Love Songs in London – Dancing on Sunshine - Tonia Krüger - E-Book

Love Songs in London – Dancing on Sunshine E-Book

Tonia Krüger

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Beschreibung

Was, wenn ein einziger Brief dein ganzes Leben verändert? Eine mitreißende London-Sommerromance über alte Wunden, neue Chancen und das Glück von Eiscreme im Park Maggie schreibt im Auftrag anderer Liebesbriefe. Dabei glaubt sie seit dem Desaster mit ihrem Ex Luke nicht mehr an die Liebe. Doch dann taucht Jaden auf, der gar nicht begeistert ist, dass seine Freundin ihren bewegenden »Antrag«, mit ihr zusammenzuziehen, nicht selbst geschrieben hat. Er fühlt sich von ihr hintergangen und macht sich auf die Suche nach der wahren Verfasserin: Maggie. Die taucht daraufhin einfach im quirligen Shoreditch unter. Aber Jaden lässt sich nicht so leicht abschütteln. Und als Maggie doch in ein Treffen einwilligt, knistert es gewaltig zwischen den beiden. Doch ist Maggie bereit, der Liebe eine zweite Chance zu geben? Alle Bände der ›Love Songs in London‹-Reihe: Band 1: All I (don't) want for Christmas Band 2: Here comes my Sun Band 3: Dancing on Sunshine Band 4: It's raining Love Alle Bände sind unabhängig von einander lesbar. Die Reihe ist abgeschlossen.

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Über das Buch

Was, wenn ein einziger Brief dein ganzes Leben verändert?

 

Maggie schreibt im Auftrag anderer Liebesbriefe. Dabei glaubt sie seit dem Desaster mit ihrem Ex Luke nicht mehr an die Liebe. Doch dann taucht Jaden auf, der gar nicht begeistert ist, dass seine Freundin ihren bewegenden »Antrag«, mit ihr zusammenzuziehen, nicht selbst geschrieben hat. Er fühlt sich von ihr hintergangen und macht sich auf die Suche nach der wahren Verfasserin: Maggie. Die taucht daraufhin einfach unter. Aber Jaden lässt sich nicht so leicht abschütteln. Und als Maggie doch in ein Treffen einwilligt, knistert es gewaltig zwischen den beiden. Doch ist Maggie bereit, der Liebe eine zweite Chance zu geben?

 

Eine mitreißende London-Sommerromance über alte Wunden, neue Chancen und das Glück von Eiscreme im Park.

 

 

Von Tonia Krüger ist bei dtv außerdem lieferbar:

Love Songs in London – All I (don’t) want for Christmas (Band 1)

Love Songs in London – Here comes my Sun (Band 2)

Love Songs in London – It’s raining Love (Band 4)

Tonia Krüger

Love Songs in London

Dancing on Sunshine

Band 3

Roman

Kapitel 1

Erster Brief an Luke

 

Wie fange ich an, Luke? Mir fehlen die Worte. Geblieben sind mir nur Satzzeichen – Fragezeichen vor allem. Ich weiß, du wirst diesen Brief wohl nie lesen. Schließlich hast du deiner Mom verboten, mit mir zu sprechen, meine Nummer blockiert, du hast das verdammte Land verlassen, um mir zu entkommen. Und ich habe auch jetzt – ungefähr ein Jahr später – keine Ahnung, warum. Die Fragezeichen sind zu Heuschrecken geworden, die ihre Schneisen der Verwüstung durch mich schlagen. Seit einem Jahr laufe ich durch den Sumpf unserer unvollendeten Geschichte und suche nach festem Boden unter meinen Füßen. Dabei sinkt mein Leben Stück für Stück tiefer – jetzt auch noch mein Job, den ich mehr als alles andere liebe, zumindest seit du fort bist.

Emma hat mich überredet, ein Interview über meine Arbeit in der Briefagentur zu geben – fürs Fernsehen. Ausgerechnet ich! Du weißt, wie entblößt ich mir vorkomme, wenn ich angestarrt werde. Das Kameraauge hat sich angefühlt wie Tausende auf mich gerichtete Gesichter, die alle direkt in mein kaputtes Herz blicken. Am Ende dachte ich zwar, das Interview sei unfallfrei verlaufen. Aber die Frau, die ich heute im Fernsehen sah, wirkte kalt, leer und berechnend und hat Dinge gesagt, die ich gar nicht meinte. Offensichtlich haben die Heuschrecken aus mir gesprochen.

Das bin ich? Ist das aus mir geworden? Das ist Maggie-ohne-Luke? Die Wahrheit ist: Ich vermisse dich, Luke. Immer. Ich vermisse dich mit jedem Herzschlag und jedem Atemzug, in jedem Augenblick. Ich bin nicht mehr als das. Du bist zu einem Geist in meinem Leben geworden – immer da und doch nicht da, im Spiegel einer Scheibe, im Gedränge, in meinen Erinnerungen, in meinen Träumen und Albträumen. Du lähmst mich mit deiner penetranten Abwesenheit. Die Luft ist dünner ohne dich. Die Welt blasser. Es ist wie in dem Lied von Calum Scott, das ich dir als Klingelton gegeben habe. Falls du mich jemals wieder anrufst, wirst du es mit diesen Worten tun: You Are the Reason.

Bisher dachte ich, das gehört so. Maggie-ohne-Luke ist eben nur ein Schatten ihrer selbst. Aber als ich die Frau auf dem Bildschirm gesehen habe, hat sich das geändert. Nein, ich will nicht sie sein. Ich will mein Leben zurück. Du hast mich geghostet und jetzt muss ich dich mir austreiben.

Wie? Auf die einzige Art, die ich kenne: Ich erzähle eine Geschichte – unsere. Unterbrich mich, wenn du was zu sagen hast. Ansonsten ziehe ich das hier bis zum Ende durch. Nach all den Briefen, die ich im Namen anderer an vollkommen Fremde geschrieben habe, bin ich bereit für meine Briefe an dich. Lies sie. Oder nicht.

Aber dann, bitte, lass mich los.

Kris’ Odds and Ends – Teas, Books, Stationery designed with Love steht über dem kleinen Geschäft in der Rivington Street. Die Fassade besteht aus bodentiefen Butzenfenstern, die so staubig sind, dass man drinnen fast nichts erkennen kann. Die meisten Gebäude stehen hier Wand an Wand, doch direkt neben Kris’ Laden führt eine schmale Gasse zu einer weiteren Häuserzeile in zweiter Reihe. Wie jede freie Fläche in Shoreditch ist die Hauswand mit Graffitikunst besprüht – derzeit erstreckt sich ein riesiges Cocktailglas über die gesamte Wand – inklusive Schirmchen, Obst und jeder Menge Eiswürfeln. Die Tropfen außen am Glas sind so täuschend echt, dass ich das Gefühl habe, sie tatsächlich abwärtsrinnen zu sehen. So ein Getränk ist wahrscheinlich der kühle Traum der meisten in der lang andauernden Hitzewelle. Ich persönlich liebe die Wärme und sehe diesen Sommer als Chance, meine schicken Boho-Kleider spazieren zu tragen. Mal sehen, wie lange sich das Graffiti hält, bevor es übersprüht wird. Street-Art in Shoreditch ist fluide – immer im Kommen und Gehen.

Was gleich bleibt, ist der wunderbar intensive Kräuterduft in Kris’ kleinem Geschäft. Wie immer atme ich tief ein, sobald ich hinter Thea durch die offen stehende Tür trete. Wir arbeiten beide für die Word Ghosts – Thea mittlerweile als Leiterin der Abteilung Lektorat und Korrektorat, ich als freie Mitarbeiterin. Denn eigentlich bin ich Creative-Writing-Studentin, die aber nicht weiß, wohin mit ihrem Leben, sich mit dem Briefeschreiben ihr Studium finanziert und ein riesiges Problem hat.

Für einen Moment bleibe ich stehen, um all die warmen, zitronigen, herben, fruchtigen, ätherischen und blumigen Düfte in mich aufzusaugen, die Kris’ Tees verströmen. Ursprünglich hat sie ein wirres Durcheinander verschiedenster Kleinigkeiten in ihrem Geschäft verkauft. Als ich jünger war, erschien mir Kris’ Odds and Ends als sicherste Adresse, wenn ich Geburtstagsgeschenke brauchte. Nach und nach hat sie sich auf die Dinge spezialisiert, die am besten liefen. Die Tees findet man in langen eng stehenden Regalen zur Linken – zusammen mit hochwertigem Zubehör. Die Bücher und Magazine sowie einige ausgewählte Schreibutensilien befinden sich rechts – darunter die Fächer mit dem Briefpapier. Geradezu wird die Ladentheke von Drehständern mit den Postkarten flankiert, die Kris selbst designt. Eigentlich ist sie Künstlerin. Es gab eine Zeit, da war Word Ghosts Kris’ bester Auftraggeber. Allerdings läuft ihr Geschäft mittlerweile so gut, dass sie Drucke von ihren Arbeiten anfertigen lässt und es sich wahrscheinlich leisten könnte, auf die Tees und Bücher zu verzichten.

»Kris, bist du da?« Theas erhobene Stimme reißt mich aus meinem kurzen Ausflug in die Duftwelt von Kris’ Laden.

