Spur der Schatten - Gil Ribeiro - E-Book
SONDERANGEBOT

Spur der Schatten E-Book

Gil Ribeiro

4,6
10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Alle lieben Lost – Im zweiten Fall seiner fulminanten Krimireihe um Leander Lost führt uns Gil Ribeiro in einen äußerst spannenden Fall an der portugiesischen Algarve, dessen Hintergründe um die koloniale Vergangenheit Portugals kreisen. »Ich habe das Gefühl, ich bin jetzt angekommen«, hatte Leander Lost schwer verletzt, aber glücklich zu seinen neuen portugiesischen Kollegen gesagt, nachdem sie in ihrem ersten gemeinsamen Fall den schmutzigen Geschäften eines Wasserversorgers an der Algarve auf die Schliche gekommen waren – und nachdem Lost endlich verstanden hatte, wie man einen gelungenen Witz macht. So stürzt sich der schlaksige Deutsche und Asperger-Autist gemeinsam mit den Sub-Inspektoren Graciana Rosado und Carlos Esteves in die Ermittlungen um eine verschwundene Kollegin – zumal er fasziniert ist von der Tochter der Verschwundenen, die ähnlich eigenwillig auf die Welt zu blicken scheint wie er … Erneut erzählt Gil Ribeiro mit Dialogwitz und einer solchen Herzenswärme von Leander Lost und seinen Kollegen – man möchte am liebsten sofort an die Algarve reisen, um diese fantastischen Leute kennenzulernen und mitzuermitteln.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 487

Bewertungen
4,6 (54 Bewertungen)
40
7
7
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gil Ribeiro

LOST IN FUSETA

Spur der Schatten

Ein Portugal-Krimi

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Gil Ribeiro

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

 

 

Hinweis für E-Reader-Leserinnen und Leser

Wenn Sie sich die Karte in Farbe und zoombar ansehen möchten, dann geben Sie bitte die folgende Internetadresse im Browser Ihres Computers oder Smartphones ein:

 

www.kiwi-verlag.de/karten-spur-der-schatten

 

Hinweis für Leserinnen und Leser auf dem Smartphone/Tablet oder am Computer

Sie möchten sich die Karte zoombar anschauen? Dann tippen bzw. klicken Sie bitte auf die Abbildung. Es öffnet sich ein neues Fenster mit der entsprechenden Website-Ansicht.

Inhaltsverzeichnis

Motto

Tag Eins

1. Kapitel

Tag Zwei

2. Kapitel

3. Kapitel

Tag Drei

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Tag Vier

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Tag Fünf

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Tag Sechs

33. Kapitel

Tag Sieben

34. Kapitel

Epilog

Dank

Leseprobe »Gezeitenmord«

Inhaltsverzeichnis

Der Mensch ist nichts an sich.

Er ist nur eine grenzenlose Chance.

Aber er ist der grenzenlos

Verantwortliche für diese Chance.

– Albert Camus –

Inhaltsverzeichnis

Tag Eins

1.

Man war schon zum wiederholten Male mit dem Wunsch an ihn herangetreten, er möge jemanden verschwinden lassen. Einmal hatte er dieses Ansinnen ausgeschlagen, aber mehrfach schon mit seiner Moral vereinbaren können.

Moral war etwas sehr Anpassungsfähiges. Sie war stets Produkt einer Epoche, einer Zeitströmung, einer Kultur, der Tradition und vieler, vieler Faktoren mehr. Beständig wandelte sie ihre Gestalt. Moral war ein großer Opportunist. Man konnte sie seinen Bedürfnissen anpassen.

Auch Nélsons Moral war früher eine andere gewesen als heute. Den Mord, der vor ihm lag, hätte er noch vor zehn Jahren nicht begangen. Heute, als er auf dem Aeroporto de Faro landete, schon.

 

Nélson hatte sich für einen hellgrauen Anzug und ein Hemd ohne Krawatte entschieden – ein Geschäftsreisender unter vielen. Dazu passte, dass er nur Handgepäck bei sich hatte. Den Blick der Zollbeamtin konnte er durch seine Brille reinen Gewissens erwidern, er schenkte ihr sogar ein Lächeln. Sein Handgepäck war sauber, es existierte auch kein versteckter Hohlraum im Deckel. Sie kontrollierte ihn nicht, sondern prüfte nur seine Papiere und winkte ihn dann freundlich durch.

Zwei Dinge waren ihm von seinem Vater mit auf den Weg gegeben worden, die Nélson so sehr verinnerlicht hatte, dass sie Teil seines Wesens geworden waren.

A dor é o melhor professor. Schmerz ist der beste Lehrmeister – deswegen hatte sein Vater es auch nicht verhindert, als er mit drei Jahren groß genug war, um seine kleine Hand auf die Herdplatte zu legen. Dass der Vater seine Hand danach in Eiswasser tauchte, mit Brandsalbe behandelte und seine Tränen trocknete, all das sollte er vergessen. Aber nicht den Schmerz.

Das andere bestand darin, Dinge zu einem Ende zu führen: Dass ein gegebenes Wort ein gegebenes Wort war und bei Männern wie Nélsons Vater und in den Kreisen, in denen er verkehrte, hoch im Kurs stand. Ein Mann, der etwas auf sich hielt, agierte souverän und diszipliniert. Und die Selbstdisziplin gebot es, ein gegebenes Versprechen zu halten. Koste es, was es wolle.

Daran dachte er, während er gegenüber vom Flughafengebäude bei Hertz auf seinen Mietwagen wartete und ihm die warme Mai-Sonne ins Gesicht schien.

 

Belmiro und Pepe waren nur zehn Minuten vor ihm in Faro gelandet. Sie waren nicht direkt geflogen. Nélson hatte sie sicherheitshalber mit einem Gabelflug über Paris hierher gelotst. Und natürlich waren Belmiro und Pepe nicht ihre richtigen Vornamen, sondern diejenigen, die in ihren gefälschten Papieren standen.

Nélson bestand grundsätzlich darauf, dass sie sich gegenseitig mit ihren falschen Namen anredeten und sie auch möglichst in ihren Gedanken verwendeten. Die Namen sollten ihnen für die Dauer des Einsatzes in Fleisch und Blut übergehen.

Mit Pepe arbeitete er schon lange. Und obwohl er Geschäftliches und Privates ansonsten rigoros trennte, waren sie so etwas wie Freunde geworden. Belmiro hingegen war erst vor zwei Jahren zu ihnen gestoßen. Und Nélson wusste, dass der junge Mann über seine Sicherheitsmaßnahmen wie den Umweg über Paris heimlich den Kopf schüttelte.

»Wen kümmert es später, wenn die Sache vorbei ist, ob wir alle drei in einer Maschine angekommen sind oder in zweien?«, hatte er gefragt, als Nélson ihm die Tickets übergeben hatte.

»Nur mich«, hatte Nélson wahrheitsgemäß geantwortet.

Denn natürlich würden sie sich absetzen und ihre Spuren verwischen, man würde sehr wahrscheinlich niemals herausfinden, wie sie nach Faro gekommen waren. Und selbst wenn, hätte es für sie keine Konsequenzen, denn hinter ihren Namen verbarg sich … nichts. Sie waren wie Geister, wie Schatten. Nur Abbilder echter Personen.

Möglicherweise hatte Belmiro also recht, aber Nélson schloss Fehler im Vorhinein durch zwei- und dreifache Absicherung aus. Wem ein Fehler unterlief, hatte sich nicht ausreichend vorbereitet.

Natürlich hätten sie auch denselben Wagen nehmen können, aber hier griff Nélsons nächste Sicherheitsvorkehrung. Er nahm den Mietwagen, sie den Shuttlebus nach Faro.

 

Auf einem Feldweg kurz vor der Autobahn, über die er nach Lagos fahren wollte, fand er wie vereinbart das Wohnmobil vor. Er hatte einen Kontaktmann in Portugal, der alle logistischen Dinge für ihn erledigte. Das Anmieten einer Wohnung etwa, den Einkauf von Lebensmitteln, Kleidung, Medikamenten und allerlei mehr – oder eben das Organisieren eines toten Briefkastens wie dieses Wohnmobil. Er nannte seinen Kontaktmann João, einfach, weil es der am weitesten verbreitete männliche Vorname im Land war.

Das Wohnmobil war ein kleines, älteres Modell mit deutlichen Gebrauchsspuren. Es stand im Schatten eines violett blühenden Jacarandabaumes, dessen verschwenderischer Pracht Nélson durchaus Aufmerksamkeit schenkte. Mit einem Zweitschlüssel öffnete er die Tür und klappte die Sitzfläche der Dinette hoch. In dem Stauraum darunter fand er – in drei grobe Decken eingewickelt – das, mit dessen Beschaffung er João beauftragt hatte. Eine kleine Pistole, geladen, dazu drei Ersatzmagazine. Die »Damenpistole«, wie sie manchmal von Laien tituliert wurde, verschwand beinahe gänzlich in seiner Hand, so klein war sie. Und dazu federleicht. Nélson verstaute sie problemlos in der Innentasche seines Jacketts. In der zweiten Decke fand er die Einzelteile des Wintores-Präzisionsgewehres, das er mit verbundenen Augen zusammensetzen konnte. Er hatte es beim letzten Mal nicht benötigt und auch jetzt wieder lediglich als Reserve dabei, für den Fall, dass er kurzzeitig umdisponieren musste. Die dritte Decke war eher ein Tuch. Es umhüllte eine kleine weiße Schachtel, der Nélson einen Flakon entnahm. Darin schimmerte eine klare, gelblich grüne Flüssigkeit, die an einen Chardonnay-Wein erinnerte.

