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Was, wenn echte Gefühle ins Spiel kommen? Mit dem Praktikum in London beim Magazin ›Past & Present‹ wird ein Traum für Jamie wahr. Doch als ihr Freund sich von ihr trennt, steht Jamie plötzlich auf der Straße. Sie zieht in die WG einer Kollegin, die sich als gute Ablenkung herausstellt. Denn Jamie soll bei ihrem Praktikum mit dem arroganten Zyniker Ryan über die größten Love Stories in der Geschichte Londons schreiben. Kann das funktionieren? Jamie ahnt bald, dass Ryans Art nur Fassade ist. Aber ist sie bereit, sich seiner tragischen Vergangenheit und ihrer eigenen Liebesgeschichte zu stellen?
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Seitenzahl: 542
Was, wenn echte Gefühle ins Spiel kommen?
Als Jamie den begehrten Praktikumsplatz bei einem Londoner Magazin ergattert, kann sie ihr Glück kaum fassen. Doch mitten in ihrem Höhenflug erwischt sie ihren Freund mit einer anderen. Hals über Kopf trennt sie sich. Jetzt will sie nur noch eins: einen Schlussstrich unter ihre Beziehung ziehen und sich in die Arbeit stürzen. Und tatsächlich wird ihr Themenvorschlag »die größten Love Storys Londons« für die Special Edition ausgewählt. Allerdings steht ihr gerade gar nicht mehr der Sinn nach epischen Liebesgeschichten. Zu allem Überfluss muss sie zusammen mit Ryan, dem sein Ruf als Frauenheld vorauseilt, an dem Artikel arbeiten. Auf ihren Streifzügen durch London kommen die beiden sich langsam näher. Ryan aber geht immer wieder auf Distanz. Was steckt hinter seiner Ablehnung?
Der zweite Teil der mitreißenden London-Romance mit wunderbar frühlingshaftem Flair
Von Autor sind bei dtv außerdem lieferbar:
Love Songs in London – All I (don’t) want for Christmas (Band 1)
Love Songs in London – Dancing on Sunshine (Band 3)
Love Songs in London – It’s raining Love (Band 4)
Tonia Krüger
Here comes my Sun
Band 2
Roman
Tief atme ich die zum ersten Mal in diesem Jahr milde Frühlingsluft ein. Hier am Victoria Embankment besteht das Aroma der Stadt aus einer Mischung von leicht brackigem Flusswasser, Abgasen und dem süßen Duft der Pfingstrosen, die bereits blühen. Die Sonne scheint vom verschleierten Himmel und bringt die ausschlagenden Bäume zum Leuchten. Sie zaubern das ersehnte Grün an die Ufer der Themse. Es gibt nur einen Haken: Ich habe keine Zeit, diesen Frühlingstag zu genießen.
Eilig schließe ich mein Fahrrad auf dem engen Parkplatz des Redaktionsgebäudes von ›Past & Present‹ an und ziehe die an einem Nylonband um meinen Hals befestigte ID-Card unter meiner Jacke hervor. Obwohl ich mitten in meinem Praxistrimester stecke und schon seit acht Wochen täglich in der Redaktion ein und aus gehe, kontrolliert Bert, der Portier, den Ausweis jedes Mal, als hielte er ihn für eine trickreiche Fälschung. Normalerweise warte ich seine Begutachtung mit einem Lächeln ab. Heute aber wedele ich hektisch mit der Karte vor seiner Nase herum und laufe zu den Aufzügen, sobald er mir mit einem Nicken zu verstehen gibt, dass ich weitergehen darf. Durch meinen Frauenarzttermin bin ich spät dran und ausgerechnet jetzt kommt der verdammte Fahrstuhl nicht.
Ungeduldig überlege ich, die Treppe zu nehmen, höre aber endlich das metallische Surren der sich nähernden Kabine im Schacht. Kaum öffnen sich die Türen, quetsche ich mich hinein und überprüfe während der Fahrt nach oben mein Aussehen im Spiegel. Der Fahrradhelm hat meine fast schwarzen, eigentlich üppigen Haare platt gedrückt. Über Kopf schüttele ich sie aus und flechte sie mit fliegenden Fingern in meinen üblichen Zopf über die Schulter. Kritisch checke ich erneut mein Erscheinungsbild. Meine Augen haben nicht den katzengrünen Ton wie die von meinem Bruder Julian. Sie imitieren eher die Farbe von eigenwilligem Moos. Im Kontrast zu meinen schwarzen Haaren fallen sie trotzdem auf und ich mag das. Ein kleiner Akzent schadet mir jedenfalls nicht, denn ansonsten trage ich nur Jeans und ein vorne locker in den Gürtel gestecktes weißes T-Shirt wie eine Art Uniform. Um mich in Szene zu setzen, fehlen mir irgendwie Zeit und Lust. Zumal ich stets Mums Stimme im Kopf habe: Jamie, ein kluger Geist glänzt vor zurückhaltender Kulisse.
Seit ich denken kann, sitzt mir meine Mum mit wegweisenden Kommentaren im Nacken. Dass ich mich entgegen ihrer Ratschläge für ein aussichtsloses Geschichtsstudium entschieden habe, ist als Bruch in die Historie unserer Beziehung eingegangen. Dadurch, dass sie mich all die Jahre angefeuert, meine Lehrpläne und Freizeitaktivitäten gestaltet und meine Schularbeiten überwacht hat, war für sie klar, dass sie Einfluss auf meine Studienwahl nehmen würde. Vielleicht hätte sie Geschichte akzeptieren können, wenn ich wenigstens eine Unikarriere anstreben würde, die mich in einigen Jahren in die akademische Oberliga befördern könnte. Dass ich stattdessen als Journalistin arbeiten will, hält Mum für reine Dummheit. In diesem Feld ist in ihren Augen nichts für mich zu holen – weder Ruhm noch Status und noch weniger eine gute Bezahlung. Dass ich es mit nur zweiundzwanzig Jahren in die Redaktion von ›Past & Present‹ geschafft habe, interessiert sie nicht. Sie hat keine Ahnung, wie viel mir das bedeutet, denn seit einigen Jahren ist unser Verhältnis deutlich abgekühlt. Bisher habe ich es nicht mal gewagt, ihr zu beichten, dass meine Beziehung zu Phil in die Brüche gegangen ist.
Als sich die Fahrstuhltüren öffnen, bin ich zumindest mit meinem Äußeren zufrieden und halte auf das Großraumbüro zu, in dem ich Ryan Dexter finden soll. Es ist Dienstagnachmittag und die Schreibtische zwischen den von Rankpflanzen überwucherten halbhohen Raumteilern sind gut besetzt. Die hohen Decken, die langen Fensterfronten und der Sichtbackstein sorgen dafür, dass der Raum nicht überfüllt wirkt. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich hier jemanden finden soll, dem ich nie zuvor begegnet bin. Zwar habe ich Ryan gegoogelt und weiß, dass er eine athletische Figur, dunkle Haare, klare Gesichtszüge und einen düsteren Blick hat, aber von den über Schreibtische gebeugten Rücken kämen einige infrage, die er sein könnten.
Zum Glück entdecke ich Finley von den London HiStories an seinem Platz. Er ist Ende dreißig, hat abstehende blonde Haare und ein spitzes Kinn. Ihn konnte ich schnell von mir überzeugen. Als Praktikantin besteht meine Hauptaufgabe darin, die Senior Editors durch Recherchen zu unterstützen, und Finley hat mir von Beginn an gutes Feedback gegeben. Echte Zuneigung hat mir aber wohl meine Begeisterung für seine Rubrik eingetragen. Finley lächelt, als ich vor seinem Tisch aufkreuze. Bestimmt hofft er, ich hätte ein paar spannende historische Details für ihn ausgegraben. Sein Lächeln wird merklich dünner, als ich ihn stattdessen frage: »Kannst du mir sagen, wo ich Ryan Dexter finde?«
»Ryan? Was willst du denn von dem?«
»Ich habe ein paar Recherchen für ihn gemacht.«
Finley runzelt die Stirn. »Er ist nicht mal Editor bei uns.«
»Mitch hat mich damit beauftragt. Ryan habe ich noch gar nicht persönlich getroffen.«
»Nimm dich lieber in Acht.« Finley beugt sich wieder über seine Tastatur. »Wenn ihr verabredet seid, sitzt er wahrscheinlich an einem der freien Plätze dahinten. Er hat hier keinen eigenen Tisch.« Er deutet quer durch das Großraumbüro, wo in der Nähe der Fensterfront mehrere Schreibtische im Quadrat stehen. Anders als die meisten Arbeitsbereiche sind sie nicht mit Computern, Telefonen und privatem Krimskrams bestückt.
»Danke.« Da ich entgegen meiner absoluten Prinzipien zu spät bin, will ich schon losstürmen, drehe mich aber noch einmal um. »Wovor soll ich mich in Acht nehmen?«
Finley wirft einen prüfenden Blick in die Runde, der wohl sicherstellen soll, dass wir nicht belauscht werden. Dann lehnt er sich über den Tisch in meine Richtung. »Soweit ich weiß, kennt Ryan vierzig Prozent der weiblichen Belegschaft von ihrer privaten Seite, wenn du verstehst, was ich meine. Der Typ ist ein Herzensbrecher und Beziehungskiller und arrogant noch dazu.«
Ich hebe die Augenbrauen. Den Look zum Herzensbrecher hat Ryan den Bildern im Internet nach zu urteilen auf jeden Fall. Er hat diese selbstgefällige Körperhaltung wie viele junge Männer, die gut ankommen. Diese Typen sind raumgreifend, halten sich immer aufrecht und ihre Arme in so vorteilhaftem Winkel, dass sie breiter wirken, als sie sind. Ich weiß, wovon ich rede. Mein Bruder ist auch einer von der Sorte, und deshalb haben Herzensbrecher keine Chance bei mir. Finleys Blick erwidere ich mit schief gelegtem Kopf.
