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Veränderungen entstehen oft durch Krisensituationen, die die Menschen zwingen, ihre Einstellungen und Verhaltensweisen anzupassen. Aber manchmal kann auch Beharrlichkeit die richtige Lösung sein. Die Autoren untersuchen die Theorie und Praxis dieser zutiefst menschlichen Vorgänge.
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Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2019
Lösungen
Paul Watzlawick, John H. Weakland, Richard Fisch
Paul WatzlawickJohn H. WeaklandRichard Fisch
Lösungen
Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels
9., unveränderte Auflage
Mit einem Vorwort von Paul Watzlawick
und einem Geleitwort von Milton H. Erickson
Dr. Don D. Jackson in memoriam
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Lektorat: Dr. Susanne Lauri
Herstellung: Daniel Berger
Umschlagabbildung: © David Malan, Getty Images
Umschlag: Claude Borer, Riehen
Satz: Claudia Wild, Konstanz
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Finidr s.r.o., Český Těšín
Printed in Czech Republic
Titel der Originalausgabe: Change. Principles of Problem Formation and Problem Resolution
W.N. Norton & Company, Inc., New York 1974
9., unveränderte Auflage 2020
© 1974/1992/1997/2001/2003/2009/2013 Verlag Hans Huber, Bern
© 2020 Hogrefe Verlag, Bern
(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96030-2)
(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76030-8)
ISBN 978-3-456-86030-5
http://doi.org/10.1024/86030-000
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Dass ein Buch wie das vorliegende in fünfzehn Jahren vier Auflagen erlebt, erstaunt seine Verfasser, sagt außerdem aber vielleicht auch etwas über den Wandel aus, der sich allgemein in Hinblick auf die Entstehung und die Lösung menschlicher Probleme vollzogen hat. Dass Beziehungen mehr und andersgeartet sind als die bloße Summe der Eigenschaften der Beziehungspartner; dass daher «Pathologien» sehr wohl zwischen Menschen statt in ihren individuellen Seelen entstehen und wachsen können; dass die bisher in bester Absicht versuchten Lösungen das eigentliche Problem sind – solche und ähnliche Überlegungen scheinen vielen Menschen heute nicht mehr so exotisch wie noch vor einem Jahrzehnt.
Die in diesem Buche vertretenen Thesen haben vielmehr bereits auch nichtklinische Anerkennung und Anwendung gefunden, vor allem in der systemorientierten Betriebslehre und in der Beratung ähnlich komplexer menschlicher Beziehungssysteme.
Palo Alto, im Mai 1988
Paul Watzlawick
Ich hätte es vorgezogen, viel mehr als nur diese kurzen Zeilen über das vorliegende Buch zu schreiben. Leider macht meine Krankheit mir das unmöglich; andererseits aber erlaubt sie es mir, ohne Umschweife zum Kern der Sache zu kommen.
Es gibt viele Theorien und unzählige Bücher über die Herbeiführung menschlichen Wandels. In diesem Buch wird jedoch endlich der Versuch unternommen, das Wesen des Wandels selbst zu untersuchen – und zwar sowohl im Hinblick darauf, wie sich Wandel spontan ergibt, als auch wie sein Eintreten gefördert werden kann. Ich habe immer danach getrachtet, diese Fragen in meiner eigenen Arbeit zu untersuchen und die Ergebnisse in meinen Schriften darzulegen.
Wer sich einer Psychotherapie unterzieht, sucht nicht primär nach einer Erhellung der unveränderlichen Vergangenheit, sondern kommt zu uns, weil er an der Gegenwart leidet und die Zukunft besser zu gestalten wünscht. Wohin der erforderliche Wandel führen und wie umfassend er sein muss, können zunächst weder der Patient selbst noch der Therapeut wissen. Gewiss ist nur, dass eine Veränderung der gegenwärtigen Situation notwendig ist und dass das Eintreten dieser Veränderung, so klein sie zunächst auch sein mag, weitere kleine Veränderungen bedingt, die ihrerseits dann im Rahmen der dem Patienten offenstehenden Möglichkeiten meist weitere, größere Wirkungen zur Folge haben. Die Frage, ob diese Veränderungen nur vorübergehend oder dauerhaft sind und ob sie weiteren Wandel nach sich ziehen, erweist sich von grundlegender Bedeutung für unser Verständnis menschlichen Verhaltens. Ein großer Teil meiner eigenen Bemühungen besteht im Erkennen, Freilegen und Fördern der einem Individuum oder einer Familie innewohnenden Veränderungsmöglichkeiten – eines Potenzials, das jedoch eines «unerwarteten», «unlogischen» und «plötzlichen» Anstoßes bedarf, um zu praktischen Lösungen zu führen.
Es sind diese Phänomene, mit denen sich das vorliegende Buch auseinandersetzt; also das Wesen und die Formen des Wandels, die die bisherigen Theorien menschlicher Veränderungen so lange außer Acht gelassen haben. Watzlawick, Weakland und Fisch untersuchen ebendiese Phänomene und entwickeln sie aus einem theoretischen Begriffssystem heraus, das sie mit vielen ausgezeichneten Beispielen aus den verschiedensten Lebensbereichen belegen und mit dessen Hilfe sie neue Perspektiven dafür eröffnen, wie zwischenmenschliche Probleme entstehen und was zu ihrer Lösung unternommen werden kann. Die Bedeutung dieser neuen Auffassungen geht weit über den Bereich der «psychologischen» Probleme hinaus, in dem die Autoren ihre Ideen ursprünglich entwickelten.
