Snowflakes and Heartbeats - Tonia Krüger - E-Book

Snowflakes and Heartbeats E-Book

Tonia Krüger

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Beschreibung

Cosy Winterromance – perfekte Lektüre für lange Winternächte Die Geschwister Nora, Emma und Owen wollen Weihnachten wie jedes Jahr in der Familienlodge in Maine feiern. Doch aufgrund von Eisregen starten keine Flieger und sie müssen sich von ihrem Freund Sam in dessen altem Bus fahren lassen. Dabei ist Emma seit Jahren in Sam verliebt und versucht vergeblich ihn sich aus dem Kopf zu schlagen. Mit auf die Fahrt kommen noch eine Engländerin, der Owen schon vorher mehrfach in die Arme gelaufen ist und die ihn alles infrage stellen lässt, woran er glaubt, und ein Tramper, der das komplette Gegenteil von Nora ist, sie aber trotzdem fasziniert. Während ihr Fahrziel und Weihnachten näher rücken, funkt es auf der aufreibenden Fahrt gewaltig zwischen den drei Paaren – ganz gegen ihre Vorsätze. Weihnachtsroman mit Suchtfaktor und den beliebten Tropes ›Opposites Attract‹, ›Brother's Best Friend‹ und ›Crush at First Sight‹. Drei Autorinnen. Drei Perspektiven. Eine Lovestory. Die große Christmas-Romance des Jahres! Jetzt außerdem entdecken: Die Winterromanze ›Kisses in the Snow‹ von Tonia Krüger, Leonie Lastella und Valentina Fast sowie die Reihen ›Broken Heart Summer‹ von Tonia Krüger, ›Seaside Hideaway‹ von Leonie Lastella und ›Still you‹ von Valentina Fast!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 534

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Über das Buch

(No) Driving Home for Christmas – Ein unfreiwilliger Roadtrip voller Herzklopfen.

 

Die Geschwister Nora, Owen und Emma drohen seit dem Tod ihrer Eltern auseinanderzudriften. Ein gemeinsames Weihnachtsfest in der Hütte, in der sie jedes Jahr als Familie gefeiert haben, soll sie wieder zusammenbringen. Doch aufgrund von Eisregen starten keine Flieger und sie müssen sich von Owens besten Freund Sam in dessen klapprigem Bus fahren lassen. Das gefällt Emma, die seit Jahren in Sam verliebt ist, überhaupt nicht. Zu allem Überfluss nehmen sie auch noch eine Engländerin mit, die Owen alles infrage stellen lässt, woran er glaubt, und einen Tramper, der das komplette Gegenteil von Nora ist und sie gerade deshalb fasziniert. Während ihr Reiseziel und Weihnachten näher rücken, funkt es auf der aufreibenden Fahrt gewaltig zwischen den drei ungleichen Paaren – ganz gegen ihre Vorsätze.

 

Drei Autorinnen. Drei Perspektiven. Eine Lovestory. Die große Christmas-Romance des Jahres!

 

 

Von Tonia Krüger, Leonie Lastella und Valentina Fast ist bei dtv außerdem lieferbar:

Kisses in the Snow

 

Von Tonia Krüger ist bei dtv außerdem lieferbar:

Love Songs in London 1 – All I (don't) want for Christmas

Love Songs in London 2 – Here comes my Sun

Love Songs in London 3 – Dancing on Sunshine

Love Songs in London 4 – It’s raining love

Broken Heart Summer 1 – Sunset Days

Broken Heart Summer 2 – Deep Blue Nights

 

Von Leonie Lastella ist bei dtv außerdem lieferbar:

Das Licht von tausend Sternen

Wenn Liebe eine Farbe hätte

So leise wie ein Sommerregen

Carry me through the night

Seaside Hideaway 1 – Unsafe

Seaside Hideaway 2 – Unseen

Lake of Lies 1 – Hidden

Lake of Lies 2 – Found

 

Von Valentina Fast ist bei dtv außerdem lieferbar:

Still missing you (Band 1)

Still wanting you (Band 2)

Still searching for you (Band 3)

Tonia Krüger / Leonie Lastella / Valentina Fast

Snowflakes and Heartbeats

Roman

Christmas Playlist

It Doesn’t Feel Like Christmas – Lucy Spraggan

Wonderful Christmastime – Paul McCartney

Santa Tell Me – Ariana Grande

Calm After The Storm – The Common Linnets

Come Together – The Beatles

Underneath The Tree – Kelly Clarkson

Santa’s Coming for Us – Sia

Ding Dong, Ding Dong – George Harrison

Christmas (Baby Please Come Home) – Pentatonix

That’s the Magic of Christmas – Meaghan Smith

Happy Xmas (War Is Over) – John Lennon, Yoko Ono

Have Yourself A Merry Little Christmas – Billie Eilish

We Are Family – Sister Sledge

Imagine – John Lennon

Santa Baby – Taylor Swift

22. Dezember

Owen

Was für ein fucking Verkehrsdesaster!

An einem normalen Tag ohne Streik der Londoner Tube hätte ich eine Dreiviertelstunde von meinem Wohnheimzimmer zum Flughafen Heathrow gebraucht. Aber jetzt hat es mich bereits über das Doppelte der Zeit gekostet, um mit einer Reihe brechend voller Busse auch nur in die Nähe des Flughafens zu gelangen. Es herrscht kompletter Ausnahmezustand. Wenn ich meinen Flieger verpasse, wird das genau die Katastrophe für meine Schwestern sein, die ihnen gerade noch gefehlt hat. Emma würde mich per Kurzschluss durchs Telefon töten.

Letzte Nacht hat mich der Eingang ihrer Textnachricht geweckt: Wenn dein Flug morgen Verspätung hat, mache ich dich persönlich dafür verantwortlich, Owen. Wag es nicht, Noras ausgefuchsten Zeitplan durcheinanderzubringen, oder sie wird unausstehlich sein und meine Rache furchtbar. Schreib uns, wenn du im Flugzeug sitzt. Wenn ich ihr mitteile, dass mein Flug zwar pünktlich ist, ich aber leider nicht an Bord bin, wird sie mir den Grabstein-Emoji als einzige Antwort schicken. Und ich könnte nie wieder in mein Heimatland zurückkehren.

Verdammt! Ich bete zum Verkehrsgott, die Busspuren freizuräumen, und rechne mir die Zeit schön. Draußen blinken Millionen von Lichtern gegen den trüben Nieselregen an, schaffen es aber nicht, meine angespannte Stimmung zu heben. Kaum ragen die Betonwände des Flughafengeländes vor den Busfenstern auf, ziehe ich die Riemen meines Rucksacks fest und packe meinen Koffer. Es dauert noch endlose Sekunden, bis der Bus sich in seine Parkbucht manövriert hat, doch sobald sich die Türen öffnen, hechte ich mit einem Satz in die nasskühle Winterluft. Gut, dass ich regelmäßig Sport treibe, denn durch meinen Blitzstart hänge ich die anderen aus dem Bus strömenden Fahrgäste sofort ab.

Auf einer gewagten Slalombahn renne ich zwischen anderen Reisenden hindurch auf den Eingang zur Abflughalle zu und platze durch die Türen. Aus dem Augenwinkel nehme ich noch eine Art sonnenhellen Kometen wahr, der auf mich zurast, dann prallen wir zusammen. Mein Koffer gerät mir zwischen die Beine und im nächsten Moment rutsche ich der Länge nach über die Fliesen. Mein Kopf schlägt auf und ich sehe Sterne. Shit! So krass habe ich mich noch nie langgelegt – und das soll nach meinem jahrelangen Basketballtraining etwas heißen. Nach einigen Sekunden wird mir klar, dass ich nur deshalb Sterne sehe, weil die ganze Halle voll davon ist. An der Decke hängt eine Art Riesenmobile aus goldenen Glitzerobjekten, drum herum gruppieren sich an unsichtbaren Fäden schwebende silberne, rote und blaue Schnuppen. Das Blinken entsteht zu meiner Erleichterung ebenfalls nicht in meinem Kopf, sondern stammt von einer meterhohen, üppig mit Lichtern und kitschiger Weihnachtsdeko behängten Tanne.

Mühsam rappele ich mich auf. Mein Kopf brummt. Ich sehe mich nach meinem umgestürzten Koffer um und entdecke auf dem Boden daneben eine junge Frau in einem sonnengelben Parker. Das muss der Komet sein, mit dem ich kollidiert bin. Jemand hilft ihr hoch.

»Bist du okay?«, erkundige ich mich, obwohl ich keine Minute zu verschenken habe.

»Ich kann nicht atmen«, bringt sie hervor, greift aber gleichzeitig nach ihrem Koffer. Ihre Wangen sind ungefähr so knallrot wie ihr Schal. Ihre dunkelbraunen Haare umgeben wirr ihr Gesicht. »Und ich verpasse meinen Flug.«

»Ich auch«, gebe ich zu und reibe mir meine pochende Stirn. »Also, kommst du klar? Kann ich weiterrennen?«

Sie nickt und blickt suchend durch die Halle. »Auf jeden Fall. Viel Glück!«

»Dir auch«, sage ich noch, aber sie flitzt bereits mit ihrem Koffer davon.

Genau, was ich tun sollte! Mit meinem Gepäck haste ich zum Self-Check-in, wo ich einer verwirrt aussehenden älteren Dame helfe und dabei rasch auch meinen Gepäckaufkleber ausdrucke. Dann wuchte ich meinen Koffer aufs Band und rase zu den Sicherheitskontrollen. Dabei überhole ich eine mir bekannte, ebenfalls rennende Gestalt in einer sonnengelben Jacke und komme schlitternd direkt vor ihr am Ende einer viel zu langen Schlange zum Stehen.