Nélson betrat das kleine Bad. Dort entledigte er sich der grauhaarigen Perücke, deren Locken ihm bis auf den Kragen hinabgefallen waren. Die Brille mit Fensterglas warf er in den Müll und rasierte sich den grau gefärbten Vollbart fein säuberlich ab. Anschließend spreizte er die Augenlider mit Daumen und Zeigefinger auseinander und nahm die hellblauen Kontaktlinsen heraus, die der Brille folgten.

Nachdem er das Wohnmobil abgeschlossen und die Einzelteile des Gewehrs beim Reserverad unterhalb des Kofferraums in seinem Mietwagen verstaut hatte, warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Zum jetzigen Zeitpunkt sollten Belmiro und Pepe bereits die wendige Motorjacht, die João auf Nélsons Weisung gechartert hatte, aus der Marina von Faro manövriert und Kurs nach Westen genommen haben. Wenn alles planmäßig verlief, würden sie unabhängig voneinander operieren und sich erst im Anschluss im Four Seasons in Rabat wiedersehen.

Inhaltsverzeichnis

Tag Zwei

2.

Später, als alles vorüber war, fragten sich sämtliche portugiesischen Tageszeitungen von der Correio da Manhã bis zur Público, ja selbst Abgeordnete des Lissaboner Parlaments, wann und wo all das seinen Anfang genommen hatte.

Antworten gab es viele.

Die Wahrheit war: am 15. Mai 2017.

Als der Frühling an der Algarve dem Frühsommer gewichen und der Himmel von einem intensiven Azur gekennzeichnet war. Ein Azur – da waren sich alle hier unten an der Küste einig –, das es nirgendwo sonst gab. Die Landschaft war in ein kräftiges Grün getaucht, die Olivenhaine blühten in zartem Weiß, und seit ein paar Wochen standen wieder Tische und Stühle vor den kleinen Bars, den Restaurants und den Pastelarias mit ihren süßen Versuchungen. Jung und Alt bevölkerten die Lokale und tauschten Neuigkeiten aus oder schmunzelten einfach in die Sonne und genossen eine filterlose Zigarette und einen kräftigen Bica. All das fegte die Saudade, jene tiefe Melancholie und Teil der portugiesischen Seele, nicht gänzlich hinweg, aber immerhin ließ sie sich eine Weile nicht allzu sehr blicken.

Am 15. Mai jedenfalls, als die Angelegenheit ihren Anfang nahm, herrschten noch am späten Nachmittag angenehme 24 Grad. Und es begann in dem schwarzen Volvo Kombi, der auf dem Weg von Faro zu dem kleinen Küstenstädtchen Fuseta auf der Nationalstraße N 125 am Abend jenes Tages trotz Gegenverkehrs zwei Laster überholte.

Gelenkt wurde der Wagen von Graciana Rosado, Sub-Inspektorin der Polícia Judiciária, die an Holly Hunter erinnerte. Ihre geringe Körpergröße hatte sie dazu veranlasst, den Sitz in die vorderste Position zu bringen, die möglich war. Graciana hatte die schulterlangen Haare wie immer im Dienst zu einem praktischen Pferdeschwanz gebändigt. Sie trug weiße Turnschuhe, eine hellblaue Jeans und eine weiße Bluse.

Neben ihr saß ihr Kollege Carlos Esteves in einem beigen, wie immer zerknitterten Leinenjackett und knabberte an einem Hähnchenspieß, die Sonnenbrille ins halblange, lockige Haar geschoben. Er hatte aufgehört, sich bei den Überholmanövern Gracianas Sorgen um seine nähere Zukunft zu machen. Irgendwie hatte sie es immer fertiggebracht, sie lebend da durchzubringen. Und wenn er sterben sollte, weil er an ihrer Seite verunglückte, dann wenigstens mit einem nichts ahnenden Lächeln und etwas zu essen in der Hand. Es gab schlimmere Möglichkeiten zu sterben.

Aber natürlich gelang Graciana Rosado das Überholmanöver auch dieses Mal, was beide Lkw-Fahrer mit einem lang gezogenen Hupen quittierten. »Was dagegen, wenn wir für morgen noch die Post aus Moncarapacho mitnehmen?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin sowieso mit den Jungs da verabredet.«

Sie runzelte die Stirn. »Nicht in der Bar Fuzeta?«

Für gewöhnlich traf Carlos Esteves sich mit den Jungs jeden Montagabend in der Bar Fuzeta, deren Besitzer sein kleines, von leckeren Küchendünsten durchwehtes Lokal trotzig mit der ursprünglichen Schreibweise des Ortes versehen hatte.

»Uns war nach Abwechslung.«

Sie warf ihm einen wissenden Seitenblick zu. »Abwechslung?«

Ihre Intuition war einfach untrüglich. Aber Carlos Esteves machte das Gesicht einer Sphinx, während die weißen Häuser mit ihren gelb, blau und grün umrahmten Fenstern an ihnen vorbeiflogen. Und mit ihnen die Cafés und Bars mit den alten Männern auf Plastikstühlen davor, die sich mit Schiebermütze und einem Bier in der Hand von früher erzählten. Oder schwiegen und der Luft beim Vorbeiwehen zusahen.

»Außerdem hat mit dem neuen Besitzer das Essen nachgelassen«, schob Carlos nach.

Das stimmte – in die Bar Fuzeta verirrten sich überwiegend nur noch Touristen, die Fuseta das erste Mal besuchten. Alle anderen bevölkerten das benachbarte Capri.

In Fuseta kannte noch jeder jeden – was natürlich nicht immer einen Vorteil barg –, aber meistens schon. Die Familien von Graciana Rosado und Carlos Esteves waren hier seit Generationen tief verwurzelt. Jede Hausecke, jede Bar, jeder Hund hatte hier seine ganz eigene Geschichte, mit der die beiden Sub-Inspektoren seit Kindesbeinen an groß geworden waren. Ja, Fuseta hatte sogar seinen eigenen Geruch und sich seine Ursprünglichkeit bewahrt. Denn während andere Orte an der Westalgarve von Bettenburgen und Golfplätzen heimgesucht worden waren, blieben Fuseta und andere Orte an der Ostalgarve bis heute verschont. Kein einziges Hotel, keine Strandpromenade, nur ein Campingplatz. Die Ria Formosa, die gigantische Lagunenlandschaft mit den vorgelagerten Inseln, die sich während des verheerenden Bebens 1755 aus dem Atlantik erhoben hatten, lag wie ein schützender Gürtel vor Fuseta und dem östlichen Teil der Algarve.

Von ihrer Dienststelle in Faro trennten Graciana Rosado und Carlos Esteves rund 30 Minuten Autofahrt, eine Dauer, die Graciana selbstredend noch nie benötigt hatte. Nur wenige Kilometer weiter nördlich befand sich Moncarapacho, das mit seinen 8000 Einwohnern das Fischerdorf an der Küste um das Vierfache übertraf. Hier befand sich der nächste Posten der GNR, der Guarda Nacional Republicana.

Beide hatten dort ihre Laufbahn begonnen und sich mit kleineren Gesetzesübertretungen herumgeschlagen: Fahren ohne Führerschein etwa, Ladendiebstahl oder Ehekrach. Verkehrsunfälle, entlaufene Hunde, Körperverletzung. Seit ihrem Wechsel zur Kripo in Faro bearbeiteten sie Kapitalverbrechen: schwere Körperverletzung, Betrug, Raub, Mord und dergleichen. Ihr Zuständigkeitsbereich erstreckte sich über die östliche Algarve, das sogenannte Sotavento.

Doch wenn es sich ergab, schauten sie gerne in ihrer alten Wirkungsstätte vorbei, plauderten mit den früheren Kollegen und nahmen die Post mit, die für die Polícia Judiciária bestimmt war.

 

Also nahm Graciana Rosado die N 398 nach Norden, eine schmale, zweispurige Straße, die sie an grünen Wiesen und sandigen Äckern entlangtrug. Hier und da grasten Pferde oder ein Esel, und im Juli, spätestens August, würden sich die Wiesen unter der sengenden Hitze in Steppen aus gelben Halmen verwandeln.

Nach drei Kilometern führte sie ihr Weg vorbei am örtlichen Friedhof mit seinen verwitterten und neuen Gruften mitten auf die Hauptstraße des Ortes, vorbei an der Galp-Tankstelle mit ihren drei knapp überdachten Zapfsäulen und den baufälligen, verlassenen Gebäuden, die sich mit modernen abwechselten. All das von Bäumen flankiert, die in den Bürgersteigen aus Pflastersteinen eingefasst waren.

Am Ende der Hauptstraße führte eine enge Gasse weiter zum Revier der GNR. Das Gebäude selbst war ein zweigeschossiger, pinkfarbener Eckbau mit weißen Fensterläden und einem maurisch geschwungenen Bogen über dem Eingang, auf dem in grüner Schrift auf weißem Grund das Kürzel GNR prangte. Umgeben war das Gebäude von weiß getünchten Häusern mit flachen Dächern aus Tonziegeln – oder mit Dachterrassen, auf denen die Wäsche flatterte.

Gleich im ersten Raum trafen sie Luís Dias an, dessen mangelnde Reflexe das Solitaire-Spiel auf seinem Monitor nicht rechtzeitig verschwinden ließen.

»Olá, Luís.«

»Olá.«

Luís Dias schob mit seinen 62 Jahren eine ruhige Kugel bis zu seiner Pensionierung. Damit hatte er bereits vor dreißig Jahren begonnen und seitdem an Leibesumfang kräftig zugelegt. Was ihn aber damals wie heute nicht daran hinderte, sich bevorzugt vor blonden Touristinnen aufzuspielen.