Dieses Werk ist faszinierend. Ich halte es für einen bemerkenswerten Beitrag, ein verdammt gutes Buch, das all jenen bekannt werden sollte, die sich mit den vielfältigen Aspekten menschlicher Beziehungen und ihrer Probleme abzugeben haben.
Es freut mich, dass mein eigenes Lebenswerk zu den hier dargelegten Ideen beigetragen hat und dass mir die Gelegenheit zu diesem kurzen Vorwort gegeben wurde. Hier, wie in so manchen anderen menschlichen Belangen, bedarf das entscheidende Moment vielleicht nur einer kleinen Geste der Förderung.
Phoenix, Arizona
November 1973Dr. med. Milton H. Erickson
Kühner, als das Unbekannte zu erforschen,kann es sein, das Bekannte zu bezweifeln.Kaspar
Als die Herzogin von Tirol, Margareta Maultasch, im Jahre 1334 die Kärntner Burg Hochosterwitz, die hoch über dem Talboden einen steilen Felskegel krönt, einschloss, war es ihr klar, dass die Festung nicht im Sturm, sondern nur durch Aushungerung bezwungen werden könne. Im Laufe der Wochen wurde die Lage der Verteidiger dann auch kritisch, denn ihre Vorräte waren bis auf einen Ochsen und zwei Säcke Gerste aufgebraucht. Doch auch Margaretas Lage war inzwischen schwierig geworden: Die Moral ihrer Truppen verlotterte, das Ende der Belagerung war nicht abzusehen. Zudem hatte sie sich noch andere, vielversprechende militärische Ziele gesetzt. In seiner Zwangslage entschloss sich der Verteidiger der Burg zu einer Kriegslist, die seinen eigenen Leuten selbstmörderisch erscheinen musste; er befahl, den letzten Ochsen zu schlachten, seine Bauchhöhle mit der verbliebenen Gerste vollzustopfen und ihn dann über die steile Felswand auf eine Wiese vor das feindliche Lager hinunterzuwerfen. Wie erhofft, überzeugte diese höhnische Geste Margareta von der «Zwecklosigkeit», die Belagerung fortzusetzen, und sie zog ab.
Eine grundsätzlich andere Lage bestand im Mai 1940 auf einem britischen Kutter. Er war südlich der Doggerbank im Ärmelkanal unterwegs zu einem geheimen Treffen mit Major Ritter, einem deutschen Abwehroffizier. An Bord des Schiffes befanden sich zwei britische Doppelagenten1, Snow und Biscuit. Snow hatte für den britischen Geheimdienst schon wiederholt ausgezeichnete Arbeit geleistet, da er bei den Deutschen als einer ihrer besten Agenten in England galt und mit entsprechend wichtigen Aufgaben betraut wurde. Biscuit, ein Mann mit einer langen Liste von Vorstrafen, hatte sich zu einem verlässlichen Vertrauensmann entwickelt und sollte nun Major Ritter als Snows neu angeworbener Gehilfe vorgestellt und zur Ausbildung nach Deutschland geschickt werden. Auf ähnlichem Wege sollte er später nach England zurückkehren und dort angeblich für die deutsche Abwehr arbeiten. Aus unerfindlichen Gründen hielt es der britische Geheimdienst für angebracht, beiden Männern zu verschweigen, dass auch der andere im Dienste der britischen Seite stand, doch schienen dies beide allmählich vermutet zu haben. Trotzdem führte dies schließlich zu einer albtraumartigen Situation, die Masterman in seinem hochinteressanten Buch über die britischen Doppelagenten wie folgt beschreibt:
Auf dem Wege zum Treffen mit Ritter gewann Biscuit durch das Verhalten Snows und aufgrund der Gespräche mit ihm die Meinung, dass dieser wirklich für die deutsche Seite arbeite und Major Ritter zweifellos sofort seine Rolle als «umgekehrter» Agent enthüllen würde. Aus uns unbekannten Gründen schien Snow andererseits den Eindruck gewonnen zu haben, Biscuit sei wirklich ein deutscher Agent, der Ritter sofort seine (Snows) zwielichtige Rolle enthüllen würde. Er tat daher alles, um Biscuit davon zu überzeugen, dass er vorbehaltlos im Interesse Deutschlands handle. Dies wiederum verstärkte Biscuits Verdacht [79].
In dieser bizarren Situation versuchten also beide Partner, unter den gegebenen Umständen die beste Lösung zu erreichen, mit dem Ergebnis, dass die Lage immer verfahrener wurde, je mehr sie sie zu retten versuchten. Im Interesse seiner eigenen Sicherheit und zur Vermeidung einer Katastrophe für den britischen Geheimdienst sperrte Biscuit Snow schließlich in die Kabine, brachte den Kutter nach Grimsby zurück und opferte damit das Treffen mit Ritter. In seiner aufrichtigen Absicht, das Scheitern der Mission zu vermeiden, hatte er gerade dies herbeigeführt.
Die beiden eben erwähnten Episoden veranschaulichen den Inhalt dieses Buches. Es befasst sich mit dem uralten Widerspruch zwischen Bestand und Wandel in menschlichen Gegebenheiten – oder genauer ausgedrückt, mit der Frage, wie Lebensprobleme entstehen und wie einige überraschend gelöst werden können, während andere sich bis zur Unlösbarkeit komplizieren. Unser Buch versucht also zu prüfen, wie es paradoxerweise dazu kommen kann, dass gesunder Menschenverstand und Logik manchmal scheitern, während «unlogische» und «unvernünftige» Maßnahmen, wie eben die der Verteidiger von Hochosterwitz, zur erhofften Lösung führen.