»Hey«, beschwert sie sich atemlos. »Vordrängeln ist nicht gerade charmant.« Sie mustert mich abschätzig aus so dunklen Augen, dass sie fast schwarz wirken. Ihr Akzent fällt mir auf, der nicht so britisch versnobt klingt wie der von den meisten meiner neuen Freunde. Ich kann ihn nicht sofort zuordnen, muss mir aber eingestehen, dass ich ihn – anders als sie mich offenbar – ziemlich charmant finde.

»Entschuldige«, stoße ich hervor, »aber ich bin gerade dabei, meinen Flug zu verpassen, und es geht um Leben und Tod.«

»Wessen Tod?«

»Meinen.«

Ihr Lächeln trifft mich unerwartet. Währenddessen passiert jede Menge in ihrem Gesicht: Ihre sanft geschwungenen Lippen heben sich, ihre Wangen ebenfalls, um ihre Augenwinkel bilden sich Lachfältchen und ihre Nase kräuselt sich auf ziemlich süße Weise. »Nachdem du mir eben einen NFL-würdigen Bodycheck verpasst und dich jetzt vorgedrängelt hast, bin ich mir nicht sicher, ob ich gegen deinen Tod so viel einzuwenden hätte.«

»Was?«, gebe ich nur scheinbar entrüstet zurück. Denn sie blitzt mich zwar herausfordernd an, aber ihr Lächeln ist einfach hinreißend. »Es ist fast Weihnachten! Solltest du da nicht etwas besinnlichere Stimmung verbreiten?«

Jetzt gibt sie ein Schnaufen von sich. »Weihnachten kann mich mal. Mir ist da selten sonderlich besinnlich zumute.«

»Aha.« Neugierig mustere ich sie. »Also bist du nicht gerade auf dem Weg, um über die Feiertage deine Familie am anderen Ende der Welt zu besuchen, die du seit Monaten nicht gesehen hast – so wie ich?«

»Nee, ich bin eher auf der Flucht.«

»In dem Fall …« Grinsend hindere ich sie daran, sich in die vor mir entstandene Lücke zu schieben. »… gebührt mir die Vorfahrt. Ich habe wichtige Gründe.«

Mit dem Brustkorb stößt sie gegen meinen ausgestreckten Arm und blickt zu mir auf. Ich spüre irgendwas in mir auf sie reagieren. Ihre Augen sind keineswegs schwarz, wie ich zuerst dachte, eher von einem tiefen Mokkabraun, das mir zu Kopf steigt wie die erste Tasse Espresso am Morgen.

»Ehrlich, meine Schwester bringt mich um, wenn ich meinen Flug verpasse.«

»Bist du dir sicher, dass du deine Schwester wirklich besuchen willst?«, erkundigt sie sich mit einem unschuldigen Augenaufschlag. Ich frage mich, ob sie Irin ist. Ihre Art, beim Sprechen einige Vokale unter den Tisch fallen und ihre Rs deutlich hören zu lassen, klingt jedenfalls irgendwie cool. »Vielleicht bist du hier in London sicherer.«

Diesmal wirkt ihr Lächeln eindeutig spöttisch. Und auch damit trifft sie einen Nerv bei mir.

»Wäre ich, aber sie ist nun mal meine Familie«, erwidere ich. »Was soll ich machen?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Wenn ich allerdings deinetwegen meinen Flug verpasse, bist du mir einen Urlaub in der Sonne schuldig.«

»Verstehe.« Das Kribbeln in meinem Bauch, das sich bis eben nach nervöser Anspannung angefühlt hat, empfinde ich plötzlich als angenehm. Also wage ich einen Vorstoß. »Vielleicht sollten wir Nummern tauschen. Wenn du deinen Flug verpasst, kannst du mich anrufen und deinen Urlaub einfordern.«

Sie hebt die Augenbrauen. »Ernsthaft? Wir kennen uns überhaupt nicht und du fragst mich nach meiner Nummer?«

»Gibst du deine Nummer grundsätzlich nur Leuten, die du kennst?«

Sie nickt. »Grundsätzlich.«

»Und was muss man tun, um dich kennenzulernen?«

Diesmal antwortet sie nicht sofort. Einen Moment lang mustert sie mich forschend, als versuche sie mich einzuschätzen. Ich hingegen bin mir längst sicher: Ich würde sie sofort auf ein Date einladen. Einfach weil sie sich wie Sonne im trüben britischen Winter anfühlt.

Zuvor muss ich allerdings Weihnachten mit Emma und Nora überstehen. Und dazu müsste ich es in dieses Flugzeug schaffen. Fuck! Die Maschine soll in fünfzehn Minuten abheben und diese Schlange fühlt sich an, als winde sie sich kilometerlang bis zum Bodyscan. Es ist definitiv an der Zeit, in Panik zu geraten.

Die Unbekannte neben mir verhindert das allerdings. Sie lässt diesen Moment hier zwischen uns bedeutungsvoller wirken als die Konsequenzen eines verpassten Flugs.

»Also?«, hake ich nach. »Wie kann ich dich kennenlernen?«

Sie hebt die Schultern, zwirbelt die Kordeln ihres Schals um ihre Finger und sagt: »Hör zu. Aus meiner Sicht sind wir einfach zwei Leute, die zufällig zusammen in der Schlange zum Securitycheck stehen. Und die vor wenigen Minuten ziemlich heftig auf den Kopf gefallen sind. Ganz zurechnungsfähig sind wir also nicht. Vielleicht passiert gleich ein Wunder und wir schaffen es noch auf unseren Flug. Spätestens wenn wir auf unseren Plätzen sitzen, werden wir einander jedenfalls schon halb vergessen haben.«

Bis hierhin war ich ganz bei ihr, aber diesem letzten Punkt kann ich nicht zustimmen. Mein Flug wird etwa acht Stunden dauern. Ich werde nicht viel anderes zu tun haben, als an sie zu denken – ihren lässigen Akzent, ihre blitzenden Augen, ihren sanft geschwungenen Mund und vor allem ihre schlagfertige Art. Dennoch lasse ich sie ausreden.

»Ich gebe keinem Mann meine Nummer, der auf genau das aus ist: eine schnelle Nummer. Ich gebe einem Mann meine Nummer, wenn er mich fasziniert und wir zusammen essen gehen wollen. Irgendwann vielleicht mal ins Kino oder in eine Cocktailbar. Ich bin nämlich nicht der Typ für schnelle Nummern, eher für langfristiges Dating. Slowburn eben.«

»Und anschließend fliegt man dann gemeinsam in den Urlaub?«, frage ich. Sie sieht mich bloß mit gerunzelter Stirn an. »Na ja, du meintest, ich schulde dir einen, wenn du deinen Flug verpasst«, erinnere ich sie.

Verlegen lacht sie auf. »Ja, von mir aus. Wenn man diese drei Dinge einige Male wiederholt hat, kann man über einen gemeinsamen Urlaub nachdenken.«

»Das braucht es also für dich? Essen, Kino und Cocktails?«

»Richtig«, bestätigt sie. »Essen, um festzustellen, wie zuvorkommend er ist und ob man zusammenpasst. Kino, um herauszufinden, ob er einen guten Geschmack hat.«

»Und Cocktails?«

Sie lächelt verschmitzt. »Die öffnen sein Herz und lösen ihm die Zunge.«

Ein bisschen ungläubig lache ich auf, doch eine Durchsage reißt mich zurück in die Realität der nicht enden wollenden Schlange vor uns und der sinkenden Wahrscheinlichkeit, dass ich gleich an Bord der Boeing nach Boston sitzen werde: »Die Passagiere Owen Westmore und Liv Bailey werden gebeten, sich an Gate 27 einzufinden. Owen Westmore und Liv Bailey, Gate 27.«

Dass es offenbar noch eine weitere Person gibt, die mein Schicksal teilt und gerade ihren Flug verpasst, kann mich jetzt überhaupt nicht trösten.

»Tut mir leid«, sage ich an die Fremde gewandt. »Aber wenn ich nicht sofort durch diesen Securitycheck komme, bringt meine Schwester mich wirklich um. Ich kann dich ehrlich nicht überreden, mir deine Nummer zu geben?«

Sie schüttelt den Kopf. »Das ist jetzt kaum der richtige Zeitpunkt.«

Damit hat sie absolut recht. Und sie wirkt so entschieden, dass ich aufgebe. »Na dann«, rufe ich ihr zu, während ich bereits rückwärts an der Schlange entlanglaufe. »Hat mich gefreut, mit dir anzustehen, Comet.«

Einige Leute beschweren sich, während ich mich an ihnen vorbeidränge, trotzdem krieche ich weiter unter den Absperrbändern hindurch. Es dauert nicht lang, bis sich mir ein Sicherheitsbeamter in den Weg stellt.

»Entschuldigung«, verteidige ich mein Verhalten. »Ich wurde ausgerufen. Ich verpasse meinen Flug.«

Grummelnd winkt er mich nach vorn. Erleichtert werfe ich meinen Rucksack in eine freie Kiste, meine Jacke und meinen Gürtel in eine zweite. Zu meiner Überraschung entdecke ich meine Gesprächspartnerin von eben direkt hinter mir. Anscheinend hat sie in meinem Kielwasser ebenfalls den Großteil der Schlange übersprungen.

»Letzter Aufruf für die Passagiere Owen Westmore und Liv Bailey«, schallt es aus den Lautsprechern. Fuck, fuck, fuck! Ich hechte in den Bodyscanner, schnappe mir dann wieder meine Sachen. Ein Blick über die Schulter verrät mir, dass die junge Frau noch dabei ist, zahlreiche Silberringe aus einer der Plastikboxen wieder einzusammeln. Leider habe ich wirklich keine Zeit, auf sie zu warten. Ein kurzer Orientierungsblick und ich sprinte los.

