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Das Schicksal ist das Leben, das uns gegeben wird. Die Vorsehung ist das, was wir daraus machen. Als Kind gefangen genommen und vom Anführer der Rebellion in die Sklaverei gezwungen, wuchs Brenna Haven in fast völliger Isolation und mit größter Grausamkeit auf. Sie kannte weder Freundlichkeit noch Mitgefühl, bis das Schicksal für ihre Rettung sorgte. Endlich frei, wünscht sie sich nichts sehnlicher, als in ihre Heimat auf der Erde zurückzukehren. Sie möchte sich wieder mit ihrer menschlichen Familie vereinen und ein einfaches, ruhiges Leben führen. Aber ihre neu gewonnenen Kräfte erfordern eine ganz andere Zukunft. Eine Zukunft voller Gefahren und einer furchterregenden Rolle in einer alten Myren-Prophezeiung. Als kampferprobter Krieger und Leibwächter des Königs verfügt Ludan Forte über eine mächtige Gabe, die Erinnerungen raubt. Aber seine Fähigkeit hat ihren Preis. Eine quälende Last, die er seit seines Erwachens vor über hundert Jahren verbirgt. Er hätte sich nie träumen lassen, dass er in Versuchung gerät, das Gelübde, das er dem König gegenüber abgelegt hat, aufzugeben. Doch in Brennas süßer, betörender Gegenwart wird die Last, die auf seinen Schultern ruht, von ihm genommen. Als Brennas Rolle in der Prophezeiung ihr Leben bedroht, wird Ludan nichts unversucht lassen, um sie zu beschützen. Abschlussband der Fantasy Romance-Reihe von Erfolgsautorin Rhenna Morgan ("Haven Brotherhood").
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Seitenzahl: 549
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Rhenna Morgan
Eden Teil 4: Ludan
Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Sandra Martin
© 2016 by Rhenna Morgan unter dem Titel „Eden’s Deliverance (Eden #4)“
© 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und Übersetzung by Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels
www.plaisirdamour.de
© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg
(www.art-for-your-book.de)
ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-684-3
ISBN eBook: 978-3-86495-685-0
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Langebuch Gerez Weiß GbR, 20257 Hamburg.
Die Personen und die Handlung des Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Epilog
Autorin
Ein Mensch wird als Richter fungieren, der mit beiden Rassen vertraut ist und ähnlich verletzt wurde wie derjenige, dem an diesem Tag Unrecht widerfahren ist.
Brenna Haven eilte taumelnd durch den dunklen Flur des Schlosses zur Dienstbotentreppe, während die Verkündigung des Großen mit jedem Schritt in ihren Gedanken widerhallte. Sowohl ihre Tränen als auch die Erinnerung an die Vision, die sie ungewollt mit Ramsay geteilt hatte, ließen ihre Sicht verschwimmen. Obwohl sie hellwach und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte war, tanzten die Bilder vor ihrem inneren Auge so lebendig, als seien sie real. Sie sah die goldenen und silbernen Streifen am regenbogenfarbenen Himmel. Die aufrechten Felsen. Der uralte Myren-Krieger, durch den die Prophezeiung zustande kam, und seine tote menschliche Gefährtin, die auf seinem Schoß lag.
Sie konnte unmöglich die Richterin sein, von der der Schöpfer gesprochen hatte. Gott konnte doch unmöglich die Bürde aller Rassen auf ihre Schultern legen. Nicht nach allem, was sie durchgemacht hatte. Gerade erst hatte sie eine Chance auf Frieden gefunden.
Der Knoten in ihrer Kehle schien immer mehr anzuschwellen, während die Gespenster der Vergangenheit sich einen Weg in ihr Bewusstsein bahnten und dort ihren Schrecken verbreiteten. Brenna schüttelte den Kopf und lief weiter. Die tote Frau, die sie gesehen hatte, war nicht sie. Die Vision stammte aus der Vergangenheit. Sie selbst war am Leben und in Sicherheit. Die Blutergüsse waren verheilt und niemand würde sie je wieder auf eine derart schändliche Art missbrauchen, denn Maxis war tot.
Ihr rauschte das Blut in den Ohren, als sie ihre Schritte beschleunigte. Alles drehte sich um sie herum und sie nahm den Flur nur noch verschwommen wahr, doch sie spürte die kühlen Steinwände unter ihren Händen und ging weiter dem Licht entgegen. Luft. Sie brauchte frische Luft. Und Freiraum.
Freiheit.
Sie hielt sich am schmiedeeisernen Treppengeländer fest und stolperte die grauen Steinstufen hinunter, wobei sie darauf achtete, mit ihren Sandalen keinen Lärm zu machen. Der Duft von frisch gebackenem Brot und Zimt lag in der Luft, und aus der Küche drangen gedämpfte Frauenstimmen. Wahrscheinlich bereiteten sich Orla und der Rest des Küchenpersonals auf den Tag voller hungriger Krieger und Familienmitglieder vor. Möglicherweise waren auch Lexi und Galena bei ihnen. Sie hatten sie gerettet und beschützt und brachten ihr aufrichtiges Mitgefühl entgegen, doch sie hatten auch ein wachsames Auge auf Brenna und durchlöcherten sie mit ihren Fragen.
Sie umging die Küche, durchquerte den Speisesaal und wandte sich der Eingangshalle zu, hinter der die weitläufigen Gärten lagen. Die Vormittagssonne fiel durch die geöffneten, zweistöckigen Bogenfenster, während die salzige Meeresbrise ihre tränenüberströmten Wangen liebkoste. Ihr Herz machte einen Satz, denn das Aroma zog sie an wie damals an dem Tag, den sie mit ihren Eltern am Meer verbracht hatte. Bevor Maxis sie entführt und alles zerstört hatte.
Sie stieß eine der beiden Mahagonitüren auf, schnappte nach Luft und wich einen Schritt zurück.
Ein Krieger, in dessen Rücken die aufgehende Sonne glühte, stellte sich ihr in den Weg. Er war groß und trug die volle Kriegermontur aus schwarzen Lederhosen, Stiefeln und silbernem Drast. Bevor die Tür sich wieder schließen konnte, hielt er sie auf und trat aus dem Sonnenlicht.
Brenna stockte der Atem. Der Mann vor ihr war nicht irgendein Krieger, sondern Ludan Forte, rechte Hand und Somo des Malrans. Er war zwei Meter groß und doppelt so muskulös wie seine Kameraden. Von hinten von der Sonne angestrahlt, wirkte er wie ein lebendig gewordener Rächer aus einer Legende.
Er legte den Kopf schief und musterte sie von oben bis unten, wobei ihm eine Strähne seines gewellten, blauschwarzen Haares in die Stirn fiel. Er presste die Lippen, die von einem kurz gestutzten Bart umrahmt waren, zu einer dünnen Linie zusammen und runzelte die Stirn. Seine Miene wirkte geradezu bedrohlich.
„Du hast geweint.“ Die Worte waren von einem anklagenden Unterton untermalt, während sie zugleich eine Erklärung zu fordern schienen. Seine Stimme klang genauso schroff wie immer.
„Ich …“ Brenna verschlug es die Sprache. Sie senkte den Blick und wischte sich mit dem Handrücken über die Wange. Ihre Füße versagten ihr den Dienst und sie blieb wie erstarrt stehen, während er sie mit einem glühenden Blick aus seinen eisblauen Augen fixierte. „Es geht mir gut, ich habe nur …“
„Ludan, wirst du das arme Mädchen endlich vorbeilassen, oder willst du sie anstarren, bis sie umkippt?“ Ian Smiths raue Stimme ertönte hinter ihr. Brenna konnte seine schweren Schritte in der Eingangshalle hören. Sie würde die Ablenkung nutzen.
„Entschuldigt“, hauchte sie und duckte sich unter Ludans Arm hindurch, um stolpernd über die Veranda zu eilen, wobei ihre Sandalen auf dem Steinboden ein klatschendes Geräusch von sich gaben. Ihre Lungen brannten und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Nur noch ein paar Schritte weiter und sie wäre an der Küste und könnte dem friedlichen Rauschen des Meeres lauschen. Dann würde sie in Ruhe durchatmen und die Situation neu bewerten können. Sie wollte die Vergangenheit endlich begraben, damit sie sie nicht länger quälte und das wenige Gute, das sie gefunden hatte, nicht beschmutzte.
Sie umrundete die letzte Ecke, und sofort peitschte der Wind ihr offenes, dunkles Haar um ihr Gesicht und das einfache, saphirfarbene Kleid um ihre Knöchel. Die hüfthohe Mauer erstreckte sich entlang der halbmondförmigen Bucht. Das graubraune Gestein verschmolz mit dem makellosen, azurblauen und regenbogenfarbenen, myrenischen Himmel. In regelmäßigen Abständen unterbrachen es etwa alle vierhundert Meter schokoladenbraune Tore. Das ihr am nächsten gelegene Tor war nicht verriegelt.
