Lust und Laster - Evelyn Waugh - E-Book

Lust und Laster E-Book

Evelyn Waugh

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Beschreibung

Adam ist überall dabei: Nachts tanzt er mit der jungen hübschen Nina von Party zu Party, um tags darauf als »Mr Chatterbox« in seiner Kolumne den neusten Londoner Tratsch zu verbreiten. Doch wird sein größter Wunsch, die Hochzeit mit Nina, jemals in Erfüllung gehen? Eine Satire auf die Spaßgesellschaft der zwanziger Jahre – noch heute hochamüsant zu lesen. In der brillanten Neuübersetzung von pociao. Verfilmt von Stephen Fry unter dem Titel ›Bright Young Things‹, mit Emily Mortimer, Dan Aykroyd, James McAvoy, Peter O’Toole u.a.

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Seitenzahl: 306

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Petros Markaris

Lust und Laster

Aus dem Englischenvon pociao

Titel der 1930 bei

Chapman and Hall, London, erschienenen

Originalausgabe: ›Vile Bodies‹

Copyright ©1930 by Evelyn Waugh

All rights reserved

Umschlagfoto: Edward Steichen

für Vogue, Januar 1933

Copyright ©The Estate Edward Steichen/2014,

ProLitteris, Zürich

Neuübersetzung

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 06930 3 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60463 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

In Liebe für Bryan Moyne und Diana Mosley

[7]Vorwort

Es war ein völlig ungeplanter Roman. Im Alter von 25Jahren hatte ich die Fähigkeit, mich an meinen Schreibtisch zu setzen, ein paar Charaktere zu entwerfen, 3000 Wörter am Tag zu schreiben und überrascht zu beobachten, was passierte. Die Komposition von Lust und Laster wurde von einem tiefen Einschnitt in meinem Privatleben unterbrochen und später in einer anderen Stimmung fortgesetzt. Vielleicht fällt dieser Wechsel von Heiter- zu Bitterkeit auch dem Leser auf.

Das Buch war mein erster Publikumserfolg. Verfall und Untergang hatte gute Besprechungen erhalten, doch hielten sich die Verkaufszahlen anfangs in Grenzen; nicht einmal 3000 Exemplare wurden im ersten Jahr verkauft, wenn ich mich richtig erinnere. Lust und Laster gefiel den Lesern aus völlig belanglosen Gründen. »Die wilden jungen Leute«, von denen hier die Rede ist und zu denen auch ich gehörte, allerdings mehr als Randfigur denn im Zentrum des Geschehens, waren Thema vieler Leitartikel in den Zeitungen jener Zeit. Sie waren ganz anders als diverse bekannte Gruppierungen der heutigen Jugend, denn sie stammten zumeist aus guten Familien, waren gebildet und überaus intelligent, gleichzeitig aber auch aufsässig und flatterhaft. Unsere Ausdrucksweise war neu für den Leser von [8]Romanen und hat damals einen prominenten Theaterkritiker dermaßen fasziniert, dass er Woche für Woche die Zeile »Einfach zum Kotzen, wie MrWaugh sagen würde« in seine Artikel einfügte. Das Buch liefert außerdem eine ziemlich akkurate Beschreibung von MrsRosa Lewis und ihrem Cavendish Hotel, schon am Rande des Niedergangs, aber noch berühmt. Ich glaube, mit Recht behaupten zu dürfen, dass es der erste englische Roman ist, in dem Telefongespräche eine erhebliche Rolle spielen. Weil es so etwas Neues war, wurden zahlreiche grobe Schnitzer übersehen. Es gab damals nicht viele komische Schriftsteller, und ich füllte eine Lücke. Ich begann kurz unter dem Einfluss von Ronald Firbank, schlug dann aber eine eigene Richtung ein. Lust und Laster gehört nicht zu den Büchern, die ich gern wiederlese, doch gibt es ein oder zwei komische Szenen darin, die es vor der Banalität retten. Colonel Blount gefällt mir immer noch, obgleich er eine Figur aus einem konventionellen Schwank sein könnte. Athol Stewart hat ihn in einer ansonsten jämmerlichen Theaterinszenierung glänzend verkörpert. Im Übrigen muss ich hinzufügen, dass ich noch nie einem Jesuiten begegnet war, als ich Pater Rothschild erfand.

[9]»Nun, in unserem Land«, sagte Alice, immer noch ein wenig atemlos, »würde man normalerweise irgendwo anders hinkommen – wenn man lange so schnell rennt, wie wir es gerade getan haben.«

»Ein langsames Land!«, stellte die Königin fest. »Hier, weißt du, muss man so schnell rennen, wie man kann, nur um da zu bleiben, wo man ist. Wenn du woanders hinwillst, musst du mindestens doppelt so schnell sein!«

»Wenn ich nicht wirklich wäre«, sagte Alice, unter Tränen lachend, denn es kam ihr alles so albern vor, »dürfte ich gar nicht weinen können.«

»Du bildest dir doch hoffentlich nicht ein, dass das wirkliche Tränen sind«, unterbrach Tweedledum sie in einem Ton tiefster Verachtung.

Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln

[11]1

Keine Frage, die Überfahrt würde scheußlich werden. Mit asiatischem Gleichmut stellte Pater Rothschild S. J. seinen Koffer in einer Ecke der Bar ab und ging an Deck. (Es war ein kleiner Koffer aus falschem Krokodilleder. Die eingeprägten gotischen Initialen waren nicht die von Pater Rothschild, denn er hatte sich den Koffer erst am selben Morgen vom valet-de-chambre seines Hotels ausgeliehen. Er enthielt die nötigste Unterwäsche, sechs bedeutende Bücher in sechs verschiedenen Sprachen, einen falschen Bart, sowie einen Schulatlas und ein Erdkundelexikon, beide mit zahlreichen Anmerkungen versehen.) Pater Rothschild stand an Deck, die Ellbogen auf die Reling, den Kopf in die Hände gestützt, und musterte die Prozession von Passagieren, die die Gangway heraufkamen. In ihren Gesichtern spiegelte sich ausnahmslos höfliche Besorgnis.