Der Weg zu Gate 27 ist endlos. Und aus irgendeinem Grund scheinen sich sämtliche Menschen im Krabbelalter, mit Rollatoren oder in Bummellaune direkt vor meinen Füßen zu versammeln. Erst Entschuldigungen murmelnd, schließlich nur noch Flüche rufend renne ich auf mein Gate zu, das beängstigend verlassen wirkt.

»Halt! Bitte, warten Sie! Ich bin Owen Westmore. Ich wurde ausgerufen.« Noch im vollen Lauf versuche ich die Flugbegleiterin aufzuhalten, die sich in steifer Uniform und auf Stiletto-Absätzen als Letzte von der Ticketschranke entfernt. Wahrscheinlich lässt die offenkundige Panik in meiner Stimme sie innehalten. Beinah stürze ich ihr in die Arme, komme aber noch rechtzeitig zum Stehen.

»Der Check-in ist geschlossen, fürchte ich.« Scheinbar bedauernd hebt sie die Schultern.

Ich starre sie an und kann nicht glauben, dass sie meint, was sie sagt. »Aber … das Flugzeug steht doch noch da.« Ich deute durch die Glasscheiben hinter ihr aufs nieselgraue Rollfeld.

»Das Boarding ist als beendet gemeldet«, beharrt sie.

»Bitte, tun Sie mir das nicht an. Ich muss mit.«

Sie spitzt nur die Lippen. Oh, zur Hölle! Wenn ich Emma und Nora gleich beichten muss, dass sie am Flughafen in Boston umsonst auf mich warten werden, muss ich zumindest alles versucht haben.

»Ich habe zwei jüngere Schwestern. Unsere Eltern sind diesen Sommer gestorben. Es ist unser erstes Weihnachten ohne sie.« Die Lippen der Flugbegleiterin werden weicher, ihre Augen runder. Ich erkenne Mitleid, wenn ich es sehe, und schöpfe Hoffnung. »Wir haben all diese Traditionen zusammen und keine Ahnung, wie wir ohne die klarkommen sollen. Zum ersten Mal hat unser Dad nicht das ganze Haus in Lichterketten eingewickelt. Unsere Mom steht zum ersten Mal nicht den ganzen Tag in der Küche, damit der Truthahn perfekt wird. Niemand backt Kekse, niemand spielt vollkommen veraltete Weihnachtssongs, niemand lädt Nachbarn und Freunde zum Feiern ein. Es gibt einfach nur noch uns drei. Ich kann meine Schwestern nicht allein lassen. Es tut mir leid, dass ich alles aufhalte, aber bitte nehmen Sie mich mit!«

Ich versuche die Flugbegleiterin mit meinem beschwörenden Blick zu hypnotisieren, sehe sie schlucken. Dann schaut sie an mir vorbei. »Und Sie? Was ist Ihre Entschuldigung?«

Überrascht gucke ich über meine Schulter und blinzele. Sie! Kurzer Herzstoppmoment. Weil mich diese Frau offenbar wie ein Komet trifft, auch ohne mich zu rammen – mit ihren mokkafarbenen Augen und ihrem sanft geschwungenen Mund. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich hektisch. Sie räuspert sich. »Äh … was er gesagt hat.«

»Bitte?« Die schmalen Augenbrauen der Flugbegleiterin wölben sich fragend nach oben.

»Ich meine …«, sagt sie rasch. »Ich gehöre zu ihm.«

Jetzt hebe auch ich die Augenbrauen, aber sie wirft mir einen so flehenden Blick zu, dass ich nichts sage.

»Na gut, dann zeigen Sie mir bitte Ihre Tickets.«

»Danke!« Mit einem Stoßseufzer zücke ich mein Telefon. Dann schlägt die Airline-Mitarbeiterin einen so raschen Schritt den Passagiertunnel entlang an, dass wir fast joggen müssen.

»Eins muss man dir lassen«, sagt meine neue Reisebegleiterin mit gedämpfter Stimme. »Du bist echt gut. So eine Story aus dem Ärmel zu schütteln … Nicht schlecht!«

Wir werden an Bord des Flugzeugs gescheucht, entschuldigen uns bei den höflich lächelnden Flugbegleiterinnen, biegen in den hinteren Gang ein und passieren endlose Reihen von bereits sitzenden Leuten.

Meine Reisebegleiterin biegt etwa auf Höhe des Flügels in eine Zweierreihe ein und sieht sich zu mir um. »Hier sitze ich.« Sie rutscht zum Fensterplatz durch.

»Luxus«, kommentiere ich. »Ich habe meine Reservierung irgendwo ganz hinten in der Mitte einer Viererreihe.« Bedauernd hebe ich die Schultern. »Ich beeile mich wohl lieber. Aber vielleicht sehen wir uns später.«

»Hey.« Sie hält mich mit einer Hand an meinem Arm auf und lächelt mich an. »Du kannst auch bei mir sitzen. Der Platz neben mir bleibt leer.«

Überrascht halte ich inne. Weil ihre Worte trotz des Lächelns in ihrem Gesicht irgendwie traurig klingen. Und ihr Angebot verwirrt mich auch aufgrund ihres Unwillens hinsichtlich der Herausgabe ihrer Nummer. Vielleicht will sie nur vor dem Flugpersonal den Anschein wahren, nachdem sie eben behauptet hat, sie gehöre zu mir?

»Bietest du mir das an, weil du auf den Kopf gefallen und nicht zurechnungsfähig bist?«

Sie lacht hell auf. »Wahrscheinlich.«

Urplötzlich muss ich an etwas denken, das mein Dad mir immer gesagt hat: Wenn du es schaffst, ein Mädchen zum Lachen zu bringen, kannst du sie auch dazu bringen, dich zu mögen. Lachen ist der erste Schritt.

Sie sieht mich immer noch an, wartet auf meine Antwort.

»Das nutze ich natürlich aus.« Dieser Gangplatz ist definitiv besser als einer irgendwo in der Mitte – und ihre Gesellschaft jeder anderen vorzuziehen. Keine Ahnung, woher diese Gewissheit kommt, aber die Überzeugung hat sich mir unverrückbar in den Kopf gesetzt. »Was muss ich für den Fensterplatz tun?«

»Über Leichen gehen.« Sie grinst, während sie sich gleichzeitig von ihrer Jacke und ihrem Schal befreit. Um ihre Klamotten zu verstauen, steht sie noch mal auf und reckt sich zum Gepäckfach. Unter ihrem gelben Parker trägt sie eine eng anliegende schwarze Hose, die mir auf einen Blick verrät, dass sie trotz ihrer eher zierlichen Figur einen wohlgeformten Hintern hat. Dazu einen bunt gestreiften Pullover. Sie muss sich auf die Zehenspitzen stellen und plötzlich kommt mir ihr Gesicht näher. Ich entdecke ein winziges Muttermal direkt unter ihrem rechten Mundwinkel. Himmel, ich starre sie an. Aber sie mich auch. Und ihr Blick schießt mir wie ein doppelter Espresso ins Blut. Unwillkürlich atme ich tiefer. Sie duftet warm – nach Kakao. Aber mit einer fruchtigen Note. Vielleicht Pfirsich. Egal was, ich bin sofort süchtig.

Einen atemlosen Augenblick später lässt sie sich wieder auf ihre Normalgröße sinken und rutscht zurück auf den Fensterplatz.

Ich falle aufs Polster neben sie und fast im gleichen Moment setzt sich das Flugzeug in Bewegung. Richtung Boston. Richtung Heimat. Richtung den Überresten meiner Familie.

In meinem Kopf ziehen Gewitterwolken auf – dunkelgrau und gefährlich schwefelgelb. Fuck! In den letzten Wochen hatte ich mein inneres Sturmtief im Griff, aber jetzt befinde ich mich auf direktem Weg ins Katastrophengebiet. Die Vorboten des Unwetters legen einen Scheißgraufilter über meine Wahrnehmung – selbst über meine Reisebegleiterin. Eine Sekunde lang kneife ich die Augen zu, dann lasse ich los. Ich glätte mein Gesicht, konzentriere mich auf meine Umgebung, stopfe meinen Rucksack unter den Sitz vor mir und schließe die Gurtschnalle. Dann halte ich meiner Sitznachbarin die Hand hin. »Ich heiße übrigens Owen.«

»Ich weiß.« Ihr Lächeln breitet sich mit der Helligkeit und Wärme von Sonnenlicht über ihr Gesicht aus. Oh fuck! Ich fühle es bis tief runter in meinen Bauch durch sämtliche Nervenfasern leuchten. Es ist genau das, was ich gerade brauche.

»Woher?«, frage ich trotzdem einigermaßen verblüfft.

»Na, du wurdest mindestens zweimal mit mir zusammen ausgerufen und hast deinen Namen quer durchs Terminal gebrüllt, um das Flugzeug aufzuhalten. Ich heiße Liv.«

»Liv Bailey. Natürlich.« Owen Westmore und Liv Bailey. Ich schließe meine Hand um ihre. Ihre Finger sind schmal und kühl. An fast jedem trägt sie einen Silberring. Am liebsten würde ich sie mir alle einzeln ansehen, um das Gefühl ihrer zarten Haut noch ein bisschen länger zu spüren, das irgendwie meinen Blutkreislauf antreibt. Aber wenn ich mich wie der letzte Creep verhalte, wird sie mich garantiert auf meinen undankbaren Mittelplatz ganz hinten verbannen.

