Lovecrafts Schriften des Grauens 07: Gotheim an der Ur - Tobias Reckermann - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 07: Gotheim an der Ur E-Book

Tobias Reckermann

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Beschreibung

Seit Jahrhunderten durchlebt Gotheim eine wechselhafte Geschichte, geprägt von Kriegen, in die die Stadt mittelbar oder unmittelbar verwickelt wird. Ihr Reichtum beruht auf dem Export von Waffen, und immer, wenn sich neues Unheil ankündigt, erwachen die Todesfabriken der schwarzen Zitadelle, gebaut auf Moorland, zu neuem Leben und speien Feuer, Eisenstaub und Ruß.In fünf Erzählungen zeichnet Tobias Reckermann den Abstieg Gotheims in die Finsternis nach.Covervorlage und Innenillustrationen: Jörg KleudgenDie Printausgabe umfasst 224 Buchseiten.

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Seitenzahl: 226

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Tobias ReckermannGotheim an der Ur

In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett

2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens

2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume

2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein

2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig

2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde

2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur

2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu

Tobias Reckermann

Gotheim an der Ur

Tobias Reckermann, Jahrgang 1979, lebt und schreibt in Darmstadt und arbeitet als Maschinist bei Whitetrain (www.whitetrain.de). Er ist Redakteur und Herausgeber des IF Magazin für angewandte ­Fantastik. Als Schriftsteller widmet er sich neben anderen Zweigen der Fantastik im Besonderen der Weird Fiction. Seit 2014 ­erschienen seine RomaneDas Schlafende Gleis, Langfaust und Die zwei ­Schneiden des Glücks, außerdem die Erzählbände Venom & Claw, Graund und Rumors Fährte, sowie mehrere Beiträge in Magazinen und Anthologien.

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2019 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KleudgenTitelbild: Mario HeyerUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierInnenillustrationen: Jörg KleudgenSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-427-5Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Inhaltsverzeichnis
Gotheim - Ich war dort!
Die innere Finsternis
Vorsicht auf der letzten Stufe!
Die schwarze Zitadelle
Inceptum
Secundum
Der schwarze Korridor
Interitus
Die Tiefe in ihnen
Crepitus
Arx atra
Ur
Tartaros

Gotheim - Ich war dort! 

Ein Vorwort von Jörg Kleudgen

1999 veröffentlichte ich meinen Band ­Cosmogenesis im eigenen Kleinverlag (wiederveröffentlicht im BLITZ-­Verlag/2005). Bei den darin zusammengefassten Texten handelte es sich um zum Teil kurze poeske Erzählungen, die ich in einer fiktiven, auf dem indischen Subkontinent gelegenen Stadt angesiedelt hatte. Dieser Cathay genannte Ort war als deutsche Kolonie einfach irgendwann in Vergessenheit geraten. Verfall und Degeneration preisgegeben, bildete er einen wunderbaren Schauplatz für düstere Geschichten um Schrecken von kosmischen Dimensionen.

Als mir etwa zwanzig Jahre später Tobias Reckermann seine Erzählung Eine innere Finsternis als Teil eines Geschichtenzyklus rund um das finstere Gotheim zu lesen gab, fühlte ich mich sofort an Cathay erinnert. Der augenscheinlichste Unterschied war, dass er diese Stadt mitten in Deutschland angesiedelt hatte.

Gotheim war mir auf Anhieb vertraut. Unwillkürlich drängten sich mir Bilder auf: verrußte Ruhrgebietsstädte mit riesigen Fabrikruinen, die Vorkriegsfassaden Berlins, Prags und Dresdens. Reckermanns Ausführungen zu Geografie und Historie der im Verfall begriffenen Stadt, die beklemmende, anachronistische Atmosphäre, das ungreifbare Grauen ... All das erinnerte mich an Cathay. Und dann fiel mir auf: Wie einst in meinem Band ­Cosmogenesis, so treten auch hier Protagonisten und Handlung hinter den Schauplatz zurück. Alles, was dort geschieht, und sei es auch noch so profan, erlangt in Gotheim (die Parallele zu Gotham scheint offensichtlich und wird vom Autor auch nicht geleugnet), eine tiefere Bedeutung. Es wird unweigerlich Bestandteil des Mysteriums, das die Stadt umgibt.