»Vierzig Prozent? Führt ihr hier so genaue Statistiken?«
Finley hebt die Schultern. »Wenn fast jede zweite Frau, mit der ich spreche, einen emotionalen Blick bekommt, wenn Ryans Name fällt, reicht mir das als Statistik.«
»Emotional?«
Er winkt ab. »Das ist ein weites Spektrum. Ryan Dexters Verschleiß ist legendär.«
Ehrlich gesagt klingt das für mich nach Bürotratsch und vielleicht ein bisschen Neid, aber weil ich es eilig habe, nicke ich Finley nur kurz zu. »Ich passe auf mich auf.«
Dann haste ich durch die Reihen zu den frei verfügbaren Schreibtischen und spüre meine Nervosität steigen. Nicht, weil mein Gesprächspartner Herzensbrecherqualitäten haben soll. Mein Herz liegt schon in Trümmern. Er kann nichts mehr kaputt machen. Aber Google hat mir verraten, dass Ryan eine Art journalistisches Wunderkind ist. Er hat etliche große Artikel im ›Guardian‹veröffentlicht, schreibt eine regelmäßige Onlinekolumne und arbeitet als Reporter für den Gesellschaftsteil von ›Past & Present‹. Wie hat er es bitte schon so weit gebracht mit gerade mal Mitte zwanzig? Objektiv betrachtet mag es eine Chance sein, für jemanden wie Ryan zu recherchieren. Emotional fühle ich mich ziemlich eingeschüchtert. Ich kann mir denken, was meine Mum sagen würde: Warum hast du eigentlich noch nichts im ›Guardian‹ veröffentlicht? Obwohl ich ahne, warum Mum so denkt und ich ihre ständigen Kommentare in meinem Kopf einfach stummschalten sollte, gelingt mir das nicht. Ohne sie und den Druck, den sie mir immer gemacht hat – das ist leider die Wahrheit –, hätte ich es niemals von Weymouth an die University of London geschafft oder das Stipendium bekommen. Immerhin bin ich mittlerweile fast zehn Minuten zu spät und durchbreche meinen Perfektionismus allein dadurch.
Zwischen den Arbeitsplätzen am Fenster sehe ich mich kurz um. Bis auf zwei sind alle belegt. Ryan sitzt an einem leeren Tisch. Nur ein Tablet liegt vor ihm, in dem er irgendetwas liest. Dabei tippt er mit der Spitze eines Touchpens einen schnellen Rhythmus auf die Arbeitsplatte. Seine dunklen Haare sind an den Seiten etwas kürzer geschnitten und er hat sie über der Stirn lässig zurückgekämmt. Mir fallen seine langen dunklen Wimpern auf, die seinem Profil einen fast weichen Ausdruck verleihen. Im Kontrast dazu fügt ihm sein Dreitagebart etwas Verwegenes hinzu. Sein weißes Hemd, die dunkle Hose und das Messenger-Bag über der Stuhllehne wirken businessmäßig. Trotzdem hat er durch die aufgekrempelten Ärmel und seine weißen Sneakers etwas Legeres an sich. Auf rätselhafte Weise schaffe ich es, während der wenigen Schritte bis zu seinem Platz weitere Details an ihm wahrzunehmen: die Kurve seines Kinns, das eine markante Linie bis zu seinem Ohr bildet, wie sich sein kleiner Finger abspreizt, während er mit dem Touchpen auf den Tisch klopft, wie sein Mundwinkel zuckt, weil er vielleicht ein amüsantes Detail liest.
Ryan blickt auf, als ich an seinen Tisch trete. Auf den Fotos sahen seine Augen schwarz aus. Jetzt realisiere ich, dass sie blau sind – wie ein dunkler Ozean. Etwas jagt mir wie Stromschnellen durch die Adern. Es ist, als habe mir das dunkle Funkeln seiner Augen wie eine Welle den Boden unter den Füßen weggerissen, und ich greife nach dem nächsten Detail, das mir in den Sinn kommt, wie nach einem Rettungsring.
»Hi, ich bin Jamie.«
»Hi, Jamie.« Er steht auf, gibt mir die Hand. Sein Griff ist fest und warm. Das Gefühl des Drucks bleibt, auch als er mich schon wieder losgelassen hat.
»Ich bin die Praktikantin.«
»Ach so, dann hätte ich ja nicht extra aufstehen müssen. Ich dachte, du seist die neue Chefin.«
»Dann würde ich mich nicht so schlecht fühlen, weil ich zu spät bin.« Mit einem entschuldigenden Lächeln versuche ich zu überspielen, dass mich die Grübchen in seinen Wangen faszinieren wie Lichtreflexe auf dem Wasser. Er wirkt vollkommen anders als auf den Bildern im Internet, auf denen er sehr ernst, irgendwie unnahbar rüberkam.
»Bist du zu spät?« Ryan nimmt wieder Platz und deutet auf einen Stuhl ihm gegenüber, den er bereits organisiert hat.
»Ja, leider. Ich wurde aufgehalten.«
»Wovon?«
»Bitte?« Gerade habe ich mich zu Ryan an den Tisch gesetzt und wollte die Unterlagen aus meinem Rucksack ziehen, aber seine Frage bringt mich aus dem Konzept.
»Hätte ich das nicht fragen sollen?« Unbekümmert grinst er mich an. »Neugier ist eine Berufskrankheit und bei solchen Allgemeinaussagen muss ich einfach nachbohren.«
Er bringt mich zum Lachen. Dass ich zu spät bin, weil ich stundenlang in einem überfüllten Wartezimmer und dann auf einem gynäkologischen Stuhl saß, während meine Frauenärztin mit ihren Wattestäbchen hantierte, werde ich ihm auf keinen Fall erklären.
»Jetzt wünschte ich schon wieder, ich wäre die Chefin. Dann hättest du bestimmt nicht nachgebohrt.«
Ryan hebt die Augenbrauen. »Da du aber nur die Praktikantin bist, entkommst du der Frage nicht so leicht.«
»Bleiben nur zwei Möglichkeiten: Ich könnte dich anlügen – womit ich es nicht so habe – oder versuchen, das Thema zu wechseln. Was ist dir lieber?«
»Verstehe.« Ich bin fasziniert vom Farbspiel seiner Iris. Er entscheidet sich für den Themenwechsel. »Kommst du vom NCTJ?« Damit bezieht er sich auf den National Council for the Training of Journalists.
Ich schüttele den Kopf, während ich mein Notebook und meine Notizen auf den Tisch lege. »Ich studiere Geschichte.«
Wieder heben sich Ryans Augenbrauen. Sie sind dunkel und gerade, verleihen seinem klar geschnittenen Gesicht Kontur. »Dann macht Mitch dir sicher das Leben schwer. Er hasst Studierende ohne praktische journalistische Erfahrung.«
»Denkst du, Mitch hat mich deswegen zu dir geschickt?« Ich weiß gar nicht, woher mein spöttischer Tonfall kommt. Ryan lacht auf und ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus. Seine Stimme klingt weder hell noch ganz dunkel, ein bisschen wie das Licht kurz vor Sonnenaufgang. Himmel, warum fühle ich mich eigentlich so grenzenlos poetisch?
»Das will ich nicht ausschließen. Mitchs Meinungen über mich sind divers. Wie hast du ihn dazu gebracht, dir eine Chance zu geben?«
Verlegen hebe ich die Schultern. »Ich bin ihm lange genug auf die Nerven gegangen.« Über den Rand meines Notebooks werfe ich Ryan einen Blick zu. Schwerer Fehler! Die Welle hebt mich sofort wieder von den Füßen.
»Hättest du ihn genervt, würdest du dich wahrscheinlich nie wieder in diese Redaktion wagen. Du musst irgendetwas vorzuweisen haben.« Ryan mustert mich, als wäre ich ein Rätselspiel, das er vorhat, in einem Zug zu lösen.
»Ich habe nicht gar keine journalistische Erfahrung, wenn du das meinst. Ich war Herausgeberin der Schülerzeitung, bin Chefredakteurin der Unizeitung und schreibe für die Lokalnachrichten. Das hier wollte ich unbedingt machen.«
»Recherchen?« Zweifelnd mustert Ryan mich.
Ich muss grinsen. »Ob du es glaubst oder nicht, als Historikerin habe ich richtig viel Übung darin.«
»Anfangs hat Mitch mich angesehen, als sei ich ausschließlich hier, um ihm den Spaß an der Arbeit zu vermiesen«, sagt Ryan. »Alles, was ich eingereicht habe, hat er mir um die Ohren gehauen, bis ich nicht mehr wusste, wie ich meinen Namen buchstabiere. Dabei hatte ich schon eine solide journalistische Ausbildung und habe regelmäßig für den ›Guardian‹geschrieben. Er muss eine Schwäche für dich haben oder du verfügst über beeindruckende Leidensfähigkeit.«
»Das ist einfach.« Ich öffne in meinem Rechner die Präsentation, die ich für Ryan vorbereitet habe. »Weißt du, was mich am meisten an Geschichte fasziniert? Die Fähigkeit der Menschen, die unvorstellbarsten Katastrophen zu überleben und einen Weg zu finden weiterzumachen.«
Etwas verändert sich bei meinen Worten in Ryans Miene. Plötzlich wirken seine Züge weicher, verletzlicher.