»Richtig«, bestätigt sie. »Und anders als du habe ich sofort gecheckt, dass wir dasselbe Flugzeug erwischen wollten.«

»Weil ich meinen Namen durchs Terminal gebrüllt habe?«

»Weil du eindeutig Amerikaner bist, aber deine Rs kaum zu hören sind. Du kommst irgendwo aus der Ecke um Boston. Habe ich recht?«

Verblüfft mustere ich sie. »Das hast du mir angehört?«

Sie zuckt mit den Schultern, als wäre es eine Kleinigkeit. »Ich habe ein Faible für Sprache.«

»Liv Bailey«, sage ich grinsend. »Ich bin beeindruckt. Ich komme aus New Hampshire – etwa eine Stunde von Boston. Und du?«

»Geboren in Ballynahinch, Nordirland. Aufgewachsen in Saffron Walden – etwa eine Stunde von London – und in Belfast. Das hört man wahrscheinlich alles in meinem Akzent.«

»Vermutlich konnte ich den deshalb nicht gleich zuordnen«, kommentiere ich trocken.

Sie grinst. »Vermutlich.«

»Sorry.« Als das Flugzeug am Beginn der Startbahn hält, zücke ich mein Telefon. »Ich muss meinen Schwestern kurz schreiben, dass ich meinen Flug erwischt habe.«

»Alles klar.« Sie lehnt sich in ihrem Sitz zurück und sieht aus dem Fenster.

Ich nutze die Frontkamera, um ein Selfie von mir im Flugzeugsitz zu machen. Dann tippe ich hastig: Völlig unbegründet, mir zu drohen, Keks. Natürlich bin ich an Bord.

Erst als ich die Nachricht abgeschickt habe, stelle ich fest, dass Emmas Spitzname automatisch in den Keks-Emoji verwandelt wurde. Und dass auf dem Foto auch ein Teil von Liv zu sehen ist – ein paar lange erdbraune Haarsträhnen, ein von dunklen Wimpern umrahmtes Auge und ein sinnlich geschwungener Mundwinkel.

Diese Reise hat zwar verdammt mies begonnen, aber ich glaube, besser hätte es nicht kommen können. Erleichtert schalte ich mein Handy in den Flugmodus.

Emma

Ich sitze an unserem Frühstückstisch, vor einer gigantischen Tannengirlande, die nicht wettmachen kann, dass Dads Lichterketten dieses Jahr fehlen, genau wie Moms Kekse, und dass sie nicht in der Küche steht, um das Weihnachtsessen vorzubereiten und dazu singt. Ich fahre mit dem Finger einen Kratzer nach, den Owen als Kind in die Tischplatte geritzt hat, und fühle mich, als hätte ich einen Kater. Einen Prä-Weihnachtskater.

Meine Schwester hingegen ist ekelhaft gut gelaunt, auch wenn ich sicher bin, dass sie hinter dieser Maske total hektisch und gestresst ist, weil sie dieses Weihnachten, komme, was wolle, retten will. Von ihren Ohren baumeln Rentierohrringe. Ihr Koffer steht schon neben der Tür. Jacke, Mütze und Handschuhe liegen zum Anziehen bereit darüber. Sie zieht das echt durch und schleppt uns alle in den Arcadia Nationalpark. So wie wir es jedes Jahr zum Fest mit Mom und Dad gemacht haben. Mit dem Unterschied, dass die beiden nicht mehr da sind und dieses Weihnachten deswegen niemals so wird wie früher. Egal wie akribisch Nora alles plant. Egal wie viel erzwungene Weihnachts-Gute-Laune sie verbreitet.

Seufzend beiße ich von meinem Bagel ab, scrolle durch Instagram, als eine Nachricht von Owen im Familienchat eingeht und ich mich fast an meinem Frühstück verschlucke. Wegen des Fotos, das er mitschickt: Er hat seine 1,85 Meter in den Flugzeugsitz gefaltet, seine blonden Haare sind verwuschelt und leicht verschwitzt, seine sturmgrauen Augen, die er von Mom geerbt hat, funkeln. Er grinst, als wäre die Welt ein einziger Sonntagsspaziergang und kein Morast, seitdem Mom und Dad gestorben sind und er lieber auf einen anderen Kontinent gezogen ist, als sich dem zu stellen. Und er ist nicht allein auf dem Bild. Ein Auge, ein Mundwinkel, dunkles Haar – das sind Teile einer Frau, die genau seinem Beuteschema entspricht und zu nah an ihm dran sitzt, um eine zufällige Sitznachbarin zu sein.

Ich glaub, ich kriege einen Anfall. Ich habe absolut keinen Bock, mich auch noch mit einer Fremden abzugeben, die er zu dieser reinen Familiensache anschleppt.

»Bringt Owen etwa jemanden mit?«, brülle ich Nora zu und bin schon wieder so verdammt wütend. Auf Owen, die Welt, auf einfach alles. Auf Social Media frisst der Algorithmus die Posts meines Bruders, was echt ein Segen ist, aber im Familienchat kann ich ihn nicht ignorieren.

Nora steckt ihren Kopf zur Küchentür rein. »Keine Ahnung. Er hat nichts gesagt.« Sie verbirgt jetzt nicht länger wie gestresst sie ist. »Hast du meine Moonboots gesehen? Ich hätte schwören können, dass ich sie nach letztem Winter in den Abstellraum gestellt habe.«

Verdammt. Ihre Moonboots. »Die habe ich mir ausgeliehen und beim Lagerfeuer im Frühjahr getragen«, gebe ich zu.

»Und wo sind sie jetzt?« Nora sieht mich stirnrunzelnd an.

Geschmolzen, während ich mit Jackson rumgeknutscht habe. Damals war noch alles gut. Besser als jetzt, leichter. »Ich … also …« Ich mache eine entschuldigende Geste und Noras Schultern sacken nach vorn.

»Sie sind nicht mehr da, oder?«

»Kaputtgegangen«, murmele ich entschuldigend. »Tut mir leid.«

»Ist okay.« Sie pustet sich die Haare aus der Stirn und seufzt. »Passiert.«

Sie klingt zwar ruhig, aber ich erkenne den Unterschied zwischen der wirklich ruhigen Nora und der mühsam beherrschten.

»Aber sag mir so was nächstes Mal. Rechtzeitig! Dann kann ich mir neue kaufen. Jetzt weiß ich nicht, was ich anziehen soll, ohne mir die Füße abzufrieren.« Nora wirkt verloren.

Das passiert, wenn jemand ihre sorgsam aufgestellten Pläne durchkreuzt. Nicht jemand – ich. Denn Owen tut so etwas nicht. Er ist derjenige, der immer alles richtig macht. Bis auf die Tatsache, dass er uns allein gelassen hat, um sein Scheiß-ego zu streicheln und seinen PhD in Psychologie in England zu machen. And here we go again: Ich. Wütend. Aber das ist eben immer noch besser als traurig zu sein.

Ich zucke die Schultern. »Zieh einfach irgendwelche Schuhe an, Nora. Du läufst nicht nach Maine. Wir fliegen. Und sowohl das Flugzeug als auch die Hütte haben eine Heizung. Außerdem haben wir größere Probleme.« Ich halte ihr das Foto von Owen hin, aber sie zuckt nur die Schultern.

»Da sitzt jemand neben ihm im Flugzeug. Na und?«

Kapiert sie das nicht? »Er fotografiert doch nicht einfach so jemanden. Dass sie mit auf dem Foto ist, bedeutet unter Garantie etwas. Was, wenn er sie mitbringt?«

Nora sieht noch mal hin. »Dann freuen wir uns für ihn. Sie sieht doch nett aus.«

Nett. Ist sie verrückt geworden? Mit ihr und Owen in den Arcadia Nationalpark zu fahren und so zu tun, als wäre alles in Ordnung, ist schon abgedreht genug, aber ich werde meinem Bruder ganz bestimmt nicht dabei zusehen, wie er die ganze Zeit herumturtelt und uns unter die Nase reibt, dass er alles hinter sich gelassen und weitergemacht hat, während ich feststecke. Ich reibe über mein Brustbein, als könnte ich den Schmerz dahinter wegmassieren, und schreibe Owen: Wer zum Henker ist das? Du kommst doch allein?

Das Häkchen zeigt an, dass die Nachricht rausgegangen ist, aber nicht zugestellt wurde. Wahrscheinlich ist sein Handy jetzt im Flugmodus. Wunderbar. Ganz toll.

Und meine Laune sinkt noch ein Kellergeschoss tiefer, als ich durch die Fenster sehe, wie Sam in seinem GMC – von ihm liebevoll nur Ringo der Tourbus genannt – vor unserem Grundstück hält. Auf dem Armaturenbrett einen lächerlich blinkenden Mini-Weihnachtsbaum mit bunten Kugeln.

»Was will der denn jetzt hier?«, stöhne ich.

Nora lächelt. »Frühstücken. Ich habe ihn eingeladen.«

»Warum?« Ich fasse es nicht. Sie überspannt echt den Bogen.

Sie wirft mir einen strengen Blick zu. »Er ist ein Freund. Sei nett!«

Owens bester Freund, um genau zu sein. Und seit der weg ist, hängen er und Nora ständig miteinander ab, bequatschen allen möglichen Kram, den sie genauso gut mit mir besprechen könnte. Fehlt nur noch, dass sie sich gegenseitig Zöpfe flechten. Bestimmt ist er auch deshalb mit Nora befreundet, weil er weiß, dass er mich damit maßlos ärgert. Er ist so ein Idiot.

Und bringt mich trotzdem aus dem Konzept. Selbst jetzt, sechs Jahre nachdem ich aufgehört habe, ihn toll oder anziehend oder irgendetwas anderes als bescheuert zu finden. Einfach nur, weil er lässig aus dem Auto rutscht und die Beine ausschüttelt, bevor er mit einem breiten Grinsen die Auffahrt hochstapft. Er trägt nur Jeans und ein Shirt von Slipknot. Nackte Oberarme, obwohl es so kalt ist, dass sein Atem Wölkchen bildet, die in der Luft zerfasern. Wie sonst soll die Menschheit auch seinen Bizeps bewundern? Boah, er nervt so abgrundtief.