In den 1990er Jahren war es noch relativ unüblich gewesen, lovecraftschen Horror nach Deutschland zu verlegen. Michael Siefener war damals einer der Ersten, der kosmisches Grauen glaubwürdig an realen Schauplätzen zum Beispiel in der Eifel ansiedelte.

Uwe Voehls Arkheim war eine recht offensichtliche Projektion Arkhams in heimische Gefilde, während Tobias Bachmann mit der Stadt Sagunth einen eigenen Ort schuf, an dem sich Elemente der von Lovecraft erdachten Mythen wiederfinden.

In dieser Tradition kann auch Gotheim an der Ur gesehen werden, aber Tobias Reckermann hat erkannt, dass die Entwicklung der Horror-Literatur mit Lovecrafts Tod nicht stehen geblieben ist. Müsste man für seine Geschichten rund um Gotheim ein Genre erfinden, hieße es vermutlich gothic industrial horror. Und wenn Gotheim eines Tages vollkommen hinter dem Schleier des Vergessens verschwunden ist, werde ich stolz sagen können: „Ich war dort!“

„Some day the piecing together of dissociated ­knowledge will open up such terrifying vistas of reality. and of our frightful position therein, that we shall either go mad from the revelation or flee from the deadly light into the peace and safety of a new dark age.“

H. P. Lovecraft, The Call of Cthulhu

Die innere Finsternis

Für den Anfang können wir gerne so tun, als ob dies nur eine Geschichte sei. Nennen wir es ruhig einen Mythos ohne Bezug zur Wirklichkeit. Das ist es nicht, wie ich versichern kann, aber im Interesse deiner geistigen Gesundheit will ich vorerst nicht darauf bestehen.

Wenn du den Schatten noch nicht bemerkt hast, dann wohl, weil du mit seiner Gegenwart aufgewachsen bist.

Viele unserer Städte sind darin versunken. Gotheim etwa, nur ein Beispiel unter vielen, das du immer noch finden kannst, aber nie mehr verlassen wirst, wenn du es einmal betreten hast.

Ich und andere meiner angestaubten Generation erinnern uns an das alte Gotheim. Das von allen Landkarten verschwundene, im Vergessen versunkene Gotheim an der Ur, das in unserer Jugend stolz zum Himmel aufstrebte. Wie soll ich es dir beschreiben? Eine Stadt aus Stahl war es und eine Stadt aus Glas, die im Sonnenlicht wie Millionen Facetten im Auge Gottes glitzerte.

Geld und Macht in Politik und Wirtschaft saßen wie Könige auf den Thronen, den an den Wolken kratzenden Türmen, die unsere Väter hier erbaut hatten.

Ist dir der Fluss ein Begriff? Die Ur, nein? Dann, weil auch sie in den Schatten hineinfließt, bevor er sich seinen Namen verdient. Weiter flussaufwärts, südlich der Stadt, besteht er aus einer Anzahl geringerer Flüsse, die erst dort, wo das noch viel ältere Gotheim, oder Sieben Furten, wie es die Stadtgründer selbst genannt hatten, entstanden war. Noch im vorletzten Jahrhundert breitete sich die Stadt nicht weiter aus als bis zu den mittelalterlichen Stadtmauern. Dann setzte ein Aufschwung des Handels ein, und Industrie siedelte sich um die Mauern an. Binnen weniger Jahrzehnte wuchs Gotheim zu einem Moloch heran, den man finster nannte, wegen der dichten Wolken von Ruß an seinem Himmel und wegen des unaufhaltsamen Zustroms von Arbeitern – aus dem Gebirge zuerst, später aus Ungarn und Polen und der Tschechei –, der es für die Augen des Kaiserreichs zu einem schier nicht regierbaren Unhold von einer Stadt werden ließ.

Mein Vater war aus den Ebenen Ost-Ungarns bei ­Oradea dorthin gekommen und arbeitete für eine Stahl­fabrik, die die halbe Welt mit ihren Erzeugnissen belieferte. Mir sagte er einmal, dass Dinge, die er geschaffen habe, in vielerlei Gestalt in allerlei Kriegen Siege errungen hatten.

Ich war damals so jung und sah die Dinge, von denen er sprach, mit Augen, die noch an Zauberei glaubten, als ein Sammelsurium von Ritterrüstungen, von Schwertern und Spießen aus dem Kopf strömten. Natürlich sprach er in Wirklichkeit von Kanonen und Panzern und ­Kriegsschiffen, die bald nach der Jahrhundertwende in die Schlachtfelder in Flandern und Russland sowie in das Blutbecken des Atlantiks geworfen worden waren.