Ana Gomes hingegen, die sich die Schichten mit Luís und ihrer Nagelfeile teilte, war in Gracianas Alter. An ihrem ersten Tag hatte sie ihre Uniform so umgenäht, dass sich die männlichen Verkehrsteilnehmer gerne Knöllchen von ihr an den Scheibenwischer heften ließen. Ana patrouillierte bevorzugt mit dem Wagen durch das Städtchen und die Umgebung, hielt hier und da einen Plausch und verteilte die erwähnten Knöllchen, wenn es nicht gelang, sie rechtzeitig mit einem Bica umzustimmen. Oder einem Kompliment.

»Ist Ana noch unterwegs?«, fragte Carlos.

»Nein, sie … ähm, sie ist …«

Luís wird wirklich alt, dachte Graciana, früher hätte er schneller eine Ausrede parat gehabt. Seine Kollegin hatte augenscheinlich ihren Dienstschluss ein wenig vorgezogen. »Ihre alte Mutter, hm?«, baute Graciana ihm daher eine Brücke.

»Genau«, bestätigte Luís erleichtert.

Graciana nickte verständnisvoll, während Carlos eine Augenbraue hochzog und ihr einen vielsagenden Blick zuwarf.

Luís stand auf und schob den Stuhl geräuschvoll unter den Schreibtisch. Um dann einen demonstrativen Blick auf die Uhr an der Wand zu werfen. »Meu deus, schon drei nach sechs«, sagte er mit schlecht gespielter Verwunderung, »seid ihr noch einen Moment hier?«

Dabei vermied er den Blickkontakt mit Carlos, der ihm gegenüber nicht so nachsichtig auftrat wie Graciana. Carlos fand nämlich, Luís und Ana überspannten bisweilen den Bogen. Wobei bisweilen eine gutherzige Untertreibung war.

Graciana nickte: »Geh ruhig. Wer hat Nachtschicht? Teresa?«

»Sim.«

»Gut. Ich warte hier, bis sie kommt.«

Luís schnappte sich seine Jacke, bevor Graciana es sich anders überlegte oder Carlos sich doch noch einmischte, wünschte im Vorbeigehen ein flüchtiges boa tarde und war schon verschwunden.

Graciana wandte sich den Postfächern in der Ecke des Raumes zu: verwitterte, offene Holzschubladen, an denen die Namen der Polizisten prangten. Und eines, dessen Inhalt für die Weiterleitung an das Kommissariat in Faro bestimmt war. Sie blätterte die Kuverts durch, ein Brief war an sie persönlich gerichtet. Der Absender trug den Stempel des Lissabonner Innenministeriums. Graciana verstaute den Brief in der Innentasche ihrer Jacke, die so weit hinabreichte, dass sie die Glock 26 verdeckte, die sie im Gürtelholster trug.

»Ich wusste es«, sagte Carlos mit vollem Mund. Sie schaute über ihre Schulter: Er kam gerade mit zwei Blätterteigpastetchen aus der Teeküche. Dabei strahlte sein Gesicht von innen mit so kindlicher Freude, dass sie einfach lächeln musste.

»Auch?« Er hielt ihr eine der Pasteten entgegen.

Diese Geste rührte Graciana. Selbst wenn sie beide auf einem eisigen Berggipfel am Verhungern wären, würde er das letzte Stück Brot mit ihr teilen. »Obrigada«, lehnte sie ab und schaute hinaus in den Himmel, in den sich das spezielle Azur mischte, mit dem sich die beginnende Dämmerung ankündigte. Azul – das portugiesische Wort für Farbe klang viel sinnlicher.

Dieses Azul war unvergleichlich. Sicherlich, das gab es auch in Lissabon oder weiter oben in Porto, aber hier unten an der Algarve, war es … anders. Weicher. Satter. Vertrauter.

Fünf Minuten später hatte Carlos die Pasteten verputzt. Sie schauten beide hoch zur Uhr an der Wand: zehn nach sechs. Carlos seufzte, stand auf und verschwand erneut in der Küche. Graciana fragte sich, wo er all die Kalorien ließ. Er machte schließlich einen großen Bogen um jedes Fitnessstudio und ging nie schneller als unbedingt nötig. Ein großer, in sich ruhender Kerl. Massig, aber nicht übergewichtig. Einer, mit dem man sich nur ungerne anlegte. Außerdem ging Carlos einem Streit sowieso nicht aus dem Weg. Er kehrte aus der Küche mit einem Sagres zurück, dessen Kronkorken er mit einem Feuerzeug öffnete.

 

Ein Bier und zehn Minuten später war Teresa Fiadeiro immer noch nicht im Revier erschienen. Graciana ging hinüber zum Flur, von wo aus sie einen Blick auf den Innenhof der GNR hatte, wo sich der Parkplatz befand. Aber der kleine blaue Renault der Kollegin war dort nicht zu sehen.

Teresa Fiadeiro war 57 Jahre alt und hatte vierzig davon in den Diensten der Guarda Nacional verbracht. Wenn Graciana sich recht entsann, war sie äußerst selten krank gewesen. Auf jeden Fall hätte sie in so einem Fall entweder angerufen oder ihren Mann vorbeigeschickt, als der noch lebte.

»Ich ruf Teresa an«, sagte Carlos. Graciana nickte und ging hinaus vor die Tür, von wo aus sie einen freien Blick in die Rua João Filipe Mendonça Vargues hatte, was ein langer Name für eine kurze Straße war, über die Teresa üblicherweise von ihrer Wohnung zu Fuß hierherkam. Bis auf eine Podenco-Hündin, die die Straßenseite wechselte, und einen Mopedfahrer, der ihr routiniert auswich, war niemand sonst auf der Rua Vargues unterwegs.

Teresa würde nicht kommen. Es war etwas passiert, das spürte Graciana. In ihrem Bauch. Und es würde ihr keiner glauben, auch das war Graciana klar. Denn im Augenblick hatte sich bei Licht betrachtet eine Kollegin lediglich um 20 Minuten verspätet.

Hinter ihr näherten sich Schritte, die neben ihr abstoppten: Carlos. Sie fing einen dezenten Duft von Parfüm auf. Er musste es gerade aufgetragen haben. Herb, frisch. Es passte zu ihm. Aber sie hatte noch nie erlebt, dass er sich eines Parfüms bediente, wenn er die Jungs traf.

»Sie geht nicht ran.«

»Handy oder Festnetz?«

»Beides.«

Sie ließen diese Tatsache beide für einen Augenblick sacken – um dann unterschiedliche Schlüsse daraus zu ziehen.

»Vielleicht ist sie krank.«

»Nein.«

»Oder sie steckt irgendwo im Stau oder …«

»Dann hätte sie sich gemeldet«, unterbrach Graciana ihn, »du kennst Teresa. Ich geh rüber zu ihr.« Sie wartete seine Reaktion nicht ab, sondern machte sich auf den Weg.

Ein Räuspern hinter ihr, das sie zu einem Blick über ihre Schulter veranlasste. »Ich bin im António, falls du mich suchst«, sagte Carlos. »Ich schließe hier ab.«

»Euer neuer Treffpunkt?«

Carlos Esteves nickte.

 

Die Wohnung von Teresa Fiadeiro lag nur rund dreihundert Meter vom GNR-Posten entfernt. Im ersten Stock über einem kleinen Supermarkt, Loja Fresca, der sein frisches Obst in blauen Plastikkästen auf dem schmalen Gehweg anbot.

Von unten konnte man die zwei großen verglasten Türen sehen, die aus Teresas Wohnung auf einen Balkon mit einem bauchigen schwarzen Metallgeländer führten. Die Rollläden waren hochgezogen.

Über eine abgewetzte, massive Steintreppe erreichte Graciana Rosado die unscheinbare, weiß gestrichene Wohnungstür, klingelte und lauschte. Drinnen war die Wohnung mit dunklen Holzdielen ausgelegt, wie sie wusste, aber kein Knarren drang an ihr Ohr. Nichts. Ein nochmaliges Klingeln ging auch ins Leere.

Für ein paar Augenblicke wusste Graciana nicht, was zu tun war. Aber dann erinnerte sie sich an Teresas Handy. Für ihre Generation sehr ungewöhnlich trug sie es immer bei sich. Teresa und ihr Handy an zwei verschiedenen Orten – unmöglich. Also zückte Graciana ihr eigenes und wählte die Mobilnummer von Teresa Fiadeiro.

Tatsächlich ertönte hinter der Wohnungstür der Beginn eines Liedes, das in Portugal jedes Kind kannte: Grândola, Vila Morena. Das geheime, über Rundfunk verbreitete Zeichen, auf das hin sich die Menschen 1974 gegen die Diktatur erhoben hatten. Das verbotene Lied war das Startsignal für einen Putsch linker Armeeeinheiten, der von der Bevölkerung gefeiert wurde und den Weg in die Demokratie ebnete. Die begeisterten Menschen schmückten ihre Soldaten mit roten Nelken, und in der Folge dieser »Nelkenrevolution« sagten sich auch Portugals letzte Kolonien vom Mutterland los.

Graciana wartete, bis das Lied zum fünften Mal begann. Beim sechsten Mal schlug sie mit dem Knauf ihrer Dienstwaffe das Glas oberhalb der Türklinke ein, griff hindurch und öffnete sich selbst.

Über den Flur, dessen Dielen unter ihrem Leichtgewicht knarrten, folgte sie dem Klingeln von Teresas Handy. Vorbei am Schlafzimmer und hinein in die kleine Küche mit dem winzigen Balkon zum Hinterhof. Auf einem kleinen Holztisch lag das Handy und spielte unablässig den Anfang von Grândola, Vila Morena.

Graciana brach den Anruf ab, sodass das Mobiltelefon verstummte. »Teresa?«

Keine Antwort.

Es kostete Graciana keine drei Minuten, die kleine Wohnung zu durchforsten und festzustellen, dass Teresa Fiadeiro nicht zu Hause war.

Aber ihr Handy war es.

Das passte nicht zusammen.