»Wieso?«, jammere ich. Es ist total untypisch für Nora, an einem Tag wie heute Stolpersteine einzubauen. Und Sam ist definitiv ein Riesenstolperstein. Es sei denn, er wäre Teil ihres Plans. »Was verschweigst du mir, Nora?«

»Okay, aber flipp nicht aus … Das Frühstück ist nur das Dankeschön, weil er uns gleich zum Airport fährt«, sagt sie, als wäre es nichts.

»Er tut WAS?« Ich glaube, ich habe zu oft ›Last Christmas‹gehört. Meine Ohren müssen einen weg haben.

»Er fährt uns.« Sie zuckt mit den Schultern, als wäre das nicht verhandelbar. »Mit dem Zug bräuchten wir über zwei Stunden und verpassen am Ende unseren Flug. Wenn wir das Auto nehmen, treiben uns die Parkgebühren am Flughafen in den Bankrott. Und so kann er Owen wenigstens kurz sehen. Also ist es für alle die beste Option.«

In keinem nahen Universum wäre Sam jemals auch nur irgendeine Option und schon gar nicht die beste. Jedenfalls nicht für mich.

»Na, da hast du ja alles ganz großartig durchdacht«, murmele ich.

»Ja.« Sie grinst. »Sag nichts gegen meine Planung. Wenn wir uns auf dich verlassen würden, würden wir in Mexiko landen statt in Maine.«

Dann müssten diese Weihnachtsferien wenigstens nicht mit den glücklichen mit Mom und Dad im Arcadia Nationalpark konkurrieren, gegen die sie nur verlieren können. In mir flammt Vermissen auf.

»Du hättest es mir sagen müssen«, meckere ich, um das Gefühl rauszulassen.

»Damit du deine unerklärliche Fehde fortführen und unseren Airport-Shuttle hättest boykottieren können? Ganz sicher nicht.«

Sam poltert jetzt ins Haus und ich ziehe die Beine auf den Stuhl, schlinge meinen Arm darum. So als bräuchte ich eine verdammte Schutzmauer.

»Hey, Nora.« Sam zieht sie in seine Arme und ein bescheuerter Teil von mir stellt sich vor, wie es sich wohl anfühlt, ihm so nahe zu sein.

Ernsthaft? Ich zwinge mich wegzusehen. Gerade noch rechtzeitig, weil er jetzt seinen Blick auf mich richtet, zu mir rüberkommt und den Rest meines Bagels in seinen Mund stopft. »Hey, Kampfkeks«, sagt er halb grinsend, halb kauend und verwuschelt meine Haare.

»Wenn ich jetzt Avocado in den Haaren habe, bringe ich dich um.«

Er lacht. »Du bringst mich auch ohne Avocado um. Also …« Ich weiche ihm zu spät aus und er wiederholt die Prozedur mit meinen Haaren gleich noch einmal. Dann lässt er sich auf den Stuhl rechts von mir plumpsen und nimmt sich auch noch den letzten Bagel.

»Fühl dich ruhig wie zu Hause«, brumme ich.

»Danke. So herzlich heute.« Sam grinst mich an, als hätte ich die Aufforderung tatsächlich ernst gemeint, und ich ziehe eine Grimasse, als wäre ich wieder fünf und er der achtjährige Idiotenfreund meines Bruders, der mir den Spuckefinger ins Ohr steckt.

»Wie geht’s dir?« Noras Frage richtet sich an Sam und sie wirkt dabei so ernst, als gäbe es tatsächlich etwas, das Mister-ich-kann-alles-und-bin-so-unwiderstehlich aus dem Konzept bringen könnte.

Kurz verdunkelt sich sein Gesicht und er sieht auf die Tischplatte vor sich. Aber als er dann wieder Nora anschaut, ist dieses bescheuerte Hundert-Kilowatt-Grinsen zurück, das ätzenderweise die Schwerkraft in meinem Magen aufhebt. »Gut. Es geht mir gut.« Er zupft an der Tannengirlande. »Ihr habt geschmückt, obwohl ihr über Weihnachten gar nicht da seid?«, fragt er amüsiert.

Auch wenn ich selbst kein Fan des Weihnachtswahnsinns meiner Schwester bin, hat er ganz sicher kein Recht, sich darüber lustig zu machen.

»Das ist eben, was man in der Vorweihnachtszeit so tut«, erwidere ich kampflustig. Das Haus der Greens, seiner Eltern, sieht schon einen Tag nach Thanksgiving aus wie aus einer Coca-Cola-Weihnachtswerbung. Und Sam hat mit Owen zusammen immer beim Schmücken geholfen. »Sonst immer einer von den Griswolds und plötzlich ganz Grinch?«

»Weder noch.« Er lässt sich null provozieren, beißt von dem Bagel ab und kaut genüsslich, während ich meine Reisetabletten aus einer der Küchenschubladen krame und in meine Tasche stopfe.

Mein Magen mag keine Autofahrten und beim Fliegen kapituliert er komplett, weswegen ich mich immer entscheiden muss, wann der beste Zeitpunkt für die Einnahme der Tablette ist, damit sie die schlimmste Phase des Trips abdeckt. Ich würde gern sagen, das ist die Fahrt mit Sam, aber ich fürchte, ich sollte sie doch erst vor dem Flug nehmen.

»Sag mal, weißt du, ob Owen jemanden mitbringen wollte? Eine Freundin?«

Sam sieht Nora stirnrunzelnd an. »Mir hat er nichts gesagt. Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Ich meine, sie müsste dann ja auch ein Ticket für den Flug nach Bangor haben.«

»Tickets kann man auch kurzfristig noch kaufen«, sage ich und verdrehe die Augen, weil ich denke, dass Owen und seine Freundin genau das vorhaben könnten. Und auch wenn Sam nichts dafürkann, ist er immer eine gute Stelle, um meine Wut rauszulassen. Verdient hat er es so oder so – für all die Male, die er sich scheiße verhalten hat und noch scheiße verhalten wird.

Er sieht mich einen Augenblick an und konzentriert sich dann auf Nora. »Wie kommt ihr darauf, dass er in Begleitung ist?«

Ich halte ihm das Handy mit dem geöffneten Familienchat hin. Mitglieder: fünf. Keiner von uns hat Moms und Dads Nummern rausgelöscht. Keiner von uns hat es hinbekommen, obwohl es nötig wäre. Sonst haben wir bald einen Trucker aus Detroit mit im Chat oder eine Hippiebraut aus Illinois, weil die Nummern neu vergeben wurden.

Sam kneift die Augen zusammen, zieht das Foto mit zwei Fingern größer. »Noch nie gesehen, soweit ich das anhand eines Auges, ein paar Haaren und einem Viertelmund sagen kann«, meint er schließlich. »Und ich wüsste auch nicht, dass euer Bruder derzeit jemanden hat.« Er steht auf und klatscht in die Hände. »Wollen wir dann?«

Sofort schnappe ich mir die Schlüssel, die noch auf dem Tisch liegen.

»Nein.« Sam sieht mich warnend an.

»Doch.« Und schon flitze ich in den Flur, schnappe mir meine Tasche und sprinte weiter zum Wagen.

»Du fährst nicht!«, ruft er und jagt mir nach, während Nora im Haus zurückbleibt.

Ich erreiche Ringo – benannt nach dem alternden Mitglied der Beatles – ungefähr drei Sekunden vor Sam, schaffe es aber nicht mehr, einzusteigen und die Tür zwischen uns zuzuknallen. Sam klemmt mich zwischen sich und dem GMC ein, was mit viel zu viel Körperkontakt einhergeht. Ich versuche mich auf den erbitterten Kampf um den Autoschlüssel zu konzentrieren, nicht auf Sams Geruch – ganz frisch, nach Seife und Waschpulver. Oder auf die harten Muskeln unter seiner Kleidung – der Kerl trainiert doch gar nicht, wieso muss er sich dann so gut anfühlen und kann nicht ein winziges bisschen abstoßend sein? Ich achte auch nicht auf seinen Atem, der meine Haut streift – warm und Stromstöße durch den Körper jagend.

»Du würdest Ringo bestimmt um die Ecke bringen«, schnauft Sam, fixiert meine Arme so, dass ich eigentlich loslassen muss. Aber da hat er die Rechnung ohne meinen Sturkopf gemacht.

»Du bist so ein Macho«, keuche ich und umklammere weiter die Schlüssel.

»Weil ich mein Auto liebe?« Er hat mich in der Zange und ich kann mich nicht mehr rühren, nur hilflos zusehen, wie er die Finger meiner Hand einen nach dem anderen aufbiegt – oder alternativ die Bartstoppeln auf seinem nervig attraktiven Kinn anstarren.

»Weil du keine Frau hinters Steuer lässt«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und endlich bin ich so wütend, dass mich sein verdammt anziehender Geruch, sein blöder Killerbody oder sein Herzschluckauf-Atem nicht mehr interessieren.

Ich versuche mich aus seinem Klammergriff zu winden, aber er ist stärker, hält mich fast mühelos fest und ich beschließe in dieser Sekunde, im neuen Jahr einen Nahkampfkurs zu besuchen, um ihn irgendwann mal aufs Kreuz zu legen. Ich freue mich jetzt schon auf sein Gesicht. Aber dieses Mal gewinnt er, bringt die Schlüssel in seine Gewalt und macht damit einen albernen Siegestanz auf dem Rasen.

Meine Schwester hat das Haus inzwischen abgeschlossen und zieht ihren Koffer hinter sich her.