Sie stapfte über das leuchtend grüne Gras, das dieselbe Farbe wie das in ihrer Heimat in Evad hatte. Hier in Eden war es jedoch von einem silbernen Schimmer durchsetzt, der die rotgeränderte Sonne reflektierte. Sie hatte kaum noch Erinnerungen an die Zeit vor ihrer Gefangennahme. Bis auf einige vereinzelte Fetzen war alles verloren. Ihre Familie. Ihre Zukunft und jede Hoffnung auf Zärtlichkeit oder Liebe. Welcher Mann würde sie mit ihrer beschmutzten Vergangenheit noch wollen? Und nun war sie mitten in eine Prophezeiung gestoßen worden, die von der Grausamkeit herrührte, die ihr Leben geprägt hatte. Es war so ungerecht. Zumindest hätte sie einen Neuanfang verdient, etwas Frieden und Zufriedenheit, und vielleicht sogar Trost.
Unter ihr brandeten die türkisfarbenen Wellen an den puderweißen Strand und die schwarzen Felsen. So hoch das dreistöckige Schloss in den Himmel aufragte, so weit entfernt schien das stürmische Meer zu sein. Sie trat näher an den Rand der Klippe, bis die Spitzen ihrer Sandalen fast die Kante berührten.
Wieder hatte sie das Bild von der toten menschlichen Frau vor Augen. Sie sah ihr zum Verwechseln ähnlich und teilte sogar ihr Schicksal. Allerdings hatte Brenna überlebt.
Das ist nicht der einzige Unterschied.
Der Gedanke versetzte ihr einen Stich im Herzen. Im Gegensatz zu ihr war diese Frau geliebt worden. Ihr Gefährte hatte ihren Tod betrauert. Er hatte sie gerächt und seine Gaben zur Verfügung gestellt, um Menschen wie sie selbst zu beschützen. Brenna hatte niemanden.
Ein Kieselstein rutschte unter ihren Füßen weg und prallte ein paarmal von der schwarzen Felswand ab, bevor er ins Wasser fiel. Die ganze Zeit über hatte sie sich an die Hoffnung geklammert, irgendwann nach Hause zu ihrer Familie zurückkehren zu können. Sie hatte an dem Glauben festgehalten, dass sie eines Tages all das Leid hinter sich lassen und sich ein neues Leben aufbauen würde. Aber wozu? Um gegen ihren Willen die Verantwortung für alle Rassen zu schultern?
Der Wind frischte auf und alles um sie herum trat in den Hintergrund. Außer den brandenden Wellen unter ihr und einem trällernden Larken in der Ferne nahm sie nichts wahr. Fünfzehn Jahre lang hatte sie gelitten, und die einzige Wahl, die ihr geblieben war, war die zwischen Leben und Tod.
Sie hatte genug davon.
Sie war es leid, sich den Willen anderer aufzwingen zu lassen. Wenn sie ihre Rolle in der Prophezeiung nicht spielen wollte, dann musste sie sie nicht annehmen, selbst wenn die anderen glaubten, sie sei auf sie zugeschnitten. Dies war ihr Leben und sie konnte es gestalten, wie sie es für richtig hielt. Die Gesetze der Myren und die Prophezeiung konnten zur Hölle fahren. Niemand durfte über ihr Leben bestimmen oder sie zu irgendetwas zwingen.
Sie hob den Kopf, konzentrierte sich auf den Horizont und atmete tief durch. Sie würde es schaffen. Diesmal würde sie für ihre eigenen Wünsche einstehen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Und sie würde ihre Forderungen und Bedürfnisse zum Ausdruck bringen.
Sie drehte sich um und warf einen Blick auf das Schloss.
Plötzlich brach der Boden unter ihren Füßen weg und sie taumelte zur Seite. Sie fiel über den Rand der Klippe und ruderte verzweifelt mit den Armen, wobei sie es gerade noch schaffte, sich an der Kante festzuhalten. Der Wind peitschte das Gewand um ihre Beine, die in der Luft baumelten. Voller Panik schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie durfte jetzt nicht sterben. Sie hatte doch gerade erst die Chance auf ein neues Leben gefunden.
Sie vergrub ihre Finger in der feuchten Erde und versuchte mit aller Kraft, sich hochzuziehen.
Der Lehm zerbröckelte jedoch und glitt unter ihren Händen hindurch. Dann fiel sie in die Tiefe.
***
Sie geht dich nichts an.
Ludan festigte seinen Griff um die dicke Mahagonitür am Eingang des Schlosses, bis er glaubte, das Holz würde brechen. Seit er Brenna zum ersten Mal gesehen hatte, wiederholte er diese Worte in Gedanken immer wieder wie ein endloses Mantra.
Es mischte sich unter all die anderen Stimmen in seinem Kopf.
Ian gesellte sich zu ihm und warf gerade noch einen Blick auf die Veranda, als Brenna auf der anderen Seite die Stufen hinuntereilte. „Was zum Teufel hast du zu ihr gesagt?“
„Ich habe gar nichts gesagt.“ Ludan zwang sich, die Tür loszulassen, die daraufhin zufiel. Auf dem Land jenseits des Schlosses war alles ruhig. Weder in der Nähe des Ozeans, auf den Brenna zugelaufen war, noch im Wald auf der anderen Seite waren irgendwelche fremden Energiemuster zu erkennen, während die blendend grelle Vormittagssonne am strahlend blauen Himmel auf sie herabschien.
Ludan war dennoch unbehaglich zumute. In den vergangenen Monaten waren viel zu viele merkwürdige Dinge vorgefallen. Und nun waren sowohl Serena als auch Angus’ Page Sully verschwunden. Dann waren da noch die Spiritu und die Prophezeiung. Er warf einen Blick auf Ian. „Geh und suche nach Lexi. Sie soll dich noch heute nach Evad transportieren. Ich werde Brenna ausfindig machen und sie ins Schloss zurückbringen.“
„Denkst du, das ist eine gute Idee?“
Der bissige Unterton in Ians Stimme ließ Ludan aufhorchen. „Warum denn nicht?“
„Weil du sie gerade angesehen hast, als wolltest du ihr den Kopf abreißen.“
Wohl kaum. Sogar ein hoffnungsloser Junkie würde eher seinen Stoff aufgeben, als Brenna etwas anzutun. Doch das wusste Ian natürlich nicht. Keiner von ihnen wusste es. Und sie würden es auch nie erfahren. „Ich war in Gedanken.“ Er hatte unter anderem daran gedacht, dass der andauernde Lärm in seinem Kopf auf ein erträgliches Maß abebbte, wenn er sich Brenna auf fünf Meter näherte.
Ian legte den Kopf schief, vergrub die Hände in den Taschen seines Jacketts und musterte Ludan mit einem durchdringenden Blick. Der Mistkerl war verdammt scharfsinnig. Alle Polizisten – vor allem ehemalige Polizisten, die wie Ian zum Privatdetektiv wurden – waren für gewöhnlich überaus aufmerksam.
„Finde Lexi“, brummte Ludan, bevor Ian auf dumme Gedanken kommen konnte. „Je eher ich Brenna ausfindig mache und du in Evad bist, um Informationen einzuholen, desto eher kann ich wieder Eryx bewachen.“
Mit diesen Worten ging er davon und ignorierte Ians Blick, der sich in seinen Rücken bohrte. In letzter Zeit fühlte er sich, als läge er unter einem Mikroskop. Die Leute bedachten ihn mit misstrauischen Blicken, schnüffelten in seinem Privatleben herum und stellten unangenehme Fragen. Ian konnte denken, was er wollte. Es wäre zum Besten aller Beteiligten, wenn er Brenna aufspürte und sicherstellte, dass nicht noch ein Sturm am Horizont aufzog. Mehr steckte nicht dahinter.
Das kannst du dir einreden, wenn du willst, aber du würdest ihr auch ohne Prophezeiung folgen.
Die innere Stimme traf ihn mit einem Schlag in die Magengrube, und er blieb wie angewurzelt stehen.
Brenna stand auf der anderen Seite der steinernen Schutzmauer und starrte reglos auf die Bucht hinunter. Nur ihr dunkles Haar peitschte in der Meeresbrise. Während der vergangenen Monate hatte Ludan beobachtet, wie sie fast gestorben wäre und sich ins Leben zurückgekämpft hatte. Er hatte gesehen, wie sie verängstigt aus ihrem Schneckenhaus gekrochen war, in dem sie fünfzehn Jahre lang mit Maxis überlebt hatte. Danach hatte sie Tag für Tag die Schultern etwas mehr gestrafft und ihren Kopf ein wenig mehr in die Höhe gereckt.
Heute war ihre Haltung jedoch nicht ganz so aufrecht. Etwas in ihren fast schwarzen Augen schien zerbrochen. Der Anblick brachte sämtliche Alarmglocken in ihm zum Läuten.
Er ließ seine Sinne über die Bucht ausschweifen, um die Gegend nach ungewöhnlichen Energiemustern abzusuchen, die er vielleicht übersehen hatte. Ein Larken zwitscherte am Himmel, dessen tiefblaues Gefieder fast dieselbe Farbe wie Brennas Gewand hatte. Außer dem Vogel und Brenna konnte er jedoch niemanden und damit auch keinerlei Bedrohungen ausmachen. Was immer sie plagte, war entweder bereits geschehen oder existierte nur in ihrer Fantasie.
Er sollte sie in Ruhe lassen und Lexi holen. Seine Vorzüge lagen in der Kampfkunst und der Tarnung. Wären diese Fähigkeiten im Hinblick auf die Verarbeitung von Emotionen von irgendeinem Nutzen, dann hätte er seine eigenen Dämonen schon vor Jahren bewältigt. Zum Histus, selbst Ian war in solchen Dingen besser bewandert als er. Zumindest hatte der Mann etwas mit Brenna gemeinsam. Sie waren beide Menschen, deren Leben durch Maxis Steysis auf den Kopf gestellt worden war.