»Komme!« Ihre Antwort dringt durch die schmale Tür zum angrenzenden Raum, in dem ihre Werkstatt untergebracht ist. »Thea! Maggie!« Als sie wenig später auftaucht, erhellt sich ihre Miene. »Schön, dass ihr da seid. Ihr wollt sicher die neuen Karten abholen.«

»Ganz genau.« Thea streicht ihre braunen Locken zurück. Sie hat sie mit einer Spange im Nacken zusammengefasst, aber wie immer lösen sich Strähnen daraus, die sie sich regelmäßig aus der Stirn pustet. »Und falls du einen Tee zum Probieren hast, würde ich auch nicht Nein sagen.«

Kris – schon wieder halb in ihrer Werkstatt verschwunden – antwortet mit einem Lachen. »Kommt beides sofort.«

»Am besten was mit stimmungsaufhellender Wirkung«, ruft Thea ihr nach. »Das kann Maggie gerade gut gebrauchen.«

»Thea.« Genervt verdrehe ich die Augen. »Muss das sein?«

Thea wirft mir ihr warmherziges Lächeln zu, ehe sie sich den dreibeinigen Hocker von der Wand heranzieht. Kris benutzt ihn, um an die weiter oben stehenden Tees zu gelangen, aber er ist Theas bevorzugte Sitzgelegenheit. »Ist doch wahr, Maggie. So wie du aussiehst, kannst du eine Tasse gute Laune gebrauchen.«

»Was ist denn los?«, will Kris wissen, die in diesem Moment zurückkommt. Dabei schiebt sie mit dem Fuß einen Drehstuhl herein, während sie in den Händen ein Tablett mit drei dampfenden Tassen balanciert. Unter ihren Armen klemmen die Pakete mit den Postkarten, die sie speziell für unsere Agentur angefertigt hat. Rasch nehme ich sie ihr ab und reiche sie Thea, die sie sorgsam in die mitgebrachten Boxen legt.

»Bitte schön.« Kris stellt das Tablett auf der Theke ab. »Das ist total effektiv bei schlechter Stimmung: Johanniskraut, Mistel und Wegwarte.« Sie reibt ihre Hände gegeneinander, geht um ihre Theke herum, lässt sich auf ihren Stuhl hinter der Kasse fallen und sieht uns erwartungsvoll an. »Also? Wo kommt bei dem Mega-Sommerwetter der Winterblues her?«

Seufzend nehme ich auf dem Drehstuhl Platz und greife mit beiden Händen nach meiner dampfenden Tasse. Bei der stickigen Hitze im Laden wäre so ein Cocktail wie an der Gebäudewand eigentlich passender. Aber wenn wirklich gute Laune in dieser Mischung steckt, würde ich auch einen ganzen Liter nehmen.

»Maggie muss einen Liebesbrief schreiben«, erklärt Thea mit vertraulich gesenkter Stimme.

Kris’ kräftige Augenbrauen wandern höher. Sie verleihen ihrem Gesicht beneidenswert viel Charakter. Davon hat sie sowieso viel zu bieten. Kris ist Anfang vierzig, trägt ihre dunklen Haare in einem kurzen Wuschellook und mit Vorliebe Hosenträger. Heute ein schmales schwarzes Paar über einem weinroten Top zu einer Jeansshorts. Dass alles an ihr etwas kantig wirkt, macht einen Großteil ihrer Coolness aus.

»Ich dachte, du schreibst keine Liebesbriefe mehr, seit dieser Luke abgehauen ist.« Kris hat offensichtlich schon jetzt kein Verständnis dafür, dass ich von diesem Prinzip abweiche.

»Das ist genau mein Problem«, gebe ich zu. »Ich habe seit einem Jahr keinen Liebesbrief mehr geschrieben. Ich glaube, ich kann das überhaupt nicht mehr.«

»Ach was.« Thea schüttelt bestimmt den Kopf. »Du warst immer die Queen of Love Letters. Das kann einfach niemand so wie du.«

Thea ist nicht die Einzige, die das so sieht. Auch Emma setzt mich zunehmend unter Druck. Und sie weiß, wie man sich durchsetzt. Immerhin ist sie Mutter von drei Kindern, Besitzerin von zwei Hunden und Inhaberin einer Briefagentur. Einige Wochen Schonzeit hat sie mir nach Lukes Verschwinden gewährt, aber seitdem bearbeitet sie mich. Trotzdem bin ich standhaft geblieben. Keine Liebesbriefe mehr! Denn wie soll ich einen Liebesbrief schreiben, wenn ich jegliche emotionale Regung tief in mir in einem Tresor eingebunkert habe, einem inneren Hochsicherheitstrakt, weil ich sonst – das ist die traurige Wahrheit – noch immer Gefahr laufe, von meiner Verzweiflung überrollt zu werden?

»Aber warum hast du dich zu dem Auftrag überreden lassen, wenn du ihn gar nicht machen willst?«, verlangt Kris mit gerunzelter Stirn zu wissen.

»Na ja, ich hatte nicht wirklich eine Wahl«, murmle ich in meinen Tee.

»Das Interview«, informiert Thea Kris. »Du weißt schon: Emma will, dass sie es wiedergutmacht.«

»Ach ja, das Interview!«, ruft Kris aus. »Die Word Ghosts waren ja im Frühstücksfernsehen. Den Beitrag habe ich noch gar nicht gesehen.«

»Sei froh«, brumme ich und nehme mit Erschrecken zur Kenntnis, wie Kris nach ihrem Telefon greift. »Bloß nicht! Bitte sieh dir das nicht an.«

»Wieso nicht?« Irritiert mustert Kris mich.

»Ich war eine Katastrophe.«

»Quatsch!« Kris lacht auf. »So schlimm war es bestimmt nicht.«

»Warte, bis du es siehst.« Thea nimmt einen ersten vorsichtigen Schluck von ihrem Tee. Stöhnend schüttele ich den Kopf, als Kris das Interview in der Mediathek des Senders findet und der Beitrag mit einer Runde durch die Räume der Agentur beginnt. Unruhig drehe ich die Tasse in meinen Händen, während ich Emmas Stimme höre, die auf ihre präzise Art von ihrem Geschäftskonzept erzählt und dabei wahnsinnig professionell wirkt: Kleider machen Leute? Saubere Orthografie, Interpunktion und Grammatik machen gute Texte. Die Word Ghost Agency erstellt Korrektorate, Lektorate und Texte jeder Art – fürs Business, fürs Studium und für alle privaten Anlässe.

»Aber die Fakten sind ja eigentlich langweilig«, leitet sie schließlich zu mir über. »Was bei uns im Mittelpunkt steht, ist unsere Kundschaft: ihre Worte, ihre Texte, ihre Gefühle. Und was das angeht, ist Maggie unsere Expertin.«

Ich will mir die Ohren zuhalten, als die Reporterin ihre erste Frage stellt, doch die Teetasse hindert mich daran.

»Dein Job besteht also darin, Liebesbriefe an Menschen zu schreiben, die du noch nie gesehen hast. Wem hast du zuletzt ganz privat einen Liebesbrief geschrieben?«

Ich drehe die Tasse schneller, während meine Antwort auf sich warten lässt.

»Niemandem«, höre ich mich endlich sagen. Kris wirft mir einen ungläubigen Blick zu, als man mich aus ihren Handylautsprechern über die nächste Frage lachen hört. Es klingt abgehackt, nicht nach mir. »Nein, an die Liebe zu glauben ist keine Voraussetzung für meinen Job. Es geht ja nicht um meine Gefühle, sondern um die der Kundschaft.«

Auf meinem Drehstuhl vor dem Tresen werde ich kleiner.

»Fällt es dir leicht, dich in diejenigen einzufühlen, für die du schreibst?«, dringt die Stimme der jungen Fernsehreporterin aus dem Off.

»Das ist mein Job.«

»Aber ich stelle mir das schwierig vor. Das sind ja Fremde für dich und du musst innerhalb kürzester Zeit ein Gefühl für sie entwickeln. Hast du Tricks oder Hilfsmittel, um Zugang zu ihren Geschichten zu finden?«

»Na ja, jeder Job hat seine Herausforderungen. Sonst müsste man ja nicht dafür bezahlt werden.«

Kris lacht unterdrückt auf, aber ich will ihr einfach nur das Telefon aus der Hand reißen und in die letzte Ecke des Ladens schleudern. Ich will sie nicht länger sehen und hören müssen: die Frau, die aussieht wie ich, aber völlig anders spricht – kurz angebunden und abgeklärt.

Das Problem war natürlich – abgesehen von der Kamera, die mich so unverwandt angestarrt hat – Luke. Der ehrgeizigen Reporterin in Minirock und Lederjacke, die ständig auf ihre Uhr sah und ihren Kameramann Dustin anschnauzte, konnte ich nicht anvertrauen, dass ich den Job in der Briefagentur nur mache, weil Luke ihn so perfekt für mich fand und weil dieser Job das Einzige ist, das mich noch mit ihm verbindet.

»Gibt es denn eine Geschichte, die dir besonders in Erinnerung geblieben ist, die dich besonders berührt hat?«, fragt die Reporterin.

»Nein.«

Weil mich alle Geschichten berühren, will ich jetzt dazwischenrufen, weil jede einzelne zu einem Teil von mir wird. Aber es ist zu spät. Maggie-auf-dem-Bildschirm wirkt abgebrüht und kaltherzig, als würde ihr nichts auf der Welt etwas bedeuten – nur das Geld, das ihr der Job einbringt. Obwohl sie auf den ersten Blick einen eher verträumten Eindruck macht. Sie trägt ein figurbetontes kurzes Kleid mit ein paar Rüschen am Saum und einem floralen Muster in Rot, Weiß und Blau. Darunter sind sonnengebräunte Beine zu sehen. Ihre Füße stecken in mit bunten Steinchen besetzten Riemchensandalen. Ihre langen Haare haben einen hellen Blondton und sind in einen Half-Bun aufgesteckt. In ihrem eher schmalen Gesicht sind die grauen Augen der eigentliche Blickfang. Als ich das Interview im Fernsehen zum ersten Mal sah, dachte ich, dass ich wieder damit anfangen könnte, sie mehr zu betonen. Aber Schminken hat in den letzten Monaten eher keine Rolle in meinem Leben gespielt. Und jetzt habe ich erst recht andere Sorgen.