»Nora, willst du vielleicht fahren?«, fragt Sam sie zuckersüß und grinst mich provozierend an.

»Äh, wieso?«

Er schnalzt mit der Zunge. »Um zu beweisen, dass ich kein frauenfeindliches Arschloch bin, sondern nur gesunden Menschenverstand habe und Emma deswegen nicht hinters Steuer lasse.«

Ich fahre gut. Sehr gut. Und das weiß der Mistkerl auch.

»Haltet mich da raus.« Nora lädt ihren Koffer hinten ins Auto und kommt dann nach vorn.

»Egal«, sage ich zu Sam und zucke mit den Schultern. »Dann setze ich mich eben nach hinten und kotze dir in den Nacken.« Ich ziehe die seitliche Schiebetür auf, aber Sam stoppt die Bewegung.

»Auf keinen Fall. Niemand kotzt Ringo voll. Du sitzt vorn.«

»Sag mir nicht, was ich tun soll.«

Nora drängelt sich an mir vorbei, krabbelt auf die mittlere Rückbank, bevor ich es tun kann, und hockt wie ein schwesterlicher Türstopper im Weg. »Er hat recht«, sagt sie bestimmt. »Niemand will, dass unser Trip mit dir würgend über einer Plastiktüte beginnt.«

Sie wird nicht nachgeben. Das ist das Westmore-Gen. Mir bleibt also nur der Beifahrersitz. Schön. Wütend gebe ich Sam einen Schubs, klettere auf den Beifahrersitz und knalle die Tür zu. Sam umrundet den Wagen, steigt neben mir ein und ist mir jetzt deutlich zu nah. Mit ihm in einer Küche zu sitzen ist Höchststrafe, aber nur eine Handbremse voneinander entfernt, das … Ich stöhne und schnipse den blinkenden Armaturenbrett-Weihnachtsbaum an.

»Okay, Ringo, sie meint das nicht so. In echt mag sie deine Weihnachtsdeko.« Er wirft mir einen warnenden Blick zu. »Und jetzt spring schön an.« Dann packt er ein Beatles-Zitat aus, über Selbstliebe und Stärken, die wir umarmen müssen, und versucht auf diese Weise, den Wagen zum Starten zu überreden.

»Ist das dein Ernst?« Ich wusste ja schon immer, dass er verhaltensoriginell ist, aber das …

»Es hilft, du wirst schon sehen.«

Na, ganz bestimmt. Nicht. Denn der Motor stottert und hustet zwar, springt aber nicht an. Ich verdrehe die Augen. »Klappt ja super.«

Sam geht gar nicht auf mich ein, streichelt stattdessen andächtig das Armaturenbrett der rostigen himmelblauen Karre, als hätte der Wagen tatsächlich Gefühle. »Du hast ihn verärgert.«

»Nora?« Ich sehe mich verzweifelt nach meiner Schwester um, aber der scheint Sams Verhalten nicht befremdlich zu sein. Sie sieht null besorgt aus, obwohl unser Fahrer sich mit zweieinhalb Tonnen Blech unterhält. Sie macht eine beschwichtigende Warte-es-ab-Geste.

Er packt ein weiteres Beatles-Zitat aus, flüstert es dem Wagen zu, startet noch mal und dieses Mal heult der Motor tatsächlich auf. »Und da ist er: Ringo is in the house, Myladys.« Sam lacht. Und dieses Lachen ist so echt, dass es mir unter die Haut kriecht. Dorthin, wo Sam absolut nichts zu suchen hat. Weil ich mich in diesem Moment wieder an den Sam von früher erinnere. Den freien, wilden Sam, der Träume hatte und kreativ war und ausgelassen und in den ich mich mit vierzehn so hart verliebt habe, dass ich nicht mehr atmen konnte, als er mich deswegen ausgelacht hat. Als er mir gesagt hat, dass ich nie mehr als Owens kleine Schwester sein würde, der Kampfkeks, der nervt und perfekt zum Verarschen geeignet ist.

Ich lehne den Kopf gegen die Scheibe und mein Atem lässt das kalte Glas beschlagen. Ich wusste, dass dieser Trip keine gute Idee sein würde. Dafür gibt es rund eine Million Gründe. Und einer ist gerade noch dazugekommen und wird die komplette nächste Stunde neben mir sitzen.

Nora

Ich war sechs Jahre alt, als mir klar wurde, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Meine Mutter stand in der Küche unserer kleinen Urlaubshütte, die sich mitten im Arcadia Nationalpark zwischen hohen Tannen und in Fußnähe zur Somes Sound Bucht befindet. Ihre Hände waren tief in Plätzchenteig vergraben, während in dem uralten Radio irgendein Weihnachtslied lief. Mehl klebte an ihrer Stirn und sie tat so, als würde sie nicht bemerken, dass Emma heimlich von den rohen Plätzchen naschte. Das hat Emma immer gemacht – so lange, bis sie Bauchschmerzen bekam.

Owen und Dad saßen währenddessen am Esstisch und bauten ein Legospielzeug zusammen, das Owen beim Toben runtergefallen und auseinandergebrochen war. Und ich stand am Fenster und schaute abwechselnd auf die dunkle Schneelandschaft draußen und zu meiner Familie hier drinnen.

»Und ihr seid euch absolut sicher, dass Santa weiß, dass ich kein normales Puppenhaus will, sondern das mit der Garage?«, fragte ich.

Mom lachte fröhlich, als könnte sie nichts aus der Ruhe bringen. Nicht einmal Emma, die gerade beinahe von ihrem Hocker fiel und nur in letzter Sekunde von Mom festgehalten wurde. »Das wirst du morgen früh herausfinden. Und jetzt komm und hilf uns, sonst haben wir keine Plätzchen für ihn.«

Ich gab meinen Beobachtungsposten am Fenster auf und lief zu ihr rüber. »Aber nur, weil Emma alle aufgefuttert hat.«

»Weil Owen alle Zuckerstangen verdrückt hat!«, rief Emma empört.

»Gar nicht wahr!«, erwiderte er und seine Stimme zitterte noch ein bisschen, weil er so traurig wegen der Lego-Sache war.

»Wohl wahr.« Emma streckte die Zunge in seine Richtung und kicherte, als Mom versuchte sie zu packen.

In meiner Erinnerung backten wir bis spätabends, bis Mom und Dad uns ins Bett brachten. Irgendwann in der Nacht weckte mich ein Geräusch. Sicher, dass es Santa sein musste, schlich ich auf Zehenspitzen durch die Hütte. Ich erinnere mich noch genau an den eiskalten Boden unter meinen nackten Füßen und mein hämmerndes Herz, laut in meinen Ohren. Aber wenn Santa da war, musste ich ihn unbedingt fragen, ob er meinen Korrekturbrief bekommen hatte.

Die gesamte Hütte war mit Lichterketten, Mistelzweigen und Tannengirlanden geschmückt, so wie immer. Weil Mom ein totaler Weihnachtsfan war und Dad ihr nur schwer etwas ausschlagen konnte. Doch nichts glänzte und funkelte so wunderschön wie unser Tannenbaum, den man vom Flur aus halb sehen konnte.

Ich weiß noch, wie ich mich an die Türzarge zum Wohnzimmer presste und vorsichtig um die Ecke lugte, sicher, dass dort Santa vor dem erkalteten Kamin stehen würde. Stattdessen waren da meine Eltern, die Geschenke unter den Baum drapierten. Dann nahm mein Dad einen großen Bissen von den Plätzchen und Mom bekam von der Milch einen Milchbart. Sie lachten und gaben sich einen Kuss.

Und ich stand dort wie versteinert, fühlte mich betrogen und belogen. Tränen rannen über meine Wangen, als ich mich lautlos zurück ins Bett verkroch und die Decke so hoch zog, dass nur noch meine Nasenspitze herausschaute.

Emma weckte mich am nächsten Morgen, indem sie sich auf mich warf und mir ins Ohr brüllte. »Santa war da! Santa war da!«

Schlagartig erinnerte ich mich an die letzte Nacht und wieder waren da Tränen. Der Verrat saß so tief. Doch ich zwang mich zu lächeln und folgte Emma ins Wohnzimmer, wo unsere Eltern und Owen bereits warteten. Ich wollte weinen, schreien, toben. Stattdessen packte ich in stummer Wut mein Geschenk aus.

Es war das Puppenhaus mit Garage. Ich starrte es an. Dann meine Eltern. Dann wieder das Puppenhaus. Sie hatten es mir geschenkt. Nicht Santa. Es waren meine Eltern gewesen. Sie waren es immer gewesen.

Ich habe sie umarmt. Ganz fest. »Frohe Weihnachten.«

Dieses eine Weihnachtsfest hat sich fest in meinen Kopf gebrannt. Und erst Jahre später wurde mir klar, wieso. Es lag nicht daran, dass ich die große Weihnachtsmann-Lüge aufgedeckt habe, nein. Ich habe damals zum ersten Mal realisiert, dass meine Eltern diejenigen waren, die unsere Weihnachtsfeste so großartig gemacht haben.

Nur dieses Jahr werden sie es nicht tun. Dieses Weihnachten müssen wir selbst großartig machen.

Mom und Dad sind tot. Nichts wird sie jemals wieder lebendig machen. Aber wir können ihr Andenken ehren.

Und das tun wir. Deshalb sind wir jetzt auf dem Weg zum Flughafen und fliegen dann mit Owen zusammen weiter, um ein großartiges Weihnachtsfest im Arcadia Nationalpark zu feiern. In dieser besonderen Hütte, in der wir regelmäßig die tollsten Ferien überhaupt verbracht haben.

