durch und bog an einer Kreuzung rechts ab nach Fuseta.
»Wir haben da was gesagt, über Ihr Gesicht.«
»Ein Gesicht wie Botox«, präzisierte Leander, »das hat Senhor Esteves gesagt. Hab ich Esteves richtig ausgesprochen?«
»Perfekt«, antwortete Carlos gepresst.
»Es war Ausdruck unserer Verwunderung über Ihr jugendliches Gesicht«, fuhr Graciana fort.
»Verstehe. Es war also eine Art … Witz?«
Carlos seufzte vor Erleichterung: »Ja, genau. Ein Witz. Eine … scherzhafte Bemerkung.«
»Etwas flapsig«, fügte Graciana hinzu und schenkte dem Deutschen ein verbindliches Lächeln.
Der nickte und verzog seinen Mund ebenfalls zu einem Lächeln, das seine Merkwürdigkeit aus dem Umstand bezog, dass sich das Lächeln nicht in seinen Augen spiegelte.
»O Olho ist ein Spitzname«, griff Carlos bereitwillig die Frage auf, die ihnen wieder etwas festeren Boden unter den Füßen verschaffte, »ein Spitzname für einen Mann, der an der Algarve als Privatdetektiv gearbeitet hat.«
Leander Lost lehnte sich zurück, die innerliche Unruhe hatte sich verflüchtigt.
217 Ecken.
Auf dem Weg nach Fuseta passierten sie eine Schule und ausgedörrte Äcker, denen die Mittagshitze weiter zusetzte, und überquerten schließlich eine Bahnlinie, um die Rua General Humberto Delgado hinabzufahren. Zwischen weißen, maximal zweigeschossigen Häusern und gepflasterten Bürgersteigen erhob sich nach einer weiten grünen Fläche, der Ria Formosa, ein kräftiges Blau. Der Atlantik.
Für einen kurzen, angenehmen Moment ließ Leander Lost dieses Bild in sich fluten.
Denn dann versperrten zwei Autos den Weg, deren Fahrerinnen in aller Seelenruhe miteinander sprachen, und zwangen Graciana Rosado in die Altstadt Fusetas. Die enge Straße führte steil und gerade hinab, die weißen oder blau und braun gefliesten Häuserfassaden rückten von beiden Seiten so nah heran, dass die Gehwege auf die Breite eines Passanten zusammenschmolzen.
Die Gebäude reihten sich meist ohne Zwischenräume nebeneinander und ergaben so eine lange, abwechslungsreiche Wand mit schmalen Hauseingängen und kleinen Fenstern, aus der sich nur hier und da die Kästen der Klimaanlagen oder ein Balkon wölbte. Die Häuser mit ihren meist rechteckigen und mit Ornamenten verzierten Schornsteinen und ihren flachen Dächern, die nahezu alle ausgedehnte gemütliche Terrassen mit einem großartigen Ausblick beherbergten, konnten ihren maurischen Einfluss nicht verleugnen.
Kreuz und quer und auch über die Straßenschlucht hinweg spannten sich tief verlaufende Stromleitungen und bunte Leinen, an denen Wäschestücke in der salzigen Meeresbrise flatterten. Vor den Türen saßen alte Männer in groben Anzügen mit Schiebermützen und qualmten filterlose Zigaretten. Kinder spielten auf dem Gehsteig oder machten die Straße mit dem Rad oder Skateboard unsicher. Die Katzen schliefen im Schatten unter den Autos, um später, wenn die Schatten länger wurden, wieder auf die Pirsch zu gehen.
Sie passierten einen Platz, auf dem die Bürger Fusetas umherflanierten, in den Cafés Eis aßen und Medronho oder herben Weißwein tranken und auf dem in einer Ecke ein paar Kinder mit einem Ball bolzten. Wie Leander Lost sah, legten die Portugiesen großen Wert auf ihre tadellose Erscheinung. Die Männer in Jeans oder Anzughose, obenrum fein gebügelte Hemden, die Frauen in Kleidern oder Röcken und Blusen.
Sie alle schienen Zeit zu haben und sich zu amüsieren, mittendrin die alte Generation. Männer mit schlohweißem Haar, die sich alte Geschichten erzählten und lachten, ältere Frauen, die von Fenster zu Fenster Neuigkeiten austauschten. Junge Männer in schwarzen Anzughosen und weißen Hemden, einige mit gegelten Haaren, die rauchend am Straßenrand standen und wohl Wichtiges zu bereden hatten, jedenfalls verkündeten das ihre Mienen. Nicht weit entfernt ein paar junge Frauen, die sich um eine Holzbank herum versammelt hatten und den jungen Männern herausfordernde oder heimliche Blicke zuwarfen und dann zu Boden schauten und lächelten, wenn der Blick erwidert wurde.