Plötzlich drängte sich ihm eine Erinnerung auf und seine Knie hätten fast nachgegeben. Er sah seine Mutter vor sich, die blutüberströmt, geschändet und gebrochen dalag. Keine Frau sollte je so ein Schicksal erleiden. Ihre Schreie hallten in seinen Gedanken wider, bis ein stechender Schmerz seinen Schädel durchbohrte.
Er schüttelte den Kopf und betrachtete das Gras zu seinen Füßen. Der silberne Schimmer in den kräftig grünen Halmen funkelte in der Morgensonne, während die reiche, dunkle Erde nach dem Sturm in der vergangenen Nacht noch feucht war. Es war nur eine Erinnerung. Von all denen, die er noch einmal durchleben musste, war diese zwar die schlimmste, aber die Geschehnisse lagen in der Vergangenheit. Dies war das Hier und Jetzt.
Brenna hatte sich noch immer nicht bewegt. Wahrscheinlich brauchte sie einfach nur etwas Zeit für sich. Von allen verstand er dieses Bedürfnis wohl am besten, deshalb würde er sie nicht stören. Aber er würde nach ihr sehen können, ohne sie in Verlegenheit zu bringen. Er machte von seiner Tarnfähigkeit Gebrauch und verschmolz mit den Elementen, dann flog er zum Himmel auf, um über der Bucht zu kreisen. Plötzlich trieb ihn ein fast verzweifelter Drang vorwärts und er flog schneller, bis er nur wenige Zentimeter vor ihr schwebte.
Mit leerem und distanziertem Blick starrte sie auf das Meer hinaus. Er kannte diesen Ausdruck nur zu gut. Darin spiegelten sich Resignation und Niedergeschlagenheit wider. Er selbst hatte viele Jahre lang unter derselben Last gelitten. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und war bis an den Rand der Klippe getreten. Sie würde doch unmöglich versuchen, sich das Leben zu nehmen. Nicht jetzt. Nicht nach allem, was sie bereits überlebt hatte.
Als hätte sie seine Gedanken gehört, hob Brenna ruckartig den Kopf und konzentrierte sich auf den Horizont.
Er entspannte sich ein wenig und stieß erleichtert den Atem aus. Was immer sie gerade gequält hatte, war verflogen. Sogar ihre Energie schien heller als zuvor zu schwingen. Es war, als wäre die Meeresbrise bis in ihr Innerstes vorgedrungen und hätte die Monster, die in ihrer Seele schlummerten, vertrieben. Trotz allem wäre es klug, sie weiterhin im Auge zu behalten.
In ihm regte sich eine finstere, animalische Präsenz, von einem unbändigen Hunger getrieben. Er hatte das Biest stets vor allen anderen verborgen, doch nun reckte es den Kopf und spitzte die Ohren, als es seine liebliche Beute witterte. Zu nah.
Er zwang sich, einige Meter zurückzuweichen. Es wäre nicht gut, in Brennas unmittelbarer Nähe zu sein. Einerseits war ihre Gegenwart eine wahre Wohltat, denn sie vermochte die Nebenwirkungen seiner Gabe zu dämpfen, doch andererseits traute er dem Biest in seinem Inneren nicht über den Weg. Diesen hässlichen und unberechenbaren Teil von sich selbst konnte er nur im Kampf entfesseln. Also würde er Lexi oder Galena von seinen Sorgen im Hinblick auf Brenna berichten. Letztere würde sich im Kreise der Frauen ohnehin wohler fühlen.
Er wandte sich dem Schloss zu. Vor sich sah er das Bild ihrer seelenvollen, fast schwarzen Augen, die sie heute Morgen auf seine Lippen gerichtet hatte. Für einen quälenden Moment hätte er schwören können, dass sie ihn ebenso sehr begehrte wie er sie. Doch das war nicht möglich. Sie fürchtete sich vor Männern. Und zwar vor allen.
Unter ihm wich das stürmische Meer dem saftigen grünen Gras, das um das Schloss herum wuchs. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Dafür war er geboren worden, und je eher er sich wieder an die Arbeit machte, desto schneller würde er dieser Anziehungskraft entgehen können, die zwischen Brenna und ihm herrschte. Zumindest hoffte er das. Andernfalls würde er sich wie in den vergangenen Wochen mit Sparringeinheiten abreagieren und in einen Vollrausch trinken müssen.
Plötzlich ertönte hinter ihm ein Schrei, der so angsterfüllt war, dass er das Gefühl hatte, als würde ihm ein Speer in die Brust getrieben.
Noch bevor er begriff, dass der Schrei aus Brennas Mund gekommen war, setzte er sich instinktiv in Bewegung. In Windeseile schloss er die Distanz zwischen ihnen. Er entdeckte Brenna, die sich verzweifelt in den lockeren Lehmboden krallte und mit aller Kraft versuchte, sich hochzuziehen.
Die moosbedeckte Erde bröckelte.
Brenna verlor den Halt und verschwand aus seinem Blickfeld.
Das Biest in ihm brüllte und versuchte, nach außen zu drängen. Die Angst nährte seine Kräfte und ließ ihn so schnell durch die Luft schießen, dass der Wind auf seinem Gesicht brannte. Er flog auf die schwarzen Felsen und den feinen Sandstrand unter ihm zu. Brenna war nur noch zwei Armlängen entfernt.
Etwa einen Meter, bevor sie auf dem Boden aufkommen konnte, ließ er sich unter sie gleiten und flog mit ihr in einem steilen Winkel auf. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und seine Lunge rang nach Luft, doch er hielt Brenna fest in seinen Armen. Sie zitterte zwar wie Espenlaub und krallte sich verzweifelt in seine Schultern, aber sie war in Sicherheit.
Er schwebte mit ihr über dem Ozean und drückte sie noch dichter an sich.
Ihr Atem kitzelte an seiner Haut, als er spürte, wie etwas Feuchtes an seinem Hals hinunterrann. Tränen. Sie kullerten ihr über die Wangen, während sie immer wieder leise schluchzte.
Er konnte jeden ihrer Atemzüge so deutlich hören wie ein Flüstern in einer windstillen Nacht. Sogar das Rauschen der Wellen und das Zwitschern des Larken waren glasklar zu vernehmen. Weder plagten ihn Stimmen in seinem Kopf, die die Laute um ihn herum vernebelten, noch stürmten Erinnerungen auf ihn ein und kämpften um die Vorherrschaft seiner Gedanken. Sie waren nicht nur gedämpft, wie sonst in ihrer Nähe; sie waren ganz und gar verschwunden. Absolute Stille. Seit über hundert Jahren konnte er zum ersten Mal aufatmen.
Er spannte instinktiv die Arme an, als könne sie wegfliegen oder sich in Luft auflösen, wenn er sie nicht festhielt. Dann rieb er seine Wange an ihrem Kopf und genoss das Gefühl ihres seidigen Haars an seiner Haut. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, als er sagte: „Du bist in Sicherheit.“
Sie schmiegte sich dichter an ihn und zog die Knie an ihre Brust, während sie leise wimmerte. Unter ihnen rauschte das stürmische Meer. Wahrscheinlich war der Anblick für einen Menschen, der nicht fliegen konnte, nicht sonderlich beruhigend.
Kein Wunder, dass sie so verängstigt war. Sie wäre beinahe gestorben. Er konnte wohl kaum erwarten, dass sie den Kopf hob und ihn anstrahlte.
Er ließ sich zu einem flachen Felsen am Fuße der Bucht treiben und lehnte sich mit dem Rücken an eine Steilwand. Dann zog er die Knie an und drückte Brenna an sich.
Verdammt, sie fühlte sich gut an. So zierlich und sanft. Sie öffnete und schloss immer wieder die Hand, die an seiner Brust lag und ballte dabei den rauen Stoff seines Drasts an seiner Haut, die vor Adrenalin vibrierte. Wahrscheinlich hätte er das Gefühl nicht derart genießen sollen, aber er konnte nichts dagegen tun. In Anbetracht der Tatsache, dass Brenna immer noch nach Atem rang, war der Gedanke völlig fehl am Platz. Es musste doch etwas geben, was er für sie tun konnte. Irgendwie musste er sie beruhigen.
Zur Abwechslung kam ihm eine positive Erinnerung in den Sinn. Als Kind hatte er seinen Vater imitieren wollen und war vom Dach der Hütte seiner Eltern gesprungen, um einen Flugversuch zu unternehmen. Er war noch zu klein gewesen, um zu begreifen, dass er erst nach seiner Erweckung würde fliegen können, die für einen achtjährigen Jungen in ferner Zukunft lag. Seine Mutter hatte seine Wunden geheilt und ihn auf ihrem Schoß langsam hin und her gewiegt, während er geweint hatte.
Das war ein schönes Gefühl gewesen. Er hatte es so sehr genossen, dass er vorgegeben hatte, auch dann noch zu weinen, als seine Tränen bereits versiegt waren, nur damit er noch etwas länger in den Armen seiner Mutter verweilen konnte.