»Wie meinst du das?«
»Na ja, Menschen haben zu allen Zeiten täglich Gewalt, Verluste und Enttäuschungen erlebt. Manche Leute sind daran zerbrochen, viele haben eine erstaunliche Gabe bewiesen, nicht aufzugeben. Die Menschheit handelt oft nicht sonderlich klug, aber sie findet einen Weg – auch durch Schutt und Asche.« Ich hebe die Schultern. »Wenn Menschen über diese Gabe verfügen, werde ich es überleben, wenn Mitch alles zerreißt, was er von mir liest.«
Unverwandt mustert Ryan mich. Das Blau seiner Augen ist intensiver geworden. Der Spott um seine Mundwinkel hat sich aufgelöst. Zu gerne wüsste ich, was in seinem Kopf passiert.
»Verstehe«, sagt er nur. Obwohl ich ihn überhaupt nicht kenne, fühle ich mich seltsam ausgesperrt aus seiner Gedankenwelt. Er zieht sein Tablet zu sich und tippt mit seinem Touchpen darauf herum. »Dann fang mal an.«
Zweifellos bringt Ryan mich durcheinander, aber ich schaffe es, meine Rechercheergebnisse kompakt und schlüssig zu präsentieren. Nur kann ich selbst dabei nicht aufhören, Dinge an Ryan wahrzunehmen: wie sich die Muskeln in seinen Unterarmen bewegen, während er mit dem Touchpen schreibt oder mit den Fingerkuppen unhörbare Rhythmen auf die Tischplatte klopft. Ich nehme einen Duft wahr – nach Mandarine, Rosmarin und einer erdigen Note, die ich nicht zuordnen kann. Nach meiner Präsentation überlasse ich Ryan meine Notizen, und er gibt mir seine E-Mail-Adresse, damit ich ihm die Grafik schicken kann.
»Langsam wundert mich nichts mehr«, meint er, als die Datei in seinem Postfach erscheint – zusammen mit einigen übersichtlichen Artikeln zum Thema.
»Was meinst du?« Ich klappe mein Notebook zu.
Sein spöttisches Grinsen ist zurück. »Wenn du Mitch so einen Vortrag gehalten hast, konnte er ja nicht anders, als dir eine Chance zu geben.« Er schiebt sein Tablet in eine blaue Hülle und greift nach seinem Messenger-Bag. »Danke für deine Unterstützung. Ich könnte mich daran gewöhnen.«
Das Tablet verschwindet in seiner Tasche und plötzlich ist Ryan auf den Füßen. Hastig erhebe ich mich ebenfalls.
»Willst du mir gar kein Feedback geben?«
Sein Lächeln inklusive der Grübchen fühlt sich an wie ein Bad im Whirlpool. »Habe ich das nicht gerade? Ich bin verabredet und muss los.« Wieder streckt er mir seine Hand hin, hält meine Finger einen Moment lang in seinen, sodass sich seine Wärme direkt in meine Haut brennt. »Wir sehen uns.«
Benommen beobachte ich, wie er auf dem Weg nach draußen einige Male grüßend eine Hand hebt oder jemandem ein paar Worte zuruft. Er hat sich wie eine Überdosis für mein Nervensystem angefühlt – irgendwie zu viel auf einmal. Mein Handyalarm erinnert mich, dass ich ebenfalls verabredet bin: zu einem Feierabend-Drink mit Lynn, meiner neuen Mitbewohnerin.
Als ich draußen mein Rad abschließe, denke ich immer noch an Herzensbrecher-und-Beziehungskiller-Ryan. Er hat in keiner mir bekannten Weise versucht, seine diesbezüglichen Fähigkeiten auszuspielen. Trotzdem hat er in meinem Körper irgendetwas in Aufruhr versetzt. Wahrscheinlich hat es nichts mit ihm zu tun, beruhige ich mich. Es muss an Phil liegen. Meine Welt steht seinetwegen Kopf, nicht wegen Ryan. Ich bin jetzt Single. Vermutlich sind deshalb irgendwelche Türen in mir weit offen, die sonst fest verschlossen waren.
Am liebsten würde ich Joss anrufen. Sie studiert Psychologie und ist ein Energiebündel. Bestimmt würde sie mir bestätigen, dass meine Gefühle völlig normal sind und dass es eine simple Erklärung für meine Reaktion auf Ryan gibt. Aber Joss kenne ich ursprünglich über Phil – wie fast alle Menschen, mit denen ich regelmäßig Kontakt habe. Oder hatte … Irgendwie war einfach nie genug Zeit, mir einen eigenen Freundeskreis aufzubauen.
Meiner Mitbewohnerin gegenüber will ich mir auf jeden Fall Mühe geben. Ich habe zwar noch nie in einer WG gelebt, aber ich vermute, es ist normal, dass Lynn mich näher kennenlernen will. Ich bin ihr wirklich dankbar, mich so spontan aufgenommen zu haben – auch wenn sie selbst zugegeben hat, einen furchtbaren Verschleiß an Mitbewohnerinnen zu haben. Es ändert nichts daran, dass sie einfach nett zu mir war. Und deshalb will ich sie bestimmt nicht warten lassen. Ich schwinge mich auf mein Rad und schneide quer durch den Verkehr zum Treemate Café.
Das Treemate liegt nur einige Hundert Meter vom Redaktionsgebäude entfernt. Deshalb ist es um diese Uhrzeit am späten Nachmittag voller Kolleginnen und Kollegen. Lynn hat uns einen Fensterplatz gesichert. Durch das Gedränge winke ich ihr zu und signalisiere, dass ich mir etwas zu trinken hole. Ich war schon einige Male zum Lunch hier, weil der Laden großartige Sandwiches anbietet. Da ich von einem mageren Stipendium lebe, begnüge ich mich jedoch mit einer Hot Mint Chocolate. Während ich auf meine Bestellung warte, lasse ich meinen Blick über die voll besetzten Tische gleiten. Das gesamte Mobiliar besteht aus Baumkantenholz und Metall. Waldtapeten und der unregelmäßige Dielenfußboden runden das rustikale Bild ab. Durch die Sonnenlicht imitierenden Lampeninstallationen und die über dem Stimmengewirr kaum hörbaren Waldgeräusche aus Vogelgezwitscher, Holzknarzen und Windrauschen wirkt das Ganze ziemlich hip.
»Was für ein Tag.« Seufzend lasse ich mich schließlich auf die Eckbank an Lynns Tisch sinken.
Sie lässt mir keinen Moment, um anzukommen. »Was hat die Ärztin gesagt?«
Ich schiebe meinen Rucksack unter den Tisch und muss mir eingestehen, dass ich den Frauenarzttermin nach meinem Meeting mit Ryan fast vergessen hatte.
»Sieht alles gut aus.« Ich hebe die Schultern. »Aber das HIV-Ergebnis kriege ich wahrscheinlich erst Ende der Woche.«
Lynns ausdrucksstarke schwarze Augen weiten sich. »HIV? Himmel! Erzählst du mir endlich mal die ganze Geschichte?«
Ich zögere. Lynn ist ein paar Jahre älter als ich, trägt gekonnt geschminkte Smokey Eyes und ihre dunklen Haare in einem schicken Long Bob, dazu meistens figurbetonte Businessanzüge – heute in einem edlen Perlgrau. Damit ist sie besser gekleidet als neunzig Prozent der schreibenden Zunft. Sie wirkt gerne, hat sie mir erklärt – und zwar meistens ein bisschen kühl und unnahbar. Trotzdem habe ich nur Sekunden gebraucht, um zu bemerken, wie herzlich sie ist. Während ich als Protokollantin in meiner ersten Konferenz zunehmend hektisch nach meinem Ladekabel kramte, schob sie mir kurzerhand ihres zu. In unseren gemeinsam verbrachten Lunch-Pausen hat sie mich ausgiebig um meinen Verlobungsring beneidet. Dann war sie die Erste, der auffiel, dass ich ihn nicht mehr trug.
Kurz richte ich den Blick an die von Ästen überzogene Decke, die mir das Gefühl gibt, unter einer Baumkrone zu sitzen. Ich trinke einen Schluck Kakao, der so süß und cremig ist, dass er alles zum Schmelzen bringt – sogar mein liebeskummerwundes Herz. Lynn war in der letzten Zeit eine echte Stütze für mich. Ohne sie und ihre Wohnung würde ich auf der Straße stehen – oder mir ein zu eng gewordenes Apartment mit Phil teilen.
»Phil und ich waren fünf Jahre zusammen.« Es fühlt sich immer noch komisch an, von uns in der Vergangenheit zu sprechen. »In der Schule war er zwei Jahrgänge über mir. Eigentlich wollte ich gar keinen Freund.«
Lynn hebt die Augenbrauen. »Ein Freund aus der Abschlussklasse macht dich doch in der Schulwelt quasi über Nacht zum Star. Wer will das nicht?« Sie rührt mit ihrem Glasstrohhalm in der hausgemachten Treemate-Limo, die mit aufwendiger Blüten- und Obstdeko versehen ist, und lässt dabei die Eiswürfel klirren.