Mit einem Schlag war Leander Lost klar, dass hier die Zeit stehen geblieben war. Kein großes Kaufhaus, kein riesiger Supermarkt, keine Werbetafeln, keine riesigen Straßen, nichts dergleichen. Wenn er den Puls Fusetas hätte hören können, er wäre ruhig und regelmäßig gewesen.
Graciana Rosado dirigierte den Polizeiwagen, dem niemand größere Beachtung schenkte, mit traumwandlerischer Sicherheit und mit atemberaubender Geschwindigkeit durch all das hindurch. Mit dem Orientierungssinn der Einheimischen, die Winkel und Verlauf jeder Kurve und Straßenecke von Kindesbeinen an kannten, fand sie durch das Wirrwarr an Möglichkeiten den zügigsten Weg, bis die Häuser zurückwichen und ihnen nicht länger den Blick auf den kleinen Fähranleger und den Kanal nahmen.
Kaum am Fähranleger gegenüber der Bar Farol angekommen, an dem soeben eine Barkasse mit dreißig Touristen ablegte, nahmen sie ein Wassertaxi, das von einer jungen Frau über einen kräftigen Außenbordmotor gesteuert wurde, der nach Benzin stank, wenn sie die Fahrtgeschwindigkeit verringerte.
»Das ist Teresa«, rief Graciana, um sie miteinander bekannt zu machen, »und das ist Senhor Lost.«
»Olá«, sagte Teresa mit einem Lächeln, »Sie sind der Alemão, der für Rui gekommen ist.«
»Ja«, sagte Leander.
Dort, wo der Kanal endete und sie ins seichte Meerwasser entließ, überholten sie die Barkasse, die sich nach rechts zur Westinsel wandte.
»Das hier ist die Ria Formosa«, rief Carlos Esteves gegen den Wind, »ein großes Naturschutzgebiet, das uns viele Touristen vom Leib hält.« Er grinste breit. Und als Leander Lost das Grinsen nicht erwiderte, deutete er ein Achselzucken an und deutete nach vorne, wo sich noch einmal das Land aus dem Wasser erhob. »Das sind die vorgelagerten Strände. Sie fangen die Wellen ab und sorgen dafür, dass wir zwischen ihnen und Fuseta ein ruhiges Wasserbecken haben.«
Das stimmte. Das Wasser war fast so unbewegt wie auf einem See. Alle paar Meter standen Angler am Ufer oder waren Muschelsammler in Neoprenhosen unterwegs. Teresa drehte den Außenborder auf, das Boot hob den Bug an, die Gischt spritzte, und sie beugten sich alle leicht nach innen, um nicht nass zu werden.
Das Wassertaxi nahm eine Furt von gut dreißig Metern Breite, die die beiden vorgelagerten Inseln voneinander trennte, und kreuzte nun gegen die Atlantikwellen, die sich hier brachen. Teresa lenkte ihr Boot mit jener Kenntnis der Dinge durch die Brandung, mit der Graciana Rosado das Auto durch Fuseta dirigiert hatte.
Leander Lost fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie schmeckten salzig.
Auf halber Strecke schoss ihnen ein Wassertaxi entgegen, das von einem Mann gesteuert wurde. Der Fahrgast war ein Kerl um die vierzig, der langes, lockiges Haar hatte, das im Wind tanzte.
»Porra! Que coincidência!«, rief Graciana gegen den Fahrtwind in Richtung Carlos an, und ihre Tonlage verriet, dass sie das überhaupt nicht für einen Zufall hielt: »Tobias Faria.«
Der Mann hatte zwei Kameras umhängen und trug eine Weste, in denen er Objektive verstaut hatte – Tobias Faria telefonierte. In dem Augenblick, in dem die beiden Taxis sich begegneten, grinste er unverschämt und warf Graciana Rosado und Carlos Esteves einen Luftkuss zu.
Während Graciana den Mann ignorierte und Leander Lost sich keinen Reim auf diese Geste machen konnte, verfinsterte sich die Miene von Carlos. »Filho da puta!«, brüllte er Faria hinterher. Aufgebracht wandte er sich an seine Kollegin: »Hast du das gesehen?«
Graciana nickte ruhig: »Klar. In spätestens dreißig Minuten ist der Artikel über den Leichenfund auf Correio da Manhã online.«
»Wenn ich den das nächste Mal an einem Tatort erwische …«
»Das Problem ist, er ist immer vorher da«, wandte Graciana ein. »Und noch ist es kein Tatort, hm?«
Carlos nickte widerwillig. Und bemerkte einen Blick in seinem Nacken. Er wandte sich um – tatsächlich betrachtete der Alemão ihn aufmerksam.
»Das war Senhor Faria von einer Tageszeitung?«
»Ganz recht.«
»Und wie alt ist er? Er sieht aus wie ungefähr vierzig.«
»Gut geschätzt«, rief Graciana anerkennend.