Behutsam ahmte er die Bewegung nach, wenngleich er dabei etwas unbeholfener war als seine Mutter. Mit einer Hand strich er über ihren Kopf und ihren Rücken. Unter seinen schwieligen Fingern spürte er ihr geschmeidiges Haar. Seit er ihr zum ersten Mal begegnet war, hatten ihre dunklen, schokoladenbraunen Strähnen ihn fasziniert, die so gut zu ihren Augen passten.
Der Wind rauschte über die Bucht und hüllte sie in ein schwaches Vanillearoma. Er senkte den Kopf, bis seine Nase nur wenige Zentimeter von ihrer Schläfe entfernt war, und atmete tief ein. Der Duft ging von Brenna selbst aus, entweder von ihrem Haar oder ihrer Haut. Was immer die Quelle war, es roch perfekt. Tröstlich und sanft.
Die Dunkelheit in ihm beruhigte sich. Seit seiner Erweckung hatte er diesen inneren Frieden nicht mehr gespürt. Er hatte zahllose Schlachten geschlagen und die schrecklichsten Erinnerungen in sich aufgesogen, um seinen Malran und sein Volk zu schützen, doch all diese Taten schienen im Vergleich zu diesem Moment zu verblassen. Ganze Armeen kämpften für diese Art von Frieden. Und Männer opferten dafür ihr Leben.
Brenna stieß einen tiefen Seufzer aus und erschauderte spürbar. Sie löste ihre Arme von seinem Hals und ließ ihre Hände über seine Schultern bis zu seinem Bizeps gleiten.
Ludan spannte die Muskeln an und hieß ihre Berührung mit jeder Faser seines Körpers willkommen.
Zögerlich krallte sie sich in seine Arme, bevor sie den Kopf hob. Ihre fast schwarzen Augen waren tränenfeucht und ihre Wangen gerötet. Der Anblick hätte ihn nicht derart berühren sollen, doch er hätte sie am liebsten wieder an sich gezogen und von ihr verlangt, sitzenzubleiben.
Sie begegnete seinem Blick zwar nicht, aber sie wandte auch nicht ihr Gesicht ab. Das war eindeutig ein Fortschritt im Vergleich zu dem Tag, an dem er ihr zum ersten Mal begegnet war.
„Danke“, murmelte sie.
Ihre Stimme. Beim Großen, sie war wunderschön. Er hatte sie schon häufiger gehört, doch dann war sie immer gedämpft und verhalten gewesen. Jetzt war sie jedoch klar und fest und ohne den Lärm in seinem Kopf deutlich zu vernehmen.
Er nickte ihr zu, denn er wusste nicht, wie er ihr mit Worten noch hätte helfen können. Außerdem wollte er ihre Stimme noch einmal hören und hoffte, dass sie noch etwas sagte. Irgendetwas. Zum Histus, wenn es nach ihm ginge, könnte sie einfach das verdammte Alphabet aufsagen.
Stattdessen fixierte sie eine ihrer Hände an seinem Bizeps. Für den Bruchteil einer Sekunde leuchteten ihre Augen auf, bevor sie blinzelte, den Kopf schüttelte und versuchte, von seinem Schoß aufzustehen.
Ludan festigte seinen Griff um sie. „Ich bin nicht sonderlich sanftmütig.“ Seine Stimme klang rauer als beabsichtigt und schien von einem Bedürfnis getrieben, das er nicht benennen konnte. „Ich bin nicht so eloquent wie Eryx, aber ich kann zuhören.“
Für eine gefühlte Ewigkeit verharrte Brenna auf seinem Schoß und durchbohrte ihn mit einem Blick, den er tief in seiner Seele spürte. Es schien, als könnte sie den Sinn seiner Existenz in seinen Augen ablesen. Erneut rann ihr eine Träne über die Wange.
Mit einer Hand strich er ihr über die Wange und betrachtete fasziniert, wie sehr sie sich voneinander unterschieden. Ihre geschmeidige, cremefarbene Haut kontrastierte mit seinen gebräunten, rauen Fingern. Seine Pranke wirkte riesig an ihrem zierlichen Gesicht.
„Ich will nicht darüber sprechen, was mir widerfahren ist.“ Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, und die Angst, die darin mitschwang, weckte das Biest in seinem Inneren von Neuem. „Ich will ihm nicht noch mehr von mir geben, als er ohnehin schon genommen hat.“
Mit ihm meinte sie Maxis. Diesen Scheißkerl.
Ludan stieß langsam den Atem aus, wandte jedoch nicht den Blick von Brenna ab. In diesem Moment würde er einiges dafür geben, um Maxis wieder auferstehen zu lassen und ihn zu Tode zu prügeln. „Dann verrate mir, warum du weggelaufen bist.“
„Wegen meiner Erinnerungen.“ Sie wandte den Blick ab und ließ ihn über die Bucht schweifen, wobei sie vorgab, sich zu orientieren. Ludan erkannte jedoch, dass sie nur versuchte, abzulenken. Er selbst machte seit Jahren von der Taktik Gebrauch, wenn ihm jemand zu nahekam.
Sie strich den Stoff ihres Kleides an ihrem Oberschenkel glatt. Bis auf das leise Schniefen, das sie weiterhin in unregelmäßigen Abständen von sich gab, erschien sie ziemlich gefasst. Was auch immer sie heute Morgen veranlasst hatte, Hals über Kopf in den Garten zu stürmen, sie hielt es unter Verschluss. Für den Moment. „Es wird Zeit, dass ich zurück ins Schloss gehe. Ramsay ist aufgewacht, aber Trinity ist in keiner guten Verfassung. Ich wollte ihnen etwas Zeit für sich geben und habe ihnen versprochen, ich würde Eryx und Galena wissen lassen, dass er wohlauf ist.“
Die Worte kamen ihr wie beiläufig über die Lippen, doch sie rissen Ludan schlagartig aus seinen Gedanken. Als Ramsay und Trinity aus Winrun zurückgekehrt waren, war Ramsay bewusstlos und Trinity ein Nervenbündel gewesen. Eryx war seitdem in einem ungenießbaren Zustand und sein Temperament war unberechenbarer als jede Klinge, gegen die Ludan je gekämpft hatte. Er nickte und stellte sie auf die Füße, wobei er sie an der Hüfte festhielt, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
In dem Moment, in dem er seine Hände von ihr löste, hallten die Stimmen erneut in seinem Kopf wider. Zwar waren sie nicht annähernd so laut wie sonst, doch die absolute Stille wich den Erinnerungen, die er in über hundert Jahren in sich aufgesaugt hatte.
Dann war es also kein Zufall gewesen. Brenna war tatsächlich der Schlüssel. Sie war die beruhigende Präsenz, die er von Beginn an in ihr wahrgenommen hatte.
Er stand auf und schüttelte den Gedanken ab. Eryx und Ramsay brauchten ihn. Diese kleine Atempause war ohnehin mehr gewesen, als er verdient hatte. Er hatte auf schreckliche Art und Weise lernen müssen, was geschah, wenn er seine Pflichten ignorierte. „Ich habe Ian gebeten, Lexi ausfindig zu machen, bevor ich dir gefolgt bin. Eryx befindet sich auf dem Trainingsgelände, doch ich werde ihn kontaktieren und ihn bitten, sich mit uns im Schloss zu treffen.“
Er trat einen Schritt auf sie zu, um sie hochzuheben, doch sie wich zurück und hob abwehrend die Hände in die Höhe. „Was hast du vor?“
„Ich bringe dich zurück ins Schloss.“ Ludan warf einen Blick über die Schulter und auf die Steilküste, die hinter ihm aufragte. „Es sei denn, du ziehst es vor, hinaufzuklettern.“
Sie senkte den Kopf, wobei ihr eine hübsche Röte in die Wangen stieg. „In Ordnung.“
Er hob sie hoch und sofort verstummten die Stimmen in seinem Kopf von Neuem. Erstaunlich. Es war ein verdammtes Wunder in lieblicher, unschuldiger Gestalt. Er trat einen Schritt vor, bereit, sich in die Lüfte zu erheben.
„Ludan.“
Er hielt inne und begegnete ihrem Blick. Der tiefgründige und emotionsgeladene Ausdruck in ihren Augen raubte ihm den Atem. Darin spiegelte sich mehr Wissen wider, als eine Frau ihres Alters bewältigen sollte. „Du irrst dich.“
Auch diesmal warf ihn der angenehme Unterton in ihrer Stimme aus der Bahn, und es dauerte mindestens sieben Sekunden, bis er die Bedeutung ihrer Worte erfasste. Er zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Es war ihm egal, was sie zu sagen hatte; er wollte einfach wieder ihre Stimme hören.
Serena war am Ende. Sie hatte sich in eine Ecke drängen lassen, und das hatte sie nicht vorhergesehen. Nun kauerte sie in einer Nische in Uthers dunklem Keller und zog sich die ausgefranste graue Decke fester um die Schultern. Eine einzelne Kerze brannte auf einem kleinen zerkratzten Holztisch, auf dem einige unbeschriebene Pergamente und der gestohlene Foliant mit den Übersetzungen lagen. Die Finsternis war ein Segen. Wäre der Raum heller erleuchtet, so würde sie des Ungeziefers am Boden gewahr werden und den Dreck sehen, der ihre Pritsche bedeckte. Umgeben von Wänden aus nacktem Lehm und einem modrigen Gestank fühlte sie sich kaum besser als ein Nagetier, das sich in die Erde eingegraben hatte. Der einzige Pluspunkt war die dünne Schicht Zeolith über ihr. Da sie nicht vollständig von dem Kristall umhüllt war, hatte er nur wenig Einfluss auf ihre Kräfte, aber wahrscheinlich würde es ausreichen, um ihren Standort zu verbergen. Es war gut möglich, dass sie ohne ihn längst tot wäre.