Erst in dem darauffolgenden, noch größeren Krieg kamen all diese Dinge in veränderter Gestalt zu uns zurück, flogen jetzt und fielen herab. In zwei aufeinander folgenden Feuerstürmen wurde die Altstadt zerstört. Der zweite tötete auch meinen Vater.

Nach dem Krieg erbaute man alles neu in vollendeter Form, in einer Ordnung, die den alten Moloch der Geschichte anheim schrieb. Da war ich alt genug, um selbst mit Hand anzulegen. Der Schatten des großen Krieges war verflogen. Die neue Zeit und das neue ­Gotheim stiegen wie Phönix aus der Asche des Alten.

Unsere Stadt hatte ihre Vernichtung überlebt. Ich will damit sagen, dass niemand hatte ahnen können, was der Kosmos noch gegen sie aufbieten würde.

Du verstehst nichts von dem, was ich sage, richtig? Ich sehe es an deinem Blick und doch sollst du wissen, dass wir das Blut unserer Stadt waren und sie unser Herz. Wir strömten darin zu hunderttausenden, bald zu einer Million und noch mehr.

Ich wuchs über die Stellung meines Vaters hinaus. Wo er im Stahlwerk an den Hochöfen gearbeitet hatte, trat ich in die Verwaltung ein und stieg in den mehr als vierzig Jahren meiner Laufbahn viele Stufen der Hierarchie hinauf, bis ich auf tausende Arbeiter wie ihn herabschaute. Aus dieser Höhe sah ich mit an, wie sich eine langsame Veränderung nach Europa einschlich.

Der Aufschwung der Nachkriegszeit und das daraus resultierende Wirtschaftswunder gingen bald zu Ende. Die Industriekapitäne Gotheims versenkten ihre Schiffe oder legten in fremden Häfen an. Das Ende des Jahrhunderts sah die Stadt, wie viele andere der großen des Kontinents, im Niedergang und ich feierte mein letztes Dienstjahr gleichzeitig mit der Entlassung von dreitausend Arbeitern und der Stilllegung des Stahlwerks, in dem mein Vater gearbeitet hatte. Eine neue Düsternis zog herauf und verschlang die Glas- und Stahlbetontürme. Sie belegte sie mit einer Patina, die mein Leben wie das eines Fossils in einem Museum aussehen ließ. Ich kann es mir wohl nur als großes Glück zuschreiben, rechtzeitig in Rente gegangen zu sein, bevor diese Entwicklung ihren Höhepunkt erreichte.

Aus der Stille meines Ruhestands sah ich mit an, wie die Pest des Verfalls unser Lebenswerk zerfraß, wie sie die Fugen des sozialen Zusammenhalts aufzulösen begann und die bis dahin fest in Form gehaltenen Facetten der Gesellschaft in urtümliches Chaos zurückfielen.

Lohn und Arbeit, Gesetz und Bestrafung, Taten und Worte traten aus dem Bündnis der Verhältnismäßigkeit aus und ich wurde Zeuge davon, wie schon die ersten Verwerfungen Gräben aufrissen, die wohl nie wieder zu schließen oder zu überbrücken waren.

Das alte Rad aus Unterdrückung, Aufstand und Niederwerfung drehte sich schneller als jemals zuvor.

Das betraf natürlich nicht allein unsere Stadt. Andere Metropolen, in Frankreich und England, gingen auf diesem Pfad noch voran, der wie eine steile Rampe abwärts ins Dunkel führte. So drifteten die Milieus auseinander, wurden zu Inseln in einem Meer aus Unverständnis. Sollte ich dem Phänomen einen Namen geben, so wäre es wohl Gleichgültigkeit.

Wäre die Stadt aus Silber erbaut worden, hätte ihre schwärzliche Patina ob der seit ihrem Wiederaufbau vergangenen Jahre nicht erstaunt. Sie erinnerte mehr und mehr an die alte Zeit und den Ruß der Stahlindustrie – einen Smog, der sich als dunkler Schmierfilm auf alle Oberflächen legte und unter dem die Pracht die Natur von Rauch geschwärzter Spiegel annahm. Sie zeigten ein anderes Gesicht, als das vertraute: ein Mördergesicht zwischen Messerkanten vor undurchdringbarer Düsternis.