 

Das António war ein kleines, mit dunklen Stühlen und ebensolchen Holztischen ausgestattetes Lokal. Um etwas Platz hinzuzugewinnen, hatten die Besitzer einfach ein Holzdeck zimmern lassen, das um eine Wagenbreite in die Straße ragte, was hier naturgemäß niemanden störte. Darauf fanden noch einmal rund zehn Tische samt der obligatorischen Sonnenschirme Platz und verdoppelten so die verfügbaren Sitzplätze.

Trotz der schönen Abendstimmung befanden Carlos Esteves und die Jungs sich aber nicht draußen, was Graciana Rosado kurz stutzen ließ. Die Erklärung dafür trug einen kurzen schwarzen Rock, und die dunklen Haare fielen ihr bis hinab zu den Schulterblättern. Sie versprühte eine ansteckende Fröhlichkeit.

»Wer ist das?«, fragte Graciana so beiläufig wie möglich, als sie sich zu Carlos, Adrien und Gonçalo setzte, die dem Fußballspiel der Erzrivalen Benfica Lissabon und FC Porto nur mit geteilter Aufmerksamkeit folgten. Dass ihr Kollege seinen Blick auch nur für eine Zehntelsekunde von dem großen Flachbildschirm abwandte, war für Graciana weit mehr als ein Indiz.

Fußball war in Portugal Religion und Wissenschaft zugleich. Und heilig sowieso. Gestandene Männer wie ihr Vater schämten sich ihrer Tränen nicht, wenn ihr Lieblingsverein scheiterte. Jede Flanke, jedes persönliche Hoch oder Tief eines Spielers, jede Bemerkung auf einer Pressekonferenz wurde in fachmännischen Gesprächen seziert, von allen Seiten beleuchtet und heiß diskutiert.

Dass also Carlos Esteves, glühender Anhänger des FC Porto, seine Augen während des Spiels auf etwas richtete, was kein Fußball war, kam eigentlich nur vor, wenn man gerade von seiner Frau verlassen oder die Diagnose einer unheilbaren Krankheit erhalten hatte.

»Hm?«, merkte Adrien, der Fischer, auf und hob dabei nicht mal den Blick.

»Wer das ist«, wiederholte Graciana.

»Soares«, brummte Gonçalo, der dachte, sie frage nach dem Namen des Mittelstürmers, der gerade den Ball um einen Verteidiger von Benfica Lissabon herumzirkelte, um im Anschluss gegen die gegnerische Latte zu schießen.

Ein resigniertes Raunen ging durch das Lokal, das überwiegend von Männern frequentiert war. Jung und Alt saßen einträchtig nebeneinander und fieberten mit.

»Ich glaube, sie heißt Rúbia«, sagte Carlos schließlich mit jener leichten Überdosierung Gleichgültigkeit, die ihn entlarvte.

Graciana schätzte Rúbia auf Anfang dreißig. Diese trug ein paar Pfunde mit sich herum, und da sie sich unübersehbar wohl in ihrer Haut fühlte und es ihr Lächeln nicht schmälerte, war es auch ihrer Umgebung einerlei. Auf Carlos, so kombinierte Graciana, hatte sie zumindest Eindruck genug gemacht, um den Treffpunkt mit den Jungs nach immerhin vier Jahren ins António zu verlegen und Rasierwasser aufzutragen.

»Teresa ist nicht zu Hause, ihr Autoschlüssel fehlt«, brachte Graciana unvermittelt hervor.

Carlos, der zusammen mit den Jungs gerade Pastéis de bacalhau, kleine Kroketten aus Kabeljau, aß, seufzte. »Bitte, sie könnte überall sein.«

»Ihr Handy liegt auch zu Hause. Aber bleib du ruhig hier, wenn du meinst.«

Carlos blies die Wangen auf und atmete geräuschvoll aus. Sein Blick ging zu Rúbia. Seit ziemlich genau zwölf Tagen arbeitete sie als Kellnerin im António. Der Zufall wollte es, dass sie in Fuseta lebte. Eine kleine Anfrage beim Einwohnermeldeamt – angeblich wegen Falschparkens – hatte nicht nur ihre Adresse zutage gefördert, sondern auch ihre Steuerklasse. Ledig. Er hatte mindestens den halben Abend lang gelächelt.

Sein zweiter Blick galt dem Match auf dem Bildschirm. »Du weißt schon, wer da spielt?«

Erst als er keine Antwort erhielt, bemerkte er, dass Graciana das Lokal schon verlassen hatte. »Merda«, grummelte er und stapfte hinter ihr her. Sie wusste eben, welche Knöpfe sie bei ihm drücken musste.

Kurz vor dem Parkplatz der GNR holte er sie ein. »Gut, ihr Handy. Das ist nicht normal«, räumte er ein. »Sonst noch was?«

Graciana deutete ein Kopfschütteln an. »Ich habe eine Vermisstenmeldung aufgegeben. Und eine Fahndung nach ihrem Renault eingeleitet.«

Carlos war, als liefe er plötzlich gegen eine Wand. »Eine Fahndung? Überziehst du nicht etwas?«

Sie hatten den Volvo erreicht. Graciana öffnete die Fahrertür. »Nein«, antwortete sie bestimmt und machte dazu dieses Gesicht, das Carlos nur allzu gut kannte. Ihre Nasenflügel wurden dann schmal, die vollen Lippen verwandelten sich zu einem Strich, dazu blinzelte sie nervös. Das letzte Mal hatte sie es aufgesetzt, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass ihr Bruder Elias ums Leben gekommen war. Es war ein Ausdruck der Not, etwas nicht erklären zu können. Die Unfähigkeit, eine Gewissheit in Worte zu kleiden. Eine quälende Ohnmacht.

»Es ist ihr etwas passiert.«

Carlos Esteves war das Gegenteil von überzeugt, aber da sie ohne eine weitere Erklärung einfach einstieg, nahm er neben ihr Platz. »Wo wird nach ihrem Auto gefahndet?«, fragte er, als sie in der hereinbrechenden Nacht Moncarapacho hinter sich ließen.

»Im ganzen Land«, antwortete Graciana. Sie schloss für einen Augenblick die Augen und sog die Luft durch die Nase ein. »Hier riecht’s nach Fisch«, stellte sie fest.

Carlos nickte. Er zog ein Knäuel aus Servietten aus seiner Jacketttasche, formte aus Zeigefinger und Daumen eine kleine Spitzzange und zog auf diese Weise eine Krokette Bacalhau aus den Servietten. »Hab mir was einpacken lassen. Wohin fahren wir?«

»Zu Senhor Lost.«

Carlos warf ihr einen irritierten Blick zu. »Was hat der damit zu schaffen?«

»Ich hab mir eine Einzelverbindungsübersicht für Teresas Handy kommen lassen – das letzte Gespräch hat sie mit Leander Lost geführt.«

3.

Als Carlos Esteves und Graciana Rosado an der ausladenden Terrasse und an Flechten, Agavengewächsen und Johannisbrotbäumen vorbei zum zwölf Meter langen Swimmingpool gingen, der rundherum eingefriedet war und sich auf diese Weise neugierigen Blicken von außen entzog, begleitete sie das dutzendfache Zirpen der Grillen.

Zuerst sahen sie die schlaksige Gestalt des Deutschen, der in schwarzer Anzughose, weißem Hemd und Espadrilles am Beckenrand stand und mit einem Kescher Fliegen, Wespen und andere Insekten vor dem Ertrinken rettete. Hinter ihm glitzerte die aufgehende Venus am Abendhimmel. Und am Horizont gab sich eine überschaubare Anzahl an Lichtern ein Stelldichein – Fuseta.

Leander Lost hob den Blick, als sich seine portugiesischen Kollegen dem Pool näherten und ins indirekte Licht traten. »Boa noite«, begrüßte er sie.

»Boa noite, entschuldigen Sie die Störung, bitte«, gab Graciana zurück.

Sie und Carlos bemerkten jetzt die beiden Frauen unter dem Sonnenschirm, der immer noch aufgespannt war, obwohl sich langsam die Sterne gegen das Restlicht der Dämmerung durchsetzten.

Es waren Soraia Rosado und Zara Pinto, die dort im Schein einer Kerze saßen, sich unterhielten und an Oliven und Sardinen knabberten, die auf einem Grillrost schmorten.

»So«, sagte Graciana leise, die Koseform ihrer Schwester benutzend.

Diese stand auf und kam ihnen entgegen, die beiden nahmen sich kurz in den Arm, während Carlos sich dem Grill zuwandte.

»Darf ich?«

»Klar«, antwortete Zara. Sie waren sich vertraut. Trotzdem spürte Carlos, wie sich das Mädchen innerlich mit Siebenmeilenstiefeln von ihm entfernte und inzwischen eine Distanz zwischen ihnen klaffte, die ihn auf den Platz eines guten Bekannten verwies.

 

Die Villa Elias fand man nur, wenn man sich entweder verlief oder exakt wusste, wohin man wollte. Um sie zu erreichen, musste man von der zweispurigen Nationalstraße N 125 in einen unscheinbaren Feldweg abbiegen und ihm mehrere Hundert Meter vorbei an Schafwiesen und kleinen Hügeln folgen.

Sie bestand aus zwei Gebäuden: auf der einen Seite ein kleines Besucherhaus, das lediglich ein Schlafzimmer und ein Badezimmer beherbergte. Weiß getüncht und mit einer Dachterrasse, die sich über die gesamte Grundfläche erstreckte. Auf der anderen Seite das Hauptgebäude, das vier überschaubare Räume umfasste: Wohn-, Schlaf-, Esszimmer und Küche. Doch es bot darüber hinaus eine riesige überdachte Terrasse, in deren Ecke zwei Bänke und ein Tisch aus Stein einzementiert worden waren. Mit breiten Kissen ausgestattet, bot es eine herrliche Ecke zum Essen, Trinken, Lesen, Debattieren, Schlafen und Faulenzen. Es gab im Grunde nichts, was man in dieser vom Wind geschützten Ecke nicht tun konnte.