Damit soll freilich nicht gesagt sein, dass Logik und gesunder Menschenverstand nicht ausgezeichnete Lösungen ergeben können. Doch wer hat nicht gelegentlich die peinliche Erfahrung machen müssen, dass der Weg der Vernunft schnurstracks in Schwierigkeiten führen kann? Das Thema der unerwarteten, verblüffenden Lösung ist archetypisch und drückt sich immer wieder in Mythen, Märchen und Träumen aus. Merkwürdigerweise ist es bisher jedoch kaum ernsthaft untersucht worden und daher so rätselhaft wie eh und je geblieben.
Wir selbst kamen an dieses Problem zunächst nur unmittelbar, nämlich im Zusammenhang mit unserer psychotherapeutischen Forschung und Praxis. Das ist auch der Grund, weshalb viele unserer Überlegungen und Beispiele aus diesem Gebiet stammen, das uns eben am engsten vertraut ist. Trotzdem handelt dieses Buch in viel weiterem als nur psychotherapeutischem Sinne von den Phänomenen der Dauer und des Wandels in menschlichen Gegebenheiten und von ihrer Rolle im Entstehen und im Lösen menschlicher Probleme.
Da aber unsere Ausführungen sich aus unserer praktischen Arbeit ableiten, dürfte eine berufliche Standortbestimmung von Nutzen sein. Wie in vielen Therapeuten mit orthodoxer Ausbildung und jahrelanger praktischer Erfahrung wuchs auch in uns die Unzufriedenheit mit der Ungewissheit unserer Methoden, der Länge unserer Behandlungen und der Dürftigkeit unserer Behandlungsergebnisse. Andererseits faszinierten uns die unerklärlichen Erfolge gelegentlicher «Trick»-Interventionen – allein schon deshalb, weil sie «eigentlich» keinen Erfolg haben «durften». Im Jahre 1966 schlug einer von uns (R.F.) die Gründung dessen vor, was wir seither mangels einer besseren Bezeichnung2 das Brief Therapy Center (Kurztherapie-Abteilung) des Mental Research Institute in Palo Alto nennen. Unter seiner Leitung begannen wir, die Phänomene menschlichen Wandels ganz allgemein zu untersuchen und fanden bald, dass diese Untersuchungen uns zwangen, alles bisher Geglaubte, Gelernte und Getane von Grund auf neu zu konzipieren3.
Von Anfang an war unserer Arbeit der Umstand förderlich, dass wir alle dieselbe «Sprache» sprachen. Als Forschungsbeauftragte am Mental Research Institute waren wir seit Jahren in der menschlichen Kommunikationsforschung tätig, und besonders in der Kommunikationstherapie von Ehepaaren, bzw. Familien, wie wir sie im Rahmen der sogenannten Palo-Alto-Gruppe unter Gregory Batesons theoretischer und Don D. Jacksons klinischer Führung entwickelt hatten. Dies bedingte, dass wir von vornherein dazu neigten, den Prozessen und Strukturen von Verhaltensabläufen Vorrang über ihren Inhalt einzuräumen und dem Jetzt und Hier größere Bedeutung zuzuschreiben als der Vergangenheit. Nicht weniger wichtig für unsere Arbeit war die Tatsache, dass wir alle Ausbildung und praktische Erfahrung als Hypnotherapeuten hatten, was einerseits bedingte, dass uns Direktinterventionen geläufig waren, die in einem anderen Bezugsrahmen als «manipulativ» gegolten hätten und die uns andererseits in Berührung mit den genialen und ungewöhnlichen Methoden Milton Ericksons gebracht hatten, dessen Einfluss wir zutiefst verpflichtet sind.
Wir erwarteten ferner, dass sich aus dem Zusammenspiel unserer individuellen Standpunkte und Erfahrungen ein klareres und umfassenderes Bild jener hochinteressanten Prozesse des Wandels in menschlichen Belangen ergeben würde, als dies in der Abgeschiedenheit einer Privatpraxis je möglich wäre, und dass sich aus der erhofften Systematisierung dieser Prozesse neue Wege zur Lösung menschlicher Probleme eröffnen würden. Diese Annahmen erwiesen sich als richtig. Sie führten aber außerdem zu einem Ergebnis, das wir nicht vorausgesehen hatten. Es erwies sich nämlich, dass wir im Planen der optimal erscheinenden Lösung eines Problems uns auf Prämissen stützten, deren Wesen uns zunächst keineswegs klar war. Diese Sachlage wurde zunehmend peinlicher, als unsere Arbeitsweise durch Vorlesungen, Kurse, klinische Demonstrationen und dergleichen mehr und mehr Außenstehenden bekannt wurde, die dann begreiflicherweise mehr über unsere theoretischen Grundlagen wissen wollten, statt sich nur von einer ungewöhnlichen «Trick»-Lösung beeindrucken zu lassen. In anderen Worten: Diese Kollegen sahen die Wirkung solcher Problemlösungen, nicht aber, aufgrund welcher Basis die Lösungen selbst konzipiert worden waren. Wie gesagt, wir tappten zunächst selbst im Dunkeln, und erst im Laufe der Jahre wurde es uns möglich, die theoretischen Grundlagen unserer praktischen Lösungen hinlänglich zu definieren. Das vorliegende Buch ist ein Versuch der Darstellung der auf diesem Wege konzipierten Prämissen und ihrer praktischen Anwendungen.
Aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen haben wir keinen Zweifel, dass von bestimmten Seiten Kritik an der «unaufrichtigen», «manipulativen» Natur unseres Vorgehens geübt werden wird. Doch «Aufrichtigkeit» ist neuerdings zu einem Schlagwort geworden, zu einer Scheinheiligkeit sui generis, die zudem in etwas nebelhafter Weise unterstellt, dass es so etwas wie eine «richtige» Anschauungsweise gibt – womit meist natürlich die eigene Sicht gemeint ist. Weiter wird damit impliziert, dass «Manipulationen» nicht nur schlecht, sondern auch vermeidbar sind. Die Vertreter dieser Auffassung haben leider noch nicht erklärt, wie das zu bewerkstelligen wäre. Man kann sich schwer vorstellen, wie irgendein Verhalten in Gegenwart eines anderen ohne Wirkung auf das Wesen der Beziehung zwischen diesen beiden Menschen bleiben könnte und wie es sich daher vermeiden ließe, den anderen zu beeinflussen. Der Analytiker, der schweigend hinter dem auf der Couch liegenden Patienten sitzt, der «nicht direktive» Therapeut, der «lediglich» die Verbalisierungen seines Klienten wiederholt, übt ein fantastisches Maß von Beeinflussung aus, und zwar besonders deswegen, weil dieses Verhalten offiziell als beeinflussungsfrei hingestellt wird. Die Frage ist daher nicht, wie Beeinflussung und Manipulation vermieden, sondern wie sie ihrem Wesen nach verstanden und im besten Interesse des Patienten angewendet werden können. Dies ist eines der Themen, die uns im Laufe unserer Ausführungen immer wieder beschäftigen werden.
Wir sind uns dessen bewusst, dass manches in diesem Buch Gesagte bereits von anderen erwähnt und praktiziert worden ist, wenngleich auch meist in anderen Zusammenhängen und auf der Grundlage anderer Voraussetzungen. Wir erhoffen vom Leser Verständnis dafür, dass nicht alle diese Ähnlichkeiten aufgezeigt noch die Unterschiede erklärt werden können. Dieser Hinweis bezieht sich besonders auf die scheinbare Ähnlichkeit mit der Verhaltenstherapie, doch sollte sich der Leser vor Augen halten, dass unsere Interventionen nicht auf Annahmen von «falschem» Lernen, auf Konditionierung, Extinktion und dergleichen beruhen4.
Wie ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis zeigt, bewegen sich unsere Darlegungen vom Abstrakten zum rein Praktischen hin. Das 1. Kapitel handelt daher von den theoretischen Grundlagen und stützt sich auf zwei Theorien: die mathematische Gruppentheorie und die Logische Typenlehre. Das 2. Kapitel befasst sich mit der praktischen Anwendbarkeit dieser Theorien auf unser Sachgebiet. Der gesamte 2. Teil des Buchs (Kapitel 3 bis 6) behandelt Fragen der Problembildung, wie sie sich aus der gegenseitigen Abhängigkeit von Beharren und Wandel ergeben, während der 3. Teil (Kapitel 7 bis 11) in Gänze den Problemlösungen gewidmet ist.
Es ist uns eine angenehme Pflicht, an dieser Stelle all jenen zu danken, die mittelbar oder unmittelbar zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben; vor allem dem viel zu früh verstorbenen Gründer und ersten Direktor unseres Instituts, Dr. Don D. Jackson, dessen Offenheit für neue Ideen und dessen praktische Hilfe unser Forschungsprojekt ermöglichte. Unser Dank geht auch an alle derzeitigen und früheren Mitglieder des Brief Therapy Center, vor allem an unsern Kollegen und Mitarbeiter Arthur Bodin, ferner an Lynn Segal, Jack Simon, Tom Ferguson, Joel Latner, George Greenberg, Frank Gerbode, Paul Druckman, Mrs. Barbara McLachlan und unseren Freund John Frykman vom Cypress Institute in Carmel (Kalifornien).
Besonderer Dank gebührt Frau Claire Bloom für ihre freundliche und unermüdliche Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskripts.
Während des ersten Jahres seines Bestandes wurden die Kosten des Brief Therapy Center durch Spenden seitens der Luke B. Hancock Stiftung, der T.B. Walker Stiftung und der Robert C. Wheeler Stiftung bestritten. Diese Hilfe sei hier dankbarst erwähnt.
An dieser Stelle ist es auch angebracht, unsere Grüße an zwei Kollegen zu richten, die unabhängig von uns grundsätzlich ähnliche Forschung und Praxis vorantreiben, nämlich Frau Prof. Mara Selvini Palazzoli, Leiterin des Centro per lo Studio della Famiglia in Mailand, und Dr. George Vassiliou, Direktor des Athenian Institute of Anthropos in Athen.
Palo Alto und Villach, Sommer 1973
P.W.
J.H.W.
R.F.
Plus Ça change,plus c’est la même chose.
Das französische Sprichwort, wonach alles umso mehr beim Alten bleibt, je mehr es sich ändert, ist nicht nur ein Bonmot. Es dürfte vielmehr der bündigste Ausdruck der merkwürdigen und paradoxen Beziehung zwischen Bestand und Wandel sein, und es entspricht jedenfalls der täglichen Lebenserfahrung besser als die Theorien der Philosophen, Mathematiker und Logiker über dieses Thema.