Ich will nicht sagen, ich sei sehenden Auges gewesen. Ich war beinahe so blind wie jedermann, was diese Veränderung betraf. Mich selbst hüllte derselbe Atem der Alterung ein, dieselbe gleichgültige Unwissenheit, doch wurde ich früher als die anderen aus meinem Dämmerschlaf aufgeweckt.

Bedenke bitte, ich war bereits ein alter Mann und der Eindruck, die Welt wandele sich zwangsläufig zum Schlechteren, ist dem Alter angeboren. Die besondere Schwere der Veränderung mag deshalb zuerst nicht ganz in mein Bewusstsein getreten sein, aber dann doch. Und wer weiß, vielleicht gerade weil ich aus dem Leben schon halb herausgetreten war und es so von außen betrachtete. Es ist immer der Verfall der Guten Sitten, der den Alten furchteinflößend aufstößt, den sie bejammern und bei keiner Gelegenheit anzuprangern vergessen.

Kommt dir, was ich erzähle, wie das vor, was von einem Greis zu erwarten ist? Dann vergesse dein Vorurteil für den Moment und höre mir genau zu.

Eines Tages besuchte ich einen vergessenen Winkel, der aus der Zeit, bevor die Bomben gefallen waren, noch erhalten blieb, um mich an das Wenige zu erinnern, was in meinem Kopf aus dieser Epoche stammte und ebenso bruchstückhaft wie die Reste von Mauern, die ältesten Häuser und dieser Ort, der vielfach überpflasterte Rondo-Platz, darin herumstand. Ruinen meines frühen Bewusstseins waren es, an denen ich mich festhielt und das Bild meiner Kindheit aufrichtete, die mir nun wie am Ende einer Umkreisung wieder nahezukommen schienen.

Niemand sieht diese Dinge, der nicht um ihre Geschichte weiß. Dinge, die sich in den Nischen der Moderne vor der Zeit verbergen. Nur ist der Verfall ein ungleicher Gegner für sie.

Ein Anflug dieser Fäulnis war mir schon früher aufgefallen, doch diesmal sah ich sie mit neuen Augen.

Der Stuck an den Fronten dieser letzten der alten Stadthäuser hatte seine Tönung von Altrosa verloren. An ihrer statt starrten mich mit den Augen der Faune und Teufel und Wassernixen ein ungutes Schimmelgrün an, ein verkommenes Braun und ein schwefelartiges Gelb. Es war offensichtlich: Feuchtigkeit war aus den Fundamenten heraufgestiegen und aus den Fassaden getreten und nun quollen diese Farben auf.

Fasziniert und zugleich angewidert fragte ich mich, ob nicht ein Miasma in der städtischen Luft, eine Verderbtheit darin, diese seltsame Blüte bewirkte.

Solcherlei hält man im Licht des Tages nicht für möglich. Es war aber kein Tageslicht, das die Szene beleuchtete, sondern eine Art Zwielicht, das mir befremdlich erschien. Ich dachte daran, was Bäumen widerfährt, deren Leben erlischt. Wo ihre Adern Saft aus der Erde in die Zweige saugten, steigt der Tod hinauf und begünstigt das Wachsen der Flechten und Pilze, die ihr Holz zersetzen, bis am Ende nur morsche Reste übrig bleiben.

Ebenso war unsere Stadt an der Wurzel verrottet.

Der Rondo-Platz war schon von jenem Halblicht eingesponnen, und jene, die ihn zu dieser Stunde bevölkerten, kamen mir nunmehr wie Schatten vor. Nein, das ist so nicht richtig. Ihre Schatten wirkten auf mich vielmehr lebendiger als die Menschen selbst. Ich hatte den ­Eindruck, als seien die Körper seelenlos, dagegen die Schatten der Seelen voll, und als hingen die Körper an Fäden und würden von ihren Schatten geführt.

Ich lehnte mit dem Rücken an einer der Stuckfassaden, spürte ihre feuchte Kälte im Kreuz und roch den fauligen Atem, den die Steine ausstießen. Vor meinen Augen spielte ein böses Theater. Diese Leute kamen in Gruppen zusammen, umringt von ihren aufsteigenden Schatten. Wo sie standen, waren aus dem Pflaster bleiche Farne gewachsen, die aussahen wie die Skelette geköpfter Schlangen, und Pilzgeflecht wie die knotigen Hände von Toten.