Nur wenige waren dem Jesuiten unbekannt, denn er hatte die glückliche Gabe, sich an alles zu erinnern, was sich möglicherweise über jemanden in Erfahrung bringen ließ, der möglicherweise eines Tages von Bedeutung sein würde. Seine Zunge lugte ein wenig zwischen den Lippen hervor, und wären sie nicht alle derart mit ihrem Gepäck und dem Wetter beschäftigt gewesen, hätte vielleicht jemand eine seltsame Ähnlichkeit zwischen ihm und den [12]Gipsreproduktionen der Wasserspeier in Notre Dame bemerkt, die wie altes Elfenbein aussehen sollen und einem in den Auslagen von Geschäften für Künstlerbedarf zwischen Schablonen, Plastilin und Tuben mit Aquarellfarben entgegenstarren. Über seinem Kopf schaukelte MrsMelrose Apes Packard, von zahlreichen Reisen gezeichnet und vom Staub dreier Kontinente bedeckt, in den zunehmend düsteren Himmel hinauf, während die Evangelistin MrsMelrose selbst an der Spitze ihrer Engel die Kajütentreppe emporstieg.

»Faith.«

»Hier, MrsApe.«

»Charity.«

»Hier, MrsApe.«

»Fortitude.«

»Hier, MrsApe.«

»Chastity… wo ist Chastity?«

»Chastity fühlt sich nicht wohl, MrsApe. Sie ist nach unten gegangen.«

»Dieses Kind macht einem mehr Scherereien, als es wert ist. Immer wenn es ums Packen geht, fühlt Chastity sich nicht wohl. Sind die anderen da – Humility, Prudence, Divine Discontent, Mercy, Justice und Creative Endeavour?«

»Creative Endeavour hat ihre Flügel verloren, MrsApe. Sie hat sich im Zug mit einem Herrn unterhalten… Ach, da ist sie ja.«

»Hast du sie?«, fragte MrsApe.

Zu atemlos, um ein Wort hervorzubringen, nickte Creative Endeavour. (Alle Engel trugen ihre Flügel in einer kleinen schwarzen Schachtel bei sich, die an einen Violinkasten erinnerte.)

[13]»Schön«, sagte MrsApe. »Pass gut auf sie auf, und in Zukunft gibt es keine Unterhaltungen mit Herren im Zug mehr. Ihr seid Engel, keine Clowns, verstanden?«

Bedrückt drängten sich die Engel aneinander. Grässlich, wenn MrsApe so war. Chastity und Creative Endeavour konnten sich auf was gefasst machen, wenn sie die beiden erst allein im Nachthemd erwischten. Es war schlimm genug, dass ihnen übel würde, auch ohne dass MrsApe dermaßen auf sie losging.

Ihr Unbehagen besänftigte MrsApe, und sie lächelte – sie war einfach »unwiderstehlich«.

»Also, Kinder«, sagte sie. »Ich muss jetzt weiter. Es soll ein wenig ungemütlich werden, aber schert euch nicht drum. Wenn ihr Frieden im Herzen habt, wird sich euer Magen um sich selbst kümmern, und im Übrigen: Sollte es euch tatsächlich mulmig werden – singt! Es gibt nichts Besseres.«

»Wiedersehn, MrsApe, und vielen Dank«, sagten die Engel. Sie knicksten artig, machten kehrt und schoben ab zum Achterdeck, wo sich die zweite Klasse des Schiffs befand. MrsApe sah ihnen gütig nach, dann straffte sie die Schultern und marschierte – Seebär vom Scheitel bis zur Sohle (wenn auch ohne nennenswerten Bart) – entschlossen nach vorn in die Bar der ersten Klasse.

Weitere bekannte Persönlichkeiten kamen an Bord, alle wirkten sehr besorgt wegen des Wetters. Um den Schrecken der Seekrankheit zu entgehen, hatten sie unzählige Arten von zivilisierter Zauberei ausprobiert, allein, es fehlte ihnen der Glaube.

[14]Miss Runcible war da und Miles Malpractice und überhaupt die ganze Junge Generation. Sie hatten einen vergnügten Morgen damit verbracht, sich gegenseitig den Bauch mit Leukoplast zu verkleben (Miss Runcible hatte sich gewunden wie eine Schlange).

Right Honourable Walter Outrage, Parlamentsmitglied und Premierminister seit letzter Woche, war auch da. An diesem Morgen hatte MrOutrage noch vor dem (entsprechend beeinträchtigten) Frühstück zweimal die Höchstdosis eines patentierten Chloralpräparats eingenommen und später im Zug, als ihm bange wurde, den Rest der Flasche ausgetrunken. Jetzt stolperte er unsicher wie in Trance dahin, abgeschirmt von zwei überaus auffälligen Detective Sergeants. Diese Männer hatten MrOutrage nach Paris begleitet; was sie nicht über ihn wussten, war der Aufmerksamkeit nicht wert, zumindest vom Standpunkt eines Romanschriftstellers aus. (Wenn sie untereinander über ihn sprachen, nannten sie ihn »Right Honourable Rape«, aber das war mehr ein Wortspiel mit seinem Namen als eine Kritik an seiner Haltung in Liebesangelegenheiten, bei denen er, um die Wahrheit zu sagen, eine bemerkenswerte Zaghaftigkeit, ja Neigung zur Panik an den Tag legte.)

Lady Throbbing und MrsBlackwater, die Zwillingsschwestern, deren Porträt von Millais kürzlich bei Christie’s einen rekordverdächtigen Schleuderpreis erzielt hatte, saßen auf einer Teakholzbank, aßen Äpfel und tranken, was Lady Throbbing mit spätviktorianischer Eleganz als »Perlwein« bezeichnete, MrsBlackwater hingegen etwas exotischer [15]»champagne« nannte – als käme er tatsächlich aus Frankreich.