»Ja. Warum fragen Sie?«, fügte Carlos hinzu.
Der Deutsche überlegte, ein Runzeln bildete sich auf seiner faltenlosen Stirn.
»Und seine Mutter arbeitet immer noch in dem Gewerbe?«
Die beiden Portugiesen kniffen die Augen zusammen und musterten ihn, um herauszufinden, ob dies eine Art Scherz war. Ein Paradebeispiel für den seltsamen deutschen Humor etwa.
War es nicht.
»Wir nutzen das als … ähm … Schimpfwort.«
Das Stirnrunzeln verflüchtigte sich.
»Ah, ich verstehe.«
»Ja, ich … hatte kurz vergessen, dass Sie Portugiesisch schon sehr gut beherrschen. Senhor Faria arbeitet für eine Boulevardzeitung. Wenn er könnte, würde er einen Mord eher fotografieren als verhindern. Wenn man ihn einen Aasgeier nennen würde, würde man damit diese Vogelart beleidigen.«
Jetzt schmunzelte der Deutsche.
Teresa drosselte die Geschwindigkeit, der Bug senkte sich etwas ab und der Außenbordmotor ging in ein Tuckern über. Die vorgelagerte Insel war nahezu menschenleer und nur in ihrer Mitte von kräftigen Dünengräsern bewachsen.
Gleichzeitig mit seinen neuen Kollegen entdeckte Leander Lost ein weißes Boot, das fast parallel zur Uferlinie am Strand lag und dem Meer seine Unterseite präsentierte. Das weiße Schnellboot der Autoridade Marítima Nacional entfernte sich dagegen bereits Richtung Osten. An der Reling stand die hoch aufgeschossene Gestalt von Capitão de Avis, der in einer Mischung aus Lässigkeit und Dienstvorschrift den Arm zum Gruß hob.
Der Kabinenaufbau des gestrandeten Bootes ragte in einem schrägen Winkel zum Himmel, die rechte Reling berührte fast den Strand. Ein grün-weißer Stoff spannte sich hinter dem Kabinenaufbau und vibrierte an seinen Rändern im Wind.
Neben dem Boot standen zwei Gestalten in den Blautönen der Uniform der Guarda Nacional Republicana im weißen Sand. Eine dünne blonde und eine dickliche mit einem Haarkranz, wie Lost registrierte. Nachdem Teresa sie fast trockenen Fußes abgesetzt hatte und dann wieder davongebraust war, stellte sich die dünne blonde Gestalt als Ana Gomes und die mit dem Haarkranz als Luís Dias heraus.
Die Insel war ein bis auf die hier versammelten Polizisten menschenleeres Paradies. Über gut hundert Meter zog sich der Strand flach ins Wasser, das grünlich-türkis schimmerte und mit flachen Wellenkämmen gegen die Uferlinie anlief. Heller, warmer Sand zog sich kilometerweit nach Osten. Eine Schar von Lachmöwen stand um einen Priel herum und pickte mit gelben Schnäbeln in den nassen, weichen Boden.
Ana Gomes und Luís Dias von der GNR musterten Leander Lost neugierig, aber mit der gebotenen Höflichkeit. Gomes zog bei seinem Anblick allerdings unwillkürlich ein Gesicht, als habe Fuseta mit dem Tausch Aviola – Lost ein schlechtes Geschäft gemacht.
Durch die Schieflage des Bootes war der Körper des Toten in jenen Winkel gerutscht, den das Bootsdeck und die Schiffswand bildeten. Er lag größtenteils im Schatten eines grün-weißen Sonnenschirmes. Luís und Ana hatten ihn, wie sie erklärten, von den drei Touristen konfisziert, die Capitão de Avis an Land verwiesen hatte, nachdem Gomes seinem Befehl Folge geleistet hatte, ihre Personalien zu notieren. Bei den Touristen handelte es sich offenbar um eine britische Familie namens Henderson.
De Avis selbst hatte umgehend Abstand von dem Fall genommen, da der Kiel des havarierten Bootes auf Grund gelaufen war. Auf Grund – das hieß Festland. Das hieß GNR. Das hieß: Capitão de Avis musste sich nicht weiter damit befassen.
Carlos Esteves sah leicht genervt zwischen Gomes und Dias hin und her.
»Haben wir da nicht jemanden vergessen?«, fragte er gedehnt, als weise er Kinder zurecht.
»Vergessen?«, echote Dias und sah dabei zu seiner Kollegin, die seine dilettantische Vorführung vom unschuldigen Polizisten mit staunender Miene unterstützte.
»War nicht gerade Faria hier? Ja?«, fragte Carlos ungeduldig.
Gracianas Ungeduld übertraf seine: »Hat er die Leiche fotografiert, ja oder nein?«
»Ja«, gab Dias zu.