Wie die Wissenschaftsphilosophie zeigt, ist der Wandel ein so allumfassendes und unmittelbares Element menschlicher Erfahrung, dass er als Begriff erst dann formuliert werden konnte, als die frühgriechischen Philosophen den antithetischen Begriff der Invarianz oder des Bestandes entwickelt hatten5. Bis dahin gab es nichts, das begrifflich der Idee des Wandels als Kontrast gegenübergestellt werden konnte, und die Situation muss ähnlich der einmal von Whorf postulierten gewesen sein: dass nämlich in einer Welt, in der alles blau ist, der Begriff der Bläue mangels anderer Farben nicht entwickelt werden könnte. In diesem Sinne ist das eingangs erwähnte Sprichwort von besonderer Bedeutung. Es zwingt unsere Aufmerksamkeit auf eine wichtige Tatsache, die wissenschaftliche Theorien nicht selten vernachlässigen: Bestand und Wandel müssen zusammen, als eine Gestalt, gesehen werden. Die meisten Theorien handeln von dem einen oder dem andern Begriff, kaum je aber von ihrer gegenseitigen Abhängigkeit. Oder anders ausgedrückt: Allgemein neigen diese Theorien dazu, entweder Bestand und Invarianz als einen naturgegebenen Zustand zu betrachten, der keiner näheren Erklärung bedarf, und den Wandel daher als das zu erforschende Problem; oder aber umgekehrt, dass Wandel der natürliche Lauf aller Dinge ist und daher Invarianz und Beharren der Erklärung bedürfen. Doch allein schon der Umstand, dass diese beiden scheinbar widersprüchlichen Gesichtspunkte sich so nahestehen, lässt vermuten, dass sie komplementär sind. Und ebendiese Komplementarität wird uns im täglichen Leben immer wieder bewusst; so vor allem dann, wenn wir sehen, wie zum Beispiel eine Familie oder ein größeres Gesellschaftssystem, trotz größter Anstrengungen aller Beteiligten, die Lage zu ändern und eine Lösung herbeizuführen, im Teufelskreis eines Problems verstrickt bleibt. Daraus ergeben sich fast regelmäßig zwei typische Fragen, die sich auf Bestand und Wandel beziehen, nämlich «Wieso dauert diese unerwünschte Situation an?» und «Wie kann sie geändert werden? ».
Die Antworten, die wir auf diese beiden Fragen fanden, haben unserer Meinung nach Gültigkeit nicht nur in ihrer Anwendung auf konkrete, individuelle Probleme, sondern darüber hinaus auf Konflikte allgemeinerer Art. Statt aufzuzeigen, wie wir uns im Laufe der Jahre mühsam an diese Antworten heranarbeiteten – ein Unterfangen, das für den Leser kaum von Interesse sein dürfte –, möchten wir unsere Darlegungen mit dem Hinweis auf zwei allgemeine, logisch-mathematische Theorien beginnen, deren Wert und Gültigkeit für die theoretische Untermauerung unserer praktischen Arbeit wir erst spät erkannten. Es sind dies erstens die Gruppentheorie und zweitens die Logische Typenlehre (Mengenlehre) im Sinne Whiteheads und Russells.
Wir sind uns dabei der Tatsache voll bewusst, dass unsere Verwendung dieser Theorien weit von mathematischer Schärfe entfernt ist und dass wir uns ihrer lediglich als (unserer Meinung nach vollgültigen) Analogien bedienen.
Die Ausbildung der Gruppentheorie geht auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, und der Begriff der Gruppe selbst wurde vom französischen Mathematiker Evariste Galois geprägt6. Auf der Grundlage von Galois’ ursprünglichen Formulierungen trugen verschiedene hervorragende Mathematiker des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung der Gruppentheorie in einen der umfassendsten und ideenreichsten Zweige der Mathematik bei. Im Zuge der Revolution der klassischen Physik nach 1900 begann sie eine wichtige Rolle auch in Quantentheorie und Relativitätslehre zu spielen und wächst zunehmend an Bedeutung in so verschiedenen Wissensgebieten wie Kristallografie, Formenlehre der Kunst, Linguistik und anderen. Der Grund für ihre weitreichende Gültigkeit liegt darin, dass – wie Sielaff es formuliert – «sich die Gruppentheorie nur mit ganz allgemeinen Elementen und Relationen befasst»; sie kann daher «Aussagen und Methoden aus den verschiedensten mathematischen (und außermathematischen) Gebieten, sofern diese nur die gleiche logische Struktur besitzen, vermöge ihrer Struktur gemeinsam behandeln» [89]. Es versteht sich von selbst, dass die tiefer greifenden Folgerungen der Gruppentheorie eine umfassende Kenntnis der Mathematik oder der Physik voraussetzen. Die grundlegenden Postulate jedoch, die sich auf die Beziehungen zwischen Teilen und Ganzheiten und zwischen Invarianz und Wandel beziehen, sind überaus einfach – vielleicht täuschend einfach.