»Das ist doch MrOutrage, Kitty, der Premierminister von letzter Woche.«

»Unsinn, Fanny, wo?«

»Genau vor den beiden Männern mit Filzhut, neben dem Geistlichen.«

»Auf jeden Fall sieht er aus wie auf den Fotos. Irgendwie seltsam.«

»Genau wie Throbbing… in seinem letzten Jahr.«

»…und keiner von uns hatte nur den leisesten Verdacht… bis man die Flaschen unter dem Brett im Ankleidezimmer fand… und wir dachten doch alle, dass Alkohol…«

»Heutzutage haben Premierminister nicht mehr ganz so viel Stil, nicht?«

»Es heißt, es gebe nur eine einzige Person, die Einfluss auf MrOutrage hat…«

»In der japanischen Botschaft…«

»Ja natürlich, Schätzchen, nicht so laut. Und jetzt mal im Ernst, Fanny, findest du wirklich und wahrhaftig, dass MrOutrage das gewisse Etwas hat?«

»Er hat eine sehr gute Figur für einen Mann in seinem Alter.«

»Ja, aber gerade sein Alter in Verbindung mit seiner bulligen Figur entpuppt sich häufig als Enttäuschung. Noch ein Gläschen? Du wirst dankbar dafür sein, wenn das Schiff losfährt.«

»Ich dachte, wir wären schon losgefahren.«

»Wie kindisch du manchmal bist, Fanny, aber ich muss trotzdem lachen.«

[16]So begaben sich die zwei beschwipsten alten Damen Arm in Arm, von kleinen Kicheranfällen geschüttelt, in ihre Kajüte hinab.

Einige Passagiere hatten sich Wattebäusche in die Ohren gesteckt, andere trugen getönte Brillengläser, und mehrere aßen trockenen Schiffszwieback aus Papiertüten, so wie Indianer angeblich Schlangenfleisch verzehren, um sich deren Schlauheit anzueignen. MrsHoop wiederholte fieberhaft immer wieder ein Mantra, das sie von einem Yogi in New York City gelernt hatte. Ein paar »Seetüchtige«, deren Gepäck mit Aufklebern von zahlreichen Reisen geschmückt war, stolzierten forsch herum, rauchten stinkende kleine Pfeifen und versuchten, Partner für eine Runde Bridge zu finden.

Zwei Minuten vor der offiziellen Abfahrtszeit, als schon die ersten mahnenden Pfiffe und Rufe ertönten, kam noch ein junger Mann mit Reisetasche an Bord. An seiner äußeren Erscheinung war nichts Auffälliges. Er sah genauso aus wie andere junge Männer seines Schlages und trug seine Tasche, die unangenehm schwer war, selbst, weil er keine französischen Münzen und auch sonst nur sehr wenig Geld bei sich hatte. Nach einem zweimonatigen Aufenthalt in Paris, in dem er ein Buch geschrieben hatte, kehrte er jetzt nach Hause zurück, denn er hatte sich im Verlauf eines Briefwechsels verlobt. Sein Name war Adam Fenwick-Symes.

Pater Rothschild lächelte ihm freundlich entgegen.

»Sie werden sich nicht an mich erinnern«, sagte er. »Wir sind uns vor fünf Jahren bei einem Essen mit dem Dean von Balliol in Oxford begegnet. Ich warte gespannt auf das [17]Erscheinen Ihres Buchs – eine Autobiographie, wie man hört. Und darf ich Ihnen als einer der Ersten zu Ihrer Verlobung gratulieren? Ihr Schwiegervater ist ein bisschen exzentrisch, fürchte ich – und auch vergesslich. Er hatte im letzten Winter eine üble Bronchitis. Kein Wunder, das Haus ist zugig – und viel zu groß für heutige Verhältnisse. Nun, ich muss jetzt nach unten. Es soll stürmisch werden, und ich bin nicht besonders seefest. Wir sehen uns am 12. bei Lady Metroland, wenn nicht früher, was mich freuen würde.«

Noch ehe Adam antworten konnte, war der Jesuit verschwunden. Doch dann tauchte der Kopf noch einmal kurz auf.

»Wir haben eine äußerst gefährliche und unangenehme Frau an Bord – eine gewisse MrsApe.«

Damit war er auch schon wieder weg, und im gleichen Moment löste sich der Dampfer vom Kai und nahm Kurs auf die Hafenmündung.

Bisweilen hob sich das Schiff, bisweilen schlingerte es, und manchmal schwebte es einen Augenblick bebend über einem Abgrund dunklen Wassers, bevor es herabstürzte, wie eine Berg- und Talbahn in einer windstillen Senke verschwand und dann mit der nächsten Bö wieder emporschoss. Manchmal pflügte es hektisch schnaufend und strampelnd durchs Wasser wie ein Terrier, der sich in einen Kaninchenbau wühlt, und manchmal fiel es wie ein Aufzug in die Tiefe. Vor allem Letzteres setzte den Passagieren zu.

»Oh«, stöhnten die wilden jungen Dinger. »Oh, oh, oh.«

»Es fühlt sich an wie in einem Cocktailshaker«, sagte Miles Malpractice. »Dein Gesicht, Darling – eau de Nil.«

[18]»Einfach zum Kotzen«, stellte Miss Runcible mit seltener Präzision fest.

Kitty Blackwater und Fanny Throbbing lagen in ihren Kojen, eine oben, eine unten, stocksteif von der Perücke bis zum großen Zeh.

»Glaubst du, der champagne…«

»Kitty.«

»Ja, Fanny, Schätzchen?«

»Kitty, ich glaube, ich habe Riechsalz dabei… Ich dachte, du bist vielleicht näher dran… Wahrscheinlich wäre es zu gefährlich, wenn ich versuchte hinunterzuklettern… Ich könnte mir ein Bein brechen, Kitty.«

»Doch nicht nach champagne, Fanny, glaubst du wirklich?«

»Ich brauche es. Aber natürlich, wenn es zu viel Mühe macht…«

»Nichts macht zu viel Mühe, Schätzchen, das weißt du doch. Aber wenn ich es mir recht überlege, erinnere ich mich sehr genau, ja, bin ich ganz sicher, dass du dein Riechsalz gar nicht eingepackt hast…«

»Ach Kitty, ach Kitty, bitte… Es würde dir leidtun, wenn ich sterbe… oh!«

»Ich habe das Riechsalz auf deinem Frisiertisch gesehen, nachdem dein Gepäck schon unten war, Schätzchen. Ich weiß noch, dass ich dachte, ich muss das für Fanny mit nach unten nehmen, und dann war ich in Hektik wegen der Trinkgelder, und, verstehst du…«

»Ich… habe… es… eigenhändig… eingepackt… neben meinen Haarbürsten… du… Scheusal!«

[19]»Oh, Fanny…«

»Ach… ach… ach.«

Für Pater Rothschild waren alle Überfahrten gleich schlimm. Er dachte an das Martyrium der Heiligen, die Wandlungsfähigkeit der menschlichen Natur, die Vier Letzten Dinge und murmelte hin und wieder Fetzen aus den Bußpsalmen.