»Und woher wusste er wohl«, fuhr Carlos fort, »dass hier gerade eine Leiche angespült worden ist? Jucken im großen Zeh? Telepathie?«
»Polizeifunk?«, fiel Ana Gomes ein, und sie war so dankbar über ihren rettenden Einfall, dass sie lächelte.
Carlos sah für ein paar Augenblicke zwischen den beiden hin und her.
»Ganz bestimmt war das so, Ana«, sagte er dann, »Polizeifunk, natürlich. Nicht, dass am Ende jemand von uns in den Verdacht gerät, Tobias Faria gegen ein kleines Entgelt immer auf dem Laufenden zu halten.«
»Das wäre ein schlimmer Gedanke«, sagte Gomes.
»Ja, schlimm«, pflichtete Dias ihr bei.
Carlos Esteves nickte und ließ es mit einem Seufzen dabei bewenden.
Graciana Rosado kletterte an Bord und untersuchte den Leichnam. Als sich ein Schatten über sie legte, blickte sie auf. Leander Lost hatte sich gegen die Reling gelehnt und sah ihr aufmerksam zu.
»Die Hendersons – das war ein Paar mit einem kleinen Kind aus Brighton«, lieferte Ana Gomes anhand ihrer Notizen schnell nach, während Graciana sich routiniert Einweghandschuhe überstreifte und noch einmal nach dem Puls fühlte, den Kopf wendete, sich die Wunde anschaute und das Hämatom drum herum, das sich dunkelviolett vom Haaransatz bis zur linken Augenhöhle ausbreitete.
»O Olho«, stellte Leander Lost fest.
»Ja.«
Graciana leerte die Tascheninhalte des Toten in einen transparenten Beutel, den Leander für sie aufhielt. »Obrigada«, dankte sie.
»Wem gehört das Boot?«, fragte Carlos Esteves unterdessen die beiden Kollegen.
Ana Gomes hatte offenbar noch keinen Gedanken daran verschwendet, sich über den Bootseigentümer schlauzumachen. Deswegen sah sie zu Luís Dias, als wolle sie sagen: Er muss es wissen, er ist der Dienstältere. Dias deutete ein Achselzucken an.
Carlos nickte. Wie kommt es, dachte er, dass ich nichts anderes erwartet habe.
Seit er Luís Dias zum ersten Mal begegnet war – auf der Polizeischule –, beschwerte der sich darüber, dass andere Polizisten an ihm vorbei befördert wurden. Dias war mittlerweile 62 Jahre alt, aber er war immer noch nicht in der Lage, beim Fund eines Toten selbstständig die Gerichtsmedizinerin anzurufen. Stattdessen hockte er den ganzen Tag im Büro unter dem Ventilator, wettete mit seiner Kollegin Gomes, wie viele Fliegen heute in dem elektrischen Insektenvernichter gegrillt werden würden, oder spielte sich draußen vor ahnungslosen Touristen auf. Er würde nur noch einmal befördert werden. Direkt vor seiner Pensionierung. Als ein Akt der Gnade, um seine Altersbezüge im letzten Augenblick auf ein Niveau anzuheben, das ihm einen auskömmlichen Lebensabend sicherte.
Carlos würde das nicht tun, obwohl er das Gesetz sonst immer hinter seine eigene Moral stellte. Aber Graciana hatte ein großes Herz und ein empfindsames dazu. Die Menschlichkeit würde ihr gebieten, Luís Dias jene finanzielle Zuwendung zukommen zu lassen, die ihm bei objektiver Betrachtung nicht zustand. Den Vorschlag zur Beförderung unterbreitete normalerweise der Chef des jeweiligen GNR-Postens, aber da es in Moncarapacho keinen Vorgesetzten gab, würde Graciana ein Wort für ihn einlegen.
Was das Hierarchieverhältnis unter ihnen – Graciana und Carlos – betraf, so behandelte sie ihn wie einen Ebenbürtigen (und meinte es auch so). Offiziell lagen die Weisungsbefugnis und die Befehlsgewalt im Zweifelsfall bei ihr. Und vielleicht, räumte Carlos manchmal im Stillen ein, war ihr Einsatz für Dias in Ordnung – immerhin übertrug er seine laxe Dienstauffassung nicht mehr auf die Polizeischüler, seitdem man ihn zurück nach Moncarapacho gelobt hatte.
»Also«, sagte Carlos, »Eigentümer feststellen! Wenn ich mich nicht irre, hatte O Olho nämlich kein eigenes Boot.«
Luís Dias nickte, während Ana Gomes sich die Anweisung in einem kleinen Notizblock notierte.
»Und dann?«
Carlos seufzte: »Dann fragen, wann er das Boot gemietet hat. Wohin er wollte. Wann er losgefahren ist. Liegt das alles nicht irgendwie auf der Hand?«
»Doch«, log Dias und zog mit der Kollegin los, um sich ein Wassertaxi zu rufen.