Grundlage der Definition einer Gruppe bildet der Begriff der Menge, gelegentlich auch System genannt. Eine Menge setzt sich aus Elementen zusammen, deren Wesen oder Konstitution grundsätzlich belanglos ist. Damit soll nur gesagt sein, dass die Elemente Gegenstände, Zahlen, Begriffe, Organismen, Ereignisse oder irgendwelche anderen Gegebenheiten sein können. Die Menge (das System) bildet dann eine Gruppe im mathematischen Sinne, wenn in ihr folgende vier Bedingungen (die Gruppenpostulate) erfüllt sind:
1. Jede Kombination jedes Elements einer Gruppe mit sich selbst oder mit jedem anderen Element der Gruppe ergibt wiederum ein Element derselben Gruppe. Unter Kombination versteht man eine Operation aufgrund einer für die Gruppe geltenden Kombinationsregel. Angenommen zum Beispiel, die Elemente seien die Zahlen 1 bis 12 auf dem Zifferblatt einer Uhr, dann ergibt jede Kombination von zwei oder mehreren dieser Elemente (oder die Kombination eines Elements mit sich selbst) wiederum ein Element der Gruppe (zum Beispiel: 8 Uhr morgens plus 6 Stunden ergibt 2 Uhr nachmittags). In diesem Beispiel bezieht sich der Ausdruck Kombination also auf die Addition oder Subtraktion von Elementen der Gruppe. In analoger Weise ergibt der Wurf eines Würfels stets eines der sechs möglichen Ergebnisse, und die Kombination besteht im Falle dieser Sechsergruppe in einer oder mehreren Drehungen des Würfels um eine oder mehr als eine seiner drei Achsen. Wir sehen also, dass sich der Ausdruck Kombination auf den Wechsel von einem der möglichen inneren Zustände der Gruppe auf einen anderen bezieht.
Die Bildung von Gruppen aus «Dingen» (im weitesten Sinne des Wortes) ist die grundlegendste und notwendigste Voraussetzung jeder Erfahrung unserer Umwelt. Wenn auch keine zwei «Dinge» jemals genau gleich sind, so erzeugt das Ordnen der Welt in (sich in komplexer Weise durchdringende und überlagernde) Gruppen klare Strukturen, wo sonst nur ein phantasmagorisches Chaos herrschen würde. Doch wie wir bereits gesehen haben, erzeugt dieses Ordnen gleichzeitig auch Invarianz im oben erwähnten Sinne, da eben jede Kombination von Elementen wiederum ein Element derselben Gruppe ergibt – «ein Ding im System, nicht außerhalb davon», wie Keyser [59] es formulierte. Das erste Gruppengesetz ermöglicht also u.U. Myriaden von Veränderungen innerhalb einer Gruppe (und es gibt sogar sogenannte unendliche Gruppen), verunmöglicht es aber jedem Element oder jeder Kombination von Elementen, sich außerhalb der Gruppe (des Systems) zu stellen.
2. Das zweite Gruppengesetz besteht darin, dass man die Elemente in verschiedener Reihenfolge kombinieren kann, das Resultat der Kombination aber dasselbe bleibt (das Assoziativgesetz der Gruppe)7. Ein praktisches Beispiel wäre folgendes: Ausgehend von einem bestimmten Punkt auf einer Oberfläche kann man jede beliebige Anzahl von Zügen individueller Länge und Richtung machen und kommt dabei unabhängig von der Reihenfolge der Züge stets zum selben Endpunkt, vorausgesetzt natürlich, dass die Zahl der Züge, sowie ihre Länge und Richtung, beibehalten werden. Der einfachste Fall wäre der von vier Zügen gleicher Länge (1 Zentimeter, 1 Kilometer) in jeder der vier Himmelsrichtungen. Unabhängig von der Reihenfolge der Züge (zum Beispiel erst Norden, dann Westen usw. oder irgendeine andere Reihenfolge) kommt man am Ende des vierten Zuges wieder am Ausgangspunkt an. Man kann also sagen, dass sich das zweite Gruppengesetz auf Variabilität der Prozesse innerhalb der Gruppe, aber Invarianz der Resultate bezieht.
3. Jede Gruppe enthält ein Einheitselement, auch neutrales Element genannt, dessen Kombination mit jedem anderen Element wiederum dieses Element ergibt, es also unverändert lässt. In Gruppen zum Beispiel, deren Kombinationsregel die Addition ist, ist das Einheitselement Null (5+0=5); in Gruppen, deren Kombinationsregel auf Multiplikation beruht, ist das Einheitselement 1, da jeder mit eins multiplizierte Wert seine Größe beibehält. Wäre die Gesamtheit aller Töne eine Gruppe, so wäre ihr Einheitselement die Stille; während das Einheitselement der Gruppe aller Lageveränderungen, also aller Bewegungen, die Bewegungslosigkeit wäre (was allerdings nicht dem Begriff der Position gleichkommt).
Der Begriff des Einheitselements mag auf den ersten Blick leer erscheinen. Es handelt sich dabei aber um einen Spezialfall der Gruppeninvarianz. Ashby [10,11] zum Beispiel wies seine praktische Bedeutung für kybernetische Systeme nach, in denen das von ihm als Nullfunktion bezeichnete Element der Gruppe parametrischer Änderungen unmittelbare Bedeutung für die Erhaltung der Stabilität solcher Systeme hat. In Bezug auf unser Thema liegt die Bedeutung des Einheitselementes vor allem darin, dass es sich dabei um einen Faktor handelt, der aktiv sein kann, ohne eine Veränderung herbeizuführen.
4. Schließlich besitzt jedes Element einer Gruppe ein ihm entgegengesetztes Element, das Inverse genannt, und die Kombination jedes Elements mit seinem Inversen ergibt das Einheitselement – also, zum Beispiel, 5+(–5)=0, wenn die Kombinationsregel die Addition ist. Wir sehen wiederum, dass die Kombination eine klare Veränderung herbeiführt, das Ergebnis der Veränderung aber selbst wieder ein Element derselben Gruppe (im vorliegenden Beispiel der Gruppe der positiven und negativen ganzen Zahlen, einschließlich Null) und daher in ihr enthalten ist.
Wir sind der Ansicht, dass die Gruppentheorie – sogar in dem von uns dargestellten, sehr laienhaften Rahmen – ein wertvolles Denkmodell für die merkwürdige Interdependenz zwischen Beharren und Wandel bietet, die wir in vielen praktischen Lebenssituationen beobachten können, wo plus ça change, plus c’est la même chose.