Sie ließ ihre myrenischen Sinne ausströmen, um die Position der Sonne zu ermitteln. Deren Energie funkelte zwar unregelmäßig, sie stand aber definitiv bereits am Horizont. Darüber hinaus konnte Serena jedoch nicht sagen, wie spät es war. Uther würde sicher bald mit Neuigkeiten zurück sein. Und mit etwas zu essen und hoffentlich sauberer Kleidung. Zum tausendsten Mal, seit Uther sie in den Unterschlupf unter seinem Haus in Unterland gedrängt hatte, dachte sie daran, wie überstürzt sie gehandelt hatte, um die Oberhand über Eryx zu gewinnen. Es wäre sicherer gewesen, nach Hause zurückzueilen, bevor die Wachen überhaupt bemerken konnten, dass sie ihr Heim verlassen hatte. Auf jeden Fall wäre es bequemer gewesen. Allerdings wäre sie dann nicht im Besitz des Tagebuchs.
Serena griff unter die primitive Matratze auf der Pritsche und zog das schokoladenbraune, in Leder gebundene Buch aus seinem Versteck. Das Papier war alt und vergilbt und mit einer kühnen, männlichen und kursiven Handschrift in einer uralten Sprache beschrieben. Zwischen den Seiten steckte der schwarze, filigrane Anhänger, der an einer einfachen schwarzen Kette befestigt war und in ihre Handfläche passte. Er war zu hässlich, um modisch zu sein, aber die Schmiedearbeit war eine exakte Abbildung von Lexis prophetischem Zeichen.
Das Zeichen deiner Familie wird der Schlüssel sein, das Werkzeug, das seinen Träger mit den Kräften nährt, die du an diesem Tag freiwillig gibst, oder die die Wand für immer aufrechterhalten werden.
Sie fuhr mit den Fingerspitzen über das mit Efeu umrankte Schwert. Wenn dies wirklich der Schlüssel war, würde kein Mann je wieder Macht über sie ausüben können. Weder ihr Vater noch Eryx, noch irgendein Gefährte. Sie würde als Alleinherrscherin den Thron besteigen.
Über ihr ertönte der dumpfe Schlag der Haustür, die ins Schloss fiel, gefolgt von zielstrebigen Schritten auf dem Holzboden.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie sprang von der Pritsche auf und betete, dass Uther zurückgekehrt war. Falls es Eryx und seinen Kriegern gelungen war, sie aufzuspüren, wäre alles, was sie über die Prophezeiung in Erfahrung gebracht hatte, umsonst gewesen. Der Malran würde ihre Strafe mit Freuden vollstrecken, sie ihrer Kräfte berauben und sie nach Evad verbannen. Falls er sie überhaupt am Leben ließe.
Sie legte sich die Kette um den Hals, steckte den Anhänger unter ihre Tunika und verstaute das Tagebuch wieder unter der Matratze. Gerade, als sie sich auf dem alten Trittleiterstuhl hinter dem klapprigen Tisch niederließ, flog die Tür auf.
Erleichtert stieß sie den Atem aus. „Uther.“
Der Strategos ihres verstorbenen Gefährten zog den Kopf ein, als er durch die niedrige Tür in den Raum trat. Als Selfmade-Krieger, der sich in den Reihen der Rebellen bis zu den obersten Rängen hochgemordet hatte, zeigte er selten Anzeichen von Erschöpfung, doch heute schienen seine Kräfte gedämpft. Er hatte dunkle Ringe unter den grünen Augen und ließ die sonst stolz gestrafften Schultern hängen.
Serena zog sich die Decke fester um die Schultern. „Was ist passiert?“
Er ging auf sie zu, ließ den Blick durch den neun Quadratmeter großen Raum schweifen und musterte sie dann mit einem trägen, fast verächtlichen Blick. Im schummrigen Schein der Kerze traten sein markanter Kiefer und seine hohen Wangenknochen noch deutlicher hervor als gewöhnlich. Mit seinem kurzgeschorenen schwarzen Haar wirkte er doppelt so bedrohlich wie bei Tageslicht. Er warf ein gefaltetes Bündel aus tristem, braunem Stoff auf den Tisch und schlenderte dann zu dem Feldbett hinüber. „Du bist offiziell eine Flüchtige. Ich habe die Wachen verfolgt. Soweit ich weiß, hat deine Familie zugestimmt, mit dem Malran zu kooperieren.“
„Das ist alles? Du warst stundenlang weg, und mehr hast du nicht in Erfahrung gebracht?“
Er setzte sich auf die Pritsche und legte einen Fuß auf das Knie des anderen Beins. Erschöpft stieß er den Atem aus und lehnte sich an die raue Wand. „Acht Stunden, um genau zu sein. Acht Stunden, in denen ich meine Tarnung aufrechterhalten musste und mein Leben für dich riskiert habe, indem ich mich an die Fersen myrenischer Elitekrieger geheftet habe.“ Mit dem Kinn deutete er auf das Stoffbündel. „Und ich habe dir frische Kleidung besorgt. Ich dachte, du würdest mir dankbar sein.“
Das waren Kleider? Sie griff nach dem obersten Teil, entfaltete es und hielt es mit beiden Händen vor sich in die Höhe, um ihre Grimasse zu verbergen. Zugegeben, die lose Tunika war praktisch und ordentlich verarbeitet, aber sie hatte den Stil eines Jutesacks. „Woher hast du die?“
„Vom Markt. Du weißt schon, das ist der Ort, an dem gewöhnliche Leute einkaufen.“
Dieser Mistkerl. Er wusste verdammt gut, dass sie noch nie etwas auf dem Markt von Cush gekauft hatte. Trotzdem brauchte sie etwas Sauberes zum Anziehen, und er war der Einzige, der ihr frische Kleidung besorgen konnte. Sie bemühte sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck, schenkte ihm ein Lächeln und faltete das Kleidungsstück in ihrem Schoß. „Danke.“
Er verzog die Lippen zu einem anmaßenden Grinsen, mit dem er ihr deutlich zu verstehen gab, wie sehr er ihr Unbehagen genoss.
„Wie genau gedenkt meine Familie zu kooperieren?“, wollte sie wissen.
„Sie wurden bereits befragt. Keiner von ihnen war in der Lage, deinen Aufenthaltsort über eure Verbindung zu bestimmen. Deine Mutter hat eine ziemliche Show abgezogen und behauptet, du seist nicht mehr am Leben, aber dein Vater hat dich verraten und bestätigt, dass die Verbindung nicht völlig tot sei. Nur undeutlich. Sie alle haben zugestimmt, ihre Erinnerungen in Anwesenheit eines Anwalts zu teilen.“
Natürlich würde ihr Vater seine Unterstützung nur unter Vorbehalt anbieten. Ausschließlich Anwälte waren in der Lage, irrelevante Erinnerungen während eines Scans zu blockieren, und Reginald Doroz verfügte über eine Menge Informationen, mit denen er andere kompromittieren könnte. Es war kein Wunder, dass er diese unter Verschluss halten wollte. Wissen schafft Druckmittel. Dieser verdammte Satz hätte unter ihrem Familienzeichen prangen sollen. „Also, was werden wir jetzt tun?“
„Wir?“ Uther setzte sich auf und stützte die Ellbogen auf die Knie. „Wie kommst du darauf, dass es in jeder Gleichung, die deine Zukunft betrifft, ein ‚wir‘ gibt?“
„Weil ich nicht länger in diesem Loch festsitzen will. Und um hier herauszukommen, muss ich entweder die Verbindung zu meiner Familie kappen oder sie auf andere Weise loswerden. Maxis hat nie herausgefunden, wie Eryx es geschafft hat, seine Verbindung zu Reese zu trennen, also wird mir nichts anderes übrigbleiben, als mich meiner Familie auf andere Weise zu entledigen.“
„Dank deiner impulsiven Entscheidung haben wir die Übersetzungstafeln des Malran, was bedeutet, dass er nicht mehr an der Prophezeiung arbeiten kann. Ich habe das Tagebuch meiner Familie bereits. Meiner Meinung nach ist es das Beste, du bleibst hier, um deine Arbeit zu beenden. Es ist nicht in meinem Interesse, dich aus dieser misslichen Lage zu befreien.“
Und da war sie. Die unerwartete Komplikation, über die sie nachgedacht hatte, seit Uther sie in diese triste Höhle gedrängt hatte. „Genau genommen hatte ich das Tagebuch deiner Familie.“
Uther sprang auf und ballte die Hände zu Fäusten. „Was soll das bedeuten?“
„Bevor wir zum Schloss aufbrachen, habe ich es zusammen mit den Zeilen, die ich bereits übersetzt hatte und den anderen Übersetzungstafeln im Büro meines Vaters versteckt.“
„Ich dachte, es befand sich im Tresor deines Anwalts?“
„Ich habe in Thyrus’ Büro nur gearbeitet, weil ich einen Tapetenwechsel brauchte und seine Texte lesen wollte. Aber ich habe dort nie etwas aufbewahrt.“ Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. In dem Tresor in Thyrus’ Büro lag eine dritte Übersetzungstafel, die sich als weitaus genauer erwiesen hatte als die, die sie Uther gezeigt hatte. Doch das musste Uther nicht wissen.