Die beiden hatten ein Gespür für die Grenze von Carlos’ Geduld entwickelt. So als besäßen sie kleine Fühler, die ein herannahendes Gewitter bemerkten. Gomes und Dias scheuchten die zwei Dutzend Lachmöwen am Priel auf.
Als Carlos sich wieder der Leiche zuwandte, sah er, wie der Alemão das Boot inspizierte.
»Gibt es in Portugal kein Zentralregister für Schiffseigner?«, fragte der Deutsche.
»Nein … nicht bei dieser Bootsgröße«, bekannte Graciana.
»Das würde nämlich helfen.«
Graciana und Carlos schluckten die Einlassung herunter, die zwar frei von jedem Vorwurf war, was in ihren Ohren aber dennoch mitschwang.
»In Deutschland haben wir damit gute Erfahrungen gemacht. Zum Beispiel auch, um Schmuggelnetzwerke auszutrocknen.«
»Das könnten wir hier beizeiten auch mal anregen«, sagte Graciana.
»Bisher sind wir auch so zurechtgekommen«, merkte Carlos an, seine Stimme klang dabei etwas gepresst.
»Ja. Aber über ein Zentralregister können Sie dem Boot sofort einen Eigner zuordnen«, führte Leander Lost seine Anmerkung aus, »da wüssten wir jetzt, wem das Boot gehört, Sub-Inspektor Esteves.«
Carlos ließ die Arme sinken und wandte sich dem Deutschen zu.
»Hier ist eine Plakette«, sagte Lost, der ein kleines Metallschildchen neben dem Steuerrad entdeckt hatte, »Filipe Carvalho aus Arroteia … und eine Mobilnummer, glaube ich.«
Graciana trat neben ihn, nickte, sah zu Carlos, der ebenfalls ein Nicken andeutete – Filipe Carvalho war kein Unbekannter. Er hauste in einem Schuppen neben einem sehr spartanisch eingerichteten Restaurant am Ufer der Lagune, dem Restaurante Ilhote.
In diesem Augenblick rauschte erneut das Wassertaxi heran, mit dem Teresa drei weitere Passagiere absetzte, zwei Männer und eine Frau, bevor sie Dias und Gomes zurück nach Fuseta chauffierte.
Der eine Mann trug zu ausgebleichter Jeans und Hemd eine Uniformjacke und eine Sonnenbrille, der andere, kleinere, steckte in einem Anzug und wirkte durchtrainiert.
Die Frau, die die beiden begleitete, hatte ihre grauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebändigt: Doutora Oliveira, die Leander Lost, als Graciana Rosado sie kurz einander vorstellte, interessiert und mit einer Spur zugewandter Neugier musterte, bevor sie sich an die Arbeit machte und die Leichenschau durchführte.
Ihr Begleiter mit der Sonnenbrille entpuppte sich als Inspektor Raul da Silva, direkter Vorgesetzter von Graciana Rosado und Carlos Esteves. Ein umgänglich wirkender Mittvierziger. Er nahm höflicherweise die Sonnenbrille ab und schüttelte dem Deutschen die Hand.
»Ich freue mich«, sagte er auf Englisch, »dass Sie meine Truppe für ein Jahr verstärken. Ich hoffe, wir können viel voneinander lernen.« Er schenkte dem Deutschen ein gewinnendes Lächeln.
»Sim«, bejahte Leander Lost auf Portugiesisch, »estou com muito curiosidade de saber as diferenças entre Alemanha e Portugal.«
Wie seine Untergebenen zuvor war Inspektor da Silva verblüfft von Losts Sprachkenntnissen, der ihn soeben hatte wissen lassen, dass er schon sehr gespannt sei auf die Unterschiede zwischen Deutschland und Portugal.
Sein Begleiter war kleiner und drückte Leander Lost sehr fest die Hand. Das dunkle Haar sauber und exakt gescheitelt, er roch frisch rasiert.
»Ich bin Miguel Duarte«, stellte er sich vor, »Sub-Inspektor wie Senhora Graciana und Senhor Esteves.«
»Erfreut«, antwortete Leander.
Carlos warf dem Kollegen einen vorwurfsvollen Blick zu: »Was machst du hier? Willst du den Fall übernehmen?«
»Ist es denn einer?«, merkte Duarte mit einem süffisanten Lächeln an.
»Wärst du sonst da?«
»Langsam, langsam«, sagte da Silva und hob beschwichtigend die flache Hand, »Duarte ist hier, weil er zufällig mit mir im Auto war.« Und mit echter Jovialität wandte er sich an Leander Lost: »Was die Unterschiede unserer Länder betrifft, wird es bei genauer Betrachtung vermutlich gar nicht so viele geben.«
»Auf jeden Fall dürfte es bei Ihnen mehr regnen, nehme ich an«, sagte Miguel Duarte.