»Ich hatte einfach viel zu tun.«
Ungläubig starrt Lynn mich an. »Du warst wie alt? Sechzehn? Siebzehn? Was hattest du denn zu tun?«
»Ich hatte nicht viel Freizeit. Und jede freie Minute habe ich für die Schülerzeitung verwendet.«
Lynns sorgfältig in Form gebrachte Augenbrauen wandern höher. »Du wolltest also schon immer zur Zeitung?«
»Eigentlich wollte meine Mum, dass ich Naturwissenschaften an einer der großen Unis studiere. Aber als ich meinen Abschluss machte und die Leitung der Schülerzeitung abgeben musste, wurde mir klar, dass es das Einzige war, was mir jemals wirklich Spaß gemacht hat.«
»Warum bist du nicht zur Journalistenschule gegangen?«
»Meine Eltern wollten mich nur unterstützen, wenn ich zur Uni ging. Außerdem sagte mir mein Englischlehrer, wenn ich schreiben wolle, müsste ich so viele Erfahrungen wie möglich sammeln, um mich breit aufzustellen.«
Lynn runzelt die Stirn. »Wieso dann Geschichte?«
Ich hebe die Schultern. »Es ist der Fachbereich, in dem man alles untersuchen kann, was man möchte.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob dein Lehrer das meinte, als er davon sprach, du solltest Erfahrungen sammeln. Ich habe da eher an Reisen gedacht, an verrückte Hobbys, vielleicht mal hier und da ein Praktikum.«
Ich seufze tief. Auch wenn ich denke, dass mein Lehrer eher die Praktika als die Reisen im Sinn hatte, weiß ich, was Lynn meint. Aber durch die Gegend zu reisen, könnte ich vor mir selbst nicht rechtfertigen. Schließlich haben sich meine Eltern verschuldet, damit ich die besten Voraussetzungen für eine Unikarriere habe. Das Geschichtsstudium habe ich einfach für einen guten Kompromiss gehalten.
»Mitch scheint jedenfalls nichts von meiner Entscheidung zu halten.«
»Wieso? Ich sehe dich doch ständig in seinem Büro.«
»Ich kann seine Anmerkungen an meinen Texten nicht lesen.«
Lynn verdreht die Augen. »Mitch ist einer dieser Dinosaurier, die es ablehnen, sich ein schickes Tablet unter den Arm zu klemmen. Niemand kann seine Schrift entziffern.«
Kichernd atme ich den süßen Duft des Kakaos ein. »Er selbst übrigens auch nicht. Von den meisten seiner Anmerkungen hat er keine Ahnung, was sie bedeuten sollen.«
»Du verbringst so viel Zeit in Mitchs Büro, weil du dir von ihm seine Anmerkungen vorlesen lässt?« Lynn prustet los und angelt mit ihrem Strohhalm einen Eiswürfel aus ihrem Glas. »Wie konnte Phil dich denn von sich überzeugen, wenn du ihn gar nicht wolltest?«
»Er war charmant und lustig und hat einfach nicht aufgegeben.« Bisher hat die Erinnerung daran ein warmes, rundum schönes Gefühl in mir ausgelöst. Jetzt ist sie überlagert von bitterer Enttäuschung. »Irgendwann fiel mir auf, dass er mir fehlte, wenn er nicht da war.«
»Das ist süß.« Lynn lehnt sich in ihrem Stuhl zurück.
»Phil ist zum Studium nach Oxford gegangen. Wir haben jeden Tag telefoniert, uns so oft wie möglich gesehen, uns verdammt viel vermisst – wie das so ist in einer Fernbeziehung. Nach seinem Abschluss hat er als Grafikdesigner bei Saga World Games angefangen. Die entwickeln Computerspiele und Apps. Eigentlich sitzt die Firma in Oxford, aber in London gibt es eine Zweigstelle. Phil hat sich meinetwegen hierher versetzen lassen.«
Wehmütig denke ich an das kleine Apartment, das wir zusammen bewohnt haben – mein erstes eigenes Zuhause. Ich vermisse es schmerzlich – den Moment, abends heimzukommen und die bunte Wohnzimmerlampe einzuschalten, auf dem gemütlichen Sofa die Beine auszustrecken, sonntags beim Frühstück an dem winzigen Küchentisch zu sitzen. »Wir haben zwei Jahre zusammen gewohnt, aber beide viel gearbeitet – eigentlich nur. Ich glaube nicht, dass wir uns öfter als zu Fernbeziehungszeiten gesehen haben.«
»Wenn ich das richtig verstehe, hat zumindest er nicht nur gearbeitet, oder?«, bemerkt Lynn.
Ihre Direktheit lässt mich zusammenzucken. Das ganze Ausmaß von Phils Lügen macht mich krank, vergiftet meine Erinnerungen an ihn und mich. Wie in Duncan Laurences ›Arcade‹, der derzeitigen Nummer eins auf meiner Playlist, war Phil zu lieben ein verlorenes Spiel.
»Entschuldige, das war unsensibel.« Lynn beugt sich vor und legt auf dem Tisch ihre Hand auf meine. »Ich hatte schon Beziehungen, die nicht exklusiv waren. Aber ich verstehe, dass es etwas anderes ist, weil er es verheimlicht hat.«
»In meinem Kopf kriege ich das einfach nicht zusammen.« Düster starre ich in meinen fast schwarzen Kakao. Phil hat immer alles für mich getan. Manchmal hat er mir einfach so Geschenke mitgebracht – wie meinen Rucksack mit dieser scheußlichen taubenblauen Farbe. Er hat nie verstanden, dass taubenblau nicht himmelblau ist, aber ich fand, die Geste zählte. Ich hielt das für Liebe. Tatsächlich war es wohl nur Ausdruck seines schlechten Gewissens. Denn Phil hat mich betrogen – nicht nur einmal. Das ist die unfassbare Wahrheit. Meistens waren es One-Night-Stands, manchmal kurze Affären. In Oxford fing er irgendwann damit an, aber er hörte nicht damit auf, als er zu mir nach London zog. Wenn er mir sagte, es sei mit den Kumpels spät geworden, er habe für die Arbeit noch etwas fertig bekommen müssen oder er sei beim Sport gewesen, habe ich ihm das geglaubt. Umso naiver und gedemütigter fühle ich mich jetzt. Denn ohne diesen Tag vor ungefähr drei Wochen wäre ich noch immer ahnungslos.
Phil sagte mir, er werde im Homeoffice bleiben. Das tut er manchmal, wenn er nur ein paar Dinge erledigen und dann Überstunden abbummeln will. Zum Abschied fragte er, ob es bei mir wieder spät würde. Seit Beginn des Praktikums wird es jeden Abend spät bei mir. Schließlich muss ich diese Chance unbedingt nutzen und einen guten Eindruck machen. Wenn Mitch mir eine Empfehlung schreibt, könnte die der Schlüssel zu meinem Traum werden, für eins der großen Magazine zu schreiben.
»Wahrscheinlich ja«, antwortete ich ihm.
»Wie immer also.« Er sagte es leise. Ich hörte die Worte nur gedämpft, während sich die Tür bereits hinter mir schloss, aber sie verfolgten mich auf meinem Weg zur Arbeit. Er hatte frustriert geklungen, fast bitter.
»Irgendwie war es der Klassiker.« Seufzend erwidere ich Lynns Blick. »Ich wollte ihn überraschen, habe früher Schluss gemacht und Phils Lieblingssushi geholt.«
»Und das Ganze ist nach hinten losgegangen?«
»Gar nicht.« Mit hochgezogenen Schultern nehme ich noch einen Schluck Kakao. »Phil war superüberrascht. Als ich nach Hause kam, hatte er nämlich gerade Sex mit unserer Nachbarin – in unserem Bett.«
Obwohl Lynn mit etwas Derartigem gerechnet haben muss, verrät mir ihre Reaktion, dass sich einiges hinter ihrer korrekten Fassade verbirgt, was ich nicht erwartet habe. Davon, dass sie so herzhaft fluchen kann wie eine Hafenarbeiterin, hatte ich bis jetzt jedenfalls keine Ahnung. Als sie meinen überraschten Blick bemerkt, hebt sie beide Hände. »Ist doch wahr! Wie lange ist sein Antrag her? Und jetzt betrügt er dich?«
Dieser verdammte Antrag! Phil hat ihn mir an Neujahr gemacht. Weihnachten hatten wir in Weymouth gefeiert, für den Jahreswechsel fuhren wir nach Swindon, wo Phils Eltern mittlerweile leben. Kaum angekommen, bekam Phil einen Anruf von seinem Freund Liam, der es geschafft hatte, die Frau zu vergraulen, in die er sich schwer verliebt hatte. Um sie zurückzugewinnen, wollte er eine Videospielsequenz entwickeln und brauchte Phils Hilfe als Grafikdesigner. Phil fuhr sofort nach Oxford und ließ mich mit seinen eingebildeten Schwestern und deren unerzogenen Kindern bei seinen Eltern zurück. Erst zwei Tage später tauchte er vollkommen übermüdet wieder auf und machte mir eine verworrene Liebeserklärung.
»Mir ist klar geworden, wie schnell man einen dummen Fehler machen und alles vorbei sein kann«, sagte er schließlich. »Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben, Jamie, und ich will, dass du das weißt. Bitte heirate mich.«
Und ich, die zwischendurch schon glaubte, er wolle Schluss machen, sagte in einer wirren Mischung aus Panik, Erleichterung und schierer Überrumpelung Ja.
Erst in den nächsten Tagen, während Phils Eltern mich bestürmten und begannen, Pläne zu machen, wurde mir klar, dass ich mich nicht bereit fühlte. Ich kam mir zu jung vor, mein Leben zu ungewiss, andere Dinge zumindest im Moment wichtiger – zum Beispiel die Tatsache, dass ich kein Geld habe, keine Arbeit und keine Zeit für eine Hochzeit. Ich sagte jedoch nichts. Denn wenn es das war, was Phil wollte, warum sollte ich nicht mitziehen? Joss sah es genauso. Mit ihr habe ich ein paarmal telefoniert. Denn sie ist ungefähr in meinem Alter und auch schon verheiratet.