Mein historisches Wissen reicht gerade aus, um mir aus dem Anblick einen aberwitzigen Reim zu machen. Sieben Furten hatte die Stätte geheißen, auf der Gotheim erbaut wurde, weil die Ur damals noch ein ungebändigter Fluss mit vielen Armen war. Er blieb nicht in seinem Bett, sondern flutete vielmehr den gesamten Landstrich. Eine einzige Furt reichte nicht aus, um ihn zu überqueren. Wollte man hinüber, musste man eine Reihe von Furten überwinden, und zwischen diesen lag nicht trockenes Land, sondern Sumpf.

Wie viele mumifizierte Leichname bei dem Bau des neueren Gotheim noch geborgen wurden, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Es waren jedoch genug, um einen eigenen Friedhof mit ihnen zu füllen.

Meine Theorie lautet folgendermaßen: Was ich sah, war die Wiederauferstehung jenes Morasts, auf dem Gotheim erbaut wurde. Damit aber noch nicht genug, muss ich hinzufügen, dass dies kein einfaches Naturschauspiel war.

Viel eher wäre ich bereit, an den Anfang einer Geisteskrankheit meinerseits zu glauben, als zuzugeben, dass dieses Wachstum, dieses Quellen des Urgrunds mit rechten Dingen zuging.

Wie würde sich denn auch erklären lassen, dass jenes Haus, an dem ich lehnte, mit gurgelnder Stimme sprach, und, als ich herumfuhr, die Gesichter im Stuck zerfließende Mienen aufwiesen. Ein Satyr verzog das lüsterne Grinsen zum Ausdruck eines wilden Schreis, und die Nixe neben ihm öffnete den Mund wie zu einem orgastischen Stöhnen.

Hatte ich mich noch eben in den Schutz dieses zeitlichen Winkels geflüchtet, so stieß er mich jetzt mit Macht von sich. Eine erotisch-perverse Gewalt war es, die mich auf den Rondo-Platz stolpern ließ, und dort fiel ich zwischen dem Wuchern der Farne auf die Knie.

Gesichter wandten sich mir zu, mit Augen, die Leere ausstrahlten. Ich war an der Schwelle zum Schauspiel niedergesunken, nur einen Hauch davon entfernt, ein Teil davon zu sein.

Neben mir hielt die schwarze Limousine, die mich an diesen Ort gebracht hatte. Mein Chauffeur stieg aus, half mir, mich aufzurichten, und öffnete mir die Tür. Sprachlos stieg ich ein und richtete die Augen starr geradeaus auf die Rückenlehne des Beifahrersitzes, hielt mich mit dem Blick daran fest, spürte, wie der Wagen in Fahrt kam, und klammerte mich an die Vorstellung, mich in Sicherheit zu befinden.

Vorhin habe ich von der düsteren Patina gesprochen, die allen Stahl und alles Glas Gotheims belegte. Diese Alterung erschien mir jetzt fortgeschritten. Wir fuhren durch Straßen, die von Bürogebäuden und Hochhäusern gesäumt waren, aber auch an diesen stieg der Schimmel empor. Ich sah auch hier ausschließlich Menschen, die von ihren eigenen Schatten geführt wurden.

Meine Hand hielt den Türgriff fest. Die Klimaanlage verschloss dankenswerterweise das Wageninnere vor dem bösen Geruch. An mir hinabschauend sah ich aber, dass meine Hose an den Knien mit Schlamm beschmiert war. Entgeistert erwartete ich fast, von dem Morast noch erstickt zu werden, bis der Schrecken endlich von mir zu weichen begann.

Ich war hinter Glas und Metall des Fahrzeugs geschützt, während draußen der Untergang meiner Stadt ihren Lauf nahm.

So also sah meine erste Begegnung mit der Finsternis aus.

Es erscheint mir fast überflüssig zu erwähnen, dass ich mich tagelang nicht aus meiner Wohnung heraustraute. Während dieser Zeit schaltete ich nicht einmal den Fernseher an, stattdessen verschanzte ich mich hinter Büchern.

In meinem Berufsleben hatte ich wenig Zeit zum Lesen gefunden. Im Ruhestand holte ich all das nach, was mir entgangen war, und es lenkte mich in diesen Tagen auf Pfade, von denen aus mein Erlebnis beinahe selbst wie das Geschehen eines Schauerromans wirkte.