»Ja. In Hamburg haben wir eine durchschnittliche Niederschlagsmenge von 772,7 Millimetern im Jahr.«
»Ah ja.«
»Bei 129,4 Regentagen. Wissen Sie, wie viele Regentage Sie hier haben?«
»Nein«, gab da Silva zu, »vielleicht 30?«
»56«, berichtigte Lost ihn.
»Das ist sehr interessant«, log da Silva, »aber jetzt muss ich mich kurz um den Toten kümmern, wenn Sie gestatten.«
»Natürlich.«
Wie sich schnell herausstellte, hatte O Olho einen Genickbruch erlitten. Die Wunde zwischen Auge und Haaransatz dagegen stammte von einem stumpfen Gegenstand.
»Holz, vielleicht Metall, dann aber nicht sehr scharfkantig, wie es scheint«, diktierte Gerichtsmedizinerin Doutora Oliveira mit erstaunlich tiefer Stimme ihrem Smartphone, um an Raul da Silva gewandt hinzuzufügen: »Kann ich Ihnen genauer sagen, wenn ich mir das unter dem Mikroskop angesehen habe.«
Da Silva nickte: »Unfall oder Fremdeinwirkung?«
Eine Frage, die Graciana und Carlos sich im Stillen auch bereits gestellt hatten.
»So ein Genick«, fügte Raul da Silva zu, »bricht ja nicht mal eben.«
»Senhor Conrad kann sich am Kopf gestoßen haben, zum Beispiel mit der Stirn am Kabinenaufbau, und dann so unglücklich gestürzt sein, dass der zweite Halswirbel gebrochen ist. Oder er ist vielleicht ausgerutscht, auf die Treppenstufen gefallen und hat sich beides gleichzeitig zugezogen.«
»Oder jemand hat ihm einen Schlag versetzt«, meinte Duarte.
»Wir werden sehen«, vertröstete Oliveira sie alle, »das Boot darf jedenfalls noch nicht freigegeben werden. Sie können es in den Hafen schleppen lassen, aber bis morgen früh muss es jemand bewachen.«
»Dias!«, kam es Graciana und Carlos gleichzeitig über die Lippen.
Das Restaurant Ilhote, das Inselchen, lag am Ende eines Feldwegs in einem kleinen Küstennest namens Arroteia, keine zehn Autominuten von Fuseta entfernt direkt am Ufer der Ria Formosa.
Als Leander Lost ausstieg, raubte ihm der Anblick den Atem. Eine grünlich schimmernde Lagunenlandschaft mit Hunderten, ja Tausenden von Vögeln, die umherflogen oder durch die Salinen stelzten. Dazwischen flache Sandpfade, auf denen sich im Moment aber kein Mensch bewegte.
»Die Ria Formosa«, erklärte Graciana Rosado, die dem Blick des Alemão folgte, »reicht etwa von Faro bis fast zur spanischen Grenze.«
»Sechzig Kilometer«, fügte Carlos Esteves hinzu, und in diesen zwei Worten schwang eine Menge Stolz mit.
Tatsächlich war das Gebiet das ganze Jahr über Rückzugsraum für seltene wie bekannte Vogelarten. Ganz davon abgesehen, dass hier munter jene Muscheln heranwuchsen, die bei Bedarf noch am gleichen Abend oder am nächsten Mittag in den Sudtöpfen der Restaurantküchen landeten.
»Ich hatte darüber gelesen«, antwortete Leander Lost, »aber die Macht des Faktischen ist einfach unübertroffen.«
Als wollte sie seine Worte bestätigen, flog eine Schar von über dreißig Flamingos in enger V-Formation ein und landete, wobei jeder Vogel mit eiligen Trippelschritten die Geschwindigkeit abbremste, bis sie alle zum Stehen gekommen waren. Dann begannen die rosa gefiederten Tiere mit ihrer Nahrungssuche, bildeten dazu eine dichte Kette und seihten mit den Schnäbeln das Wasser der Lagune durch.
»Sie sind so anmutig«, sagte Graciana mit einem Lächeln.
»Ich frag mich immer, woher die ihr rosa Gefieder haben«, sinnierte Carlos.
Diese Frage riss Leander Lost aus seinen Gedanken, er warf dem portugiesischen Kollegen einen freundlichen Blick zu.
»Bei der Verarbeitung des Planktons, das die Vögel aufnehmen, entsteht Canthaxanthin«, half er beim Auffüllen dieser Wissenslücke. »Das ist ein Pigment, das die Farbe von Haut und Gefieder bestimmt. Deshalb sind junge Flamingos noch grau.«
Graciana, Carlos und Leander hatten an einem der drei Tische unter dem Vordach des Ilhote Platz genommen. Er war mit einer roten Lackdecke überzogen, die von einem schweren Aschenbecher fixiert wurde. Das transparente Plastikdach tauchte alles in Gelb: die Wände, die Rohrstühle, die zusammengeschusterten Gehwegplatten, selbst den Insektenvernichter, der dann und wann mit einem Britzeln kurz aufglühte.