»Was ist für dich das Schönste an deinem Job?«, will die Reporterin wissen.

Wenn ich mit jemandem spreche und der Moment kommt, in dem er mir sein Herz öffnet, wenn ich anfange zu fühlen wie er, wenn ein Bild von der Person in meinem Kopf entsteht, an die ich schreiben soll, und wenn ich verstehe, was dieser Person wichtig ist. Ich liebe den Moment, wenn die Worte zu fließen beginnen, wenn sie die Kommunikationslücken anderer füllen, wenn ich sie in meinem Bauch spüren kann – ungefähr da, wo meine Rippenbögen zusammentreffen. An der Stelle fühle ich ein Kribbeln, wenn die Worte richtig sind, und ich bin süchtig nach diesem Gefühl. Leider sagt die Frau im Fernsehen nichts von alledem.

»Wenn die Kundin oder der Auftraggeber zufrieden sind.« Das ist ihre Antwort. Und die lässt sie distanziert und unnahbar wirken.

Ich wünschte, Kris würde dieser Schmach endlich ein Ende bereiten, indem sie ihr Handy ausschaltet, aber offensichtlich hat sie vor, das hier bis zum bitteren Ende auszusitzen.

»Wie hast du gemerkt, dass du ein spezielles Talent zum Schreiben hast?«, fragt die Reporterin zum Ende des Interviews.

An dem Spaß, den es mir von Kindheit an machte, für jeden Menschen in meinem Bekanntenkreis aufwendige Geburtstagskarten zu gestalten. An meiner Lesesucht und meinen Ausflügen in Schreibforen, in denen ich mich immer wohler fühlte als mit Menschen im richtigen Leben. An den Reaktionen der Leute, die während meines Creative-Writing-Studiums von meinen Texten berührt wurden. An dem faszinierten Staunen, mit dem Luke mich ansah: Maggie, das ist Magie. Das ist deine Art zu zaubern.

Die Frau auf dem Bildschirm zuckt nur mit den Schultern. »Irgendein Talent hat doch jeder.« Es fehlt noch, dass sie dabei auf einem Kaugummi kaut.

Abgemildert wird das Desaster nur davon, dass nach ihr einige unserer langjährigen Kundinnen und Kunden zu Wort kommen, die Emma zu diesem Zweck eingeladen hatte: Der Politikstudent Elias, der Legastheniker ist und für den wir Essays und Term Paper korrigieren, Gründerin Lucy, für die wir die Webtexte erstellen, Reiseblogger David, dessen Beiträge wir vor der Veröffentlichung lektorieren, und Jonathan, dessen Frau schwer erkrankt ist und mit dem ich alle drei Monate eine Geschichte über die Dinge schreibe, die sie zusammen erlebt haben.

Allerdings hat mein Auftritt wahrscheinlich dazu geführt, dass alle noch mehr Mitleid mit Jonathan bekommen, weil eine berechnende Briefeschreiberin ihm das Geld aus der Tasche zieht. Dementsprechend fällt der Kommentar der Moderatorin im Frühstücksfernsehen nach Ende des Beitrags aus:

»Ich hatte keine Ahnung, dass es überhaupt noch Leute gibt, die Briefe schreiben.«

»Anscheinend überlässt man so was heutzutage ja auch der Expertin«, wendet ihr Kollege ein. »Und die lässt sich das eben was kosten.«

Endlich, endlich, endlich wird der Bildschirm schwarz. Kris legt ihr Handy beiseite. Das Lachen ist ihr offensichtlich vergangen. »Hat Emma dich sehr laut angeschrien?«

Thea kichert ein bisschen. »Sie hat sich einigermaßen zusammengerissen, aber sie war schon ziemlich enttäuscht. Das war unsere Chance, landesweite Bekanntheit zu erreichen«, wiederholt sie Emmas Worte mit übertriebener Theatralik. »Jetzt – mitten im Sommerloch – lieben die Medien solche Storys: eine kleine Agentur voller herzlicher, engagierter junger Menschen, die professionell arbeiten, aber auch die ganz großen Gefühle erzeugen. Weil es ihnen auf ihre Leidenschaft für Sprache und nicht aufs Geld ankommt. So sollten wir rüberkommen. Stattdessen wirken wir wie ein Haufen strategischer Zahlenfuchser und geldgläubiger Geschäftsleute.«

»Warum hat sie mich auch gezwungen, dieses Interview zu geben?« Gequält leere ich meine Tasse in einem langen Zug. »Ich habe ihr von Anfang an gesagt, dass ich das nicht kann.«

»Sie hat halt gehofft, du würdest ein bisschen über dein tolles Verhältnis zur Kundschaft plaudern und mit deiner verträumt romantischen Art dafür sorgen, dass die Leute mitbekommen, wie menschlich und persönlich wir uns um jeden einzelnen Auftrag kümmern.«

»Ja«, brumme ich unglücklich. »Stattdessen wirke ich desinteressiert und emotionslos.«

»Aber warum?« Ratlos sieht Kris mich an.

Ich zucke mit den Schultern. »Emma hat gesagt, ich solle mich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Und ich wollte professionell wirken – nicht total naiv.«

»Nein, das meine ich nicht.« Kris greift ebenfalls nach ihrem Tee. Offenbar braucht sie nun auch einen Gute-Laune-Boost. »Warum hast du dich überhaupt zu dem Interview bereit erklärt, wenn du es von vorneherein nicht machen wolltest?«

Hörbar atme ich ein. »Mir ist klar, dass ich Emmas Geduld ziemlich strapaziert habe.«

»Sie hat dich ja auch regelmäßig daran erinnert«, wirft Thea ein, wobei sie missbilligend die Mundwinkel herabzieht. Obwohl sie Auseinandersetzungen sonst scheut, hat sie mich Emma gegenüber in Schutz genommen. Dabei war uns wahrscheinlich beiden klar, dass Emma im Grunde recht hat. In den ersten Wochen nach Lukes Verschwinden habe ich meinen Job vernachlässigt und war noch lange danach ziemlich unberechenbar. Immer wieder bin ich fest entschlossen in der Agentur aufgetaucht, stark und unkaputtbar zu sein, nur um wenige Stunden später doch wieder ins Leere zu starren. Auf Stand-by, weil mich mein grausames Gehirn nach irgendeiner unbedachten Bemerkung mit Luke-Flashbacks quälte – oder weil ein Auftrag mich an ihn erinnerte.

Kris sieht mir mein schlechtes Gewissen offenbar an. »Aber wir wissen doch alle, dass du eine schwere Zeit durchmachst. Und im Ernst! Wem würde es anders gehen, wenn der eigene Freund von einem Tag auf den anderen verschwindet?«

»Außerdem«, fügt Thea aufmunternd hinzu, »geht es dir seit einem halben Jahr doch besser. Immerhin schreibst du wieder Abschiedsbriefe, Trauerreden und Geburtstagskarten, Gedichte und manchmal sogar Versöhnungsschreiben. Du hast dich ja schon wieder an emotionale Texte rangetraut.«

Das stimmt und ich werfe ihr ein dankbares Lächeln zu. Nachdem ich etwa ein halbes Jahr lang fast nur Wissenschaftskorrektorate gemacht hatte, habe ich wieder angefangen, emotionale Aufträge anzunehmen. Nur Liebesbriefe habe ich zu Emmas Ärgernis weiterhin abgelehnt. Ich war wie blockiert. Jeder Versuch, den Stift anzusetzen, drückte mein Herz so zusammen, dass ich mir sicher war zu sterben. Es war ein Gefühl, das es ernst meinte. Keins, das einfach so wieder verschwindet.

»Ich dachte, wenn ich Emma mit dem Interview entgegenkomme, gibt sie mir mit allem anderen noch etwas Zeit.«

»Aber was hat dich so aus der Fassung gebracht, dass du geklungen hast wie ein schlecht programmierter Roboter?« Kris stützt sich mit beiden Händen auf die Theke und mustert mich forschend.

Ich seufze tief. »Als sie mich fragte, wem ich zuletzt einen Liebesbrief geschrieben habe, ist mir etwas klar geworden.«

Kris runzelt die Stirn. »Dass du noch nie jemandem einen geschrieben hast? Das hast du jedenfalls gesagt.«

»Ja.« Ich nicke bekräftigend, damit sie den Ernst der Lage versteht. »Seit ich bei Emma arbeite, schreibe ich Liebesbriefe an vollkommen Fremde. Nur meinem Freund habe ich nie einen geschrieben.«

»Du hast ihn ja auch jeden Tag gesehen«, sagt Kris pragmatisch.

»Ich habe ihm nicht mal Geburtstags- oder Weihnachtskarten geschrieben. Selbst als er über Weihnachten zu seiner Familie gereist ist, habe ich ihm nur mein Geschenk mitgegeben, auf dem Für Luke stand.«

»Na und?« Kris verschränkt die Arme vor der Brust. »Du fragst dich, warum du Luke nie einen Liebesbrief geschrieben hast? Ernsthaft? Der Typ hat dich brutal sitzen gelassen. Ich könnte verstehen, wenn du dich fragst, warum du ihm nicht mehr Arschtritte verpasst hast – aber Liebesbriefe?« Mit missbilligendem Gesichtsausdruck schüttelt sie den Kopf. »Auf keinen Fall!«

Theas Augen weiten sich bei Kris’ Ausbruch, aber ich nehme ihn ihr nicht krumm. Ich habe alle in meinem Umfeld zu lange mit meinem Liebeskummer belastet. Ha! Das Wort ist zu harmlos für das, was Luke mit mir gemacht hat. Er hat mich zerstört. Ich war ein Liebeskummer-Totalausfall. Mittlerweile kann man von mir erwarten, dass ich ein paar klare Worte verkrafte.