»Man hat die Party seines Lebens und danach ändert sich eigentlich nichts«, meinte Joss. »Abgesehen davon, dass sich alles etwas verbindlicher anfühlt.« Das – so habe ich mir gedacht – ist ja nichts Schlimmes. Jetzt allerdings bin ich einfach nur froh, dass Phil und ich nicht verheiratet sind.
»Ich glaube …« Wieder blicke ich an die Decke – vor allem, um Lynns forschendem Blick auszuweichen. »Ich glaube, dass Phil mich liebt. Er hat nur ganz andere Interessen als ich – also im Bett.«
»Du meinst, er steht auf eine andere Art von Sex als du?« Lynn gibt sich keine Mühe, ihre Stimme zu senken. Aber was solls? Wir sind in London inmitten von ein paar Millionen Menschen, von denen der Großteil gewohnt ist, alles auszublenden, was sich nicht auf dem Handydisplay oder beim direkten Gegenüber abspielt.
»Er probiert halt gerne Dinge aus. Für mich bringt es die ganze Akrobatik irgendwie nicht. Das ist wie Pizza Hawaii.«
»Pizza Hawaii?«
»Ja, ich meine, man will doch Pizza oder Obstsalat. Gymnastik oder Sex.«
Kichernd hebt Lynn die Schultern. »Du magst es klassisch und ihm hat das nicht gereicht?«
»Irgendwann hat er mich mit seinen Erwartungen in Ruhe gelassen und der Sex wurde viel entspannter und schöner. Ich dachte, für uns beide, aber da habe ich mich wohl geirrt.«
»Denkst du, er hat da angefangen, mit anderen zu schlafen?«
Ich nicke und lasse mich frustriert gegen die Rückenlehne der Bank fallen. »Er meinte, es sei rein körperlich gewesen und überhaupt nicht von Bedeutung.«
Lynn nickt, als wisse sie genau, wovon ich rede. »Wie so eine Art Hobby.«
Ich muss lachen, obwohl mir nicht danach ist. »Ja, genau.«
So verletzt ich auch bin, ich wollte unsere Beziehung genauso dringend retten wie Phil, weil wir uns beide ein Leben ohne einander nicht vorstellen können. Phil war der Meinung, eine offene Beziehung funktioniere am besten, wenn ich auch hin und wieder Affären hätte. Das liegt jedoch außerhalb meiner Vorstellungskraft. Phil sagte, er lerne die Frauen in Bars kennen. Ich habe geglaubt, man gehe in Bars, um sich mit Freunden zu unterhalten und Cocktails zu trinken. Der Gedanke, irgendeinem Typen verschwörerisch zuzunicken und zu wissen, dass ich mich später noch vor ihm ausziehen soll, erscheint mir absurd. Ich brauche Zeit für Intimität. Ich brauche einen Funken, der langsam zu einem Feuer auflodert. Ich gehe nicht in Bars auf die Pirsch oder lasse mich im Club abschleppen. Nein, ich würde zu Hause auf dem Sofa sitzen, alleine Netflix gucken und mit der Zeit ein gefährliches Ungleichgewicht empfinden. Mein Selbstwertgefühl würde die Talfahrt antreten.
»Ich habe etwa eine Woche lang versucht, mir eine offene Beziehung vorzustellen«, erzähle ich Lynn. »Dann stand die Nachbarin mit einem Schwangerschaftstest vor unserer Tür.« Mit ihrem Fluch spricht Lynn mir aus der Seele. Tief atme ich den Kakaoduft aus meiner Tasse ein. »In dem Moment wusste ich, dass es vorbei ist.«
Lynn nickt verständnisvoll. »Ein Baby macht es ungleich schwieriger.«
»Es ist nicht nur das.« Ich trinke einen Schluck. »Als ich Phil gefragt habe, ob er sich wenigstens immer geschützt habe, hat er gesagt: Natürlich, immer.«
»Aber mit Kondom entstehen nun mal in der Regel keine Babys.« Lynn stützt ihren Arm auf dem Tisch ab und ihr Kinn in die Hand. »Was für ein Schwein!«
Ich unterdrücke den Impuls, Phil zu verteidigen. Seinetwegen saß ich heute auf einem gynäkologischen Stuhl, und seinetwegen muss ich Angst haben, mit HIV infiziert zu sein. Das Schlimmste ist, dass er mich in dem Moment, in dem er am ehrlichsten hätte sein müssen, angelogen hat. Und zwar nachdem er geschworen hatte, nie wieder mein Vertrauen zu missbrauchen. Erneut greift Lynn nach meiner Hand.
»Es tut mir so leid, Jamie. Aber du hast Glück, dass ich deine neue Mitbewohnerin bin. Mit Trennungen kenne ich mich gut aus. Wir werden dich schon wieder an den Mann bringen.«
Grinsend schüttele ich den Kopf. »Danke, aber mein Bedarf an Lebensveränderung ist erst mal gedeckt.«
In genau diesem Augenblick sehe ich schräg hinter Lynn Ryan an der Theke stehen. Sofort ist dieses Gefühl wieder da – wie Stromschnellen in meinen Adern.
»Was ist los?« Lynn folgt meinem Blick und dreht sich um.
»Wieso?« Hastig versuche ich, mich wieder auf sie zu konzentrieren.
»Irgendetwas hat dich doch gerade abgelenkt.« Sie hebt fragend die Augenbrauen. Entweder gibt Ryan eine enorme Bestellung auf oder er flirtet mit der Bedienung.
»Ich habe nur jemanden gesehen«, sage ich vage.
Noch einmal dreht Lynn sich um. Ryan wendet sich von der Theke ab, in der Hand einen Teller mit einem Sandwich. Das ist nicht sehr umfangreich. Also hat er geflirtet. Er setzt sich zu einem Typen mit sonnenblonden Haaren, den ich nur von hinten sehe. Auf dem Rücken seines T-Shirts ist das Logo irgendeines Surf-Weltcups zu sehen. Obwohl ich an seinem Ellenbogen vorbei erkenne, dass eine unfassbar große Portion Mac and Cheese vor ihm steht, hat er sich nicht die Mühe gemacht, seine Tasche abzulegen.
»Ryan?« Lynn mustert mich neugierig. »Siehst du seinetwegen so hingerissen aus?«
»Hingerissen? Ich sehe doch nicht hingerissen aus.«
»Vorsicht, Jamie, kann ich da nur sagen.« Lynn hebt einen warnenden Zeigefinger. »Ryan ist was für Fortgeschrittene, für Frauen, die wissen, was sie wollen, und die kein Interesse haben, am Morgen noch zusammen zu frühstücken.«
Ich verdrehe die Augen. »Ryan muss ja einen furchtbaren Ruf haben. Du bist schon die Zweite, die mich darauf hinweist.«
»Im Gegenteil.« Breit grinsend rührt Lynn in ihrem Glas. »Ryan hat einen ganz hervorragenden Ruf. Na gut, wahrscheinlich kommt es darauf an, wen du fragst.«
In einer hoffentlich gleichgültig wirkenden Geste hebe ich die Schultern. »Nur, um das klarzustellen: Ich habe in den letzten Tagen ein paar Recherchen für ihn gemacht und ihm heute die Ergebnisse präsentiert. Darüber hinaus interessiert er mich nicht. Er hat mir nicht mal richtiges Feedback gegeben.«
Lynn verdreht die Augen. »Oh, dann würde ich auch nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen.«
Ich muss lachen, nehme aber gleichzeitig zur Kenntnis, dass Ryan sich für ein Chicken-Katsu-Sandwich entschieden hat. Gute Wahl! Um mich abzulenken, trinke ich den Rest meiner Schokolade und erkundige mich:
»Kennst du ihn näher? Ryan, meine ich.« Das hat ja super geklappt!
»June, eine Kollegin von mir, hat ihn einige Wochen gedatet. Für sie war es die große Liebe. Himmel, hat sie für ihn geschwärmt! Aber als Ryan das bewusst wurde, hat er es beendet.« Lynn stellt ihr Glas auf den Tisch und wirft mir einen bezeichnenden Blick zu. »Und zwar hart beendet. Er hat ihre Nummer blockiert und sich zu keinem Gespräch mehr bereit erklärt. Als sie ihn mitten im Büro abfing, hat er mich angerufen, damit ich mich um sie kümmere.«
Unwillkürlich fliegt mein Blick erneut zu Ryan. Er nickt immer wieder, während er seinem Freund zuhört. Ihm gegenüber wirkt er so zugewandt, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass er so etwas Brutales wirklich getan hat.
Lynn zuckt mit den Schultern. »Ich persönlich hätte gar nichts gegen ein lockeres Arrangement mit Ryan Dexter gehabt – das kannst du mir glauben. Stattdessen hat er es mir überlassen, June aus ihrer Lebenskrise zu evakuieren.«
Ich muss grinsen. »Vielleicht solltest du dich damit selbstständig machen. Jetzt hast du schon wieder jemanden mit Lebenskrise von der Straße geholt.«
»Glaub mir, du kommst deutlich besser zurecht als June.«
Lynns Kommentar macht mich nachdenklich. Klar komme ich zurecht, wenn ich zur Arbeit gehe oder Lynn im Café treffe oder wir zwei abends zusammen auf dem Sofa sitzen und Netflix gucken. Dass Phil – mein Jugendschwarm, mein Freund, meine Go-to-Person in allen Lebenslagen – mein Herz gebrochen hat, sieht man mir ja nicht an wie ein gebrochenes Bein. Wenn ich darüber nachdenke, tut es allerdings so weh, dass ich nicht atmen kann. Dass Phil behauptet, seine Affären aus Liebe verheimlicht zu haben, um mich nicht zu verlieren, macht mich wütend. Und zwar so, dass ich nachts nicht schlafen kann. Doch davon zeugen höchstens meine Augenringe, denen ich morgens mit Foundation den Kampf ansage.