„Verdammt!“ Er ging in dem winzigen Raum auf und ab, wobei er ihn in drei Schritten durchquert hatte. „Wo sind sie?“
„Im Büro meines Vaters.“
„Wo?“
„Ich habe sie hinter einigen Büchern in meiner Tasche versteckt. Sie werden sie nicht finden, wenn sie nicht wissen, wo sie suchen müssen.“
Uther hielt inne, ließ den Kopf hängen und stemmte die Hände in die Hüfte.
Die Information, die sie ihm vorenthalten hatte, war zwar nicht viel, aber sie war besser als nichts. „Wenn du willst, dass ich weiter an den Texten arbeite, dann brauchen wir meine Tasche. Unter allen Umständen müssen wir verhindern, dass Eryx die Übersetzungen in die Finger bekommt, die ich bereits fertiggestellt habe.“
Er rieb sich den Nacken und starrte auf den dreckigen Boden. „Im Moment komme ich auf keinen Fall ins Haus. Zuerst müssen einige der Wachen abziehen.“ Er warf ihr einen finsteren Blick zu. „Wer weiß sonst noch, wo die Bücher sind?“
„Abgesehen von dir, niemand.“
„Ich brauche Einzelheiten. Du musst mir genau erklären, wo sie sich befinden, damit ich nicht lange suchen muss.“
Sie rutschte an die Kante ihres Stuhls und faltete die Hände auf dem Tisch. „Sie sind in dem Bücherregal, das der Tür am nächsten ist. Es ist schulterhoch.“ Sie betrachtete Uthers überragende Statur und korrigierte: „Meine Schulterhöhe.“
„Und die Bücher, hinter denen sie verborgen sind?“
„Das Myren-Kompendium. Es sind vier Bände. Oder vielleicht fünf.“
Einer seiner Kiefermuskeln begann zu zucken und er warf einen Blick auf die Papiere auf dem Tisch. „Schreibe es auf.“
„Wie bitte?“
„Schreibe es auf. Genauso, wie es auf dem Einband steht.“
Stille trat ein und ihre Instinkte meldeten sich zu Wort. Selbst für einen argwöhnischen Mann wie Uther, war die Bitte ein wenig übertrieben. Allerdings wäre es in ihrer Lage nicht ratsam, seine Geduld noch weiter zu strapazieren. Also zog sie den Stapel Papiere zu sich und schrieb den Namen deutlich auf das oberste Blatt.
Kaum hatte sie den Stift beiseitegelegt, schnappte er es sich und studierte ihre Handschrift. „Welche Farbe haben die Bücher?“
„Sie sind in blaues Leder gebunden und mit Blattgold verziert.“
Er betrachtete weiter die Schrift, wobei er die Augen zu dünnen Schlitzen verengte, als wolle er sich das Wort einprägen.
Es waren nur drei Worte, die zudem nicht sonderlich kompliziert waren. Warum, um alles in der Welt, hatte er von ihr verlangt, sie aufzuschreiben?
Er konnte nicht lesen.
Das musste der Grund sein. Vielleicht war er imstande zu lesen, aber nicht sonderlich gut. Vor einiger Zeit hatte er ihr erzählt, dass er ohne Rang und Namen in der myrenischen Gesellschaft aufgewachsen war, was bedeutete, dass er wahrscheinlich keine Bildung genossen hatte. Das würde auch erklären, warum er zugestimmt hatte, mit ihr zu arbeiten.
Zum ersten Mal, seit sie untergetaucht war, entspannte sie sich und atmete tief durch. Dies war die günstige Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte. Nun würde sie vielleicht einen Weg aus diesem Loch herausfinden können.
Uther faltete den Zettel zusammen, steckte ihn in seine Tasche und wandte sich zum Gehen. „Ich werde tagsüber schlafen und es heute Nacht versuchen.“
„Warte.“
Mit einer Hand an der geöffneten Tür hielt er inne.
Serena kam eine Idee, die so zaghaft aufflackerte wie das Kerzenlicht auf dem Tisch und zugleich warnend leuchtete. Es war ein Risiko. Aber wenn sie mit ihrer Vermutung richtig lag und er tatsächlich nicht lesen konnte, dann würde sie sich dadurch etwas Solidarität verschaffen können. „Ich möchte dir etwas zeigen.“
Sie stand auf, hob die Matratze an und zog das Tagebuch aus seinem Versteck. Nachdem sie mit den Fingern über den alten, aber hochwertigen Ledereinband gestrichen hatte, hielt sie es in die Höhe. „Als wir im Schloss waren, habe ich noch etwas anderes gefunden.“
Er trat auf sie zu und beäugte mit misstrauischem Blick den Gegenstand in ihrer Hand. „Was ist das?“
„Ich glaube, es ist ein Tagebuch wie das deiner Familie. Während du weg warst, habe ich es ein wenig studiert. Die Zeichen sehen ähnlich aus, wobei dieses hier jedoch mehr Symbole enthält, die ich zuvor noch nie gesehen habe. Auch inhaltlich ist es umfangreicher.“
Er schlug es auf und überflog die Seiten, wobei sein Blick jedoch nie lange genug auf den Zeilen verweilte, um sie tatsächlich zu verarbeiten.
Serena hatte also richtig gelegen mit ihrer Vermutung. Es konnte nicht anders sein. Wenn er lesen könnte, würde er zumindest hin und wieder innehalten.
„Du hast es für dich behalten.“ Er reichte ihr das Tagebuch zurück. „Und du hattest nie vor, mir davon zu erzählen.“
„Ich wusste nicht wirklich, worum es sich handelte, aber da es deinem Tagebuch ähnelt, habe ich es mitgenommen. Danach habe ich es vor lauter Verzweiflung über meine missliche Lage völlig vergessen.“
„Aber du hast es versteckt.“
„Als ich Geräusche von oben hörte, hatte ich befürchtet, dass vielleicht jemand anderes im Haus sein könnte.“ Die Lügen kamen ihr problemlos über die Lippen und mit jedem Wort war sie sich ihrer Sache sicherer. „Durch das Zeolith kann ich deine Verbindungsenergie nicht wahrnehmen. Ich wollte vermeiden, dass Eryx das Buch findet, falls er hereingekommen wäre.“
Uther runzelte die Stirn.
„Wenn ich dir nicht helfen wollte, dann hätte ich dir nicht davon erzählt.“
„Du tust nie etwas grundlos, Serena.“ Er verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen und wandte sich wieder der Tür zu. „Aber ich ebenso wenig. Du solltest dich nützlich machen und die Tagebücher übersetzen, während ich weg bin.“
So fühlte es sich also an, zu fliegen. Von Ludans starken Armen umschlungen, ließ Brenna ihre Zukunftsängste von dem kühlen Wind davontragen, der auf ihre Wangen traf, und atmete die salzige Seeluft ein. Die rotgeränderte Sonne warf ihre milden Strahlen auf die Landschaft unter ihr. Sanfte Hügel waren von moosgrünem Gras bewachsen, das silbern schimmerte, während vereinzelt Ansammlungen weißer Blumen hervorragten. In der Ferne erstreckte sich ein Wald voller Bäume mit lavendelfarbenen Blättern und schokoladenbraunen Stämmen entlang einer faszinierenden, perlmuttfarbenen Bergkette. „Es ist wunderschön.“
Ludan sah sie an und musterte sie eindringlich. „Hast du es noch nie von oben gesehen?“
Sie schüttelte den Kopf und warf einen Blick über die Schulter auf den türkisfarbenen Ozean und den regenbogenfarbenen Himmel. Es war besser, sie wandte ihr Gesicht ab, bevor sie ihm einen zu persönlichen Einblick gewährte. „Bisher bin ich nur zweimal geflogen. Einmal an dem Tag, an dem Maxis mich gefangen nahm, und ein zweites Mal, als Eryx mich hierherbrachte.“ Sie musste ihre Worte gegenüber Ludan nicht näher erläutern. Er war dabei gewesen, als sie sich vor Lexi geworfen und für sie eine Kugel abgefangen hatte. Eryx hatte sie geheilt und sie bewusstlos ins Schloss transportiert, ohne zu ahnen, welche Auswirkungen seine Heilkräfte auf ihren menschlichen Körper gehabt hatten.
Mittlerweile kannten sie die Konsequenzen, zumindest einige von ihnen. Brenna war in der Lage, die Gaben der Myren in ihrer Nähe zu spiegeln, was wahrscheinlich der Grund dafür war, warum sie Ramsays Traum von der Prophezeiung hatte sehen können.
Ludan strich mit dem Daumen auf befremdliche Weise über ihre Schulter und hinterließ ein Kribbeln auf ihrer Haut. „Ich kann dich gern noch einmal mitnehmen.“
Schockiert sah sie ihn an. „Das würdest du tun?“
Er nickte langsam und feierlich, als würde er einen Schwur leisten. Sein gewelltes schwarzes Haar wehte im Wind. Einige der Strähnen wanden sich um seinen Hals und kitzelten ihren Arm. Es war kürzer als das von Eryx, reichte ihm nur bis knapp über die Schultern, aber es war genauso dicht und mit einem Hauch von Blau durchzogen.