Der Oppositionsführer Seiner Majestät lag in einem grandiosen Koma, verklärt von Träumen asiatischer Bilder – bemalte Papierhäuser, goldene Drachen und Gärten voller Mandelblüten, golden schimmernde Glieder und sanfte, zärtliche Mandelaugen, winzige goldene Füßchen zwischen Mandelblüten, bemalte Schälchen mit goldenem Tee, eine goldene Stimme, die hinter einem bunten Paravent aus Papier sang, zärtliche goldene Hände und mandelförmige Augen, dunkel wie die Nacht.

Vor seiner Tür hatten zwei völlig erledigte Detective Sergeants ihren Posten verlassen.

»Ein Kerl, der auf so ei’m Schiff was anstellt, hätte es verdient, damit durchzukommen«, erklärten sie.

Das Schiff ächzte in allen Fugen, Türen knallten, Reisetruhen polterten durcheinander, der Wind heulte. Die dröhnende Schiffsschraube, mal im Wasser, mal draußen, drehte sich wie toll, Hutschachteln fielen herunter wie reife Äpfel, doch über all dem Getöse erhoben sich im Frauenabteil der zweiten Klasse die verzagten Stimmen von MrsApes Engeln in immer wieder unterbrochenem Einklang. [20]Sie sangen – sangen wild und verzweifelt, als bräche ihnen diese Anstrengung das Herz, als raubte sie ihnen den Verstand – MrsApes berühmte Hymne: Lamm Gottes, niemand täuschet dich!

Der Kapitän und der Erste Offizier saßen, in ein Kreuzworträtsel vertieft, auf der Brücke.

»Sieht aus, als könnte es ungemütlich werden, wenn der Wind auffrischt«, sagte der Kapitän. »Würd’ mich nicht wundern, wenn wir heute Abend noch ein bisschen Seegang kriegen.«

»Na ja, man kann es nicht immer so ruhig haben wie jetzt«, gab der Erste Offizier zurück. »Ein Wort mit achtzehn Buchstaben für ein fleischfressendes Säugetier. Wie kommen die Leute bloß auf so was?«

Adam Fenwick-Symes saß bei den seetüchtigen Passagieren im Rauchsalon, trank seinen dritten irischen Whisky und fragte sich, wann ihm endgültig übel würde. Schon jetzt braute sich ein vages Unbehagen über ihm zusammen. Fünfunddreißig Minuten lagen noch vor ihnen, vielleicht sogar mehr bei dem Gegenwind.

Ihm gegenüber saß ein weitgereister, schwatzhafter Journalist, der ihm schmutzige Witze erzählte. Von Zeit zu Zeit warf Adam eine mehr oder weniger passende Bemerkung ein. »Nein wirklich, das war ein Knaller« oder »Den muss ich mir merken« oder auch nur »Ha, ha, ha«, doch in Wirklichkeit nahm er kaum etwas wahr.

Das Schiff hob sich, hob sich, höher, noch höher, schwebte einen Augenblick in der Luft und stürzte dann [21]schräg seitwärts in die Tiefe. Adam schnappte nach seinem Glas und rettete es. Dann schloss er die Augen.

»Jetzt kommt ein salonfähiger«, sagte der Journalist.

Hinter ihnen saßen die Geschäftsleute bei einem Kartenspiel. Zuerst ging es sehr lustig zu. »Au weia, das war ordentlich!«, riefen sie oder: »Immer langsam mit den jungen Pferden!«, wenn Karten, Gläser und Aschenbecher zu Boden fielen, doch in den letzten zehn Minuten waren sie deutlich ruhiger geworden. Es war eine ungute Ruhe.

»…vierzig Asse und zweihundertfünfzig für den Rubber. Wollen wir noch mal abheben, oder spielen wir so weiter?«

»Wie wär’s mit einer kleinen Pause? Es macht mich ganz müde, dass sich der Tisch die ganze Zeit bewegt.«

»Mensch, Arthur, dir ist doch nicht übel, oder?

»Natürlich nicht, ich bin nur müde.«

»Na klar, wenn Arthur übel ist…«

»Wer hätte gedacht, dass es unserm alten Arthur übel wird?«

»Mir ist nicht übel, hab ich doch gerade gesagt. Ich bin nur müde. Aber wenn ihr Jungs weitermachen wollt, werd ich kein Spielverderber sein.«

»Der gute alte Arthur. ’türlich ist ihm nicht übel. Halt die Karten fest, Bill, es geht wieder aufwärts!«

»Wie wär’s mit der nächsten Runde? Noch mal dasselbe?«

»Noch mal dasselbe.«

»Viel Glück, Arthur.«

»Viel Glück.«

»Was für ein Jux!«

»Und runter geht’s.«

[22]»Wer gibt? Sie haben zuletzt gegeben, nicht wahr, MrHenderson?«

»Ja. Arthur gibt.«

»Du gibst, Arthur. Kopf hoch, Arthur, alter Schwede!«

»Jetzt hört endlich auf damit. Es gehört sich nicht, einem dermaßen auf den Rücken zu hauen.«