 

Hier hatte bis vor sieben Jahren Gracianas älterer Bruder Elias gelebt, der wie sie GNR-Polizist war, aber bei einem Raubüberfall erschossen worden war. Gracianas Eltern und ihre jüngere Schwester Soraia hatten das Anwesen in Schuss gehalten, aber nicht vermietet. Ein Verkauf wäre keinem von ihnen in den Sinn gekommen. Es blieb alles so, wie Elias es an jenem Morgen verlassen hatte.

»Irgendwann kommt der Punkt«, hatte ihr Vater gesagt, »dann fügt es sich.«

Und wie so oft bei ihrem Vater schwang da etwas Ungesagtes mit, was alle Mitglieder der Familie Rosado wie mit einem gesonderten Sinnesorgan wahrnahmen – nämlich, dass sie es spüren würden, wenn es so weit war.

Und so kam es.

Als im September des vergangenen Jahres im Zuge eines europäischen Austauschprogrammes der Hamburger Kommissar Leander Lost als Verstärkung der Polícia Judiciária zu ihnen stieß und die für ihn vorgesehene Wohnung wegen eines Wasserschadens kurzfristig ausfiel, fügte es sich. Alle Rosados spürten es. Ein Gefühl, das schwer in Worte zu fassen war. Soraia umschrieb es als die intuitive Ahnung, dass Elias damit einverstanden gewesen wäre. Und die anderen nickten.

So zog erst Lost hier ein und wenig später die Vollwaise Zara Pinto. Die widerspenstige Jugendliche, die in ihrem ersten gemeinsamen Fall die entscheidende Zeugin war, war anfangs so angenehm wie ein Schlangenbiss. Eine unbarmherzige Wut brodelte in ihr und lag in jedem Blick und ergoss sich in ihre Sätze – ein vernichtender Zorn auf ihre Mitmenschen, die ganze Welt und vor allem darüber, welch mieses Blatt das Leben ihr zugeschanzt hatte. Wie ein getretener und in die Enge getriebener Hund schnappte sie nach allem, was sich ihr näherte.

Und alle waren zurückgezuckt – nur der Deutsche nicht, der Alemão.

Die Unerbittlichkeit seiner Logik machte auch vor ihr nicht halt. Es gab nichts, was er beschönigte. In seiner Art zu denken und die Welt zu betrachten, gab es das Wort Rücksicht nicht. Noch dazu stellte Zara Tag um Tag fest, dass er sie niemals belügen würde.

Und so hatten zwar Gracianas Eltern offiziell die Vormundschaft für Zara übernommen – sie hatte vor einem Monat ihren 17. Geburtstag gefeiert –, aber ihr Zuhause war seitdem die Villa Elias.

 

Lost. Leander Lost. Ein überkorrekter, pedantischer, humorloser Deutscher – das nennt man einen Pleonasmus, hatte Antonio Rosado gesagt –, der es fertiggebracht hatte, im ausgehenden Hochsommer in einem schwarzen Anzug mit Krawatte hier aufzutauchen. Seine eingefrorene Mimik ließ sein blasses Gesicht mangels Falten jungenhaft wirken. Dazu kam die unangenehme Angewohnheit, seinem Gegenüber in die Augen zu starren.

Allerdings war nichts davon auf sein Herkunftsland zurückzuführen, sondern auf den Umstand, dass er gebürtiger Asperger-Autist war. Blind für nonverbale Kommunikation. Überfordert damit, die Mimik seiner Mitmenschen richtig zu deuten. Ohne Verständnis für Humor oder gar Ironie. Obendrein war er der Lüge unfähig – was die ersten gemeinsamen Ermittlungen von Graciana Rosado, Carlos Esteves und ihm durchaus erschwert hatte. Und als Leander Lost im Zuge einer Geiselnahme eine freie Schussbahn auf den Täter dadurch herstellte, dass er zunächst der Geisel ins Bein schoss, kam das nicht überall gut an. Insbesondere nicht bei der Geisel Carlos Esteves.

Aber als sie alle drei schließlich beim jeweils anderen das ehrliche Bemühen entdeckten, aufeinander zuzugehen und ein echtes Team zu bilden, brach das Eis. Spätestens als Leander Lost beim Abschluss ihres ersten Falles selbst schwer angeschossen worden war und die Lider schloss, bevor der Rettungswagen eintraf, konnten die portugiesischen Sub-Inspektoren an ihrem Entsetzen ablesen, wie sehr er schon einen festen Platz in ihrem Leben eingenommen hatte.

Mehr jedenfalls, als sie vermutet hätten.

Es war seine bisweilen kindlich anmutende Aufrichtigkeit, mit der er geradewegs in ihre Herzen marschiert war.

Aber Losts kleine Marotten, die das alltägliche Miteinander gehörig verkomplizieren konnten, sorgten verlässlich dafür, dass sich diesbezüglich keine trügerische Sentimentalität einschlich.

So hatten Graciana und Carlos ihn über den Dienst hinaus auch vorsichtig in ihr Privatleben eingebunden, siezten ihn aber nach wie vor, da er darauf Wert zu legen schien. Mittlerweile hatten sie so etwas wie einen normalen Umgang miteinander gefunden, der von Vertrauen und Wertschätzung geprägt war.

 

Und nicht nur sie – auch Soraia, Gracianas Schwester, die ihren Platz unter dem Sonnenschirm verlassen hatte und über die Ecke des Pools zu ihnen balanciert war. »Ich habe Zara etwas Nachhilfe gegeben«, erklärte Soraia und errötete dabei.

»Das ist gut«, sagte Graciana und bemühte sich, ihrer Stimme einen neutralen Klang zu verleihen. Soraia hatte vor Kurzem bei einem Aufbauprojekt für Kinder in Brasilien geholfen. Eigentlich hatte sie sich dort für ein Jahr engagieren wollen, war aber nach ziemlich genau vier Wochen wieder an ihre alte Arbeitsstelle im örtlichen Kindergarten zurückgekehrt.

Seitdem war Soraia wieder häufig in der Villa Elias anzutreffen, räumte auf, schnitt die Pflanzen zurück oder gab besagte Nachhilfe. Eine Unterstützung, die Zara dringend nötig hatte, immerhin hielt sie den Rekord im Schulschwänzen und hatte fächerübergreifend einiges nachzuholen.

»Lecker«, gab Carlos zu, als Leander Lost zu ihm trat. Er schnappte sich noch eine weitere Sardine. »Schöne Nacht«, fügte er hinzu.

Der Deutsche nickte, sah kurz in den Sternenhimmel und bestätigte dann Carlos’ Feststellung. »Wir haben eine Regenwahrscheinlichkeit von 17 Prozent.«

Carlos sah, wie Zara im Halbdunkel grinsen musste. »Gut zu wissen, Senhor Lost.«

Ja, das Wissen. Leander wusste, dass die Menschen üblicherweise Regen nicht mit schönem Wetter verbanden. Er schon. Wenn er in seinem Bett lag, die Regentropfen gegen das Fenster trommelten und bei ihrem Aufprall einen Singsang auf dem Dach erzeugten, gab es für ihn nichts Beruhigenderes auf der Welt. Denn dann war er zurück im Bauch seiner Mutter. Weit weg von den Fallstricken, Boshaftigkeiten und Rätseln des menschlichen Miteinanders.

Graciana stellte sich ebenfalls neben den Grill und suchte den Blickkontakt mit ihm.

Aus ihrem mangelnden Blinzeln, der Andeutung jener senkrechten Sorgenfalte, die zwischen den Brauen ihren Ursprung nahm und die kurze Strecke bis hinunter zur Nasenwurzel verlief, sowie der leicht aufeinandergepressten Lippen dechiffrierte Leander, dass es eine ernste Angelegenheit war, die seine Vorgesetzte nach Dienstschluss bei ihm auftauchen ließ.

»Wir müssen Sie kurz sprechen«, eröffnete sie ihm. »Unter vier Augen.«

Lost hatte inzwischen begriffen, dass sie keinen Platz aufsuchen wollte, über dem vier Augen hingen, sondern dass es sich um eine Redewendung für ein vertrauliches Gespräch handelte. Ein vertrauliches Gespräch zwischen zwei Menschen, die durch jeweils ein Augenpaar repräsentiert wurden. Wendete man es auf Einäugige an, konnten damit sogar bis zu vier Personen gemeint sein. Zyklopen, zum Beispiel.

»Teresa Fiadeiro von der GNR in Moncarapacho ist verschwunden. Und den letzten Telefonkontakt hatte sie mit Ihnen.«

»Verschwunden? Wie meinen Sie das?«

»Sie ist nicht zum Dienst erschienen, sie ist nicht zu Hause und ihr Auto ist nicht da.«

»Sie könnte weggefahren sein«, sagte Leander Lost.

Carlos realisierte, dass er selbst kaum merklich nickte. Sie standen inzwischen in der Küche der Villa Elias.

»Ihr Handy liegt in ihrer Wohnung.«

»Warum sollte sie das am Fahren hindern?«

Sie erzählten ihm, wie vernarrt Teresa Fiadeiro in ihr Smartphone war. Genauer: in dessen Fähigkeit, ihre Schritte zu zählen, samt der Stockwerke, die sie täglich zurücklegte. Teresa Fiadeiro war eine Sportbesessene, für ihre 57 Jahre daher außergewöhnlich fit – sie hatte in den letzten fünf Jahren regelmäßig am Mai-Marathon in Lissabon teilgenommen und auch dieses Jahr wieder für ihn trainiert, Startnummer 249 am 21. Mai 2017 – und niemals ohne ihr Handy anzutreffen.