»So ähnlich sieht Emma das auch«, stimme ich ihr also zu. »Deshalb will sie, dass ich dieses …« Ich gestikuliere in Richtung von Kris’ Telefon. »… dieses Desaster wiedergutmache.«

»Ah!« Kris’ Züge glätten sich, als sie wohl versteht. »Deshalb dieser neue Auftrag, den du nicht machen willst. Ein Liebesbrief?«

»So ähnlich.« Seufzend stelle ich die Teetasse zurück auf das Tablett. »Nachdem das Interview ausgestrahlt wurde, hat Emma einen Anruf bekommen – von Alice.«

»Also hat euch der Beitrag doch neue Kundschaft eingebracht«, stellt Kris fest.

»Ja, eine neue Kundin.« Zur Betonung hebt Thea einen Zeigefinger. »Nicht Hunderte, auf die Emma gehofft hat.«

»Das werden sicher noch mehr.« Kris’ Optimismus ist wirklich bewundernswert. »Was sollst du denn für diese Alice schreiben?«

»Eine Geburtstagskarte an ihren Freund, um ihn davon zu überzeugen, mit ihr zusammenzuziehen – in ihrem Namen natürlich.«

Kris spitzt die Lippen. »Ist Zusammenziehen so eine kluge Idee, wenn er erst überzeugt werden muss?«

»Das frage ich mich auch. Alice arbeitet seit ein paar Jahren bei einem Incoming Tour Operator und unter ihren Freundinnen heiraten die ersten oder kaufen Häuser. Sie will endlich den nächsten Schritt gehen.«

»Aber er will nicht?«

»Genau. Er ist Student, arbeitet beim Radio, hat einen Podcast und lebt in einer WG, von der aus er sowohl die Uni als auch den Sender gut erreicht.« Ich hebe in einer hilflosen Geste beide Hände. »Anscheinend will er das auf keinen Fall aufgeben. Das ist ja auch ein ziemlicher Glücksgriff in London.«

»Wie sollst du ihn denn dann überzeugen?« Kris zieht den Kopf zurück, als gehe sie auf Abstand zu der Idee.

»Zaubern kann ich jedenfalls nicht.« Das Schreiben ist deine Art zu zaubern. Maggie-Magie. Ich zucke zusammen, als die Erinnerung an Lukes Worte mir wie eine Sternschnuppe durch den Kopf fliegt und einen ganzen Schweif an eigentlich fest im Tresor verschlossenen Gefühlen hinter sich herzieht: ein kurzer Moment Glück, der von dem viel stärkeren Gefühl von Verlust erdrückt wird. »Ich habe Alice längst erklärt, dass sie nicht zu viel erwarten darf. Mein Problem ist eigentlich ein anderes: Ich kann die Luke-Brille einfach nicht absetzen. Alice hat mir von ihrer Jaden-und-Alice-Liebesgeschichte erzählt, aber ich konnte nur das Negative sehen.«

»Was meinst du?« Thea mustert mich von der Seite.

Ich denke an das Telefonat zurück. Während Alice ihre Friends-to-Lovers-Erzählung vor allem romantisch fand, klang sie in meinen Ohren, als seien Jaden und sie eher zufällig zusammengekommen und nur ein Paar, weil es einfach ist.

»Ich weiß auch nicht. Früher konnte ich die Geschichten, die mir erzählt wurden, annehmen, ohne sie zu bewerten oder zu kommentieren. Jetzt höre ich sofort eine gemeine Stimme in meinem Kopf, die mir einflüstert, das alles habe doch keine Zukunft. Dabei steht es mir überhaupt nicht zu, so zu denken.«

»Sei nicht so hart zu dir selbst.« Tröstend tätschelt Thea mein Knie. »Fang einfach an zu schreiben. Du wirst schon wieder reinkommen.«

»Ich brauche übrigens noch eine Karte für ihn.«

»Klar.« Kris gestikuliert auf die Ständer, zwischen denen Thea und ich sitzen. »Du weißt ja, wo du die Geburtstagsmotive findest.«

»Eigentlich habe ich an etwas anderes gedacht.« Ich stehe auf, um den Kartenständer langsam herumzudrehen. »Da ich nur eine Postkarte habe, um den Typen von etwas zu überzeugen, das er nicht machen will, sollte das Motiv für sich sprechen. Hast du irgendwas zum Thema Freiheit?«

»Freiheit?« Nachdenklich wuschelt Kris sich mit der Hand durch ihre kurzen Haare. »Das ist aber abstrakt. Was stellst du dir da vor? Und warum überhaupt Freiheit? Ist Zusammenziehen nicht eher das Gegenteil davon?«

Zustimmend grinse ich sie an. »Eben. Aber so soll es natürlich nicht rüberkommen.«

»Verstehe.« Lachend greift Kris über den Tresen nach einer Hochzeitskarte und hält sie hoch. »Die dann wohl eher nicht, oder meinst du, er versteht Ironie?« Das Design zeigt den Scherenschnitt eines Brautpaars, das Hand in Hand einem Sonnenuntergang entgegenläuft. In den Gehweg unter ihren Füßen sind Worte eingeritzt: Buy me a beer, the end is near.

Grinsend schüttele ich den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich es mit Ironie wagen sollte. Ich will eher vermitteln, dass Zusammenziehen zwar mehr Verbindlichkeit bedeutet, aber nicht, dass man alle Freiheiten aufgeben muss.«

»Nur die meisten.« Ich werfe ihr ein schiefes Grinsen zu und sie zieht sich ihren Notizblock heran. »Schon gut. Soll ich dir ein neues Design entwerfen?«

»Das wäre super, aber dafür reicht die Zeit nicht. Ich muss Alice die Karte und den Text bis heute Abend in der Agentur bereitlegen. Jadens Geburtstag ist schon morgen und sie will die Karte selbst beschriften.«

»Warum machst du das nicht? Du kannst das doch viel schöner – du mit deinen Kalligrafie-Skills.« Kris mustert mich neidisch.

»Wahrscheinlich will sie Geld sparen«, vermutet Thea, aber ich schüttele den Kopf.

»Jaden soll auf keinen Fall merken, dass sie den Text gar nicht geschrieben hat. Daher übernimmt sie die Beschriftung selbst.«

»Aha«, sagt Kris in skeptischem Ton. »Dann schaue ich mal in der Werkstatt nach, ob ich was Passendes finde. Was hältst du von einem Meer-Motiv?«

»Gute Idee! Der Typ ist Surfer.«

»Schaut ihr mal in den Ständern. Allerdings habe ich gerade eine Blumenphase«, meint Kris, während sie uns umrundet und in ihrer Werkstatt verschwindet.

»Das ist nicht zu übersehen.« Schmunzelnd blättere ich durch die Karten. Die meisten sind mit riesigen schimmernden Blüten bedeckt. In den Fächern mit den älteren Motiven wechseln sich Tiere mit abstrakteren Designs von Wald- oder Berglandschaften ab. Ich lege mir zwei Karten zur Seite, die eventuell passen könnten, suche aber noch weiter. Einige sind mit Noten, Sprüchen oder kleinen charmanten Szenen zwischen einer Biene und einem Faultier versehen. Und dann halte ich sie plötzlich in Händen: die perfekte Karte! Sie zeigt ein abstraktes Design türkisfarbener Wellen, die sich mit sonnengelbem Sand vermischen und mit einem himmelblauen Horizont verschmelzen. In Weiß und Rot hebt sich die Andeutung eines Leuchtturms davon ab.

»Kris!«, rufe ich nach hinten. »Ich habe eine.«

Sofort kommt sie zurück und wirft einen neugierigen Blick auf die Karte. »Die habe ich vor Jahren gemacht. Das ist wahrscheinlich die letzte ihrer Art.«

»Dann verteidige ich sie mit meinem Leben. Für einen Surfer passen die Wellen doch perfekt.«

»Glück gehabt, würde ich sagen.« Thea grinst mich an und legt die Karte zu den anderen in die Box, während Kris auf ihren Platz geht, um den Einkauf auf die monatliche Abrechnung der Agentur zu setzen.

»Stichwort Glück«, sagt Kris seufzend, während Thea mir eine der Boxen gibt und sich vom Schemel gleiten lässt. »Ihr wisst nicht zufällig jemanden, der zuverlässig, vertrauenswürdig und nett ist und bei mir arbeiten will?«

»Willst du jemanden einstellen?«, frage ich überrascht, wobei ich ebenfalls aufstehe.

Kris nickt zustimmend. »Ich kann mich langsam nicht mehr retten vor Aufträgen und brauche dringend Unterstützung bei der Inventur und beim Versand von Bestellungen.«

»Das ist doch super!« Schon halb auf dem Weg zur Tür drehen Thea und ich uns noch mal um.

»Schon.« Grinsend bleibt Kris in der Tür zu ihrer Werkstatt stehen. »Aber mittlerweile sitze ich oft bis spät in die Nacht hier, um Briefe und Pakete zu packen. Also muss ich wirklich jemanden finden.«

»Ist das denn so schwer?«, will Thea wissen.

Kris zuckt mit den Schultern. »Ein paar haben sich schon bei mir vorgestellt. Aber ich habe bis zehn gezählt und es hat nicht klick gemacht.«

»Bis zehn gezählt?«, wiederhole ich.

»Ja, das mache ich immer so. Solltet ihr auch mal probieren. Ein Bauchgefühl stellt sich schnell ein, aber manchmal braucht unser Kopf ein bisschen Zeit, um die Signale richtig zu deuten. Wenn ich also nicht weiß, wie ich reagieren oder wie ich mich entscheiden soll, gebe ich meinem Bauch zehn Sekunden Zeit, mir einen Tipp zu geben.«

»Und das funktioniert?« Skeptisch sehe ich sie an. Aus meinem Bauch kommt meistens nur Alarmgeläut, wenn ich mit einer unberechenbaren Situation konfrontiert bin.