Lynn mustert mich mit schief gelegtem Kopf. »Er gefällt dir.«
»Was?« Aus meinen Gedanken gerissen blicke ich auf.
»Guck nicht so erschrocken. Ryan natürlich.«
An Lynn vorbei sehe ich ihn eine Frau mit schulterlangen haselnussbraunen Haaren begrüßen, die zu ihm an den Tisch tritt. Die beiden umarmen sich kurz und sie streicht sich eine Strähne hinters Ohr. Da sie im nächsten Moment den blonden Mann auf den Mund küsst, nehme ich an, es handelt sich um dessen Freundin.
»Ich kenne ihn ja überhaupt nicht.«
Lynn macht eine wegwerfende Handbewegung. »Bei Ryan reicht ein Optik-Check. Mehr als Sex kriegst du eh nicht von ihm. Seit June schläft er nie öfter als einmal mit einer Frau.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Finley war auch schon so hervorragend über sein Sexleben informiert. Woher weißt du das?«
»Finley.« Lynn lacht wegwerfend. »Finley ist einfach nur eifersüchtig. Ich hingegen habe zu Frauen Kontakt, die mir Informationen aus erster Hand geben konnten.«
»Das Thema scheint dich ja sehr zu interessieren.«
»Durchaus. Ich habe gehört, dass Ryan ausgezeichnete Dinge mit dem Körper einer Frau anzufangen versteht, und ich für meinen Teil wäre nicht abgeneigt, mehr darüber zu erfahren. Aus Rücksicht auf June habe ich darauf verzichtet.«
»Verstehe.« Ich schiebe meine Tasse von mir. Warum hat sich Ryan eigentlich mitten ins Café und damit ins Zentrum meiner Wahrnehmung gesetzt? Ich kann ja gar nicht anders, als zu beobachten, wie er mit Zeige- und Mittelfinger einen komplizierten Rhythmus auf die Tischplatte klopft, während er der Freundin des Surfer-Typen zuhört.
»Jamie, ganz im Ernst.« Lynn beugt sich über den Tisch und fesselt meine Aufmerksamkeit. »Wenn dir schon wieder auffällt, wie attraktiv Ryan ist, dann bist du auch bereit für einen Neuanfang. Lass uns am Wochenende in meine Lieblingsbar gehen und ein bisschen rumgucken.«
Sofort schrillen meine Alarmglocken. »Bar? Wieso Bar?«
»Na, wenn du jemanden kennenlernen willst, ist das der beste Ort. Komm schon. Ich war ewig nicht mehr aus. Ich fühle mich wie eine Nonne.«
Wieder bringt sie mich zum Lachen. Lynn mit ihrem auf den ersten Blick strengen Anzug, der auf den zweiten ihre eleganten Kurven betont und einen ausnehmend gut gefüllten Ausschnitt aufweist, ist das Gegenteil einer Nonne.
»Erst mal gehe ich nach Hause«, beschließe ich. »Ich muss noch ein paar Recherchen für Finley erledigen.«
»Jetzt?« Entsetzt sieht Lynn mich an. »Es ist Feierabend. Du musst dringend an deiner Arbeitsmoral arbeiten, Jamie.«
Ryans Blick fällt in dem Moment auf mich, als wir uns in Richtung Ausgang wenden. Dieses tiefgründig schimmernde Blau seiner Iris kann die Welt ganz schön schwanken lassen. Seine Miene hellt sich auf, dann lächelt er.
»Hallo …« Dass er am Ende des Wortes mit der Stimme oben bleibt, lässt mich vermuten, dass er meinen Namen sagen wollte, ihn aber vergessen hat. Irgendwie verletzt mich das, obwohl es mich nicht wundern sollte. Wahrscheinlich hat Ryan es aufgegeben, sich die Namen von Frauen zu merken.
»Hi, Ryan«, sage ich im Vorbeigehen und nicke sogar seinem Begleiter und dessen Freundin zu.
»Wenn ich es recht bedenke, ist Ryan vielleicht genau der Richtige für dich«, meint Lynn, als wir im nächsten Moment auf die Straße treten.
»Was?«
Sie schiebt sich ihre schwarze Schultertasche über den Arm und macht mit dem Kinn eine Bewegung in Richtung des Treemate. »Du warst fünf Jahre lang mit Phil zusammen. Das ist toll, versteh mich nicht falsch. Aber jetzt hast du endlich die Chance, deinen Horizont zu erweitern und herauszufinden, was dir wirklich gefällt. Jemand wie Ryan, bei dem klar ist, dass es nur ein einziges Mal geben wird, ist dazu perfekt. Keine falschen Erwartungen, kein Stress, einfach nur ein bisschen Spaß.«
Zweifelnd hebe ich die Augenbrauen. »Ist Sex nicht immer mit Erwartungen verbunden?«
»Höchstens mit der Erwartung auf einen guten Orgasmus«, behauptet Lynn. »Männer haben den automatisch und du kannst ihn notfalls leicht vortäuschen.«
Aber so einfach funktioniert meine Welt nicht. Lachend schüttele ich den Kopf. »Du sagtest, er sei was für Fortgeschrittene, oder? Dann mache ich um Ryan lieber einen besonders großen Bogen.«
Mein neues Zimmer ist winzig. Der Fußboden besteht aus hellem Holz, ein Futonbett aus schweren Balken stand bereits im Raum. Lynn hat mir geholfen, meinen Schiebetürenschrank am Ende des Bettes direkt neben der Tür aufzubauen. Schiebetürenschränke sind in den engen Londoner Wohnungen unerlässlich, finde ich. Meine neue Bleibe hat ein bodentiefes Fenster und Platz für zwei Bücherregale an der Wand. Ich habe schon ein Highboard über dem Bett angebracht und mir auf einem Flohmarkt einen kleinen Schreibtisch besorgt. Dadurch ist das Zimmer voll, aber wenigstens bietet es Stauraum für mein Zeug, das sich teilweise noch bei Phil befindet. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, mich hier ohne ihn einzurichten. Ich erinnere mich, wie ich ihn per Videocall durch mein erstes eigenes Zimmer führte, an die Euphorie vor den gegenseitigen Besuchen und die sich langsam einschleichende Traurigkeit am Abend vor der nächsten Trennung.
Gestern ist es spät geworden und ich habe mich trotzdem lange schlaflos im Bett gewälzt. Es ist so unbegreiflich, dass der Junge an meiner Seite plötzlich ein Mann ist, der eine offene Beziehung will und aus Versehen Vater wird. Ich bin so verletzt und enttäuscht von seinen Lügen, dass ich mich fühle, als müsse ich mich von einer Amputation erholen. Das Körperteil war nicht zu retten, aber die Phantomschmerzen bleiben. Der Morgen taucht mein Zimmer in helles Licht und hat mich vor dem Weckerklingeln aus dem Schlaf gerissen. Ich drehe mich auf den Bauch und schiebe die blauen Vorhänge zur Seite. Durchs Fenster blinzle ich auf die Bethnal Green Roadhinab. Der knatternde Lärm eines bestimmt getunten Kleinmotorrads dringt durch die dreifach verglasten Scheiben. Mehrere Lieferwagen brausen in beide Richtungen haarscharf auf der schmalen Straße aneinander vorbei. Obwohl es noch so früh ist, sind viele der Santander Bikes aus der Station gegenüber vom Haus verschwunden. Ich liebe das junge Grün, das sich überall aus den Knospen der Bäumchen am Straßenrand schiebt. Und mir fällt auf, dass die Vorhänge fast die gleiche Farbe wie der Himmel haben. Himmelblau, das ist meine Lieblingsfarbe, nicht Taubenblau.
Vielleicht bin ich einfach zu unkreativ, um mir dieses neue Leben mit Phil vorzustellen. In der Nacht hat er mir wieder etliche Nachrichten geschickt. Er beteuert, dass wir trotz allem einen Weg finden können, dass er sich in Zukunft besser im Griff haben wird. Ich wünschte, das würde etwas ändern, aber das tut es nicht. Die Fakten sitzen wie unbewegliche Findlinge auf jedem Weg, der von uns aus in die Zukunft führt.
Mit einem Stöhnen rolle ich mich aus dem Bett. Ich darf nicht zu spät zur Arbeit kommen. Heute ist die große Redaktionssitzung bezüglich der jährlich erscheinenden Special Edition von ›Past & Present‹. Dafür wird ein zentrales gesellschaftliches Thema ausgewählt, mit dem sich sämtliche Rubriken des Magazins befassen. Bisher haben es drei Vorschläge in die engere Auswahl geschafft und Mitch hat mich Skizzen für verschiedene Segmente entwerfen lassen. Ich habe unfassbar viel Arbeit in die Aufgabe gesteckt und bin jetzt trotz allem gespannt, welches Thema das Rennen macht.
Auf dem Weg ins Bad verlasse ich das Zimmer und will mir gerade meinen Lieblingspodcast auf die Bluetooth-Kopfhörer schalten, als ich abrupt stehen bleibe.
Da ist ein Typ in unserer Küche.