»Niemals?«, fragte Lost.

»Niemals«, bestätigte Carlos.

»Gibt es in ihrer Wohnung Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen?«

»Nein.«

»Dann«, so Lost, »sollten Sie umgehend eine Fahndung nach ihr auslösen.«

»Das hat Senhora Graciana schon veranlasst«, sagte Carlos, »eine verdeckte Fahndung nach ihrem Wagen läuft.«

»Das letzte Telefongespräch, das Senhora Teresa geführt hat, hatte sie mit Ihnen«, knüpfte Graciana Rosado an ihre Bemerkung am Pool wieder an, »und zwar heute um kurz nach zwölf. Worum ging es da?«

Lost, der üblicherweise keine Sekunde mit seinen Antworten zögerte, suchte nach einer passenden Formulierung. »Sie hat mir ein paar Ratschläge gegeben.«

»Ob es klug ist, in der Hitze schwarze Anzüge zu tragen?«, konnte Carlos sich nicht verkneifen und grinste.

Graciana warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, aber der Spaß war es wert gewesen. Zumal er bei Lost nichts dabei riskierte. Ironie war dem Mann schließlich fremd, er nahm jede Frage für bare Münze.

»Nein. Was bei der Anbahnung einer Vaterschaft zu berücksichtigen ist.«

 

Die Neugier nagte sich die ganze Nacht quer durch ihre Köpfe und wieder zurück. Vaterschaft? Wie kam er darauf? Und mit wem? Gab es denn überhaupt schon eine »sie«? Und wenn es sie gab, wusste sie schon von ihrer Rolle in seinem Vorhaben? Oder würde Senhor Lost wie gewohnt erst alles haarklein planen und sich dann die Frau für dieses Unterfangen suchen? Oder hatte er eine Adoption im Sinn?

Diese und viele weitere Fragen konnten Carlos Esteves und Graciana Rosado zu ihrem Bedauern leider nicht gemeinsam erörtern, denn sie durchforsteten bis fünf Uhr morgens in getrennten Fahrzeugen die Algarve auf der Suche nach Teresa Fiadeiro. Oder ihrem Auto, einem Renault Clio mit dem Kennzeichen 23-06-IZ. Und die Funkdisziplin zwang Carlos und Graciana, ihre Handys währenddessen nicht zu benutzen – für den Fall, dass die Vermisste versuchen sollte, Kontakt mit ihnen aufzunehmen.

Rund zwei Dutzend Beamte waren es, die bis zum Morgengrauen nach Teresa Fiadeiro suchten. Die GNR-Stationen aus Tavira, Olhão, Loulé und anderen Ortschaften rückten aus und suchten Planquadrate ab, die Graciana Rosado ihnen zugeteilt hatte. Sie begannen in Moncarapacho und breiteten sich dann kreisförmig immer weiter aus.

Aber neben diesen zwei Dutzend gab es über hundert andere, die sich mehr oder minder intensiv an der Suche beteiligten. Teresa Fiadeiro war in der Gegend bekannt. Ob es um einen platten Reifen ging, eine suizidgefährdete Tochter, einen entlaufenen Hund – immer war die Frau von der GNR zur Stelle, Tag und Nacht und wenn es die Situation erforderte, auch am Wochenende.

Moncarapacho war für sie nicht nur ein Ort, in dem sie lebte. Der Supermercado an der Ecke, die Kirche, das António, die Galp-Tankstelle – für Fremde sicherlich keine besonderen Orte, aber für Teresa waren sie angefüllt mit Erinnerungen, ihr ganzes Leben war an ihnen ablesbar. Sie waren ihre Heimat. Und diese Heimat – »Schon gehört? Teresa wird vermisst!« – kam gegen halb elf am Abend auf die Beine und beteiligte sich an der Suche.

 

Lost hingegen, der sich nach einem knappen halben Jahr zwar sehr gut in Fuseta und Umgebung zurechtfand, hier aber eben nicht aufgewachsen war, fügte währenddessen die GPS-Daten von Teresa Fiadeiros Handy mit jenen Orten, an denen sie in der letzten Zeit mit ihrer Kreditkarte gezahlt hatte, zu einem Profil zusammen. Auf diese Weise konnte er bestimmte auffällige Orte, die sie nach Dienstschluss aufgesucht hatte, an Sub-Inspektorin Rosado weiterleiten, die daraufhin die verfügbaren Kollegen in die entsprechenden Planquadrate abkommandierte.

Vergeblich.

Inhaltsverzeichnis

Tag Drei

4.

Um sechs Uhr morgens vollzog sich auf den Revieren der GNR der Schichtwechsel. Die Kollegen der Tagschicht wurden in die aktuellen Fälle eingewiesen.

Diese Zeit nutzten Carlos Esteves und Graciana Rosado für einen doppelten Bica. Den nahmen sie im Farol, dem achteckigen Holzbau an Fusetas Mole. Im Rücken die kleinen Holzkabinen, aus denen die Fischer ihre Netze und Taue holten, vor ihnen der Kanal, der nach hundert Metern in die Ria Formosa führte, das riesige Naturschutzgebiet vor Fusetas Küste, das ihnen die Schwemme an Touristen vom Leib hielt, weil es den Zugang zum Strand erschwerte. Und dahinter die vorgelagerten Inseln, während im Osten die Sonne über den Horizont kletterte und die Wasserbecken, in denen Salz gewonnen wurde, zum Glitzern brachte.

Fuseta erwachte langsam und widerwillig. Die Einwohner, die noch den Schlaf in Gestalt des Abdrucks der Kopfkissenkante im Gesicht trugen, kamen aus ihren Häusern und Wohnungen. Selbstverständlich bestens gekleidet, redeten sie sich bei einem Bica in einer Pastelaria mit den anderen Bewohnern ihres Viertels warm. Über dieses und jenes, das Wetter, die Hochzeiten, die Toten, aber stets auch über die Tore, Flanken und Fouls des Vorabends. Und in ihren Herzen hielten sich Pessimismus und Gelassenheit die Waage.

Fuseta am Morgen war ungeschminkt und rau. Abfälle wurden entsorgt, Zweiräder fuhren lärmend durch die Gassen und verpesteten die Luft. Und wenn ein Hund über die Straße trottete, hielten alle geduldig an und warteten, ja seufzten: Meu deus, was soll man machen?

Aber der Ort war am Morgen auch betörend schön – die Vögel, die in der frischen Meeresbrise knapp über der Wasseroberfläche vorbeisegelten, die Schulkinder, die sich auf den Weg machten, die Nachbarinnen, die von Fensterbrett zu Fensterbrett ein Schwätzchen hielten – und die Katzen, die sich irgendwo im Schatten schlafen legten.

Das Farol öffnete erst um 10 Uhr, aber Agnes, Gracianas Freundin aus Schweden, die als Twen mit einem Rucksack hier hängen geblieben war, beseitigte jeden Morgen schon früh die Reste der Nacht, wischte die Böden und die Theke, räumte die letzte Ladung des Geschirrspülers aus und brachte auch sonst alles auf Vordermann.

»Bom dia«, begrüßte sie Graciana Rosado und Carlos Esteves. »Bica?«

»Einen doppelten«, bestätigte Carlos dankbar, während die beiden Frauen sich flüchtig umarmten. Er zündete sich eine Zigarette an und gähnte herzhaft.

Keine Minute später hörten sie drinnen die Arbeit des Mahlwerks, das die Kaffeebohnen zerkleinerte.

»Es ist schon merkwürdig«, räumte Carlos ein, »dass sie nirgends zu finden ist.«

Graciana nickte. Gestern hatte ihr Kollege geglaubt, sie übertreibe. Graciana hatte es gespürt, aber da Carlos alle ihre Maßnahmen ohne zu murren unterstützt hatte, hatte sie kein Wort darüber verloren.

Zwei Fischer passierten sie, die Ärmel schon hochgekrempelt, die Schiebermützen als Sonnenschutz auf den Köpfen. Die Nacken der Fischer sahen alle gleich aus: ein tiefes, braun gebranntes Netz aus Falten, die viele kleine Rauten ergaben. Sonne und salzige Luft hatten sich in den Jahren auf See in die Haut gegraben. Und wenn sie abends in der Bar saßen und die Köpfe in die Nacken legten, um das Fußballspiel auf dem Monitor an der Wand zu verfolgen, dann waren diese Nackenfalten wie die Jahresringe der Bäume. Graciana konnte recht exakt benennen, wer von ihnen sich wie viele Jahre draußen vor der Küste befunden hatte.

Agnes brachte ihnen die doppelten Bicas und Gläser mit Wasser. Während sie Zucker in dem Kaffee versenkten und ihn gleichmäßig verrührten, warfen sie sich einen Blick zu. Und im gleichen Augenblick wusste Graciana, dass ihr Kollege auf die Vaterschaft zu sprechen kommen würde.

»Entschuldige, es war eine lange Nacht. Aber … das mit der Vaterschaft, hat Lost das wirklich gesagt?«

»Das hat er.«

»Und dazu spricht er mit Teresa?«, hakte Carlos nach.

Graciana nickte. Auch sie konnte sich keinen Reim auf den Umstand machen, weshalb Leander Lost diesbezüglich ausgerechnet den Rat von Teresa Fiadeiro eingeholt hatte. Dann schoss Carlos’ Handfläche hoch und klatschte laut gegen seine Stirn, die sich kurz darauf rötlich färbte, was ihm aber nichts weiter auszumachen schien. Zu begeistert war er von seiner Lösung des Rätsels: »Meu Deus – dass ich da nicht vorher drauf gekommen bin. Es liegt so auf der Hand!«

»Was?«, fragte Graciana und schämte sich ein wenig, weil die Schnelligkeit der Frage den hohen Grad ihrer Neugier spiegelte.