Ich weiß, dass es unsere Eltern nicht wieder lebendig werden lässt, wenn wir in unserer Hütte feiern wie in den letzten zwei Jahrzehnten. Aber es wird uns dreien helfen. Es wird Emma über ihre Wut hinweghelfen und Owen wieder das Gefühl geben, ein Teil von uns zu sein. Es wird uns alle daran erinnern, dass wir weiterhin eine Familie sind. Auch wenn von uns fünf Westmores nur noch drei übrig sind.

Meine Augen brennen und ich blinzele die Scheibe an. Mein Atem ist ein wenig zittrig, doch ich zwinge mich tief durchzuatmen und zähle innerlich bis zehn. Es ist alles okay. Ich habe alles im Griff. Immer nur drei Schritte auf einmal, dann erscheint der Weg nicht so weit.

Schritt eins: pünktlich losfahren. (Check!)

Schritt zwei: Emma davon abhalten, Sam umzubringen.

Schritt drei: Owen am Flughafen treffen.

Sollte doch gelacht sein, wenn wir das nicht schaffen.

Ich lasse meine Füße kreisen. Sie stecken in alten dunkelgrauen Stiefeln, die ein wenig zu eng sind und an meinen Knöcheln scheuern. Da Emma offenbar meine Moonboots verloren hat, musste ich umdisponieren.

»Wieso fährst du eigentlich so fürchterlich?«, herrscht sie gerade Sam an und presst sich die Hände an Mund und Bauch.

Sofort richte ich mich alarmiert auf und auch Sam wirft immer wieder hektische Blicke zu meiner Schwester rüber, die auf dem Beifahrersitz ganz starr geworden ist. »Wag es ja nicht, mir in den Wagen zu kotzen!«

»Das ist alles deine Schuld, weil du mich nicht fahren lassen wolltest«, stößt Emma mit einem leisen Stöhnen aus.

Sam schnaubt abfällig, aber nach wie vor mit sorgenvollem Blick. »Wir sind nicht einmal eine halbe Stunde unterwegs.«

»Du fährst halt kacke und wenn du nicht anhältst, kotze ich dir deinen wertvollen Ringo voll«, droht Emma und schluckt hörbar.

»Das wirst du nicht wagen.«

Ich liebe sie beide. Aber wenn das die gesamte Fahrt so geht, drehe ich durch. Glücklicherweise kommt eine Rettung in Sicht. »Entspannt euch. Da vorne ist eine Raststätte. Wir haben noch genug Zeit, um Wasser und vielleicht einen Schokoriegel zu kaufen und dann noch pünktlich am Flughafen anzukommen.« Zumindest hat Emma Zucker sonst ganz gut geholfen, weshalb Mom und Dad in beiden Autos immer Schokolade gehortet hatten.

Sams skeptischer Blick trifft mich im Rückspiegel und ich hebe bedeutungsvoll die Augenbrauen. Er versteht meine stumme Warnung und setzt den Blinker.

Emma wühlt sich derweil durch ihre Handtasche. »Shit, ich finde meine Reisetabletten nicht.«

»Das kann nicht dein Ernst sein. Zum Glück habe ich auch welche eingepackt.«

Sie wirft mir einen finsteren Blick über die Schulter zu, der keinerlei Wirkung auf mich hat. »Ich bin mir aber ganz sicher, dass ich sie eingepackt habe.«

»Wie du meinst. Sam geht Wasser kaufen und ich suche nach den Tabletten.«

»Lass mal. Ich muss sowieso mal kurz zur Toilette«, winkt sie ab und verlässt fluchtartig das Auto, kurz nachdem Sam den Wagen in den Haltebuchten vor der Raststätte zum Stehen gebracht hat, und auch wir anderen zwei steigen aus.

Sam stellt sich neben mich und lehnt sich gegen seinen rostigen Wagen, den er schon seit Ewigkeiten fährt. Ich finde die Tabletten sofort in unserer Reiseapotheke und stoße ein triumphierendes »Ha!« aus. »In der Erste-Hilfe-Tasche liegt immer ein Vorrat.«

Sams Schmunzeln erreicht seine Augen nicht.

Ich lehne mich neben ihn gegen den Wagen. Obwohl die Sonne scheint, ist es eiskalt heute. Selbst Sam, der eigentlich immer Hitzewallungen hat, trägt mittlerweile eine Kapuzenjacke, in deren Taschen er nun seine Hände stopft. Ernst betrachtet er die Tankstelle und schaut überallhin, nur nicht zu mir. Weil er genau weiß, dass ich all die unbequemen Fragen stellen werde.

»Hast du schon mit deinen Eltern gesprochen?«

Seine Lippen bilden eine schmale Linie aus Trotz und Bedauern. »Natürlich nicht. Sie haben ihre Meinung nicht geändert und ich meine ebenfalls nicht.«

»Und wo wohnst du jetzt?«

Sam klopft auf das Autodach und grinst schief. »In meinem Wagen ist genug Platz.« Feine Fältchen kräuseln sich um seine Augen und beinahe hätte ich ihm seine Fröhlichkeit abgenommen. Wäre da nicht die Tatsache, dass es mitten im Winter ist und es nachts selbst mit Decken im Auto schweinekalt sein muss.

»Das ist nicht dein Ernst.« Fassungslos stoße ich mich von Ringo ab und stemme die Hände in meine Seiten. »Das kann ich nicht zulassen. Du wirst bei uns im Haus wohnen, so lange wie nötig.«

Sam lacht so laut und plötzlich, dass sich ein Pärchen, das ein paar Autos weiter raucht, zu uns umwendet. »Ja sicher. Und dann riskieren, dass Emma mir im Schlaf ein Kissen aufs Gesicht drückt? Danke, aber nein danke, so lebensmüde bin ich nicht.«

Augenrollend schnalze ich mit der Zunge und ziehe meinen Hausschlüssel aus der Manteltasche, den ich ihm in die Hand drücke. »Emma wird schon klarkommen. Bitte bleib. Wenigstens über die Feiertage. Das kriegt sie doch eh nicht mit. Ich weiß, dass dein sturer Stolz dich zwingt, das Angebot ablehnen zu wollen, aber es ist eiskalt.«

Sam umfasst den Schlüssel mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck und will etwas erwidern, doch dann schaut er über meine Schulter und runzelt die Stirn. »Wer ist das denn?« Seine Stimme ist so ablehnend, wie sie nur sein kann.

Ich folge seinem Blick und entdecke Emma, die mit einem gut aussehenden Mann auf uns zukommt. Er trägt dunkle Cargohosen, braune Wanderstiefel, einen dicken hellgrauen Mantel und eine schwarze Wollmütze. Und auf seinem Rücken balanciert er einen riesigen Wanderrucksack. Nichts an seinem Outfit passt zusammen, doch das ist nicht, was ich anstarre. Es ist sein unfassbar attraktives Gesicht: volle Lippen, eine gerade Nase, funkelnde Augen unter ausdrucksvollen Augenbrauen und ein gebräunter Teint.

Ich wende mich an meine Schwester, die aufgeregte rote Flecken auf den Wangen hat. »Alles in Ordnung?«

Sie nickt und ein Grinsen breitet sich auf ihren Lippen aus, auch wenn sie noch immer blass ist. »Ihr ahnt nicht, wer das ist!«

»Justin Bieber wohl nicht«, erwidert Sam trocken und mustert den Fremden argwöhnisch.

Sofort verdreht Emma die Augen. »Das ist Alexander Decker. Er ist ein total berühmter Reiseblogger, dem ich schon seit einem Jahr auf Instagram folge. Und er braucht eine Mitfahrgelegenheit!« Ihre Augen sind geweitet, genau wie ihr Mund, als wäre das hier die absolut beste Situation ihres Lebens.

»Das kann nicht dein Ernst sein«, stoße ich aus und lächele den Fremden entschuldigend an, bevor ich Emma am Arm packe und zu mir ranziehe. Ich zische ihr ins Ohr: »Das könnte ein verdammter Serienkiller sein und du gabelst ihn einfach am Straßenrand auf und bietest ihm an, mit uns zu kommen?«

Emma befreit sich aus meinem Griff und stöhnt genervt, während sie ihr Handy aus der Manteltasche zieht und mir kurz darauf seinen Instagram-Account vor die Nase hält. Über 200 000 Follower. AlexTRAVELSander.

Sam schaut mir über die Schulter. »Alex-travels-ander? Nett.«

Der Fremde streckt ihm die Hand entgegen und hat das absolut umwerfendste Lächeln, das ich jemals gesehen habe. »Hi. Ich schwöre, ich bin kein Serienkiller. Ich brauche nur jemanden, der mich zum Flughafen mitnimmt, weil ich hier dummerweise gestrandet bin. Meine andere Mitfahrgelegenheit hatte eine Panne und bis das Auto repariert ist, wird mein Flieger bereits weg sein.« Er winkt einem Pärchen zu, dessen Auto gerade am anderen Ende des Parkplatzes von einem Abschleppwagen aufgeladen wird. Sie winken zurück und wirken keineswegs so, als würden sie ihn für einen gefährlichen Straftäter halten.

»Sam, freut mich.« Er schenkt dem Fremden tatsächlich ein höfliches Lächeln.