Am Nebentisch saßen zwei alte Fischer mit wettergegerbter Haut bei ihrem Nachmittagsbier. Der eine trug trotz der Hitze eine Schiebermütze, der andere hatte den Filter einer Zigarette in die Lücke eines fehlenden Zahnes gesteckt und inhalierte tief. Beider Augen klebten an der Mattscheibe eines kleinen Fernsehers. Verglichen mit dem sonstigen Interieur schien er ein gutes Dutzend Jahre aus der Zukunft zu stammen und hing neben der Kühlbox, in der diverse Getränke und Eissorten schlummerten.
Sie verfolgten stumm die Wiederholung des samstäglichen Fußballspiels zwischen dem FC Porto und Benfica Lissabon. Auch die Bedienung, eine dralle Mittzwanzigerin, verfolgte die Begegnung, ganz gleich, ob sie bediente, abwusch, kochte oder die altertümliche Kasse traktierte. Ab und zu warf sie auch ein paar Münzen in den Spielautomaten neben der Tür zu der Gemeinschaftstoilette. Wenn der das mit einer künstlichen Tonfolge quittierte, rügte sie der Alte mit der Schiebermütze, was die Kellnerin nicht auf sich sitzen ließ. Für eine halbe Minute gab ein Wort das andere, dann nötigte sie der Spielfortgang zu einem fragilen Burgfrieden.
Dass Polizei hier auftauchte, kümmerte niemanden. Und dass sie von einem blassen Estrangeiro begleitet wurde, der es fertigbrachte, sich mit einem schwarzen Anzug das Leben schwer zu machen, wurde mit toleranter Gleichgültigkeit aufgenommen. Es schien, als gäbe es nichts, was man hier noch nicht gesehen hätte.
»Ist was mit meinem Boot?«, fragte Filipe Carvalho besorgt, als Carlos Esteves sich bei ihm erkundigte, wann und wie er O Olho seinen altersschwachen Kutter geliehen hatte. »Merda, hat er jemanden damit gerammt, ja?«
Unruhig blickte der Besitzer des Ilhote von einem zum anderen. Dazu ließ er nicht nur die Pupillen von links nach rechts wandern, von Carlos zu Graciana und dann wieder zurück, sondern drehte den ganzen Kopf. Er saß ihnen am vordersten Tisch gegenüber, die Finger und das Unterhemd schwarz und ölig, weil er in den Tiefen eines Schiffsmotors herumgeschraubt hatte, als sie ins Ilhote gekommen waren und sich nach ihm erkundigt hatten.
»Ist jemand umgekommen?«, fragte Carvalho und deutete mit dem Kopf auf Leander Lost in seinem schwarzen Anzug.
»Ach das, nein, das ist Senhor Lost«, erklärte Graciana, »er kommt aus Deutschland und … verstärkt uns für ein Jahr.«
»Ah, der Alemão, der für Rui gekommen ist.«
»Ja«, sagte Leander und sah den Mann gegenüber an, bis sich der ununterbrochene Blick zu einem Starren verhärtete, der Filipe Carvalho verunsicherte.
»Warum starren Sie so?«
»Desculpe. Das war nicht meine Absicht. In ähm … in Deutschland ist es ein Zeichen der Aufmerksamkeit, sein Gegenüber beim Zuhören anzusehen.«
Seine Erklärung vertiefte lediglich die Verwunderung der anderen.
»Aber Sie sehen ja nicht. Sie starren.«
»Ich bin mir sicher, es war nett gemeint«, hörte Graciana sich sagen, und ihre Stimme erschien ihr selbst fremd.
Sie glaubte nicht eine Silbe von dem, was sie da von sich gab. Dieses Starren, der schwarze Anzug in der Mittagshitze, die Belehrungen über Niederschlagsmengen, die puppenhafte Mimik – all das waren Mosaiksteine, die sich zu dem Bild eines Menschen fügten, mit dem etwas nicht stimmte. Bloß was?
Ohne mit Carlos auch nur ein Wort darüber gewechselt zu haben, wusste sie, dass er ähnlich empfand. Wenn sie es achselzuckend auf Losts Fremdheit schoben, auf seine Nationalität, dann taten sie das in Wirklichkeit, weil ihnen nichts Besseres einfiel. Dass er ein Deutscher war, erklärte keine dieser Auffälligkeiten. Bis auf die Belehrungen natürlich.
»Wann hat O Olho das Boot gemietet?«, fragte Carlos.
»Heute früh. Was ist denn nun passiert?«
Carlos warf Graciana einen kurzen Blick zu, die mit einem kaum merklichen Nicken ihr Einverständnis gab.