»Pass auf die Karten auf, Arthur.«

»Ja was erwartet ihr denn, wenn einem wer so auf den Rücken haut. Ich bin müde.«

»He, du hast mir fünfzehn Karten gegeben.«

»Vielleicht kennen Sie den auch noch nicht«, sagte der Journalist. »Es war einmal ein Mann in Aberdeen, der war so scharf aufs Angeln, dass er, als es ans Heiraten ging, eine Frau mit Würmern nahm. Klasse, was? Sie verstehen schon, er war scharf aufs Angeln, ja, und sie hatte Würmer, genau, und er lebte in Aberdeen. Ist doch gut, oder?«

»Wissen Sie was, ich gehe mal ein paar Minuten an Deck. Bisschen stickig hier drin, finden Sie nicht?«

»Das geht nicht. Da oben steht alles unter Wasser. Ist Ihnen nicht gut?«

»Doch, doch, alles in Ordnung. Ich dachte nur, ein bisschen frische Luft… Lieber Himmel, wann hört denn das endlich auf?«

»Immer mit der Ruhe, junger Freund! Ich an Ihrer Stelle würde nicht versuchen, da draußen herumzuspazieren. Besser, Sie bleiben, wo Sie sind. Was Sie brauchen, ist ein Whisky.«

»Mir ist nicht übel. Nur diese stickige Luft.«

»Schon gut, mein Junge. Vertrauen Sie mir.«

[23]Die Bridge-Partie wurde immer lustloser.

»Hallo, MrHenderson. Was ist das für ein Pik?«

»Ein Pik-Ass, was sonst?«

»Dass es ein Ass ist, sehe ich auch. Ich meinte, Sie hätten eben nicht stechen dürfen, wenn Sie noch ein Pik in der Hand hatten.«

»Was soll das heißen, ich hätte nicht stechen dürfen? Es war doch Trumpf ausgespielt.«

»Nein, falsch. Arthur hatte Pik ausgespielt.«

»Er hatte Trumpf ausgespielt, stimmt’s, Arthur?«

»Arthur hatte Pik ausgespielt.«

»Er hätte gar kein Pik ausspielen können, denn wieso hätte er dann auf meinen Pik-König Herz gespielt, wo ich doch dachte, er hätte die Dame? Er hatte kein Pik.«

»Wie meinst du das, ich hatte kein Pik? Ich hatte die Dame.«

»Arthur, alter Knabe, dir ist doch übel.«

»Nein, wirklich nicht, ich bin bloß müde. Du wärst auch müde, wenn dir einer so auf den Rücken gehauen hätte… jedenfalls habe ich die Schnauze voll von dem Spiel… da fliegen die Karten schon wieder runter.«

Diesmal machte sich keiner die Mühe, sie aufzuheben. Plötzlich sagte MrHenderson: »Komisch, ich weiß gar nicht, warum mir plötzlich so schwummrig ist. Muss wohl irgendwas gegessen haben, das nicht mehr gut war. Bei diesem ausländischen Zeug weiß man nie – die essen ja alles durcheinander.«

»Da du gerade davon sprichst, ich glaube, mir wird auch irgendwie mulmig. Verdammt schlechte Lüftung auf diesen Kanalfähren.«

[24]»Genau das ist es. Die Lüftung. Du sagst es.«

»Wissen Sie, bei mir ist es ganz komisch. Ich werde nie seekrank, aber oft habe ich das Gefühl, dass Schiffsreisen mir nicht bekommen.«

»Das kenne ich auch.«

»Die Lüftung… Schweinerei.«

»Gott, bin ich froh, wenn wir in Dover sind. Zu Hause ist’s doch am schönsten, oder?«

Adam klammerte sich an der messingbeschlagenen Tischkante fest und fühlte sich ein bisschen besser. Er würde sich keinesfalls übergeben, basta, schon gar nicht vor diesem wandelnden Wasserspeier, der ihm gegenübersaß. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Land in Sicht kam.

Genau als die Stimmung ihren Tiefpunkt erreicht hatte, erschien MrsApe erneut im Rauchsalon. Ein oder zwei Sekunden schwebte sie im Eingang zwischen der pendelnden Tür und dem schwankenden Türpfosten. Als das Schiff sich dann vorübergehend aufrichtete, marschierte sie an die Bar, breitbeinig, die Hände in den Taschen ihrer Tweedjacke vergraben.

»Einen doppelten Rum«, sagte sie und lächelte auf ihre unwiderstehliche Art über die jämmerliche kleine Ansammlung von Männern, die im Salon saßen. »Liebe Güte«, sagte sie. »Ihr seht ja völlig zerknittert aus, Jungs. Was ist denn los? Ist eure Seele in Gefahr, oder liegt es daran, dass das Schiff nicht stillhalten kann? Rauh? Na klar ist es rauh. Aber eins möchte ich wissen. Wenn euch eine Stunde Seekrankheit schon dermaßen umhaut–« (»Nicht Seekrankheit, die Lüftung«, sagte MrHenderson mechanisch) »–was [25]macht ihr dann auf der letzten großen Reise, die uns alle erwartet? Seid ihr im Reinen mit Gott? Habt ihr euch auf den Tod vorbereitet?«

»Na, und ob«, meinte Arthur. »Ich habe seit einer halben Stunde an nichts anderes gedacht.«

»Nun, ich sage euch, was wir jetzt machen, Jungs. Wir singen zusammen ein Lied, ihr und ich.« (»O Gott«, stöhnte Adam.) »Ihr kennt es vielleicht nicht, aber wir singen es trotzdem. Danach werdet ihr euch an Leib und Seele besser fühlen. Es ist ein Lied über die Hoffnung. Man hört ja heutzutage nicht mehr viel von der Hoffnung, nicht wahr? Jede Menge vom Glauben und auch von der Nächstenliebe. Aber die Hoffnung ist in Vergessenheit geraten. Heute gibt es nur ein großes Übel auf der Welt: Verzweiflung. Ich kenne mich aus mit England, und ich sage es euch ganz offen, Jungs: Ich habe, was ihr braucht. Ihr braucht Hoffnung, und genau die kann ich euch liefern. Hier, Steward, verteilen Sie die Blätter. Auf der Rückseite steht ein Lied. Und jetzt alle zusammen… singt! Fünf Schilling für Sie, Steward, wenn Sie lauter singen können als ich. Fabelhaft! Und jetzt los, eins, zwei, drei…«

Mit wohlklingender, lauter Stimme führte MrsApe den Chor an. Ihre Arme hoben und senkten sich und flatterten im Rhythmus der Musik. Den Steward an der Bar hatte sie bereits auf ihrer Seite – er las den Text zwar manchmal falsch, konnte die tiefen Töne aber besser und kräftiger halten als jeder andere. Der Journalist fiel als Nächster ein, und selbst Arthur summte leise vor sich hin. Bald machten alle mit, sangen aus voller Kehle, und tatsächlich – sie fühlten sich schon besser.