Nur war dieses Buch, das ich dort draußen aufgeschlagen hatte, nach wie vor offen. Es würde sich auch nicht mehr schließen, mich nicht aus dem Verlauf seiner Handlung entlassen. Der Wirklichkeit des Erlebten war ich mir indes allzu sicher. Der einfache Ausweg, an eine Täuschung meiner Sinne zu glauben, war mir verschlossen.

Du magst dich fragen, wie ich die Ruhe zum Lesen fand. Dazu kann ich nur sagen, dass ich einem Bedürfnis folgte, meine Nerven zu kühlen, und mich dazu eines Stoizismus bediente, der sich mit dem Alter einstellt, wenn man schon früh Erfahrungen des Schreckens gemacht hat, wie ich im stundenlangen Warten im Luftschutzbunker.

Ich versuchte wohl, das Erlebnis auf dem Rondo-Platz zwischen die Deckel meiner Bücher zu quetschen, oder wenigstens, durch das Gelesene aus dem Gesehenen einen Sinn zu ziehen. Ich las Suspiria de Profundis und erschauderte in Anschauung Savannah-La-Mars, ohne bewusste Absicht war ich in die Abschweifungen dieser Lektüre geraten.

Als mir aufging, wohin ich mich da bewegte, schlug ich meine Bücher zu. Wäre ich nicht kinderlos, hätte ich wie andere geheiratet, und wäre nicht allein gewesen, wer weiß, ob nicht der Halt einer Familie mich früher zu Taten bewogen hätte. Aber für wen sollte ich denn streiten? Für mich selbst? Für meine Stadt? Für alles, was in einer vernünftigen Welt zu existieren verdient?

Ich nehme an, letztlich war es nur das Bedürfnis, meine eigene Ordnung der Dinge wiederhergestellt zu sehen, das mich durch meine Tür treten ließ. Wohin ich ging? Nicht in die Niederungen des Rondo-Platzes, sondern dorthin, wo die Hohe Gesellschaft sich traf.

Der Herrenklub, dem ich seit Jahrzehnten angehörte, besaß Räumlichkeiten im Neuen Theater und gab dort wöchentlich donnerstags eine Soiree. Ich hatte mich hier schon länger nicht mehr sehen lassen, traf folglich auf einige neue Gesichter, aus denen mir kein Erkennen meiner Person entgegenkam.

Das alte Eisen, zu dem ich zählte, fand im Salon zueinander, dem Altenteil sozusagen. Hier bezog ich Stellung in einem Ohrensessel. In der Gegenwart alter Freunde – und auch Feinde – streute ich die Erwähnung des Rondo-­Platzes und einiger Seltsamkeiten, die mir in der Stadt widerfahren seien, in die Gespräche ein.

Dieser Köder weckte bei all den Fischen im Teich aber nicht den Hauch eines Interesses. Vielmehr nahm ich in den Gesichtern der Anwesenden eine eigenartige Abwesenheit war.

Ich forcierte das Thema des Verfalls mit Anspielungen auf die drohende Baufälligkeit noch gar nicht alter Gebäude und bekam zur Antwort nur müde ­Wiederholungen des üblichen Bedauerns gegenüber der Vergänglichkeit besserer Tage.

Mit Nachdruck rief ich zur Einrichtung eines Restaurationsfonds für die Altstadt auf und bekam den zu erwartenden Zuspruch. Meine Absicht, Erkenntnis zu provozieren, schlug allerdings fehl.

Diese Leute wussten mit ihrem Geld nichts anzufangen und erklärten sich zur Unterstützung solcher Projekte bereit, ohne zu begreifen, worum es dabei ging. Ich hingegen wusste, dass eine Restauration das Problem nicht beheben würde, und alles, was ich versuchte, versank im Alltäglichen. Ich ließ mein Anliegen daher fallen und niemand kam darauf zurück.

Geschlagen erhob ich mich und verließ den Salon.

Vielleicht würde es mir gelingen, die jüngeren Klubmitglieder, die mitten im Leben standen, zu mehr Aufmerksamkeit zu bewegen.