»Probier es einfach aus«, meint Kris zuversichtlich.

»Mache ich.« Gleich darauf treten Thea und ich in die sonnenwarme Luft auf der Rivington Street. Trotz der Probleme, die mir im Nacken sitzen, fühle ich mich beschwingt – wie eigentlich jedes Mal, wenn ich von Kris aufbreche. Ich glaube, das liegt an ihrem gemütlichen Laden mit all den schönen Dingen und Kris’ zugewandter Art. Oder vielleicht an ihrer Gute-Laune-Teemischung.

Kapitel 2

Nur knapp zehn Minuten später betreten Thea und ich die Räume der Word Ghosts in der Shoreditch High Street. Kurz grüße ich in die Runde, habe es aber eilig an meinen Platz zu gelangen und mich in Bezug auf Jadens Geburtstagskarte an die Arbeit zu machen. Die Agenturräume haben mit ihren Wänden aus Sichtbeton das Potenzial, furchtbar hässlich zu sein. Emma hat sie jedoch so liebevoll eingerichtet, dass sie hip wirken. Ecken mit Zimmerpflanzen und riesigen bunten Sitzkissen sind vor allem bei den Freelancern – dem Großteil von Emmas Mitarbeitenden – beliebt. Einige von ihnen sind wie ich Studierende und kommen manchmal auch her, um ihre Term Paper zu schreiben. Das helle Holz der Bücherregale und Schreibtische sowie bunte Teppiche weichen den Look des Betons auf. Linker Hand führen ein paar Treppenstufen zu einer offenen Küche hinauf, in der gerade ein paar Leute bei Tee und einem Plausch zusammensitzen.

Ich blende die Geräuschkulisse jedoch aus, sobald ich an meinem Schreibtisch sitze, der Kopf an Kopf mit Theas in der hinteren Ecke des Raums steht. Diese Karte an Jaden macht mich nervös. Vielleicht weil Alice ihrem Freund gegenüber ein Geheimnis daraus macht? Oder weil sie sich so viel davon erhofft? Irgendetwas an der Geschichte, die sie mir über sich und Jaden erzählt hat, bereitet mir jedenfalls Sorgen. Sie hatte sich so gut auf unser Gespräch vorbereitet, dass viele ihrer Anekdoten nicht ganz authentisch wirkten. Irgendwie habe ich das Gefühl, Jaden noch näherkommen zu müssen – ohne Alice-Filter.

Während ich mir sein Instagram-Profil ansehe, versuche ich die Bilder mit Alice’ Geschichten über ihn in Einklang zu bringen und versinke so in meiner Recherche, dass ich kaum mitbekomme, wie Thea in dem Durcheinander auf ihrem Schreibtisch nach irgendetwas sucht.

Alice und Jaden haben sich in einem Jugendfreizeitprogramm kennengelernt, fuhren mit der Gruppe zum Skifahren nach Frankreich und zum Surfen nach Portugal – die einzige Möglichkeit für Jadens Eltern, ihrem Sohn Urlaube zu ermöglichen. Alice fand Jaden von Anfang an toll, himmelte ihn aber eher aus der Ferne an. Eigentlich war er ihr zu wild. Von Brücken in die Themse zu springen, sich illegal auf Festivals einzuschleusen, Ausweise zu fälschen, um in Clubs zu gelangen und an Alkohol zu kommen, oder ungefragt Fahrräder auszuleihen gehörte alles zu seinem Repertoire. Doch als Jadens bester Freund ein Stipendium bekam und ein Studium begann, war das für Jaden wie eine Challenge, es auch zu schaffen. Er hat beim Radio gejobbt, wo er mittlerweile als Produktionsassistent arbeitet. Vor dem Mikrofon kann er seine Schlagfertigkeit voll ausspielen. Deshalb hat er inzwischen nicht nur etliche Praktika bei ITV und sogar der BBC absolviert, sondern auch seinen eigenen Podcast entwickelt. Um eine Chance auf eine Karriere zu haben, macht er gerade seinen Abschluss in Broadcast Journalism.

Alice hat mir erzählt, wie überrascht sie war, seine Wandlung zu beobachten. Er ließ seine grenzwertigen Aktionen fast schlagartig sein, als er merkte, dass er eine reelle Chance hat, es als Moderator zu schaffen. Das beeindruckte sie. Und während eines Sommers in Portugal wagte sie zum ersten Mal, ihm näherzukommen. Sie verbrachten eine Nacht zusammen, dann trafen sie sich zu Hause häufiger allein. Ein halbes Jahr später in einer eingeschneiten Hütte in Val d’Isère stellten sie fest, dass sie in der Zwischenzeit beide nichts mit anderen angefangen hatten. Seither sind sie offiziell ein Paar – mittlerweile seit drei Jahren.

Doch obwohl Jaden weiß, dass Alice sich mehr Verbindlichkeit wünscht, macht er keine Anstalten, ihr entgegenzukommen. Und gegen seine Redegewandtheit kommt Alice argumentativ nicht wirklich an.

Nachdenklich scrolle ich nochmals durch die Fotos, die sie mir von Jaden und sich geschickt hat und auf denen seine Aufmerksamkeit immer auf irgendetwas anderes als sie gerichtet ist: einen Kumpel, der ihn gerade mit Schnee abwirft, einen Krebs, der vor seinen Füßen durch den Sand wandert, oder eine riesige Portion Käsespätzle vor ihm auf dem Tisch. Es sind Momentaufnahmen. Situativ kann ich das also verstehen. Spätestens bei den Käsespätzle fange ich allerdings an, mir Fragen zu stellen. Denn selbst wenn Jaden lässig einen Arm um Alice gelegt hat, sind seine dunklen Augen grundsätzlich auf irgendetwas anderes als sie gerichtet. Die einzige Ausnahme ist ein Foto, auf dem die beiden in Winterklamotten – Alice mit Weihnachtsmütze auf dem Kopf – vor dem Albert Memorial stehen und sich küssen. Darauf haben beide die Augen geschlossen und sind ganz bei sich.

Auf ausnahmslos allen Bildern wirkt Jaden gut gelaunt. Er hat immer ein unfassbar breites Grinsen aufgesetzt. Seine blonden Haare scheinen im Winter deutlich dunkler zu sein als im Sommer. Und selbst bei der Verleihung seines Podcast-Preises wirkt er eher abenteuerlustig als feierlich. Wenn ich ihn betrachte, kann ich nicht anders, als ihn mit Sand an den braun gebrannten Knien und Surfbrett unterm Arm zu sehen.

Unwillkürlich muss ich an den Hawaii-Urlaub mit Luke und seiner Familie denken, während dem ich bei meinen Surfversuchen so viel Salzwasser schluckte, dass ich glaubte an unkontrollierter Zell-Osmose sterben zu müssen.

Rasch lenke ich mich damit ab, mir Jadens Podcast herauszusuchen. Seit er Anfang des Jahres den Preis dafür bekam, hat seine Show deutlich an Bekanntheit gewonnen. Darin interviewt er junge Leute, um mit ihnen Ideen zur Gestaltung von Umwelt- und Gesellschaftsfragen zu diskutieren. Er lädt Verantwortliche aus Politik, Wirtschaft oder Kultur ein, die er mit Fragen löchert. Einige seiner besonders interessanten Gäste durfte er offenbar auch schon in die Radioshow einladen, für die er arbeitet. Irgendwie berührt mich das übermütige Funkeln in seinen Augen auf den Fotos bei der Preisverleihung und auf der Website des Senders. Es verrät, wie viel ihm seine Arbeit bedeutet. Offensichtlich macht sie ihn glücklich. Warum ist das auf keinem der Fotos mit Alice zu sehen?

Ich ziehe meine Kopfhörer aus der Tasche, um in Jadens Podcast reinzuhören. Himmel! Wie kann jemand eine so schöne Stimme haben und gleichzeitig so unsympathisch sein? Klar! Er hat sicher ein Stimmtraining hinter sich gebracht, wenn er zum Radio will, aber ich könnte den Klang seiner Stimme lieben – wenn er damit ein schönes Gedicht vortragen würde, zum Beispiel. Wie eine perfekte Gitarrenharmonie stößt sie etwas in mir an und lässt es wie die Saite eines Instruments nachschwingen. Aber Jaden liest nun mal keine Gedichte vor. Stattdessen interviewt er zwei Klimaaktivistinnen und ich weiß durchaus zu schätzen, wie er das Gespräch immer wieder von allgemeiner Kritik zu konstruktiven Gestaltungsvorschlägen lenkt. Wahrscheinlich spricht es aus journalistischer Sicht auch absolut für ihn, dass er dem Umweltpolitiker, den er ebenfalls in seine Sendung eingeladen hat, keine Ausflüchte durchgehen lässt. Aber mich stresst es, wie er ihn in die Ecke drängt, immer und immer wieder nachhakt. Er tut es freundlich, aber bissig ist es trotzdem. Verhaspelt er sich eigentlich nie? Langsam kapiere ich, warum Alice in Auseinandersetzungen nicht gegen ihn ankommt. Er ist wie ein Bollwerk, das unverrückbar den Rahmen des Gesprächs vorgibt, während sich seine Gäste in hitzige Diskussionen verstricken.

Schaudernd nehme ich schließlich meine Kopfhörer ab. Thea blickt von ihrem Bildschirm auf und mustert mich neugierig.