[26]Pater Rothschild hörte es und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.

Kitty Blackwater hörte es.

»Fanny.«

»Ja.«

»Fanny, Schätzchen, hörst du den Gesang?«

»Ja, Liebes, danke.«

»Hoffentlich halten sie da keinen Gottesdienst ab. Ich finde, es klingt fast wie ein Kirchenlied, Schätzchen. Glaubst du, wir sind in Gefahr? Meinst du, wir könnten untergehen?«

»Es würde mich weder wundern noch erschüttern.«

»Wie kannst du so etwas sagen, Schätzchen?…Wir hätten es doch bestimmt gehört, wenn wir irgendwo aufgelaufen wären?…Wenn du willst, schaue ich noch mal nach deinem Riechsalz, Fanny.«

»Ich glaube nicht, dass es etwas nützt, wenn du es auf meinem Frisiertisch gesehen hast, mein Liebes.«

»Vielleicht habe ich mich ja geirrt.«

»Du hast aber gesagt, dass du es gesehen hast.«

Der Kapitän hörte es. »Solange ich nun schon zur See zu fahre, eins kann ich nicht ausstehen: Missionare«, sagte er.

»Ein Wort mit sechs Buchstaben und der Bedeutung wichtigfürastronomische Berechnungen, fängt mit ZB an«, sagte der Erste Offizier.

Der Kapitän dachte ein paar Minuten nach. »Z kann nicht stimmen«, sagte er dann.

[27]Die wilden jungen Dinger hörten es. »Klingt so wie früher die Partys«, sagte Miss Runcible. »Wenn einem schlecht wurde vom Gesang der anderen.«

MrsHoop hörte es. »Nun«, dachte sie. »Nach dieser Reise habe ich genug von der Theosophie. Als Nächstes sehe ich mich mal bei den Katholiken um.«

Im Salon der zweiten Klasse am Heck, da, wo die Schraube den meisten Wirbel machte, hörten die Engel es. Es war schon eine Weile her, dass sie selbst aufgehört hatten zu singen.

»Sie schon wieder«, sagte Divine Discontent.

Nur MrOutrage ruhte glücklich und ungestört, und sein Unterbewusstsein versank in wundervollen Traumsequenzen, in einer Welt voller zärtlicher Flüsterstimmen, mandelförmiger Augen, dunkel wie die Nacht über einem Paravent aus Papier, zarter, biegsamer, golden schimmernder Körper in erstaunlichen Stellungen.

Im Rauchsalon wurde noch immer gesungen, als das Schiff mit minimaler Verspätung den Hafen von Dover erreichte. Da ging Mrs

[28]2

»Haben Sie etwas zu verzollen?«

 »Flügel.«

»Schon getragen?«

»Na klar.«

»Na dann, alles in Ordnung.«

»Divine Discontent stiehlt uns mal wieder die Schau«, beklagte sich Fortitude bei Prudence. »Puh, aber es ist gut, wieder festes Land unter den Füßen zu haben.«

Unsicher, doch voll neuer Hoffnung, waren die Passagiere an Land gegangen.

Pater Rothschild wedelte mit seinem Diplomatenpass und verschwand in dem großen Wagen, der ihn abholen sollte. Die anderen rempelten sich gegenseitig mit ihrem Gepäck an, drängelten vor den Zollbeamten und sehnten sich nach einer Tasse Tee.

»Ich habe ein halbes Dutzend vom Feinsten im Koffer versteckt«, vertraute ihm der Journalist an. »Normalerweise sind sie nach einer so scheußlichen Überfahrt eher großzügig.« Und tatsächlich saß er schon wenig später gemütlich in der Ecke eines Erste-Klasse-Abteils (selbstverständlich zahlte die Zeitung seine Spesen), und sein Gepäck stand, mit Kreide abgezeichnet, sicher im Gepäckwagen.

Es dauerte eine Weile, bis Adam an die Reihe kam.

[29]»Ich habe nur ein paar Kleider und Bücher«, erklärte er.

Doch das erwies sich als unklug, denn im Nu war die Gleichgültigkeit des Zollbeamten verflogen.

»Bücher, so, so«, sagte er. »Und welche Art von Büchern, wenn ich fragen darf?«

»Sehen Sie doch nach.«

»Vielen Dank, genau das habe ich vor. Bücher also.«

Erschöpft öffnete Adam die Gurte und ließ den Koffer aufschnappen.

»Ja«, brummelte der Zollbeamte drohend, als hätte sich sein schlimmster Verdacht bestätigt. »Hätte ich gleich sagen können, dass Sie Bücher dabeihaben.«

Er nahm eins nach dem anderen heraus und stapelte sie auf seinem Tresen. Ein Werk von Dante erregte seinen besonderen Widerwillen.

»Französisch, was?«, sagte er. »Hab ich mir gedacht, und wahrscheinlich ganz schön schlüpfrig, würde mich jedenfalls nicht wundern. Warten Sie hier, ich muss diese Bücher« – wie er das aussprach – »in meiner Liste nachschlagen. Auf Bücher hat es der Innenminister besonders abgesehen. Wenn wir das Geschreibsel schon nicht im eigenen Land ausrotten können, müssen wir zumindest verhindern, dass es von außen eingeschmuggelt wird. Das hat er neulich im Parlament erklärt, und ich habe gesagt: ›Hört, hört…‹ Na, sieh mal einer an, was ist denn das, wenn ich fragen darf?«

Mit spitzen Fingern, als könnte es jeden Moment explodieren, zog er ein dickes Schreibmaschinenmanuskript aus dem Koffer und legte es auf den Tresen.