Sie würde viel dafür geben, es zu berühren und mit ihren Fingern hindurchzukämmen, um zu sehen, ob es sich so weich anfühlte, wie es aussah. Stattdessen ballte sie ihre Hand zur Faust. Für einen Mann wie Ludan wäre so etwas sicher viel zu sachte und mädchenhaft. „Das würde mir gefallen.“
Er starrte sie weiter mit seinen gespenstisch blauen Augen an, die er unsicher zu dünnen Schlitzen zusammengekniffen hatte. Kurz darauf schluckte er und senkte den Blick zu Boden. „Eryx ist auf dem Weg, und Lexi wartet im Arbeitszimmer auf dich.“ Im Handumdrehen war der Anflug von Verletzlichkeit aus seinen Zügen verschwunden und seiner üblichen schroffen Art gewichen.
Sie näherten sich der Terrasse des Schlosses, die mit grau schimmernden Steinfliesen ausgelegt war und deren Balustraden mit Efeu umrankt waren. Noch ein paar Sekunden und sie würde wieder auf ihren Füßen und damit auf dem Boden der Tatsachen stehen. Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Halsbeuge und hielt den Atem an.
Ludan landete mit einem dumpfen Laut. Seine Barstoppeln streiften ihre Wange, als er ihr mit tiefer, grollender Stimme ins Ohr flüsterte: „Du bist in Sicherheit.“
Das war das zweite Mal, dass er diese Worte aussprach. Jedes Mal löste er damit ungewohnte Empfindungen in ihr aus, die weder ihr Verstand noch ihr Körper verarbeiten konnten. Sie hob den Kopf und atmete tief durch. Sein Duft durchdrang ihre Lunge mit einer Mischung aus Leder und Erde und erinnerte sie an einen Wald. Er beruhigte ihre Nerven besser als eines von Galenas Mittelchen. „Tut mir leid. Ich sollte mich nicht so von meinen Ängsten überwältigen lassen.“
„Wir werden daran arbeiten.“
Würden sie das?
Offenbar spiegelte ihre Verwirrung sich auf ihrem Gesicht wider, denn er verzog den Mund fast zu einem Grinsen. Er legte ihr eine Hand an den Rücken und schob sie sanft vorwärts, wobei die Spanne von seinem kleinen Finger bis zu seinem Daumen fast ihr gesamtes Kreuz bedeckte. Sie konnte die Berührung unter ihrem schlichten Samtkleid deutlich spüren und war so darauf fixiert, dass sie den ganzen Weg von der Veranda zum Arbeitszimmer des Königspaares kaum wahrnahm.
Lexi stand allein auf der anderen Seite des Raumes und starrte aus dem hohen Bogenfenster. Eryx war nirgends zu sehen.
Plötzlich blieb Brenna wie angewurzelt stehen und Ludan wäre fast mit ihr zusammengeprallt. „Warum ist Eryx im Trainingszentrum? Als ich ihn zuletzt gesehen habe, hat er darauf gewartet, dass Ramsay aufwacht.“
Bei den Worten drehte sich Lexi um und stieß sich vom Fenster ab. Wie üblich hatte sie auf das traditionelle Gewand der myrenischen High Society verzichtet und trug stattdessen eine schlichte scharlachrote Tunika und Leggings. Das Zeichen des Malrans zog sich über ihren rechten Arm. Es war ein schwarzes, geflügeltes Pferd, das sich auf den Hinterbeinen aufbäumte, während es die Flügel ausgebreitet hatte. Lexi war zwar leger gekleidet, aber ihr Gesicht war angespannt. „Sie versuchen, Serena und Sully aufzuspüren.“
„Wie bitte?“ Brenna drehte sich um und suchte fragend Ludans Gesicht ab.
Leider hatte er die für ihn typische ausdruckslose Maske aufgesetzt und starrte sie mit gelangweilter Miene an, die fast überheblich wirkte.
„Ich dachte, sie stünde unter Hausarrest“, sagte Brenna. „Und wer ist Sully?“
„Sie stand unter Hausarrest.“ Lexi schritt auf sie zu und ließ dabei die Fingerknöchel knacken. „Irgendwann gestern Nachmittag ist sie verschwunden. Sully ist Angus’ Page und die einzige Person, die uns helfen kann, Serena und Angus ein für alle Mal zu fassen. Allerdings ist er ebenfalls nicht aufzufinden. Die Krieger suchen seit gestern Abend nach ihnen.“
„Deshalb war Eryx so aufgebracht“, murmelte sie zu sich selbst. Mehrmals hatten Eryx und Lexi nach Ramsay gesehen, während er bewusstlos gewesen war. Mit jedem Besuch hatte sich Eryx’ Nervosität gesteigert.
Brenna durchfuhr ein eiskalter Schauer. „Sie ist frei.“
Ludan trat dicht hinter sie. Sie nahm seine Präsenz so deutlich wahr wie eine glühende Rüstung. „Niemand wird dir etwas antun.“ Es war ein Versprechen, das nur für ihre Ohren bestimmt war.
„Maxis ist tot.“ Lexi blieb direkt vor ihr stehen. Für eine Sekunde ließ sie ihren Blick zu Ludan gleiten, bevor sie wieder Brenna ansah. Ihre Miene erweichte sich. „Die meisten Rebellen haben sich gestellt, in der Hoffnung, ihre Strafe abmildern zu können. Serena ist nicht in der Lage, ihre Drecksarbeit allein zu erledigen, deshalb stellt sie keine Bedrohung für dich dar.“
Vielleicht nicht körperlich. Aber Brenna hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sehr Serena die Menschen verabscheute. Und Gott stehe ihr bei, falls sich Ramsays Vision bewahrheitete und Serena von Brennas Rolle in der Prophezeiung erfuhr.
Eryx und Reese schritten durch die bogenförmige Eingangstür. Die beiden trugen wie Ludan einen silbernen Drast, sowie schwarze Lederhosen und Stiefel. Wie bei verpaarten myrenischen Männern üblich, hatten auch sie ihr Haar zusammengebunden. Reese hatte seine Mähne zu einem Knoten hochgebunden, während Platinperlen Eryx’ Zöpfe zusammenhielten, die ihm fast bis zur Taille reichten.
Eryx blieb nur zwei Schritte hinter der Tür stehen und sah sich im Raum um. Sein Blick blieb auf Ludan haften. „Was gibt es Neues?“
„Ramsay ist aufgewacht“, meldete sich Brenna zu Wort. „Vor etwas mehr als einer Stunde.“
Er wirbelte herum und ging auf die große Treppe zu. „Und ich erfahre erst jetzt davon?“
Reese folgte ihm. „Ich werde Galena holen.“
„Wartet!“ Brenna eilte hinter ihnen her. Sie hatte gerade ein paar Schritte zurückgelegt, als Eryx sich erneut umdrehte. Er strahlte eine ungestüme Energie aus, die die Luft förmlich zum Knistern brachte. Brenna wich zurück.
Ludan baute sich zwischen ihr und Eryx auf und stieß ein tiefes, bedrohliches Knurren aus.
Brenna stellten sich die Nackenhaare auf. Ohne nachzudenken, legte sie Ludan beruhigend eine Hand an die Schulter und trat neben ihn. „Ramsay geht es gut. Sogar besser als gut, aber er hat darum gebeten, mit Trinity allein zu sein. Sie ist am Boden zerstört.“
Eryx bemerkte Ludans aggressive Haltung und dann Brennas Hand an dessen Schulter.
Sie zog sie hastig zurück und rückte dichter an Lexi heran, die neben ihr stehen geblieben war.
Eryx fixierte weiterhin Ludan, als er fragte: „Was meinst du mit besser als gut?“
Brenna schluckte und verschränkte die Hände fest vor ihrem Körper. Auf keinen Fall wollte sie Eryx weitere Einzelheiten erzählen, solange er derart gelaunt war. Wenn es nach ihr ginge, würde sie ihm gar nichts sagen.
„Lass dich von ihm nicht aus der Ruhe bringen“, sagte Lexi und legte einen Arm um Brennas Schultern. „Er ist nur wütend wegen Serena, es hat nichts mit dir zu tun. Erzähle ihm von Ramsay.“
Ludan stand neben Brenna und durchbohrte seinen Malran mit einem finsteren Blick. Er hatte die Schultern gestrafft und seine hoch aufragende Statur drohend nach vorn gebeugt. Eryx und Lexi hatten Ramsay und sein Erwachen für einen Moment vergessen und starrten den Somo ungläubig an. Ludan würde sich doch keinesfalls ihretwegen auf seinen König stürzen. Die beiden waren beste Freunde. Obwohl nicht das gleiche Blut durch ihre Adern floss, waren sie doch wie Brüder.
„Trinitys Vater hat Ramsay nicht verletzt.“ Nun starrten alle Brenna an, einschließlich Ludan. „Kazan hat ihm Wissen vermittelt. Deshalb war er bewusstlos, als er zurückkam. Er hat die Prophezeiung in Gedanken noch einmal durchlebt.“
Eryx machte einen Schritt auf sie zu, doch Ludan stellte sich ihm in den Weg.