»Was hast du denn da gehört? Du hast richtig verträumt ausgesehen.«

»Verträumt?« Entschieden schüttele ich den Kopf. »Bestimmt nicht. Erschüttert eher. Der Podcast von Jaden Carter ist wie ein schwerer Autounfall mit Toten und zahlreichen Verletzten in Gesprächsform. Ich kann froh sein, dass nicht er das Interview mit mir geführt hat. Der hätte dafür gesorgt, dass ich anfange zu stottern, mich in Widersprüche verstricke, mich verteidigen muss, ohne zu wissen, wogegen, und irgendwann völlig erschöpft alles zugebe.«

Thea runzelt die Stirn und zupft an einer ihrer losen Haarsträhnen. »Was denn zugeben?«

»Keine Ahnung. Dass es mir einzig ums Geld geht, ich die Gefühle der Menschen ausnutze, um ihnen immer mehr Kohle aus der Tasche zu ziehen, dass ich mich an ihren Emotionen bereichere, weil mein eigenes Leben zu langweilig ist. Dass ich eine Gefühlsvampirin bin.«

Thea schüttelt den Kopf. »Warum solltest du so was zugeben? Das ist doch gar nicht wahr.«

»Das ist jemandem wie Jaden wahrscheinlich egal. Ihm geht es doch nur um die Story. Hör dir mal an, wie er seine Gesprächspartner auseinandernimmt. Er ist unfassbar schnell und schlagfertig.«

Grinsend deutet Thea auf mich. »Das klingt jetzt fast nach Bewunderung.«

Seufzend verstaue ich die Kopfhörer wieder in meiner Tasche. »Irgendwie schon. Auch wenn ich ganz bestimmt nicht Opfer dieser Eigenschaften werden will. Du weißt ja, dass ich nicht gerade die Schnellste bin.«

»Weil du von jetzt an immer erst mal bis zehn zählst?«

»Das werde ich auf jeden Fall. Wenn ich in Panik gerate und unüberlegte Entscheidungen treffe, ist das fast immer schlecht. Von daher …«

»Von daher solltest du dir ganz genau überlegen, wie du diesen Typen zum Zusammenziehen überredest, damit dir Alice nach seinem Geburtstag nicht den Kopf abreißt, schon klar. Allerdings solltest du in diesem Fall das Bis-zehn-Zählen im Schnelldurchlauf runterrattern, denn viel Zeit bleibt dir nicht mehr. Noch hast du kein Wort geschrieben, oder?«

»Jaja.« Grinsend werfe ich einen Stift nach ihr, der in dem liebevollen Chaos auf ihrem Schreibtisch sofort verschwindet. »Es fällt mir einfach schwer, ihn zu fassen zu kriegen. Wie überzeuge ich jemanden von etwas, das er nicht will? Und das auf einer Postkarte? Da ist ja kaum Platz für Argumente.«

Thea zuckt mit den Schultern. »Dann sind Argumente vielleicht nicht der richtige Weg.«

Nachdenklich ziehe ich mir ein Blatt Papier und einen Stift heran. Damit könnte Thea recht haben. Argumente hat Alice in den letzten Monaten schließlich genug vorgebracht. Aber Jaden ist bei seinem irgendwann vielleicht geblieben. Jetzt ist es an mir, ein jederzeit daraus zu machen.

In meinem Kopf tanzen Worte Ringelreihen. Wieder sehe ich mir die Fotos von Jaden an, gehe noch mal meine Notizen über ihn durch. Sein Freigeist, seine Hingabe für seine Arbeit und seine blitzenden dunklen Augen fordern mich heraus. Schließlich fliegt mein Stift übers Papier:

Das Leben mit dir ist ein Abenteuer, Jaden. Ich liebe jeden einzelnen Moment. Und ich wünsche mir eine gemeinsame Home Base für unsere Reisen in die Welt. Ich will dich nicht in Fesseln legen, sondern zusammen mit dir frei sein. Deshalb möchte ich dich fragen, ob du bei mir einziehst. Denn ich fühle, dass ich zu dir gehöre, Jaden. Und, ich hoffe, du zu mir.

Eine Weile feile ich noch an der Formulierung herum, bin aber erleichtert, endlich etwas geschrieben zu haben, mit dem ich arbeiten kann.

Als ich mit dem Text zufrieden bin, wähle ich eine Kalligrafie-Feder und verziere die Karte für Jaden noch mit einem Schriftzug. Während die Tinte trocknet, erstelle ich die Rechnung für Alice und drucke sie zusammen mit dem Kartentext für sie aus. Normalerweise würde ich beides per E-Mail schicken, aber da sie die Karte noch heute Abend braucht und extra deshalb vorbeikommen wird, erscheint es mir so einfacher.

Erst anschließend merke ich, dass Thea mir in der Zwischenzeit einen ihrer selbst gemachten Eistees auf den Tisch gestellt hat, und nehme einen tiefen Schluck. »Danke, der ist ja lecker! Minze und …« Ich nippe erneut an der goldfarbenen, erfrischend kalten Flüssigkeit. »Brombeere.«

»Genau.« Thea strahlt mich an. »Bisher mein Favorit diesen Sommer.«

»Meiner ab jetzt auch.« Ich liebe Theas Getränkeexperimente und nehme mir vor, ihr mal wieder ihre veganen Lieblingsfruchtgummis mitzubringen – zum Dank, weil sie mich immer probieren lässt. Wir verabreden uns für den nächsten Tag zum Lunch und ich mache mich auf den Heimweg.

Weil es so ein schöner warmer Abend ist und ich es genieße, wie das schräg fallende orangefarbene Abendlicht die Konturen der Stadt weichzeichnet, beschließe ich, die gute halbe Stunde zu Fuß zu gehen. Die beste Gelegenheit, um Finn anzurufen.

Finn studiert Geschichte und Kommunikation und verbringt den Sommer bei einem Praktikum in Bletchley Park – dem Anwesen, in dem während des Zweiten Weltkriegs die Encodierer saßen, die den deutschen Nachrichtenverkehr entschlüsselten. Da er solange bei einem Freund seines Vaters in Milton Keynes wohnt, sehen wir uns seit Wochen viel zu selten und ich vermisse ihn schmerzlich. Seit frühester Kindheit sind wir beste Freunde und ohne ihn ist der Sommer in London einfach nicht das Gleiche. Ich vermisse unsere Radtouren in Hampstead Heath oder nach Kew Gardens, unseren Wettstreit, welches der zahlreichen Festivals wir besuchen wollen, die Schwimmnachmittage im London Fields Lido, die gemütlichen Sommerabende im Open-Air-Kino, unsere Wahl der Eiscreme des Sommers – was jedes Jahr mein persönliches Highlight ist. Finn und ich haben all diese Dinge, die wir schon immer zusammen gemacht haben. Und deshalb ist Sommer ohne Finn gar nicht richtig Sommer. Gut, der letzte war auch kein richtiger, weil Luke gerade erst verschwunden war und ich nicht in der Stimmung für unbeschwerte Tage in der Sonne. Dass ich dieses Jahr wieder Lust habe, etwas zu unternehmen, ist immerhin als Fortschritt zu werten.

Schon nach dem zweiten Klingeln nimmt Finn ab. »Mags! Klassischer Fall von Gedankenübertragung. Ich wollte dich auch gerade anrufen.«

Ich muss lachen – einfach, weil es guttut, seine Stimme zu hören. »Hast du denn gute Neuigkeiten? Kriegst du das Wochenende doch frei?«

»Samstag und Sonntag ist hier meistens voll. Da kann ich nicht weg. Aber nächste Woche komme ich für ein paar Tage nach Hause. Ich dachte, du könntest vielleicht am Wochenende mehr arbeiten, damit wir dann was unternehmen können?«

Sofort wird mir leicht ums Herz. Rasch schalte ich das Gespräch auf meine Kopfhörer und schiebe sie mir in die Ohren, um den Lärm des Feierabendverkehrs auszublenden. Mein Weg wird mich bald zwischen den Schluchten aus Beton- und Glasbauten hinaus und über den Regent’s Canal führen. Dort wird es ruhiger und das Großstadt- weicht dem Kleinstadtfeeling.

»Klar unternehmen wir was. Wir können in diese Eisdiele fahren, die Kyra dir empfohlen hat. Gelupo, oder?«

»Bist du da immer noch nicht gewesen?« Finn klingt ungläubig. »Normalerweise rennst du doch sofort hin, wenn jemand behauptet, die beste Eisdiele Londons zu kennen.«

»Ja, aber mit dir zusammen. Wer sonst würde denn quer durch London nach Soho fahren, um ein Eis zu testen?«

»Guter Punkt«, gibt Finn zu.

»Ganz nebenbei gefragt: Wie läuft es mit Kyra?«

»Alles okay.«

Mit einem gutmütigen Grinsen verdrehe ich die Augen. Diese Zurückhaltung ist typisch für Finn. Aber was ist das für eine Antwort von jemandem, der frisch verliebt ist? Kyra arbeitet in Bletchley im Customer Service. Finn hatte ganz am Anfang seines Praktikums mit ihr zu tun, weil ein Junge während seines ersten Workshops einen allergischen Anfall bekam. Kyra löste die Situation mit den aufgebrachten Eltern und scheint Finn damit ziemlich beeindruckt zu haben.

»Ihr datet jetzt wie lange? Vier Wochen? Sechs? Du musst sie schon etwas besser finden als okay, oder?«

Finn lacht leise. »Schon.«

»Hauptsache, du bist ihr gegenüber nicht genauso wortkarg.«

»Statt dir über Kyra und mich den Kopf zu zerbrechen, solltest du dir lieber über dein eigenes Liebesleben Gedanken machen«, zieht er mich auf. »Meinst du nicht, es ist langsam an der Zeit, mal wieder die Augen aufzumachen?«

Sofort verdüstert sich meine Stimmung. Dieses Thema möchte ich auf keinen Fall vertiefen – nicht mal mit Finn. Er wäre nicht Finn, wenn er sich nicht wünschen würde, dass ich genauso glücklich bin, wie er es wahrscheinlich gerade ist – auch wenn er das nicht so zeigen kann. Aber diese Option besteht für mich einfach nicht.