»Das ist ebenfalls ein Buch«, sagte Adam. »Ich habe es gerade geschrieben. Es sind meine Memoiren.«

[30]»Ach, tatsächlich? Nun, die nehme ich mit zum Chef. Und Sie können gleich mitkommen.«

»Aber ich muss den Zug erwischen.«

»Sie kommen mit. Es gibt Schlimmeres, als einen Zug zu verpassen«, brummte der Beamte finster.

Gemeinsam gingen sie zu einem Büro im Innern des Gebäudes. An den Wänden hingen geschmuggelte Pornografie und seltsame Instrumente, deren Zweck Adam nicht einmal ansatzweise klar war. Aus dem Nebenraum drang das Schreien und Zetern der armen Miss Runcible, die man mit einer berüchtigten Juwelenschmugglerin verwechselt hatte und die sich jetzt von zwei furchterregenden Wärterinnen splitterfasernackt ausziehen lassen musste.

»Nun, was gibt es für Probleme mit den Büchern?«, fragte der Chef.

Anhand einer gedruckten Liste, die mit »Aristoteles, Die Werke des (illustriert)« begann, sahen sie Adams Bücher umständlich durch, eins nach dem anderen, jeden Titel buchstabierend.

Miss Runcible betrat das Büro, mit Lippenstift und Puder beschäftigt.

»Adam, Darling, auf dem Schiff habe ich dich kaum gesehen«, sagte sie. »Du würdest nicht glauben, was sie da drin mit mir gemacht haben, mein Lieber. Wie sie mich begafft haben… einfach beschämend. Wie im Seziersaal, verstehst du, böse alte Weiber, die reinsten Hexen. Sobald ich wieder in London bin, rufe ich alle Minister im Kabinett und sämtliche Abendzeitungen an und erzähle ihnen die schauerlichen Details.«

Unterdessen hatte sich der Chef in Adams Memoiren [31]vertieft und gab in regelmäßigen Abständen ein unheilverkündendes Glucksen von sich, teils triumphierend, teils höhnisch, im Großen und Ganzen jedoch durchaus anerkennend.

»Mein lieber Schwan«, sagte er. »Guck dir das an, Bert, starker Tobak, was?«

Schließlich sammelte er die Blätter ein, verschnürte sie und legte sie auf eine Seite.

»Nun, schauen wir uns das mal an«, sagte er. »Die Bücher über Architektur und das Wörterbuch können Sie wieder einpacken, und ausnahmsweise will ich ein Auge zudrücken und Ihnen auch die Geschichtsbücher lassen. Aber das da über Ökonomie fällt unter Subversive Propaganda. Das bleibt hier. Und dieses da, Purgatorio, scheint mir auch verdächtig, das bleibt ebenfalls hier, bis wir es überprüft haben. Die Autobiographie allerdings, geschmacklos und vulgär, die werden wir verbrennen, damit Sie es wissen.«

»Lieber Himmel, in dem ganzen Buch steht kein Wort von – das ist bestimmt ein Missverständnis!«

»Von wegen. Ich erkenne Sauereien auf den ersten Blick, sonst wär ich nicht da gelandet, wo ich heute bin.«

»Ist Ihnen klar, dass mein ganzes Auskommen von diesem Buch abhängt?«

»Und mein Auskommen hängt davon ab, dass Sachen wie die gar nicht erst ins Land kommen. Jetzt sehen Sie zu, dass Sie verschwinden, oder Sie haben eine Anzeige am Hals.«

»Adam, mein Engel, mach kein Theater, sonst verpassen wir den Zug.«

Miss Runcible nahm ihn am Arm, führte ihn zum [32]Bahnhof und erzählte ihm alles über die göttliche Party, die an diesem Abend stattfinden sollte.

»Flau, wem war flau?«

»Dir, Arthur.«

»Ach, was für ein Unsinn… ich war bloß müde.«

»Auf alle Fälle war es eine ganze Weile ziemlich stickig da drin.«

»Fabelhaft, wie das alte Mädchen für Stimmung sorgt. Sie hat nächste Woche einen Auftritt in der Albert Hall.«

»Ich weiß noch nicht, ob ich hingehe. Was meinen Sie, MrHenderson?«

»Sie hat eine Truppe von Engeln, hat sie gesagt. Alle ganz in Weiß, mit Flügeln, reizend. Sie selbst sieht ja auch nicht schlecht aus, da wir gerade davon sprechen.«

»Was hast du in den Hut gelegt, Arthur?«

»Eine halbe Krone.«

»Ich auch. Komisch, ich habe noch nie einfach so eine halbe Krone gespendet. Irgendwie zieht sie einem das Geld aus der Tasche, verdammt.«

»In der Albert Hall wirst du sicher auch ganz schön was berappen müssen.«

»Stimmt, aber ich würde doch allzu gern diese kostümierten Engelchen sehen, was, MrHenderson?«

»Ist das nicht Agatha Runcible, Fanny, die Tochter der armen Viola Chasm?«

»Ich frage mich, ob Viola ihr erlaubt, so herumzulaufen. Wenn sie meine Tochter wäre…«

»Deine Tochter, Fanny…«

[33]»Das war nicht nett, Kitty.«

»Ach Schätzchen, ich meinte doch bloß… hast du eigentlich in letzter Zeit von ihr gehört?«

»Was wir zuletzt hörten, war noch schlimmer als alles andere, Kitty. Sie hat Buenos Aires verlassen. Ich fürchte, dass sie die Verbindung zu Lady Metroland ganz abgebrochen hat. Sie glauben, dass sie sich so etwas wie einer Wandertruppe angeschlossen hat.«

»Das tut mir so leid, Schätzchen. Ich hätte nicht davon sprechen sollen, aber immer, wenn ich Agatha Runcible sehe, muss ich daran denken… junge Frauen wirken heutzutage schon so aufgeklärt. Wir mussten uns alles noch selbst beibringen, nicht wahr, Fanny, und es hat so lange gedauert. Hätte ich Agatha Runcibles Möglichkeiten gehabt… Wer ist der junge Mann an ihrer Seite?«