Als Alexander sich jetzt mir zuwendet und ebenfalls die Hand entgegenstreckt, starre ich ihn an, als würde er versuchen mir eine Granate zu überreichen. »Woher sollen wir wissen, dass du kein Ersttäter bist?«

»Nora!«, zischt Emma und meine Frage ist ihr sichtlich peinlich, denn sie macht dieses Große-Augen-mit-dem-Kopf-nicken-Ding, das sie immer macht, wenn sie über etwas reden will, was Anwesende nicht hören sollen. Sie hat immer noch nicht gemerkt, wie auffällig das ist. »Du bist unmöglich!«

»Ich bin nicht diejenige, die einen Fremden anschleppt.« Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigt mir, dass wir kaum noch Zeit haben. »Außerdem ist der Puffer in unserem Zeitplan fast aufgebraucht. Sonst kommen wir niemals pünktlich in Boston an.«

»Und Alexander muss ebenfalls zum Bostoner Flughafen. Kommt schon, zeigt ein bisschen Herz. Eine gute Tat bringt uns sicher Karmapunkte. Gib dir einen Ruck. Seit –« Emma verstummt und schluckt, doch der Trotz in ihren Augen wächst. »Seit Monaten verkriechst du dich nur noch. Alles, was nicht genau nach deinem Plan läuft, ist eine Katastrophe für dich. Sei doch nur ein einziges Mal offen für ein Abenteuer.« Dann streckt sie mir wieder das Handy entgegen und Alexanders absurd hohe Followerzahl strahlt mir entgegen. »Außerdem habe ich ihn gerade schon in einer Story verlinkt. Er kann uns nicht umbringen, wenn es Beweise gibt.«

Mit aufeinandergepressten Lippen starre ich sie an und suche innerlich nach Gegenargumenten, die sie von dieser bescheuerten Idee abbringen.

»Für mich geht das klar.« Sam, der Verräter, zuckt doch tatsächlich mit den Schultern, wirft mir aber einen kurzen, sorgenvollen Blick zu. Weil er genau weiß, wie irre mich spontane Aktionen machen. Aber das ist okay. Es ist ja keine richtige Planänderung. Statt zu dritt fahren wir nun einfach zu viert zum Flughafen. Alles okay. Ich bin okay. Also hebe ich kurz die Schultern, um ihm genau das zu signalisieren. Daraufhin mustert er Alexander ernst und fügt hinzu: »Aber solltest du irgendwas versuchen, will ich dich warnen: Ich habe eine Waffe und kein Problem damit, mich zu verteidigen.«

Während Emma nach Luft schnappt, seufze ich, weil ich das so nicht stehen lassen kann. Ich will zwar keinen Fremden mitnehmen, aber lügen finde ich fast noch schlimmer. »Er hat natürlich keine Waffe.«

Sam stöhnt. »Komm schon, das hätte ihn eingeschüchtert.«

»Hätte es wirklich«, stimmt Alexander fröhlich zu und sieht kein bisschen eingeschüchtert aus.

»Bist du sicher, dass du mit uns fahren willst?«, fragt nun Sam und lacht.

Alexander nickt und als er lächelt, leuchten seine blauen Augen. »Ich liebe es, interessante Menschen kennenzulernen, und ihr gehört bestimmt dazu.«

Wieder schaue ich auf meine Uhr und allein die Vorstellung, zu spät zu kommen, beschert mir Bauchschmerzen. Owen kommt extra nach Hause, um mit uns gemeinsam Weihnachten zu feiern. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie es sich für ihn anfühlen würde, wenn er ganz allein am Flughafen stehen und auf uns warten müsste. »Wir müssen jetzt echt los.«

Da reißt Emma einen Blister ihrer Reisetabletten aus ihrer Tasche. »Hier, ich wusste doch, dass ich sie eingepackt habe.«

Während sie die Tablette mit Wasser herunterspült, wende ich mich an Alexander: »Und du willst auch nach Boston?«

»Genau. Mein Flug geht in ein paar Stunden.« Er nimmt seinen riesigen Reiserucksack ab und lässt ihn auf den Boden plumpsen. Das Teil ist halb so groß wie ich und vermutlich ähnlich schwer.

»Okay, von mir aus kannst du mitfahren«, gebe ich mich geschlagen. »Aber bitte lasst uns endlich weiterfahren.«

Emma macht eine Faust in die Luft und Sam wuchtet den riesigen Rucksack in den Kofferraum. Da Emma wieder auf den Beifahrersitz rutscht, mache ich es mir hinten neben dem Fremden gemütlich. Alexander. Ich sehe ihn von der Seite an, betrachte seine gepflegte Erscheinung. »Du bist also Reiseblogger?«

Alexander nickt und lehnt sich auf seinem Platz zurück. Sein fröhliches Lächeln trifft mich unvermittelt. »Ja. Ich lerne die Welt kennen.«

Er läuft also vor etwas davon. Niemand, der ein halbwegs stabiles Zuhause hat, würde nur so durch die Welt gondeln. Schon gar nicht an Weihnachten. Außer … »Und in Boston wohnt deine Familie?«

»Nein, meine Familie kommt eigentlich aus Minnesota.«

Also rennt er wirklich davon. Ich runzele die Stirn. »Hast du Vorstrafen?«

»Gott, Nora! Wird das ein Verhör?«, ruft Emma entsetzt von vorn.

Doch Alexander grinst noch immer breit. »Keine Vorstrafen. Und es ist wirklich kein Problem«, versichert er Emma. »Ich liebe es, wenn Menschen direkt sind. Das macht eine Unterhaltung nur umso spannender.« Er wendet sich wieder mir zu. »Und nein, meine Familie hat mich weder rausgeschmissen noch haben wir uns verkracht. Ich reise einfach gern und es ist vollkommen in Ordnung für sie.«

Bevor ich eine weitere für Emma unangemessene Frage stellen kann, greift sie ein und verwickelt ihn in ein Gespräch über diverse Blogger, die mir alle nichts sagen.

Währenddessen beobachte ich weiter Alexander von der Seite und frage mich, wovor er wohl wirklich davonläuft. Bloß die Vorstellung, ganz allein durch die Welt zu reisen und meine Familie hinter mir zu lassen, verursacht schon ein total unangenehmes Grummeln in meinem Magen, gegen das vermutlich nicht mal Emmas Reisetabletten etwas ausrichten könnten.

Emma hat recht. Ich verkrieche mich zu Hause. Weil ich da glücklich bin. Weil zu Hause Sicherheit bedeutet. Und weil ich diese Sicherheit um nichts in der Welt aufgeben könnte.

Owen

Irgendwo über den Wolken scheint die Sonne, heißt es immer. In den letzten Wochen habe ich das fast vergessen. Die Milliarden Lichter Londons leuchteten ohne Erfolg gegen schweren grauen Nebel an, der mir – je näher Weihnachten rückte – immer tiefer ins Hirn kroch. Daher habe ich mich in den letzten Wochen konsequent abgelenkt, wann immer die Gewitterfront in meinem Kopf aufzog. Beim Rudertraining. Bei der Planung meiner Dissertation. Auf Konferenzen. Geburtstagspartys, zu denen ich eingeladen wurde, weil es mir mittlerweile – und anders als früher – leichtfällt, Leute kennenzulernen. Als jetzt das Flugzeug durch den Dunst bricht und gleißendes Licht durch die Fenster fällt, muss ich blinzeln.

Kurz blicke ich zu Liv. Beim Start hat sie die Augen geschlossen. Vielleicht braucht sie ein paar Minuten, um sich zu sammeln. Für mich sind ein paar Minuten Ruhe allerdings zu viel. Denn die nutzt mein Gehirn, um mir vorzuführen, wie verquer Noras Plan ist. Er sieht vor, dass wir Geschwister zusammen Weihnachten feiern, als wäre alles wie immer. Als könnten wir die Tatsache ignorieren, dass zwei Menschen fehlen. Zwei Menschen, die Weihnachten bisher immer … na ja, zu Weihnachten gemacht haben. Alles, was wir dieses Jahr tun werden, ist vorzugeben, wir könnten irgendwas davon halbwegs so wie sie. Können wir aber nicht. Wir werden nicht Weihnachten feiern. Nur eine Imitation vergangener Feste. Niemand wird mich fragen, wie es mir in meinem neuen Leben in London wirklich geht. Niemand wird sich für meine Forschung interessieren. Niemand wird Anteil an meinen Erfolgen und Misserfolgen nehmen. Nicht so, wie Mom das getan hätte.

Meine Schwestern habe ich im letzten halben Jahr nur in unseren Videocalls gesehen, in denen ich mich nach Noras neuem Job und Emmas Studienplänen erkundigt habe. Bis Emma nicht mal mehr zu unseren Onlinetreffen auftauchte. Nora meinte, sie habe viel zu tun. Ich weiß auch was: wütend sein. Auf mich.

Ich verstehe sie sogar. Nach Moms und Dads Tod hätte ich meine Pläne, nach London zu gehen, aufgeben müssen. Ich hätte für sie da sein sollen. Sie im Arm halten, wenn sie durchdreht, weil wir alle drei plötzlich so scheiße einsam sind. Aber ich konnte es nicht.

Ich hatte diese einmalige Chance, mit meinem Prof nach London zu gehen und an meinem PhD über die Entstehung von Emotionen zu arbeiten. Mom war unfassbar stolz auf mich. Ich habe gezögert, meine Familie und Freunde zu verlassen, aber Mom hat mir zugeredet. Und sie hat versprochen, mich zu besuchen – so oft, bis ich sie nicht mehr ertragen würde.

Ich weiß, warum sie so begeistert war. Sie hatte ihre Dissertation in Chemie abgebrochen, nachdem ich auf die Welt kam. Sie hat immer gedacht, sie würde sie irgendwann zu Ende bringen. Aber dann folgten mit jeweils zwei Jahren Abstand Nora und Emma. Schließlich war Moms Thema veraltet und sie führte ein anderes Leben. Kein schlechteres, versicherte sie mir. Aber sie war ein riesiger Fan von meinem Weg, ihrem Was-wäre-wenn-Weg. Also habe ich es durchgezogen. Auch wenn sie es jetzt nicht mehr mitkriegt. Ich bin meinem Prof nach London gefolgt und habe meine Forschung angefangen. Mein Leben ist genauso, wie Mom es zuletzt vor Augen hatte. Nur ohne Besuche von ihr.