Ich schüttelte Hände von Männern, die ich nicht kannte, brachte mich als der in Erinnerung, der ich einmal gewesen war, und wiederholte meine Anspielungen bei Stadtplanern und Bauherren. Auch hier war aber Gleichgültigkeit das Einzige, was mir entgegenschlug. Nicht einen der jungen Löwen erreichte der Sinn meiner Worte. Nicht einer schien zu verstehen, wovon ich sprach. Selbst die Herren des Magistrats waren offenbar blind für die Verwesung ihrer Stadt und ich war am Ende der Soiree desillusioniert und am Gang dieser Welt verzweifelnd.

Schließlich saß mit mir noch ein einzelner Herr im Salon. Da ich zuvor nichts darüber gesagt habe, wie es um die anderen Herrschaften bestellt war, sei nun erwähnt, dass der Schatten dieses Mannes der einzige von normaler Beschaffenheit war.

Meine alten Bekannten wurden sämtlich wie an Fäden geführt, dieser mir unbekannte Herr hingegen schien Meister seines Geschicks zu sein wie ich selbst, denn auch an meinem eigenen Schatten nahm ich nichts Ungewöhnliches wahr.

Entscheide selbst, was dir am alarmierendsten erscheint. Dass ich erst jetzt im Kontrast des Zustands der anderen gewahr wurde oder, dass ich mir die Frage stellen musste, ob, was ich als neue Entwicklung begriffen hatte, überhaupt eine solche sei, ob nicht in Wahrheit dies schon lange so gewesen und mir nur nicht bewusst geworden war. Ich wandelte ohnehin am Rand des Verschwörungswahns, da konnte es kaum schlimmer sein, mir diese Möglichkeit einzugestehen.

Vielleicht waren wir zwei die Einzigen in der Stadt, die ihrem eigenen Willen folgten. So oder so musste ich mit ihm sprechen.

Er lächelte, als ich ihm näher kam, so als habe er darauf gewartet, und legte eine gerade erst entzündete Zigarette an den Rand seines Aschenbechers. In dem blauen Rauch war sein Gesicht wie fließend, die Augen wie frei schwebende Murmeln inmitten sonderbarer Winkel. Der Haarschnitt schien mir nicht der gegenwärtigen Mode zu entsprechen und sein schwarzer Anzug war von zeitlosem Schnitt. Er stand aus seinem Sessel auf, kehrte sich mir in äußerst aufrechter Haltung zu, streckte mir die Hand entgegen und sagte: „Herr Urban.“

„Sie kennen mich?“, fragte ich und konnte wohl einen Anflug von Argwohn nicht verbergen.

„Mir ist nur aufgefallen, dass wir beide eine herausragende Eigenschaft teilen“, rechtfertigte er sich, „und habe darum bereits ihren Namen in Erfahrung gebracht. Ich heiße Quincey.“

Wir schüttelten einander die Hände. Ich sagte: „Es ist wohl so, wie sie sagen. Eine herausragende Eigenschaft, die aber niemandem sonst aufzufallen scheint.“

Er nickte. Sein Gesicht bekam jetzt festere Konturen und verlor damit sein beunruhigendes Element. „Eine eigenartige Stadt, in der Sie hier leben. Setzen wir uns! Rauchen Sie?“

Ich verneinte, setzte mich aber zu ihm und wartete, bis er einige Züge genommen hatte. Sein Lächeln verstärkte sich dabei. Schließlich unterbrach er die eingetretene Stille: „Möglicherweise kann man es nur sehen, wenn man die Perspektive eines Außenstehenden einnimmt. Ich bin nur zu Besuch hier, ein Tourist, wenn Sie wollen, und werde Gotheim bald wieder verlassen. Ich besitze ein Ticket, das mich aus der Stadt bringen wird. Vielleicht sollten Sie dasselbe in Erwägung ziehen?“ Quincey tippte sich dabei aufs Revers, damit wohl auf das Ticket deutend, als wolle er auf eine Besonderheit dessen hinweisen.

„Ich weiß nicht recht, was Sie damit sagen wollen“, entgegnete ich. „Als Einheimischer, der in Gotheim geboren ist und sein gesamtes Leben hier verbracht hat, steht mir der einfache Ausweg einer Abreise nicht zu.“

„Wenn Sie meinen“, gab er zur Antwort und nickte verständnisvoll. „Was glauben Sie, geht in Ihrer Stadt vor sich?“