»Ist doch klar«, antwortete Carlos, »der gute Senhor Lost hat irgendeine Portugiesin geschwängert. Tja, stille Wasser sind tief.« Er musste lächeln. Und das Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, bis sich seine Heiterkeit den Weg vom Bauch hinauf bahnte und in Form eines herzhaften Lachens aus ihm herausbrach.

Graciana lächelte auch, aber ihre Augen teilten das Lächeln nicht. Ihre jüngere Schwester Soraia hatte ein Faible für den Alemão. Wenn sein Name fiel, spitzte sie die Ohren, äußerte man Kritik an ihm (was so gut wie nie vorkam), reagierte sie ungewöhnlich dünnhäutig.

Soraia war es auch gewesen, die die Teambildung letztes Jahr überhaupt erst ermöglicht hatte. Denn So, wie sie von Graciana und ihrer Mutter genannt wurde, hatte zügiger als sie erkannt, warum Senhor Lost mit seiner schmerzhaften Ehrlichkeit alle Welt vor den Kopf stieß: weil er nicht anders konnte.

Jedenfalls errötete Soraia in Losts Beisein auffällig schnell, etwa, wenn er sie ansah oder das Wort an sie richtete. Und von Zara, der das nicht verborgen geblieben war, hatte sie erfahren, dass Leander Lost dafür eine medizinische Erklärung hatte: gute Durchblutung.

Was, fragte Graciana sich, während Carlos immer noch lachte – ein wenig überdreht angesichts der langen Nacht – was, wenn es sich bei der schwangeren Portugiesin um So handelte?

Nein, auszuschließen war das nicht. Ganz im Gegenteil, wenn man sich die Ereignisse der letzten Wochen unter dieser Prämisse noch einmal ins Gedächtnis rief. Ihre plötzliche Rückkehr aus Brasilien vor gut einem Monat. Der Abbruch ihres Auslandsjahres gepaart mit dem Umstand, dass sie ihre Beweggründe eher streifte. Als wisse sie sie selbst nicht allzu genau zu benennen. All das ergab plötzlich Sinn.

Ein schwerer Kloß bildete sich in Gracianas Hals. Warum hatte So nichts gesagt? Sich ihr nicht anvertraut? Und was bedeutete das für ihr Verhältnis zueinander, den Schwestern, zwischen die nie ein Blatt gepasst hatte?

 

Das Röhren einer Ducati Scrambler riss sie aus ihren Gedanken. Die gelbe Retro-Maschine schwenkte von der Avenida 25 de Abril auf die namenlose Zufahrt zum Farol und dem Ablegepunkt der Fähren ein. Darauf eine Gestalt, die aus den Sechzigern zu stammen schien: schwarzer Anzug, weißes Hemd und eine schwarze Krawatte, die ihr im Fahrtwind über der Schulter flatterte. Der schwarze Motorradhelm komplettierte das Bild.

Obwohl Leander Losts Anblick mittlerweile zum Stadtbild gehörte, schauten die Leute doch immer noch auf, wenn er auf seiner gelben Ducati an ihnen vorbeirauschte. Weniger wegen der Espadrilles, die Lost zum Anzug trug, mehr wegen des schwarzen Anzugs selbst, mit dem er auch bei 30 Grad im Schatten zum Dienst erschien.

Lost stoppte neben dem Farol, stieg ab, entledigte sich seines Helmes und fischte eine große Rolle Papier aus der Satteltasche. »Bom dia«, grüßte er in einwandfreiem Portugiesisch. »Gibt es Neuigkeiten?«

»Nein«, sagte Graciana, »setzen Sie sich doch.«

»Nein, danke.«

Sie betrachtete ihn von der Seite, während er die Papiere, die sich als eine überdimensionale Landkarte entpuppten, vor ihnen ausrollte. Die stoppelkurzen Haare, deren Schwärze mit denen der auffallend langen Wimpern korrespondierte. Die sinnlichen Lippen und die dunklen, klaren Augen. Dazu nicht unbedingt ein durchtrainierter Körper – Graciana hatte ihn im Meer schwimmen sehen –, aber die schmale Sehnigkeit eines Langstreckenläufers. Wäre er bald ihr Schwager? Und sie die Tante seines Kindes?

»Haben Sie etwas von den Kollegen gehört? Haben sie das Auto inzwischen lokalisieren können?«, wollte Carlos Esteves wissen.

»Nein. Es ist im Übrigen ein Renault Clio.«

»Ist das nicht auch ein Auto?«, fragte Carlos mit Unschuldsmiene.

»So sehr wie ein Rabe ein Vogel ist und ein Portugiese ein Europäer«, antwortete Leander Lost, »alles trifft zu, aber nichts davon ist spezifisch. Angewandt auf unseren Fall suchen wir nach Senhora Teresa Fiadeiro und nicht nach einer portugiesischen Frau. Ich denke, die Vorteile der Präzisierung sind für eine Fahndung augenscheinlich.«

»Ich dachte, wenn wir untereinander so reden, dann ist klar, dass mit dem Auto der Clio gemeint ist«, schob Carlos halbherzig nach.

»Das ist es«, räumte Lost zu Esteves’ Überraschung ein. »Ohne Frage eine semantische Transferleistung, die zumutbar ist. Wenn ein Auto ein Renault Clio ist, ist das eindeutig.«

»Das meinte ich«, bestätigte Carlos.

»Aber sobald zwei oder drei Autos ins Spiel kommen, nimmt die Verwirrung im Quadrat zu«, stellte Lost ruhig fest. »Und je mehr Personen an der Suche beteiligt sind, desto weniger absolut ist die Gewissheit, dass jeder Beteiligte unter Auto diesen spezifischen Renault Clio versteht.«

Dass Graciana nun schmunzeln musste, gestaltete die rhetorische Niederlage für Carlos nicht eben süßer.

»Also Renault Clio«, lenkte er mit einem Seufzen daher schnell ein und orderte bei Agnes mit einem Handzeichen noch einen doppelten Bica.

»Das ist das Bewegungsmuster von Senhora Teresa außer Dienst«, kommentierte der Alemão das, was er auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Eine Landkarte der Algarve. Mit Hunderten feiner schwarzer Linien, die sich mal kreuzten, mal mutterseelenallein verliefen und sich hier und da zu regelrechten Liniennestern bündelten. Das Ergebnis einer stundenlangen, haarkleinen Visualisierung der Handy- und Kreditkartendaten auf ihren geografischen Ursprung.

Die Sub-Inspektoren waren beeindruckt. Graciana beugte sich weiter vor und überflog die »Nester«. An jedem dieser Orte hatten sie schon entweder von sich aus nachgesehen oder waren von Leander Lost dorthin »geschickt« worden. »Die Plätze, an denen Teresa sich am meisten aufgehalten hat, haben wir alle abgegrast«, konstatierte sie daher.

Carlos nickte und deutete auf ein paar andere Punkte: »São Brás de Alportel, der Strand hier bei Tavira, den Cais Club … keine Spur. Alle Zeugen haben sie irgendwann in der letzten Woche gesehen. Aber eben nicht gestern.«

Leander Lost deutete ein Nicken an. »Das bereitet mir Sorge«, sagte er ruhig. »Wenn Senhora Teresa seit zwölf Stunden an keinem dieser Plätze aufgetaucht ist, an denen sie sich nach Dienstschluss in den letzten sechs Monaten aufgehalten hat, dann ist vermutlich etwas Ernstes vorgefallen.«

Was der Austauschkommissar aus Hamburg aussprach, hatte Graciana die ganze Nacht hindurch begleitet. Wie ein Unfall, den man nicht mehr verhindern kann. Ganz gleich, wie schnell und wie stark man auf die Bremse tritt, die Kollision ist unvermeidlich.

Und mit dem nächsten Klingeln ihres Handys wurde das abermals wahrscheinlicher.

»Estou. Ich bin’s«, meldete sich Graciana mit der portugiesischen Begrüßungsformel.

»Bom dia«, antwortete Marisa Veiga, die Sekretärin des Kommissariats in Faro. Mädchen für alles, Vertraute in allen Lebensfragen und Cousine eines Konditors in Personalunion. Ihre Stimme war belegt: »Wir haben ihren Wagen. Er steht in Lagos. In der Tiefgarage unter dem Sklavenmarkt.«

»Und Teresa?«

»Es gibt bis jetzt leider keinen Hinweis. Die Spurensicherung ist auf dem Weg.«

5.

Als sie in der Tiefgarage eintrafen, gab es einen Hinweis und der verhieß nichts Gutes. Gerichtsmedizinerin Doutora Oliveira, graues Brillengestell zu grauem Haar, hockte neben ein paar Blutflecken auf dem Beton und nahm eine Probe. Wie immer gab sie einen sportlichen, sehnigen Eindruck ab.

Graciana Rosado wusste, dass sie Yoga betrieb und außerdem jeden Morgen eine halbe Stunde lang joggte. »Olá, Doutora.«

»Olá, Graciana … Carlos … Senhor Lost.« Sie nickte allen kurz zu.

»Teresas Blut?«, fragte Carlos Esteves.

»Ich sage euch so schnell wie möglich Bescheid. Habt ihr eine Probe, ein paar Haare?«

»Nein«, bekannte Graciana. In Teresas Wohnung in Moncarapacho hatte sie kurz mit dem Gedanken gespielt, sich ein paar Haare aus der Bürste im Bad zu sichern, aber wie der Großteil der Menschen aus Fuseta war sie abergläubisch. So wie ihre Schwester Soraia. Und ihre Mutter. Nur ihr Vater nicht.