Ich sehe nur einen Teil von ihm, weil sein Kopf tief im Kühlschrank steckt. Die Kaffeemaschine läuft und verbreitet zischend und gluckernd den Duft von Zu-Hause-Sein. Soweit ich weiß, war aber nie von einem Typen in meinem neuen Zuhause die Rede. Ich will bereits in meinen Türsteherinnen-Rausschmeiß-Modus schalten, überbrücke aber den Impuls. Erst mal sollte ich die möglichen Erklärungen durchgehen. Vielleicht hat Lynn einen Freund, von dem sie mir nichts erzählt hat? Einen mit Faible für geschmacklose Boxershorts und zerrissene T-Shirts. Sind das lauter winzige SpongeBobs auf seiner Unterhose? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lynn einem Mann so was durchgehen lassen würde – die löchrigen T-Shirt-Säume wahrscheinlich noch weniger. Ich beschließe, auf mich aufmerksam zu machen und die Sache zu klären.
»Hallo?«
»Hi.« Er dreht sich um. »Oh, wer bist du denn?«
»Das Gleiche wollte ich dich fragen.«
Er hat dunkelblonde Locken, die an einer Seite seines Kopfes so platt gedrückt sind, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Er schiebt sich eine dunkel gerahmte Brille auf der Nase nach oben. Irgendwie wirkt sie riesig in seinem schmalen Gesicht. Er ist größer als ich und ziemlich dünn.
»Bist du Lynns Neue?«, will er wissen. »Also, ich meine, ihre neue Mitbewohnerin?«
»Ja, ich bin Jamie. Und du?«
»Entschuldige.« Hastig schließt er die Kühlschranktür, klemmt sich meine Packung Bio-Scheibenkäse unter den Arm und reicht mir die Hand. »Ich bin Kyle.«
»Freut mich, Kyle.« Kurz drücke ich seine kühlschrankkalte Hand. »Was machst du hier?«
»Ähm …« Nervös krümmt er die Zehen seiner nackten Füße. »Ich hatte nichts mehr zu essen.«
»Und deshalb klaust du meinen Käse?« Wer immer dieser Typ ist, gefährlich wirkt er nicht.
»Oh!« Erschrocken zieht er die Packung unter seinem Arm hervor. »Oh, Entschuldigung!« Er will mir den Käse in die Hand drücken. »Lynn findet es in Ordnung, wenn ich mir ihr Essen borge. Tut mir leid.«
»Macht nichts.« Ich winke ab. »Nimm ihn ruhig.«
»Was? Ich hätte gefragt, wenn ich das gewusst hätte.«
»Schon gut. Ich habe zwar immer noch keine Ahnung, wer du bist, aber ich will nicht, dass du verhungerst.«
»Echt? Danke!« Er strahlt mich an, als hätte ich ihm mit dem Käse das Leben gerettet. »Willst du Kaffee? Ich habe welchen gekocht.«
Dankend lehne ich ab. »Ich finde, Kaffee riecht besser, als er schmeckt. Für den Moment beschränke ich mich also lieber aufs Atmen.«
Kyle nickt mit verständnisvoller Miene. »Der Speichel zerstört fast die Hälfte der fürs Aroma verantwortlichen Moleküle im Kaffee. Das liegt an der Amylase – einem Enzym.«
Ich hebe die Augenbrauen. »Warum hat noch niemand einen Amylasehemmer für Kaffee erfunden?«
Er runzelt die Stirn. »Keine Ahnung. Das muss ich mal recherchieren.«
Sofort wird mir der schräge Typ sympathisch.
»Warum weißt du so was überhaupt?«, will ich wissen. »Gehst du jeden Freitag zum Pub-Quiz und gewinnst nie, weil dein Erzrivale jedes Mal ein bisschen besser ist?«
Seine Augen leuchten auf. »So ungefähr. Willst du mal mitkommen?«
Ich muss lachen. »Bisher weiß ich nicht mal, warum wir beide verpennt und halb nackt in derselben Küche stehen. Ich meine, ich weiß, dass du hier bist, um Käse zu klauen. Aber ansonsten weiß ich nichts über dich. Ich würde sagen, es ist zu früh für ein Pub-Quiz-Date.«
»Entschuldige, ich bin Kyle. Das sagte ich schon. Ich bin der Nachbar.« Er redet zu schnell und schiebt sich verlegen die Brille hoch. Allerdings scheine ich gleichzeitig aus dem Zentrum seiner Aufmerksamkeit zu verschwinden. Sein Blick richtet sich wieder auf die Kaffeemaschine. »Es hilft übrigens, Kaffee mit einer Prise Salz zu trinken. Das Na+-Ion reduziert die Bitterkeit des Kaffees, indem es die Signaltransduktion des Geschmacks hemmt.« Er wirft mir einen Blick zu. »Der Effekt tritt unterhalb des Niveaus ein, bei dem du einen salzigen Geschmack registrierst. Vielleicht magst du den Kaffee damit ja lieber.«
Ehe ich etwas erwidern kann, öffnet sich die Tür zu Lynns Zimmer. Statt Lynn kommt eine weitere mir unbekannte Person heraus. Sie ist etwas kleiner als ich, hat eine schlanke Figur, ist aber an den richtigen Stellen fast schon üppig ausgestattet. Ich kann das so gut beurteilen, weil sie quasi nackt ist. Ein dunkelroter Slip und ein enges Spitzenoberteil, aus dem ihre Brüste quellen, stellen ihr komplettes Outfit dar. Als sie mich sieht, bleibt sie erstarrt im Türrahmen stehen.
»Hallo.« Ich frage mich, wie oft ich das noch zu mir vollkommen fremden Menschen in meiner neuen Wohnung sagen werde. Und das um kurz nach sechs Uhr morgens!
Ihr Blick fliegt zu Kyle. »Gehört sie zu dir?«
»Was?« Wieder schiebt er die Brille hoch und schüttelt hastig den Kopf. »Nein, sie wohnt hier.«
»Ich bin Jamie«, verkünde ich in der Hoffnung zu erfahren, wen ich diesmal vor mir habe. Die Frau macht jedoch auf den Fersen kehrt und knallt Lynns Schlafzimmertür hinter sich zu. Fragend sehe ich Kyle an.
»Das ist Mae, meine Mitbewohnerin«, erklärt er mir hilfsbereit.
Warum ist Mae so unhöflich? Warum hat sie offenbar in Lynns Zimmer geschlafen, wenn sie Kyles Mitbewohnerin ist? Läuft sie öfter in Unterwäsche herum? Und was macht ihr alle in meiner Wohnung? Das sind nur ein paar der Fragen, die mir durch den Kopf gehen. Am Ende sage ich nur: »Aha.«
Es wird spät. Ich muss mich dringend in einen ansehnlichen Zustand bringen und auf den Weg in die Redaktion machen. Für den Abend nehme ich mir vor, Lynn zu fragen, wem ich noch alles unvorhergesehen in unserer Küche begegnen könnte.
»Dann hab einen schönen Tag, Kyle. Ich muss mich beeilen.« Ich gehe lieber Zähneputzen, bevor jemand reingestürmt kommt und mir die Tür zum Badezimmer vor der Nase zuschlägt. Anscheinend kann man das hier nie wissen.
Wenig später sitze ich neben Finley im größten Konferenzraum der Redaktion und tippe mit fliegenden Fingern das Protokoll. Die Überschrift des Themen-Special steht fest: Liebe und Hass im Netz. Das Netz soll im weiteren Sinn als Öffentlichkeit verstanden werden und bietet auf diese Weise Anknüpfungspunkte für die historische Perspektive aufs Thema. Das hat Mitch mir erklärt, bevor ich meine Entwürfe dazu ausgearbeitet habe. Er ist Chefredakteur des Geschichtsteils von ›Past & Present‹, und dass Lynn ihn als Dinosaurier bezeichnet hat, passt. Er ist groß, ein bisschen schrumpelig, weitestgehend haarlos und hat stechende eisblaue Augen. Als ich ihn zum ersten Mal sah, riet mir mein Urinstinkt zur sofortigen Flucht.
»Jamie«, dröhnt Mitchs Stimme durch den Raum und lässt mich mitten im Tippen erstarren. Gerade ist er zur Rubrik London HiStories gekommen, und ich habe erwartet, dass er sich an Finley wendet. Stattdessen hat er seinen Blick auf mich geheftet. Ich halte die Luft an. Vor anderen Leuten hat er noch nie mit mir gesprochen. »Du hast mir einen Vorschlag gemacht.« Er kramt in seiner zerfledderten Mappe. »Hier! London’s Greatest Love Stories und was die Welt darüber dachte. Als ich das las, habe ich befürchtet, dir hätte jemand ein rosarotes Wolkenschloss gebaut und du findest den Ausgang nicht mehr. Aber wenn ich es recht bedenke, passt die Idee für die London HiStories ins Special.« Er wirft einen Blick in die Runde. »Am Beispiel ausgewählter Liebespaare wird für verschiedene Epochen skizziert, wie die Menschen Liebe erlebten und wie sie darüber dachten. Das machen wir!«
Ich fange fast an zu hyperventilieren. Gestern lag ich halb nackt auf einem verdammten gynäkologischen Stuhl, weil mich der Mann, der mich liebt, womöglich mit einer tödlichen Krankheit angesteckt hat. Und jetzt soll ich fremder Leute Liebesgeschichten recherchieren? Wohl kaum!
»Ich glaube, den Vorschlag hatte ich noch nicht so gut durchdacht«, werfe ich ein. Dabei habe ich das Gefühl, die Luft im Raum sei dünner geworden. Hört man mich überhaupt?
»Zum Durchdenken wirst du viel Zeit haben.« Mitch grinst mich an. »Du machst die Love Stories für London HiStories.«
Ich höre auf zu hyperventilieren. Genauer gesagt, höre ich auf zu atmen.