Lexi hob eine Hand und starrte die beiden finster an. „Könntet ihr beiden euer Testosteron vielleicht lange genug dämpfen, bis wir etwas mehr in Erfahrung gebracht haben? Ihr erschreckt Brenna ja zu Tode.“ Sie stemmte die Hände in die Hüfte, wandte den Männern den Rücken zu und ging zu Brenna. „In Ordnung, fang noch einmal von vorn an. Aber diesmal brauchen wir etwas mehr Einzelheiten.“
„Kazan hat Ramsay alles über die Prophezeiung übermittelt“, erklärte Brenna. „Wie sie zustande kam, wer daran beteiligt war und wie sie funktioniert. Ramsay hat sozusagen alles noch einmal durchlebt. Deshalb war er bewusstlos.“ Brenna würde sich den Teil, wie die Prophezeiung geendet hatte, für später aufheben, wenn Eryx weit weg war.
Hinter Lexi ertönte Eryx’ Stimme, die mittlerweile etwas ruhiger und leicht verblüfft klang. „Alles?“
Brenna hielt ihren Blick auf Lexi gerichtet und bemühte sich, den Schweiß auf ihrer Stirn und an ihrem Nacken zu ignorieren. Sie teilte den anderen lediglich mit, was sie wusste. In keiner Weise deutete sie an, eine Rolle in der Prophezeiung zu spielen, noch hatte sie sich dazu bereit erklärt. „Alles. Im Moment will er jedoch noch eine Weile mit Trinity allein sein. Sie war ziemlich verstört, nachdem er aufgewacht war. Ich glaube nicht, dass sie einem von euch davon erzählt hat, aber die Informationen, die Kazan Ramsay gegeben hat, hatten ihren Preis.“
„Und diesen musste Trinity bezahlen?“, wollte Lexi wissen.
„Nicht Trinity.“ Brenna wischte sich eine verschwitzte Hand an der Hüfte ab. „Ihr Vater hat sein Leben verwirkt.“
Eryx drehte sich um und starrte in die Richtung des hinteren Flügels, in dem Ramsays Gemächer lagen. Für einen Moment trat ein distanzierter Ausdruck in seine Augen, bevor sein Blick wieder auf Brenna landete. Er nickte. „Er will Trinity zuerst beruhigen. Später kann er uns beim Abendessen alles erzählen. Reese und ich werden zum Trainingszentrum zurückkehren und die Suche nach Serena und Sully fortsetzen.“ Er sah Ludan an. „Kommst du mit?“
Bevor Ludan antworten konnte, hob Reese eine Hand. Einen Moment starrte er zu Boden, bevor er zu Eryx aufblickte. „Der Quaran, der in Serenas Haus abgestellt ist, hat mir gerade mitgeteilt, dass der Anwalt der Familie eingetroffen ist. Sie werden innerhalb der nächsten Stunde aussagen können.“
„Ich dachte, Reginald steht derzeit hinter Serena“, warf Ludan ein.
Eryx rieb sich den Nacken und blickte aus dem Fenster an der gegenüberliegenden Wand. „Reginald geht es in erster Linie um seinen Profit. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Er wandte sich Ludan zu und kniff die Augen zu dünnen Schlitzen zusammen. „Sie sind bereit, ihre Erinnerungen zu teilen, obgleich unter dem Schutz eines Anwalts. Bist du bereit?“
Ludan verschränkte seine kräftigen Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. „Bin ich das nicht immer?“
Eryx blickte zwischen Ludan und Brenna hin und her und öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
„Das reicht jetzt“, kam Lexi ihm zuvor. „Wenn ihr beiden euch auf die Brust trommeln wollt, dann macht das bitte ohne uns. Aber seht zu, dass ihr kein Blut auf dem Teppich vergießt, sonst wird Orla euch an euren Eiern aufhängen.“ Sie bedeutete Brenna, ihr zu folgen und warf Ludan noch einen Blick über die Schulter zu. „Und wenn ich mich nicht irre, wirst gerade du sie später noch brauchen.“
***
Unaufhörlich dröhnten Geplapper, Musik und Lärm durch Ludans Schädel, wobei der Krach hin und wieder von einem Schrei unterbrochen wurde. Unter ihm zog die Hauptstadt Cush vorbei und die kühle Luft rauschte in seinen Ohren. Für gewöhnlich vermittelte ihm die Konzentration, die das Fliegen erforderte, einen inneren Frieden, doch heute wollte sich die Ruhe einfach nicht einstellen. Nicht, nachdem er Brenna so nahe gewesen war.
Eryx flog zwischen ihm und Reese durch die Luft. Obwohl der Malran ihm in seinem Arbeitszimmer noch die Leviten gelesen hatte, hatte sein Freund kein einziges Wort geäußert, seit sie das Schloss verlassen hatten.
Ludan biss die Zähne zusammen und versuchte, sich trotz des Lärms in seinem Kopf zu konzentrieren. Ihm blieben höchstens noch fünf Minuten, um seine Fassung wiederzugewinnen. Wenn er im Haus der Doroz immer noch so aufgewühlt wäre, würde er bei den Scans nicht von Nutzen sein. Und das würde Eryx später sicher nicht so leicht abtun.
Eryx’ lässige Stimme ertönte in Ludans Gedanken. Das Ausbleiben eines Echos verriet ihm, dass die Unterhaltung nur zwischen ihnen beiden stattfand. „Willst du mir erklären, was dein Verhalten in meinem Arbeitszimmer zu bedeuten hatte?“
Offenbar hatte sein Malran das Thema doch nicht so einfach vergessen. „Kommt darauf an. Vielleicht könntest du etwas genauer werden.“
Ludan konnte Eryx’ gedankliches Schnauben deutlich hören. „Wir haben uns praktisch eine Wiege geteilt. Was gerade in meinem Büro passiert ist, ist zuvor noch nie vorgekommen. Ich bezweifle, dass ich noch genauer werden muss.“
„Ich habe mich dir schon häufiger entgegengestellt.“
„Gerade eben hast du dich mir nicht einfach entgegengestellt. Du hast mir gedroht.“
Damit hatte er recht. Wenn er nicht so heftig auf Brenna reagiert hätte, wäre er nicht so sehr aus dem Gleichgewicht geraten und hätte sich etwas besser im Griff gehabt. „Ich habe kein einziges Wort geäußert.“
„Das war auch gar nicht nötig.“ Eryx richtete sich zur Landung aus und setzte auf dem Boden auf. Sobald Ludan und Reese ebenfalls gelandet waren, warf er letzterem einen vielsagenden Blick zu. „Gib dem Anwalt der Doroz Bescheid, dass wir hier sind. Ich brauche noch eine Minute mit Ludan.“
Reese musterte ihn, als sei er sich nicht ganz sicher, ob er sie allein lassen sollte; dann schüttelte er den Kopf und schlenderte davon.
Eryx starrte ihm hinterher und wartete, bis er außer Hörweite war. „Du verhältst dich schon seit Wochen merkwürdig.“
Das war nicht zu leugnen. Eryx war nicht der Erste, der ihm deshalb die Leviten las. Ludan wünschte, sie alle würden sich aus seinen Angelegenheiten heraushalten. Er starrte seinen Malran an und bemühte sich um eine ausdruckslose Miene.
Eryx legte den Kopf schief und kratzte sich über die Bartstoppeln an seinem Kinn. „Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr drängt sich mir die Vermutung auf, dass du nicht mehr ganz du selbst bist, seit wir Brenna nach Hause geholt haben.“
Ludan musste sich zusammenreißen, um Eryx’ Blick standzuhalten. Am liebsten wäre er auf- und abgegangen oder hätte für eine Ablenkung gesorgt, indem er seinem Freund einen Kinnhaken verpasste. Auf jeden Fall wollte er vermeiden, dass Eryx einen Zusammenhang zwischen seiner Laune und Brennas Erscheinen herstellte. Zumindest so lange, bis er selbst besser verstand, was vor sich ging. „Das bildest du dir nur ein.“
„Ich habe mir wohl kaum eingebildet, wie du dich zwischen mich und Brenna gestellt hast.“
„Du hast ihr Angst eingejagt, und das hat mich wütend gemacht.“
„Während der letzten Jahre habe ich vielen Leuten Angst eingejagt, aber du hast mich kein einziges Mal zurückgehalten. Was ist anders an ihr?“
Ludan musste sichtlich schlucken, bevor er die Fassung wiedergewann. Eryx hatte jedoch flüchtig den Blick gesenkt und seine Reaktion bemerkt.
Verdammt, das konnte Ludan jetzt nicht auch noch gebrauchen. Die Stimmen in seinem Kopf wurden lauter, und seine Schläfe pochte in einem unaufhörlichen Rhythmus. Er hatte genug von den Lügen und der Geheimniskrämerei. Zum ersten Mal, seit er seine Mutter tot aufgefunden und seinen Onkel für das Verbrechen verurteilt und getötet hatte, erwog er, alles herauszulassen. Jedes schmutzige Detail, das er seitdem mit sich herumtrug.
Aber das hatte Eryx nicht verdient. Er würde von einem ganzen Berg von Schuldgefühlen erdrückt werden, weil er Ludan angewiesen hatte, die Erinnerungen anderer in sich aufzunehmen. Der Malran musste sich um ein ganzes verdammtes Volk kümmern. Es war Ludans Aufgabe, sich um Eryx zu kümmern.