So manches Mal hatte sie den Kopf über den Aberglauben in der weiblichen Linie der Familie geschüttelt – doch es war ihr wie ein böses Omen erschienen, in Teresas Wohnung sicherheitshalber DNA-Material mitzunehmen. Ganz so, als würde sie damit den Lauf der Geschichte festschreiben und Teresas Tod besiegeln. Also hatte sie es gelassen (und war immer noch froh darüber).

»Gut, kein Problem«, antwortete die Ärztin, stand aus der Hocke auf und blickte hinüber zu dem Parkplatz, auf dem der Renault Clio von Teresa Fiadeiro stand.

Dort arbeiteten vier Personen: die Mitarbeiter der Spurensicherung aus Portimão. Graciana Rosado hatte deren Unterstützung gerne angenommen, damit sie nicht auf die KTU aus Faro warten mussten. Zu viert und durch ein Absperrband vor Schaulustigen abgeschirmt, verrichteten sie ihre Arbeit in ihren weißen Kunststoffanzügen, die unweigerlich an Astronauten erinnerten.

Doutora Oliveira schulterte ihre Arzttasche und nickte Graciana zu: »Ich besorg mir eine Vergleichsprobe aus dem Auto.« Damit machte sie sich auf den Weg zum Clio.

 

»Ich hab die Stelle im Video.«

Graciana, Carlos und Leander wandten sich zu einem kleinen, weißhaarigen Mann um, dessen klapprige Gestalt in einem grauen Kittel steckte, der ihm bis zu den Knien reichte: der Parkwächter. Seine fahle Haut sah aus, als habe kein Sonnenstrahl sie je heimgesucht.

»Da steigt sie aus ihrem Auto.«

»Einem Renault Clio.«

»Wie bitte?« Senhor Jesus Fernandes sah über die Schulter. Der Kommissar im schwarzen Anzug hatte ihn gleich irritiert, weil er irrtümlich angenommen hatte, es sei der Cangalheiro, der Bestatter. Es gab doch noch gar keine Leiche, außerdem ging es, obwohl so früh am Morgen, bereits auf die 20 Grad zu.

»Ich sagte, der Wagen von Senhora Fiadeiro ist ein Renault Clio.«

Jesus Fernandes musterte den jungen Mann. Er selbst war 82 Jahre alt und seit über fünfzig Jahren Parkwächter. Erst in Porto, dann in Lissabon, und nun in Lagos. Mit einem Büro, in dem sich ein alter Schreibtisch, ein abgewetzter Drehstuhl samt Kissen befand sowie ein Wasserkocher, drei Überwachungsmonitore und ein Waschbecken.

Nachdem er 17.404 Kreuzworträtsel gelöst und in die Pension entlassen worden war – die Betreibergesellschaft hatte ihm zu diesem Anlass einen Portwein spendiert und vergessen, das Preisschild von 7 Euro 99 zu entfernen –, kam er zu Hause ins Stocken. Das Sonnenlicht hatte viel mehr Kelvin als das Neonlicht an seinem Arbeitsplatz. Niemand schaute vorbei, der sich wegen irgendetwas bei ihm beschweren wollte und den er dann zurechtweisen konnte (seine Frau war vor einer Weile gestorben). Auch das Zwitschern der Vögel vor dem Balkon und das Plätschern, Seufzen und Mahlen des Geschirrspülers brachte ihn aus dem Takt. Die Kreuzworträtsel gingen ihm plötzlich gar nicht mehr locker von der Hand.

Dabei hielten Kreuzworträtsel den Kopf fit. Sie verhinderten Demenz. Da war er sich sicher, und um alles in der Welt wollte Senhor Fernandes nicht an Demenz sterben (sein Herrgott hatte Erbarmen, Fernandes würde in ein paar Monaten versuchen, bei Gewitter den Blitzableiter zu reparieren), also hatten ihn die Betreiber des Parkhauses wieder eingestellt.

Nun befand er sich mit den drei Inspektoren der Polícia Judiciária an ebendiesem Arbeitsplatz in der Tiefgarage unter dem Mercado de Escravos von Lagos. Etwas über eine Stunde von Fuseta entfernt – eine Fahrtzeit, die Graciana Rosado unter Einsatz von Blaulicht und Sirene weit unterboten hatte.

Jedenfalls wusste Fernandes mit der Einlassung des jungen, etwas bleichen Mannes nichts anzufangen. »Ja, ein Clio«, echote er deshalb und besah sich dessen Aufmachung. »Sind Sie in Trauer?«

»Nein. Sie?«

»Ja.«

»Os meus sentimentos«, sagte Leander schnell, um nicht das Schlusslicht zu bilden, und das gelang ihm auch. Sub-Inspektorin Rosado und Sub-Inspektor Esteves waren nicht so zügig. Letzterer erschien Leander sogar etwas lahm, seine Stimme hatte etwas Leierndes.

Mein Beileid. Leander wusste, die Menschen sagten so etwas zu jemandem, der kürzlich einen nahestehenden Menschen verloren hatte. Es gehörte zum guten Ton, ihm zu versichern, dass man Anteil an seiner Trauer hatte, auch wenn das möglicherweise gar nicht stimmte. Sogar dann – Leander schüttelte innerlich den Kopf –, wenn man selbst froh darüber war, dass dieser Nahestehende nicht mehr unter den Lebenden weilte. Auch dann, wenn es einem völlig gleichgültig war, ob dieser Jemand existiert hatte oder nicht. Oder dann, wenn man wusste, dass der Hinterbliebene die verstorbene Person gar nicht vermisste und hinter seiner bewegungslosen, angeblich so gebeutelten Miene innerlich vielleicht sogar jubilierte.

Menschen wussten oder ahnten, was genau davon zutraf. An einer Betonung, einer Geste, meist aber an dem Blick. Oder an dem Zusammenspiel all dieser und noch weiterer Faktoren. Und Leander? Er konnte noch so sehr in die Augen seines Gegenübers starren, ihm erschloss sich all das nicht. Eine für andere durchlässige und ihn selbst undurchdringliche Barriere.

»Schon gut, ist schon eine Weile her«, sagte Fernandes und deutete wieder auf die Überwachungsmonitore, bevor er das Band erneut startete. Darauf sah man, wie der besagte Renault Clio einparkte, eine Frau – zweifelsfrei Teresa Fiadeiro – ausstieg und die Tiefgarage verließ.

»Das war gestern um 15:36«, ließ Fernandes sie wissen.

Lost schätzte Präzision. »Wohin ist sie gegangen?«, fragte er.

Fernandes deutete auf den zweiten Monitor, auf dem er eine andere Aufzeichnung startete. Sie zeigte den Aufgang der Tiefgarage. Hier erschien Teresa Fiadeiro und wandte sich nach links. Kurz konnte man sie noch sehen, wie sie Kurs auf das kleine Gebäude mit den Arkaden nahm – den ehemaligen Sklavenmarkt.

 

Ein kleines, unscheinbares Gebäude, das sich neben eine Gasse schmiegte, beinahe schüchtern und leicht zu übersehen. Dabei kam ihm eine kolossale historische Bedeutung zu. Nachdem Gil Eanes im 15. Jahrhundert von einer Expedition mit all jenen Schwarzafrikanern, die auf der Schiffsreise nicht umgekommen waren, in seine Heimatstadt zurückgekehrt war (knapp die Hälfte), sorgte er für großes Aufsehen. Schwarze Menschen!

Die leisteten sich zunächst einige wohlhabende Portugiesen als eine Art Kuriosität wie ein seltenes Tier, das eingehend bestaunt wurde und an dessen Seite einem die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Umstehenden gewiss war.

Doch schon bald begriffen die Seefahrer und vor allem die Kaufleute und der königliche Hof, worauf Eanes gestoßen war – auf eine nie versiegende, im Überfluss vorhandene Geldquelle! Ganze Flotten an Karavellen wurden ausgesandt, um Menschen einzufangen, nach Lagos zu transportieren und auf dem Sklavenmarkt zu versteigern.

Stammten die Ersten noch aus dem Senegal, trieb man sie später zu Zehntausenden hauptsächlich an Nigerias Küste zusammen und verschiffte sie von einer Küstensiedlung, die zunächst Lago de Curamo getauft, aber später in Anlehnung an den zentralen Umschlagplatz für Menschenhandel in Lagos umbenannt wurde. Während in der portugiesischen Mutterstadt etwas über 20.000 Menschen wohnten, war ihre unselige Kolonie inzwischen zu einem 18-Millionen-Einwohner-Moloch angewachsen.

»Um 15:51 ist sie zurück«, fuhr der Parkwächter fort und deutete auf den dritten Monitor, wo Teresa Fiadeiro mit einer Plastiktüte den Fahrstuhl verließ und auf ihr Auto zuging. Aber wie Kamera eins zeigte, kam sie dort nicht an.

»Da müsste sie jetzt auftauchen«, kommentierte Fernandes und zeigte auf den ersten Monitor, auf dem noch immer ihr geparktes Auto zu sehen war.

»Das heißt«, wandte Carlos Esteves sich erstmals an den Pensionär, »es gibt im Parkhaus einen Bereich, der nicht von den Kameras erfasst wird?«

»Ja.«

»Und wie weit erstreckt sich dieser Bereich?«, schaltete Leander Lost sich ein. »Wenn man sich eine Linie denkt zwischen dem Fahrstuhl und ihrem Renault Clio …«

»Wie?«, fragte der Parkwächter, bevor Lost seine Frage überhaupt vollendet hatte.

 

Die Tiefgarage im Zentrum von Lagos verfügte über zwei Parkebenen. Zusammen mit Jesus Fernandes standen sie auf der unteren Ebene vor einer Reihe geparkter Autos. Weiter hinten arbeitete die Spurensicherung der Kripo aus Portimão immer noch an dem Clio der vermissten GNR-Kollegin Fiadeiro.

»Da ist der Fahrstuhl«, sagte der Parkwächter.