»Das weiß ich nicht, und offen gesagt, glaube ich nicht, dass er ihr Begleiter ist, du?…Er wirkt so verschlossen.«

»Er hat sehr schöne Augen. Und bewegt sich elegant.«

»Ich würde sagen, wenn es dazu käme… aber, wie gesagt, hätte ich Agatha Runcibles Möglichkeiten gehabt…«

»Wonach suchst du denn, Liebling?«

»Also, stell dir vor, wie seltsam! Hier ist mein Riechsalz, es hat die ganze Zeit neben den Bürsten gelegen.«

»Wie grässlich von mir, Fanny, wenn ich das geahnt hätte…«

»Vermutlich hast du eine andere Flasche auf dem Toilettentisch gesehen, mein Liebes. Vielleicht hat das Zimmermädchen sie dorthin gestellt. Im ›Lotti‹ weiß man das nie so genau, nicht wahr?«

»Verzeih mir, Fanny…«

[34]»Aber was gibt es da zu verzeihen? Schließlich hattest du ja tatsächlich eine Flasche dort gesehen, Kitty, Liebling, nicht?«

»Ach, sieh mal, da ist Miles.«

»Miles?«

»Dein Sohn, Liebling. Mein Neffe, weißt du?«

»Miles. Weißt du was, Kitty, ich glaube, er ist es tatsächlich. Er kommt mich jetzt kaum mehr besuchen, der ungezogene Bengel.«

»Er sieht schrecklich verweichlicht aus, meine Liebe.«

»Ich weiß, Liebling. Das macht mir sehr viel Kummer. Ich versuche nur, nicht allzu viel daran zu denken – er hatte ja keine Chance gegen Throbbing, so wie der sich aufgeführt hat.«

»Die Sünden der Väter, Fanny…«

Irgendwo nicht weit von Maidstone entfernt kam MrOutrage wieder ganz zu Bewusstsein. Die beiden Detectives saßen ihm gegenüber im Abteil. Sie hatten sich ihre Filzhüte tief ins Gesicht geschoben und schliefen mit offenem Mund. Ihre großen roten Hände lagen schlaff im Schoß. Der Regen prasselte an die Fenster; das Abteil war kalt und stank nach abgestandenem Tabakrauch. Im Innern hingen Werbeplakate mit entsetzlichen, malerischen Ruinen; draußen im Regen standen Bretterwände mit Plakaten für patentierte Medikamente oder Hundekuchen. »Bei Molassine-Hundekuchen wedeln die Schwänze«, las MrOutrage, und der Zug wiederholte ratternd ein ums andere Mal: »Right Honourable gent Right Honourable gent Right Honourable gentleman Right Honourable gent…«

[35]Adam stieg in das Abteil der wilden jungen Dinger. Sie wirkten immer noch ein bisschen mitgenommen, doch die Stimmung besserte sich erheblich, als sie hörten, wie abscheulich die Zollbeamten mit Miss Runcible umgesprungen waren.

»Also«, sagten sie. »Also wirklich! Wie beschämend, Agatha, Darling«, sagten sie. »Wie katastrophal, wie unpolizeilich, wie vulgär, zum Kotzen, einfach widerlich.« Und dann wandten sie sich Archie Schwerts Party am Abend zu.

»Wer ist dieser Archie Schwert eigentlich?«

»Ach, das ist ein Neuer, er kam erst, als du schon weg warst. Ein echter Blender. Miles hat ihn entdeckt, und seitdem hat er eine so rasante Karriere gemacht, dass er uns kaum noch zur Kenntnis nimmt. Eigentlich ist er ganz nett, nur so entsetzlich gewöhnlich, der arme Kerl. Er wohnt im Ritz, ziemlich pompös, meinst du nicht?«

»Gibt er dort seine Party?«

»Natürlich nicht, mein Lieber. In Edward Throbbings Haus. Das ist Miles’ Bruder, weißt du, nur dass er entsetzlich dämlich ist, sich ausschließlich für Politik interessiert und niemanden kennt. Er wurde krank und ging nach Kenia oder so ähnlich. Also stand sein spießiges Haus in der Hertford Street leer, so dass wir alle dort eingezogen sind. Am besten kommst du auch dahin. Die Hausangestellten waren anfangs komplett dagegen, aber wir haben sie mit Alkohol und so bestochen, und jetzt finden sie alles furchtbar aufregend und verbringen den ganzen Tag damit, alle möglichen Meldungen über unser Treiben aus der Zeitung auszuschneiden.

Aber was schrecklich ist, mein Lieber – wir haben keinen [36]Wagen. Miles hat ihn kaputtgefahren, Edwards Wagen, meine ich, und wir können es uns einfach nicht leisten, ihn reparieren zu lassen, deshalb glaube ich, dass wir bald woanders hinziehen müssen. Langsam, aber sicher geht auch im Haus alles irgendwie kaputt und wird schmutzig, wenn du weißt, was ich meine. Denn es gibt kein Personal, verstehst du, nur den Butler und seine Frau, und die sind jetzt fast immer angeschickert. Äußerst demoralisierend. Mary Mouse war ein Engel und hat uns körbeweise Kaviar und so geschickt… Natürlich zahlt sie auch für Archies Party heute Abend.«

»Wisst ihr was, ich glaube, mir wird schon wieder übel!«

»Oh, Miles!«

(Oh, ihr wilden jungen Dinger!)

Die Engel waren alle zusammen in einem Zweite-Klasse-Abteil eingepfercht, und es dauerte lange, bis sie ihre gute Laune wiedergefunden hatten.

»Sie hat schon wieder Prudence im Wagen mitgenommen«, stellte Divine Discontent fest, die selbst einmal umwerfende vierzehn Tage lang MrsApes Liebling gewesen war. »Ich weiß wirklich nicht, was sie an der findet. Wie ist London denn so, Fortitude? Ich war nur ein Mal dort.«

»Einfach himmlisch. Was für Läden!«

»Wie sind die Männer, Fortitude?«

»Sag mal, denkst du eigentlich an nichts anderes als Männer, Chastity?«

»Doch. War nur so eine Frage.«