»Was …?« Ich muss mich räuspern. Mitch starrt mich an – lauernd wie ein Raptor.
»Gibt es ein Problem?«
Hastig schüttele ich den Kopf. »Ich wollte nur wissen, für wen ich die Recherchen machen soll – für Finley?«
»Für dich selber. Du schreibst die Love Stories. Das sagte ich doch gerade.« Mitch durchbohrt mich fast mit seinem Blick. Auch wenn er es nicht ausspricht, höre ich es ganz deutlich: Wenn du mich enttäuschst, durchstoße ich dein Herz mit einem Laserstrahl aus meinem Auge.
Ich klammere mich an die Tischplatte. Mein Herz hämmert gegen meine Rippen. Was genau verstehe ich hier falsch? Es klingt, als wolle Mitch, dass ich einen Artikel schreibe. Und dass er veröffentlicht wird. Das ist der Wahnsinn! Und das ist so was von nicht der richtige Zeitpunkt! Wie soll ich bitte über die große Liebe schreiben, nachdem mich der Mann, den ich heiraten wollte, mit HIV angesteckt haben könnte? Und wie soll ich das jemandem wie Mitch erklären? Das übliche Rascheln von Papier, Kratzen von Stiften und Tippen auf Tastaturen höre ich nicht mehr, während Mitch den nächsten Kollegen in den Blick nimmt.
Ich würde gerne meinen Kopf auf den Tisch schlagen – einmal schön kräftig, um meiner aus den Fugen geratenen Welt neue Perspektive zu verleihen. Vor ein paar Wochen wäre das hier mein Traum gewesen. Aber jetzt … Mühsam bringe ich ein Lächeln in Finleys Richtung zustande, als er mir auf die Schulter klopft und leise gratuliert.
Meine Finger fühlen sich wie gelähmt an, während ich tippe: London HiStories – Arbeitstitel: London’s Greatest Love Stories und was die Welt darüber dachte. Autorin: Jamie Sullivan. Finley muss mich während dem weiteren Verlauf der Konferenz zweimal retten, weil ich nicht mitbekommen habe, was gesprochen wurde.
Nach Ende der Sitzung folge ich ihm noch immer benommen zu seinem Schreibtisch im Großraumbüro. Er lässt sich auf seinem Stuhl nieder und zieht mir den unbequemen Hocker heran, auf dem ich schon einige Male gesessen habe, um ihm meine Ergebnisse zu präsentieren. Mit der ihm eigenen Geste wuschelt er sich durch die ohnehin wild abstehenden Haare.
»Na gut, Dr. Love«, zieht er mich auf. »Was ist dein Plan?«
»Ähm …« Ich setze mich und klammere mich an den Rucksack, den Phil mir geschenkt hat. Himmel! Ich glaube, ich muss das Ding loswerden. Ich lasse ihn zu Boden fallen und seufze. »Ich habe so was von keinen Plan.«
Finley lächelt mich an. »Ich bin mir sicher, du wirst das großartig machen. Mitch hätte dir den Job sonst nicht gegeben.« Natürlich meint Finley es gut, aber auf mich erhöhen seine Worte nur den Druck.
»Jamie!« Ich und mit mir mindestens die Hälfte des Kollegiums zucken zusammen, als Mitchs Stimme durchs Büro donnert. Sein lautes Organ katapultiert mich direkt wieder auf die Füße. Er steht in der offenen Glastür seines Büros und winkt mich zu sich.
Finleys Augenbrauen heben sich. »Das hört sich dringend an. Sag einfach Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.«
»Danke.« Ich klinge atemlos und ärgere mich darüber. Klar, es gibt Menschen wie Mitch, die einfach alle einschüchtern, aber das ist kein Grund, sofort in den Überlebensmodus zu schalten. Trotzdem besteht jedes Gespräch mit ihm vor allem aus der Überwindung meines Fluchtinstinkts.
Eilig setze ich mich in Bewegung und versuche, das Gedankenkarussell in meinem Kopf zu stoppen: Ist Mitch zur Besinnung gekommen? Will er, dass ich doch nur die Recherche erledige und Finley das Schreiben überlasse? Oder hat er ganz und gar entschieden, dass die Love Stories zu kitschig sind? Wäre das nicht – zumindest in meiner aktuellen Lage – gut?
Zu meiner Überraschung sehe ich durch die Glasscheiben zu Mitchs Büro noch jemanden sitzen: Ryan! Mit düsterer Miene und vor der Brust verschränkten Armen starrt er vor sich hin. Die Beine hat er lang von sich gestreckt. Alles an seiner Körperhaltung verrät, dass er nicht hier sein will. Er sieht nur kurz auf, als Mitch mich in sein Büro schiebt, und murmelt einen undeutlichen Gruß. Mitch deutet auf den zweiten Stuhl vor seinem Schreibtisch. Auf der äußersten Kante nehme ich Platz und richte meinen Blick auf das Chaos. Mitchs Regale sind vollgestopft mit einer wirren Mischung aus Büchern, Magazinausgaben, Heften anderer Herausgeber, Mappen und zum Teil losen Blättern. Sein Arbeitsplatz macht einen ähnlich unaufgeräumten Eindruck. Nur die Computertastatur direkt vor ihm befindet sich in makellosem Zustand. Mit einem Ächzen lässt er sich in seinen Chefsessel fallen. »So, Jamie. Wir müssen über die Love Stories sprechen.«
»Machen wir sie doch nicht?«
Mitch hebt beide Hände. Sie sind riesig und schwielig, als hätte er sein Leben lang schwer auf dem Bau geschuftet. »Warum habe ich den Eindruck, dass du nicht so begeistert bist, wie du sein solltest?«
Unwillkürlich werfe ich einen Blick zu Ryan, der mich ebenfalls mit zusammengezogenen Brauen mustert. Vor ihm werde ich bestimmt nicht erklären, dass ich mit Liebesgeschichten gerade nichts zu tun haben möchte.
»Doch, ich bin begeistert. Und ich bin dir dankbar für die Chance.«
»Aber?« Mitch sieht mich an, als habe er etwas auf seinem Teller entdeckt, das er auf keinen Fall in den Mund stecken wird.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das Thema so viel hergibt, wie ich ursprünglich dachte.«
»Das wirst du herausfinden.«
»Vielleicht war ich etwas voreilig und zu ungenau bei der Skizze.«
»Was betreibst du da? Dich und deine Arbeit schlechtzureden, ist mein Job. Du hast nur die Aufgabe, dich hinterher aus dem Staub aufzurappeln.« Mitch grinst mich an, als sei seine Bemerkung witzig. »Nein, nein, die Love Stories kommen ins Special.« Kurz deutet er auf Ryan. »Und Ryan soll uns beweisen, dass seine spitze Feder auch im feinfühligen Segment zu gebrauchen ist.«
»Ryan soll die Love Stories machen?« Ich habe das Gefühl, ins Trudeln zu geraten, weil ich mich nicht entscheiden kann, ob ich Erleichterung oder grenzenlose Enttäuschung empfinden soll. Ich sehe Ryan an, aber er starrt geradeaus.
»Falsch.« Mitch schüttelt den Kopf. »Ryan und du …« Sein Zeigefinger fliegt mehrfach zwischen uns hin und her. »… ihr schreibt die Love Stories gemeinsam. Und ihr bekommt zusätzlichen Platz dafür.«
Ich reiße die Augen auf. Ich soll mit Ryan Dexter zusammenarbeiten? Wie soll das gehen, wenn mich sein spöttisches Lächeln aus der Fassung bringt und mir seine Blicke so tief unter die Haut gehen, dass er sicher nicht lange brauchen wird, um es zu bemerken? Mit seiner Historie hat er mich doch längst auf One-Night-Stand-Tauglichkeit abgecheckt und … Hilfe! Ich sollte mir keine derartigen Gedanken machen. Ryan ist schon eine Überdosis für mein Nervensystem, ohne dass wir nackt sind. Noch mal Hilfe! Fakt ist, dass Ryan ja wohl noch ahnungsloser ist als ich, wenn es um die Liebe geht.
Sein erster Satz, seit ich das Büro betreten habe, bestätigt diese Annahme: »Ich kann mit dem ganzen Kram nichts anfangen, Mitch. Es hat einen Grund, warum ich hier arbeite und nicht für einen Beziehungsratgeber. Wer an die große Liebe glauben will … Von mir aus! Aber ich halte dieses Märchen für den größten Unfug, den die Popkultur je hervorgebracht hat.«
»Märchen?«, entfährt es mir unwillkürlich. »Inwiefern?«
Ryan wirft mir einen irritierten Seitenblick zu. »Inwiefern nicht? Beides ist völlig frei erfunden.«
»Ein Märchen muss aber ein paar mehr Kriterien erfüllen, um ein Märchen zu sein – zum Beispiel feste sprachliche Formeln.«
»Du meinst so was wie Ich liebe dich? Check, würde ich sagen.« Sein selbstzufriedenes Grinsen lässt mich kurzzeitig vergessen, dass Mitch mit seiner eigenen Agenda vor uns sitzt und eigentlich auf etwas anderes hinauswollte. Auch Ryan achtet nicht auf Mitch, sondern redet einfach weiter: »Es läuft doch immer gleich ab: Auf dem Weg zum vorbestimmten Happy End müssen Held und Heldin Prüfungen bestehen. Es geht darum, ein Herz zu erobern, die böse Schwiegerfamilie zu überzeugen, die eigenen Gelüste zu kontrollieren oder was auch immer, aber am Ende geht alles gut aus. Genau das wünschen sich die Leute für ihre Liebesgeschichten.«