»Meine Augen sind offen«, entgegne ich nur. »Mein Herz ist es nicht. Das weißt du doch.«

Ich höre ihn seufzen. »Ja, ich weiß. Aber irgendwann muss auch dein Leben weitergehen, Mags.«

»Mein Leben geht doch weiter.« Ich höre selbst den Verteidigungsmodus meiner Stimme.

»Du hast dein Studium unterbrochen, dich mit Thea in der Briefagentur verschanzt und du wohnst in deinem alten Zimmer bei deiner Grandma. Klingt das, als würde sich gerade viel bewegen in deinem Leben?«

Ich glaube, Finn ist der Einzige, der es wagt, mir meine Situation so deutlich vor Augen zu halten. »Nein.«

»Ich will nur, dass es dir endlich wieder gut geht.« Finns Stimme ist leiser geworden. »Jeder Tag, den du seinetwegen unglücklich bist, ist doch irgendwie verschenkt.«

Tief hole ich Luft, glaube fast, das warme Gold des Abendlichts zu schmecken. »Da hast du recht. Aber ich weiß nicht, wie ich damit aufhören soll.«

»Es gibt nur einen Weg«, behauptet Finn. »Mach die Augen auf. Um Dingen die Chance zu geben, dich glücklich zu machen, musst du sie schließlich erst mal sehen.«

»Ja«, gebe ich gedehnt zu. »Stimmt. Aber ich sage dir eins: Ich werde niemals wieder mein Glück von einem Typen abhängig machen.« Zumal sowieso ausgeschlossen ist, dass ein anderer an Luke heranreichen kann, füge ich in Gedanken hinzu, spreche es aber nicht aus. Ich will mir weder anhören, Luke sei es nicht wert gewesen, noch will ich so mitleiderregend sein, wie mich das wirken ließe. Aber im Grunde bin ich überzeugt davon: So wie für Luke kann ich einfach niemals für jemand anders fühlen. »Außerdem bewegt sich durchaus etwas«, sage ich stattdessen. »Ich habe heute zum ersten Mal wieder einen Liebesbrief geschrieben.«

»Und du hast nicht geheult?« Finn klingt beeindruckt und ich muss lachen.

»Ich habe dabei nicht mal an Luke gedacht.« Erst als ich es ausspreche, fällt mir auf, dass es stimmt. Seit ich diesen Auftrag angenommen habe, sind meine Gedanken nur bei Jaden gewesen. Dabei kenne ich ihn nicht mal. Aber ich habe mich so darin vertieft zu verstehen, wie er tickt, dass Luke in den Hintergrund getreten ist. Den Rest meines Weges erzähle ich Finn von dem Auftrag und von Jaden. Ich sehe Jadens breites Lächeln vor mir und das abenteuerlustige Funkeln in seinen Augen. Und als ich daran denke, dass Finn für ein paar Tage nach Hause kommt, muss auch ich lächeln. Plötzlich fühlt sich das Leben schon viel mehr nach Sommer an.

Kapitel 3

Zweiter Brief an Luke

 

Lass uns am Anfang beginnen, Luke: auf dem weitläufigen UCLA-Campus unter der Sonne Kaliforniens, wo wir uns begegnet sind. Ich war für ein paar Monate da, um einen Kurs im Drehbuchschreiben zu absolvieren, und für mich schmeckte die Hitze nach Abenteuer. Die London-Maggie war still, liebte Geschichten, kämpfte in ihrer Fantasie gegen Drachen, Serienkiller und verbotene Leidenschaften, hatte bisher aber selten das Viertel verlassen, in dem sie aufgewachsen war. Diese Maggie traf dich.

Auf dem Bruin Plaza drängte sich eine Gruppe Studierender um die McClure-Stage – eine halbrunde Steineinfassung mit Sitzbank im Schatten eines Baumes. Ich wollte nachsehen, ob eine Probe in Gang war, und stellte mich auf Zehenspitzen. Du hast auf der Steinbank gesessen – einen Zeichenblock auf dem angewinkelten Knie – und Gesichter gezeichnet. Du hast dir die Leute einen Moment lang angesehen, dann den Stift angesetzt und aus den ersten selbstbewussten Linien ihren Mienen mit liebevoller Sorgfalt Ausdruck verliehen. Du hast gelächelt – fein, kaum wahrnehmbar. Es kam mir vor, als mache jede Berührung von Stift auf Papier dich glücklich.

Dann hast du aufgeblickt und mich entdeckt. Für einen Moment blieb die Welt stehen – oder zumindest mein Herz. Hinter diesem Gefühl verblassten das Stimmengewirr und Gelächter der anderen, die Sommerhitze, jeder Gedanke, der eben noch da gewesen war. Deine Art zu zeichnen hat mich an meine Art erinnert, beim Schreiben für jedes Wort den richtigen Platz im Satz zu suchen. Und doch warst du ganz anders als ich: mit deiner Sorglosigkeit, mit der du dir beim Zeichnen hast zusehen lassen. Du hast mich angelächelt und dabei kamen deine unfassbar charmanten Grübchen zum Vorschein. Irgendetwas hast du in mir schlagartig geöffnet. Ich habe mich gefühlt wie aus Glas: zerbrechlich und durchschaubar.

Ist dir eigentlich aufgefallen, dass ich dir während unserer Beziehung nie einen Brief geschrieben habe? Ich habe darüber nachgedacht, warum nicht, und ich glaube, ich weiß es: Dir gegenüber fühlte ich mich transparent. Hast du mein Herz viel zu schnell schlagen sehen? Hast du gesehen, wie dein Blick meine Wangen erhitzte, wie ich die Hände ballen musste, um nicht nervös an meinen Haaren zu zupfen? Ich dachte, ich muss dir nichts sagen, muss dir nichts schreiben, weil du mir jede Gefühlsregung ansiehst. Sogar in diesem ersten Moment schon.

Ich habe mich umgedreht und bin gegangen. Ich konnte weder dir noch den Emotionen, die du in mir ausgelöst hast, standhalten. Du – das hast du mir später erzählt – hast von da an nach mir Ausschau gehalten. Du hast gespürt, dass etwas zwischen uns im gleichen Rhythmus tickte. Meinst du, es war unser Bestreben, Dinge im Moment festzuhalten – ich in Worten, du in Zeichnungen?

Als du mich einige Tage später beim Mittagessen aufgespürt hast, wolltest du mich auf Papier bannen. Ich war so heillos überfordert von dir – deinem unerschrockenen Lächeln, deiner Unkompliziertheit, dem schimmernden Blaugrün deiner Augen, die mir unumkehrbar den Kopf verdrehten. Aber zeichnen lassen wollte ich mich nicht. Was war denn dein Motiv, mich zu deinem Motiv zu machen? Zu Hause wurde ich fast immer übersehen. Aber du hast mich wahrgenommen. Und alles, was zu Hause als ungewöhnlich an mir auffiel – meine Begeisterung für Geschichten, meine bunten Kleider, meine Liebe für Details –, hast du gemocht.

Ich gebe es zu, Luke. Ich bin wieder vor dir geflohen. Denn mein klopfendes Herz, das Kribbeln in meinem Bauch, die Schauer in meinen Nervenfasern haben mir verraten, dass ich in Gefahr war. Und dass ich dir aus dem Weg gehen sollte. Schließlich hatte ich einen Freund.

Seit etwa einem Jahr wohne ich wieder in Grandma Lawsons Haus nordwestlich von Shoreditch, in dem ich aufgewachsen bin. Einige Wochen nachdem Luke verschwunden war, rief ich Grandma Lawson an – eine lebende Legende in unserer Familie. Als junge Frau arbeitete sie als Krankenschwester, heiratete, bekam einen Sohn und ließ sich schließlich von ihrem Mann scheiden, weil er sie vergewaltigte, wenn er getrunken hatte. Damals war das ein unerhörter Vorgang. Also die Scheidung, nicht die Vergewaltigungen. Als Oberschwester schaffte Grandma Lawson es, sich und ihren Sohn durchzubringen. Dann heiratete sie einen Juristen, weigerte sich, ihre Arbeit aufzugeben, und ertrug die Ablehnung ihrer Schwiegerfamilie, in deren Augen sie als geschiedene und ältere Frau eine unmögliche Wahl darstellte. Sie bekam zwei weitere Kinder, verlor ihren Sohn, der sich nach langer manisch-depressiver Erkrankung das Leben nahm, pflegte jahrelang ihren Ehemann, der nach einem Schlaganfall körperlich eingeschränkt war, bis er schließlich nach einem weiteren starb. Grandma Lawson hat stets hart gearbeitet, viel gelitten und am Ende doch immer das letzte Wort gehabt. Denn Grandma Lawson ist nun mal … Grandma Lawson. Und als solche kann sie ziemlich beängstigend sein.

Dementsprechend befand ich mich unmittelbar vor einer Panikattacke, als ich zum Telefon griff. Da hatte ich gerade die Phase der fiebrigen Suche nach Spuren und Erklärungen hinter mir und befand mich am Tiefpunkt. Der Sorte, bei der man nicht mehr einkaufen geht, mitten auf dem Teppich liegen bleibt, statt ins Bett zu gehen, den eben erst zugewiesenen Master-Studienplatz sausen lässt und mit Schal und Sonnenbrille zur Arbeit erscheint, weil kein Make-up der Welt verbergen kann, wie mies es einem geht. Ich hauste in der winzigen Wohnung, die ich mit Luke geteilt hatte, zwischen all seinen Sachen und fühlte mich wie eine Gefangene in einem Leben, das es nicht mehr gab. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich selbst aus meinem Zustand retten sollte. Und da ich weder ans Telefon noch an die Tür ging, konnte es auch sonst niemand tun. Ich wählte Grandma Lawsons Nummer, obwohl ich mir denken konnte, was sie sagen würde: Kopf hoch, Brust raus und Bauch rein. Dazu passt kein eingezogener Schwanz. Das ist nämlich ihr Motto – also der erste Teil. Den zweiten habe ich mir ausgedacht.