»Er ist tot.«
Filipe Carvalho schnitt eine Grimasse, die Entsetzen signalisieren sollte, und dann, als er bemerkte, dass er das gar nicht empfand, zumindest Bedauern.
»Und mein Boot? Ich mein …«
»Dem geht’s gut«, unterbrach Graciana mit einem tadelnden Unterton. »Wohin wollte O Olho?«
»Hat er nicht gesagt. War es denn Mord?«
»Ich würd’s dir sagen, wenn man dich nicht das schwarze Brett von Arroteia nennen würde, Filipe.«
»So nennt man mich nicht!«
Die Kränkung bezog sich weniger auf den Begriff als auf den Umstand, dass der mittlerweile offensichtlich auch der Polizei geläufig war.
»Doch, und du weißt das«, stellte Graciana klar.
Leander spürte, wie die kleine Portugiesin neben ihm erkaltete. Er war sich noch nicht ganz sicher bei ihr, aber sie war ein warmer Quell. Hin und wieder, wenn ihr Blick ihn streifte, war ihm, als fahre ein Sonnenstrahl über seine Haut. Dieser Sonnenstrahl fehlte in dem Blick, mit dem sie Filipe Carvalho bedachte.
»Vermutlich ist er verunglückt. War er alleine, als er losgefahren ist?«
»Ja.«
»Wollte er jemanden abholen?«
»Ich weiß nicht.«
»Was hat er gesagt?«
»Nichts.«
Die Mienen von Graciana und Carlos verhärteten sich.
»Ich weiß nicht«, sagte Carlos scheinbar leichthin, »aber ich kann mir vorstellen, dass, wenn ich nach dahinten gehe, dass da hinter den Autowracks ein Gewächshaus steht. Ein Gewächshaus mit Cannabis.«
Graciana merkte erstaunt auf und musterte ihren Kollegen eingehend, um festzustellen, ob er bluffte oder nicht. Filipe Carvalho dagegen wusste bereits, dass er es nicht tat.
»Wenn ich mich in dieser Hitze dahin quälen muss, Filipe, krieg ich vermutlich ziemlich schlechte Laune. Wenn ich da jetzt hingehen muss, damit wir dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen müssen.«
Mehr brauchte es nicht.
»Alles gut, Carlos. Wusste ja nicht, dass das so wichtig ist. Also, er hat gestern Abend angerufen. Dass er das Boot braucht, die Flor. Ich hab’s aufgetankt, er war heute Morgen hier, ist rausgefahren, wie sonst auch.«
»Sonst auch?«, fragte Graciana.
»Na, er hat die Flor ja oft für seine Arbeit gebraucht.«
»Für seine Schnüffelei«, fügte Carlos missbilligend hinzu.
Vor Losts innerem Auge entstand das Bild eines Mannes, der an Bord eines Boots auf hoher See saß, die Nase in die Luft hielt und die Witterung aufnahm.
»Für die Grundstücke, an die man von der Straße aus nicht gut rankommt. Und an die Leute, die da wohnen«, erklärte Filipe Carvalho in Gracianas Richtung.
Die Kommissarin nickte.
»Und zu welchem Grundstück wollte er heute?«
Filipe Carvalho antwortete mit einem Achselzucken und einem Gesichtsausdruck, der vermitteln sollte, dass er als der seriöse Geschäftsmann, der er gerne wäre, niemals einem Kunden so eine indiskrete Frage gestellt hätte.
»O Olho war eben O Olho«, sagte er dann noch.
Das brachte alles, was man über Markus Conrad sagen konnte, auf den Punkt.
»Er hat also das Boot gemietet und ist alleine rausgefahren«, fasste Sub-Inspektor Carlos Esteves auf ihrer Fahrt zurück von Arroteia über die N 125 zusammen, »dann strandet er mit der Flor auf der Ostsandbank. Und mit einem Genickbruch.«
Sie hatten vor, ihren neuen Kollegen und Gast jetzt wie ursprünglich geplant zu seinem neuen Zuhause zu fahren, das er für seinen einjährigen Aufenthalt beziehen sollte.
»Angenommen, es war kein Unfall«, dachte seine Kollegin Graciana Rosado laut, »dann gibt es für die Chronologie der Verletzungen nur zwei Möglichkeiten: Entweder hat ihm jemand einen so schweren Schlag versetzt, dass er gestürzt ist und sich das Genick als Folge des Sturzes gebrochen hat. Oder der Täter hat ihm den Halswirbel gebrochen, und O Olho hat sich die Wunde an der Stirn sozusagen post mortem zugezogen.«
»In beiden Fällen muss es auf dem Meer zu einer Begegnung gekommen sein«, fügte Carlos hinzu, »vielleicht reden wir mal mit Capitão de Avis, auch wenn’s ihm nicht passt.«