„Ich weiß nicht recht ... vielleicht ist dies nicht mehr meine Stadt, sondern ... die Hölle?“ Dies zu sagen, kam mir nicht seltsamer vor, als unser Gespräch an sich oder alles, das ich in letzter Zeit erlebt und gedacht hatte. Mir schien, diese Unterredung könne durchaus im Traum oder im Jenseits stattfinden. „Man glaubt, jeder müsse es sehen können, aber dem ist nicht so. Vielmehr wirkt es auf mich, als ob alle in meiner Stadt ihre Seelen verloren haben und von einem fremden Willen, einem ­Nachtmahr geleitet werden. Ich kenne Gotheim so gut, wie irgendjemand es nur kennen kann. Jetzt aber befinde ich mich unversehens außen vor, so wie wenn ein von Ihnen geliebter und Ihnen zutiefst vertrauter Mensch auf einmal völlig eigene Wege geht, die Sie nicht gutheißen können, und Ihnen jede Einflussnahme verwehrt ist.“

„Woran würden Sie denn erkennen, dass Sie nicht in der Hölle sind?“

Quinceys Frage ließ mich innerlich wie äußerlich verstummen. Sie schien mir wie in Stein ins Bewusstsein gemeißelt.

„Sehen Sie, ich glaube nicht, dass die Bewohner Ihrer geliebten Stadt ihre Seelen verloren haben. Ich reise viel durch Europa und habe dasselbe an verschiedenen Orten beobachten können: Die Seelen sind noch da, sie haben sich nur in die Schatten ihrer Körper zurückgezogen. Es ist eine schleichende Veränderung von der Art, wie sie die Schwelle des Bewusstseins unterschreiten. Zumindest die Schwelle, oberhalb derer wir uns alarmiert fühlen. Man nimmt sie wohl wahr, kann aber nicht darauf reagieren, wie in einem Albtraum. So ist es mit Entwicklungen, deren Gefahren wir zwar absehen, deren Auswirkungen jedoch nicht schlagartig zum Tragen kommen. Man geht sehenden Auges in sein Verderben und Sie werden mir sicher darin zustimmen, dass alles, womit Ihre Stadt jetzt zu tun bekommt, lange vorhersehbar war, dass es sogar von Anfang an vorherbestimmt gewesen ist. Der Verfall, den Sie beobachten, ist dem Entstehen eingeboren, wie dem Leben der Tod mitgegeben ist. Er nimmt seit der ersten Stunde seinen Lauf, aber wenn Sie ihn bemerken, ist es zu spät, um ihn aufzuhalten. Man könnte auch sagen, die Zivilisation befindet sich seit ihrer Entstehung in freiem Fall, und einerlei, wie sie sich währenddessen entwickelt, wird sie doch am Ende ihres Sturzes unweigerlich zerschellen.“

Quincey hatte die Fingerspitzen aneinandergelegt und stützte das Kinn auf die Daumen. Er schien darauf zu warten, dass sich der Sinn seiner Rede in meinem Bewusstsein voll entfaltete.

Zwischen seinen Händen glaubte ich, ein weißes Glimmen zu sehen, das mich für einen Augenblick in seinen Bann zog. Es erinnerte mich an etwas Wesentliches und ich brachte es mit entsprechender Intensität vor: „Da ist aber noch etwas! Was ich gesehen habe, atmet einen Geist, eine bestimmte Boshaftigkeit, die ich, wenn überhaupt je, dann seit dem Krieg nicht mehr gespürt habe. Dieses Verderben ist mehr als gewöhnliche Vergänglichkeit! Es ... es kommt von unten herauf, wie aus der Urzeit, aus der fernsten Vergangenheit, und es erscheint mir nicht wie eine bloße Eigenschaft, sondern wie ein eigenständiges Wesen.“

Mein Gegenüber dachte einige Zeit über das nach, was aus mir herausgebrochen war. Dann sagte er: „Das ist es dann wohl. Ein Wesen. Sie sollten fliehen, meine ich. Bevor es dafür zu spät ist.“

Daraufhin schwiegen wir beide. Es war schon sehr spät geworden, und was hätten wir dem auch noch hinzufügen sollen? Quincey würde seinen Zug nehmen, Gotheim hinter sich lassen und nach England zurückkehren. Ich würde bleiben, solange es ging.

Erst Tage später war in mir eine Analogie gereift. Ich selbst war ein Teil der Seele meiner Stadt, die sich aus ihr heraus und in ihre Schatten verkrochen hatte. Nur müsste sich noch herausstellen, ob ich auch in der Lage wäre, an ihren Fäden zu ziehen.