Was die Gruppentheorie uns anscheinend nicht geben kann, ist ein Modell für jene Formen des Wandels, die über ein bestimmtes System (einen bestimmten Begriffsrahmen zum Beispiel) hinausgehen. An diesem Punkte angelangt, müssen wir uns der Logischen Typenlehre zuwenden.
Auch diese Theorie beginnt mit dem Begriff von Ganzheiten, die sich aus «Dingen» zusammensetzen, deren gemeinsamer Nenner eine bestimmte Eigenschaft ist. Wie in der Gruppentheorie heißen diese Teile Elemente, während die Ganzheiten nicht Gruppen genannt werden, sondern Klassen (oder auch Mengen, daher die oft verwendete Bezeichnung Mengenlehre). Ein grundlegender Satz der Logischen Typenlehre ist, dass «was immer die Gesamtheit einer Klasse (Menge) betrifft, nicht selbst Teil dieser Klasse sein darf» – wie Whitehead und Russell es in ihrem monumentalen Werk, Principia Mathematica, postulierten [107]. Beispiele dafür lassen sich leicht finden. So ist die Menschheit die Klasse aller Individuen, ist aber nicht selbst ein Individuum, und es wäre offensichtlich Unsinn, vom einen in Begriffen des anderen zu sprechen. Das ökonomische Verhalten der Bevölkerung einer Großstadt lässt sich nicht aus dem ökonomischen Verhalten eines Einwohners multipliziert mit vier Millionen ableiten. Ebendies war der Fehler früherer volkswirtschaftlicher Theorien, die heute spöttisch Robinson-Crusoe-Ökonomien genannt werden. Eine Bevölkerung von vier Millionen ist nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ verschieden von einem Individuum, da sie ein komplexes Interaktionssystem zwischen diesen Millionen von Individuen bildet. In ähnlicher Weise finden wir, dass die Mitglieder einer Gattung meist über ganz spezifische Mechanismen verfügen, die ihr Überleben weitgehend gewährleisten, während die Gattung selbst unaufhaltsam ihrem Aussterben oder ihrer Vernichtung entgegengehen kann – und die Menschheit ist sicherlich keine Ausnahme dieser Regel. In totalitären Herrschaftssystemen wird der Einzelne dagegen nur als Element einer Menge gesehen und verliert damit jede Eigenbedeutung: eine Ameise in einem Ameisenhaufen, oder wie Koestler es so treffend in Hinsicht auf seinen Leidensgefährten Nicolás in der Todeszelle eines spanischen Gefängnisses definierte: «So gesehen existierte Nicolás nur als eine soziale Abstraktion, eine mathematische Einheit, die man erhielt, indem man eine Anzahl von zehntausend Milizsoldaten durch zehntausend dividierte.» [61].
Resultate der eben erwähnten Art ergeben sich also aus der Nichtbeachtung des grundlegenden Unterschieds zwischen Element und Klasse (Menge) und der Tatsache, dass keine Klasse sich selbst als Element enthalten kann. In allen Lebensbereichen, daher auch in der Forschung, sind wir dauernd mit dieser Hierarchie der logischen Typen (das heißt, der Stufen logischer Abstraktionen) konfrontiert, und die Gefahren der Typenvermischung mit ihren paradoxen Folgen sind allgegenwärtig. Die Phänomene des Wandels sind keine Ausnahme, nur ist dies in den Verhaltenswissenschaften viel schwieriger einzusehen als etwa in der Physik: Wie Bateson [23] ausführt, ist die einfachste und allgemeinste Form eines Wandels die Bewegung, also eine Lageveränderung. Bewegung selbst kann aber auch wieder einer Veränderung, also einer Beschleunigung oder Verlangsamung, unterworfen werden, was einer Veränderung einer Lageveränderung (oder einer Metaveränderung) entspricht. Noch eine Stufe höher findet sich dann die Veränderung von Beschleunigung (oder von Verlangsamung), die einer Veränderung von Veränderung von Veränderung (oder Metametaveränderung) einer Position entspricht. Selbst uns Laien ist es verständlich, dass diese Formen von Bewegung sehr unterschiedliche Phänomene sind und sehr verschiedener Erklärungsprinzipien und mathematischer Erfassung bedürfen8. Wir sehen ferner, dass jede Veränderung stets die nächsthöhere Abstraktionsstufe einbezieht: Um zum Beispiel von Position auf Bewegung überzugehen, ist ein Schritt aus dem Begriffsrahmen der Position heraus nötig. Innerhalb dieses Rahmens kann der Begriff der Bewegung nicht konzipiert, geschweige denn verwendet werden, und jede Missachtung dieses Grundsatzes der Logischen Typenlehre führt zu paradoxen Konfusionen.
Um diesen wichtigen Punkt noch klarer herauszuarbeiten: In jeder Sprache lassen sich unzählige Aussagen machen, doch ist bei Sätzen, die sich auf die Sprache selbst beziehen, Vorsicht geboten9.