»Grammie«, platzte es aus mir heraus, als sie sich mit ihrer rauen, kurz angebundenen Art meldete. »Kann ich für eine Weile wieder in mein altes Zimmer ziehen?«

Ich weiß noch, wie lange es still in der Leitung blieb. Wie ich mich ängstlich fragte, ob ich mich überhaupt richtig gemeldet hatte, weil Grandma Lawson Unhöflichkeit hasst.

»Natürlich, Maggie«, sagte sie endlich. »Du kannst immer nach Hause kommen.«

Seitdem wohne ich wieder hier – in diesem dreistöckigen georgianischen Endreihenhaus mit geschwungener Treppe zur Eingangstür und Erkern vor den Fenstern. Außerdem leben noch meine Tante Meredith und mein Cousin Noah im Haus. Die Besatzung wechselt hin und wieder. Ich glaube, wir Lawsons machen intuitiv für diejenigen Platz, die ihn am dringendsten brauchen.

Als ich am Montag früh aus dem Schlaf gerissen werde, denke ich zuerst, mein Wecker habe geklingelt, realisiere jedoch gleich darauf, dass ich einen Anruf weggedrückt habe. Benommen reibe ich mir mit der Hand übers Gesicht, während ich in den hellen Streifen Morgenlicht blinzele, der an der Gardine vorbeifällt. Gähnend rolle ich mich im Bett herum und versuche wieder in den Schlaf zu finden. Den Text für Jonathan an seine Frau habe ich am Wochenende geschrieben, sodass ich heute ausschlafen wollte. Zumal ich gestern Abend lange wach lag. Es macht mich immer wieder traurig, wie Jonathan jeden Moment mit seiner Frau festzuhalten versucht, aber gleichzeitig ist es ein schönes Gefühl, seine Erlebnisse mit Freeda in kleine Geschichten zu verwandeln. Die Aussicht, Finn am Nachmittag vom Bahnhof abzuholen, hellt meine Laune zudem auf. Trotzdem spüre ich, dass ich nicht mehr richtig einschlafen werde. Sofort sind zu viele Gedanken und Gefühle da und vertreiben die gemütliche Schwere der Müdigkeit.

Als mein Telefon erneut klingelt, richte ich mich unwillig auf. Es ist dieselbe unbekannte Nummer wie eben. Eigentlich kann der Anruf nur über die Rufumleitung der Agentur kommen und wird an jemand anders durchgestellt, wenn ich nicht rangehe. Wer will mich denn so dringend sprechen, dass er es gleich wieder versucht? Ich reibe mir mit der Hand übers Gesicht und schwinge die Beine aus dem Bett.

»Hallo?«, melde ich mich dann, wobei ich hoffe, dass meine Stimme nicht so kratzig klingt, wie sie sich anfühlt.

»Hi, hier ist Alice.«

»Alice?« Überrascht stehe ich auf, um den Vorhang beiseitezuziehen. Ihre Stimme hat gepresst geklungen. Eine ungute Vorahnung durchfährt mich.

»Du hast letzten Mittwoch die Geburtstagskarte an meinen Freund Jaden geschrieben.«

»Ja, ich weiß. Ist alles in Ordnung?« Sonnenlicht flutet mein Zimmer – die bunten Teppiche, die mit Lichterketten geschmückten Bücherregale und meinen Lesesessel, in dem sich Finns uralter Kater Hannibal zusammengerollt hat.

»Alles super, wenn man davon absieht, dass ich zu viel Zeit meines Lebens mit einem Vollidioten verschwendet habe.« Okay, Alice’ Sarkasmus klingt nach Katastrophe. Mein Herz hämmert los. Die Karte scheint nicht den gewünschten Effekt gehabt zu haben und Alice gibt mir die Schuld daran. Sie wird sich bei Emma beschweren und ich werde meinen Job verlieren. Drink a beer, the end is near – oder wie hieß der Spruch, den Kris mir in ihrem Laden gezeigt hat? Kris! Während ich es für verfrüht halte, dem Alkoholismus zu verfallen, erinnere ich mich, dass sie noch einen Tipp für mich hatte: Bis zehn zählen. Eins, zwei … Ich ringe nach Luft, schiebe das Fenster hoch, um die milde Morgenluft hereinzulassen. Zusammen mit dem süßen Duft von Grandma Lawsons Rosen dringt entfernter Verkehrslärm herein. Drei …

»Was ist denn passiert?« Meine Stimme klingt heiser. Noch nicht ganz zufriedenstellend, aber immerhin habe ich etwas gesagt. Vier …

»Er hat alles versaut.«

Fünf … »Ist die Karte nicht gut angekommen?«

»Doch! Der Effekt war phänomenal. Du hast Jaden echt berührt. So habe ich ihn noch nie gesehen. Er ist ja ziemlich abgebrüht. Doch er hat die Karte wieder und wieder gelesen. Und er hat zugestimmt, bei mir einzuziehen.«

»Aber?« Ich wage kaum, die Frage auszusprechen. Unruhig fliegt mein Blick durch den kleinen Garten ein Stockwerk unter mir – auf die Rasenfläche und den verästelten Ahorn, auf dem Finn und ich als Kinder herumgeklettert sind.

Alice stößt ein Schnauben aus. »Der Geburtstag war ja am Donnerstag. Und als ich anfing meinen Schrank umzuräumen und zu überlegen, welche Möbel wir neu kaufen sollten, hat Jaden sich überhaupt nicht beteiligt. Stattdessen ist er abgehauen, um mit seinem Kumpel in den Pub zu verschwinden.« Sechs, sieben … »Am Freitag ging es dann endgültig den Bach runter. Jaden kam vorbei, weil ich besprechen wollte, bis wann er sein WG-Zimmer kündigen kann und wie viel Platz er in meiner Wohnung braucht. Tja, und während wirherumgingen und überlegten, wie alles ablaufen könnte, hat er deine Rechnung auf meinem Schreibtisch entdeckt. Er wollte wissen, was Word Ghosts ist. Ich habe noch versucht ihn abzulenken, aber dadurch ist er erst recht misstrauisch geworden. Jedenfalls hat er euch gegoogelt und ist daraufgekommen, dass seine Geburtstagskarte nur gekauft war.« Ihre Stimme nimmt den dramatischen Ton einer Erzählerin in einem Filmtrailer an.

»Oh nein«, sage ich pflichtschuldig. »Und findet er das wirklich so schlimm?«

»Natürlich! Für Jaden ist das knallharter Betrug.« Acht, neun … »Daraufhin hat dieser Vollidiot Schluss mit mir gemacht. Er hat Schluss gemacht! Ich könnte ausflippen.«

Ihre Wut schlägt in meine Gehörgänge ein wie eine gezielt geworfene Handgranate, sodass sie für mich schon ziemlich ausgeflippt klingt – längst Indikativ, nicht mehr Konjunktiv. Allerdings hat sie wohl auch allen Grund dazu.

»Er hat dich verlassen? Ist das nicht eine kolossale Überreaktion?«

»Nicht in seinen Augen.« Alice spricht immer schneller. »Er inszeniert sich ja als dieser superschlagfertige, wortgewandte Reportertyp, total analytisch und nie gefühlsduselig. Aber mit der Karte hast du ihn ziemlich aufgewühlt. Ich glaube, das kapiert er nicht.«

Zehn. Ich bin am Ende von Kris’ empfohlener Zahlenkette angelangt und fühle mich nicht besser als zu Beginn. Immerhin: Bisher habe ich nicht die Nerven verloren.

Durchs Telefon höre ich Alice lautstark Luft holen: »Er meinte, er wolle mein Gesicht mal sehen, wenn er mir einen Ring schenkt, behauptet, er hätte den in einem dieser Wir-schmieden-uns-einen-Ehering-Kurse angefertigt, und dann finde ich raus, dass es ein billiges Massenprodukt aus China ist.«

Okay, dieser Vergleich tut ziemlich weh. »Das ist doch Blödsinn!«

»Nach seiner Google-Recherche hält er euch für Halsabschneider.«

Ich schließe die Augen. Bestimmt hat Jaden das Interview mit mir gefunden und sieht deshalb eine geldgierige Kapitalistin in mir, die ohne Anteilnahme und nur auf ihren Profit bedacht in Alice’ und seinem Gefühlsleben herumgepfuscht hat.

»Außerdem fühlt Jaden sich von mir hintergangen, weil ich dir so viel von ihm erzählt habe. Er meint, ich habe sein Vertrauen missbraucht. Dabei habe ich dir ja nichts wirklich Schlimmes über ihn erzählt.«

Irgendwie treffen Jadens Anschuldigungen nicht nur Alice, sondern auch mich ins Herz. Betrug – so sieht er meine Arbeit. Wo genau liegt der Betrug? Die Gedanken und Gefühle bleiben doch die gleichen – auch wenn sie von mir in schöne Worte gekleidet wurden.

»Vielleicht wartest du ein paar Tage ab und versuchst dann noch mal, mit ihm zu reden?«, wage ich mich vor. »Diese Karte ändert doch nichts Fundamentales zwischen euch. Bestimmt kriegt ihr das wieder hin.«

»Das glaube ich nicht.« Zum ersten Mal bricht Alice’ Stimme und ich höre eine Spur ihres Unglücks durch. »Jaden findet, es sei keine gute Beziehung, wenn ich es nicht mal schaffe, offen mit ihm zu reden. Dann ist er abgehauen. Dieser arrogante Sack!«