Wenn wir über eine Sprache sprechen wollen, wie Linguisten und Semantiker das tun müssen, benötigen wir eine Metasprache, die ihrerseits wiederum eine Metametasprache zum Ausdruck ihrer eigenen Struktur erfordert. Das Gleiche gilt für die Beziehung zwischen einem Zeichen und seiner Bedeutung. Schon 1893 verwies der deutsche Mathematiker Frege auf die Notwendigkeit einer klaren Unterscheidung der Fälle,
wo ich vom Zeichen selbst spreche, von denen, wo ich von seiner Bedeutung spreche. So pedantisch dies auch erscheinen mag, so halte ich es doch für notwendig. Es ist merkwürdig, wie eine ungenaue Rede- oder Schreibweise, die ursprünglich vielleicht nur aus Bequemlichkeit und der Kürze halber, aber mit vollem Bewusstsein ihrer Ungenauigkeit, gebraucht wurde, zuletzt das Denken verwirren kann, nachdem jenes Bewusstsein geschwunden ist. Hat man es doch fertiggebracht, das Zahlzeichen für die Zahlen, den Namen für das Benannte, das bloße Hilfsmittel für den eigentlichen Gegenstand der Arithmetik zu halten [41].
Oder nehmen wir folgendes Beispiel: Der Ausdruck Methode bezieht sich auf ein wissenschaftliches Vorgehen; er ist die Bezeichnung der Gesamtheit der Schritte, die zur Erreichung eines bestimmten Ziels gemacht werden müssen. Methodologie dagegen ist ein Begriff der nächsthöheren logischen Stufe; sie ist die wissenschaftstheoretische Untersuchung der Verschiedenheit der Methoden, die in den verschiedenen Wissenschaftszweigen zur Anwendung kommen. Der Begriff bezieht sich immer auf den Prozess der Erlangung von Wissen per se, nicht aber auf eine bestimmte Untersuchung. Die Methodologie ist daher eine Metamethode und steht zum Begriff der Methode in derselben logischen Beziehung wie eine Klasse zu einem ihrer Elemente. Jede Verwechslung von Methode mit Methodologie würde philosophischen Unsinn zur Folge haben, denn – wie Wittgenstein einst bemerkte – «philosophische Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert» [113].
Leider machen natürliche Sprachen eine klare Unterscheidung zwischen Element und Klasse oft schwierig. «Es ist denkbar», schreibt Bateson,
«dass dieselben Worte sowohl zum Ausdruck einer Klasse wie auch ihrer Elemente verwendet werden und in beiden Fällen zutreffen können. Das Wort ‹Welle› ist der Name für eine Klasse von Partikelbewegungen. Wir können auch sagen, daß sich die Welle selbst ‹bewegt›, sprechen dann aber von der Bewegung einer Klasse von Bewegungen. Unter dem Einfluss von Reibung verliert diese Metabewegung ihre Geschwindigkeit nicht, im Gegensatz zur Bewegung eines Partikels» [22].
Ein anderes, von Bateson oft verwendetes Beispiel ist, dass gewöhnlich nur der Schizophrene die Speisekarte statt der Mahlzeit isst (und, wie wir hinzufügen möchten, sich über den schlechten Geschmack beschwert).
Eine weitere, nützliche Analogie liefert uns ein Automobil mit gewöhnlicher Gangschaltung. Die Leistung des Motors kann auf zwei grundsätzlich verschiedene Weisen verändert werden: entweder durch Betätigung des Gaspedals (also durch Erhöhung oder Verminderung der Brennstoffzufuhr zu den Zylindern) oder durch Gangwechsel. Wenn wir die Analogie etwas strapazieren wollen, können wir sagen, dass der Wagen in jedem Gang einen bestimmten Bereich von möglichen «Verhaltensformen» (das heißt von Leistung und daher von Geschwindigkeit, Beschleunigung, Steigvermögen usw.) hat. Innerhalb dieses Bereichs (also dieser Klasse von Verhaltensformen) bewirkt die zweckmäßige Betätigung des Gaspedals die erwünschte Leistungsveränderung. Wenn die notwendige Leistung aber außerhalb dieses Bereiches fällt, muss der Fahrer einen Gangwechsel vornehmen, um die gewünschte Veränderung herbeizuführen. Der Gangwechsel ist daher ein Phänomen von höherem logischem Typenwert als das Gasgeben, und es wäre ein offensichtlicher Unsinn, wollte man über die Mechanik eines komplizierten Getriebes in der Sprache der Thermodynamik des Benzins sprechen.
Unserem Thema am nächsten aber dürfte die Formulierung kommen, die Ashby für die kybernetischen Eigenschaften einer sogenannten Maschine mit Input gibt:
Man sieht also, dass das Wort «Veränderung» zwei sehr verschiedene Dinge bedeuten kann. Da ist einmal die Veränderung von einem (internen) Zustand zu einem anderen …, was dem Verhalten der Maschine aufgrund ihrer internen Dynamik entspricht, und da ist zum anderen die Veränderung von Transformation zu Transformation …, die eine Veränderung ihres Gesamtverhaltens ist und die vom Versuchsleiter oder irgendeinem anderen externen Faktor willkürlich herbeigeführt wird. Diese Unterscheidung ist grundlegend und darf unter keinen Umständen vernachlässigt werden [13]10.
Die Postulate der Logischen Typenlehre führen also zu zwei wichtigen Schlussfolgerungen: a) um Paradoxien zu vermeiden, müssen die hierarchischen Stufen der logischen Abstraktionen sorgfältig getrennt bleiben, und b) das Aufsteigen von einer logischen Stufe zur nächsthöheren (das heißt von einem Element zu seiner Klasse oder von einem Ding zu seinem Namen usw.) bedingt eine Verschiebung, einen Sprung, eine Diskontinuität oder Transformation – kurz, eine Veränderung – von größter theoretischer und (wie wir in den nächsten Kapiteln sehen werden) praktischer Bedeutung, da diese Form von Veränderung einen Ausweg aus einem System heraus ermöglicht.