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Noch wartet der junge Dichter Dennis Barlow auf seinen großen Durchbruch. Doch wahrhaft absurde Abenteuer erlebt er schon vorher, als er sich in Hollywood in die Leichenkosmetikerin Aimée verliebt. Eine Abrechnung mit allem, was verlogenen Seelen heilig ist – in neuer Übersetzung.
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Seitenzahl: 159
Evelyn Waugh
Tod in Hollywood
Eine anglo-amerikanische Tragödie
Aus dem Englischen von
Titel der 1948 bei
Chapman & Hall, London,
erschienenen Originalausgabe: ›The Loved One‹
Copyright ©1948 by Evelyn Waugh
All rights reserved
Der Roman erschien im Diogenes Verlag
erstmals 1984 als Diogenes Taschenbuch
Die erste Strophe des Gedichts
An Helen von Edgar Allan Poe (S.120, 147f.)
wird zitiert nach der Übersetzung von
Kurt Erich Meurer, in: Englische und amerikanische
Dichtung, Bd.4 ©Beck, München 2000, S.34
Abdruck mit freundlicher Genehmigung
Übersetzerin und Verlag danken
dem Deutschen Übersetzerfonds e.V. für
die Förderung dieser Übersetzung
Umschlagfoto von Zoltán Glass
Copyright ©NMPFT / Zoltán Glass /
Science & Society Picture Library–
All rights reserved
Für Nancy Mitford
Neuübersetzung
Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright ©2015
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 06947 1 (1.Auflage)
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5]Vorwort
Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte ich New York und Washington besucht. Dann wurde ich kurz nach dem Krieg zusammen mit meiner Frau nach Hollywood eingeladen, da ein Produzent den Wunsch geäußert hatte, Wiedersehen mit Brideshead zu verfilmen. Ich wollte zwar keine Verfilmung, aber angesichts der Entbehrungen unter der Regierung Attlee-Cripps kehrte ich England nicht ungern den Rücken. Es gab damals noch keinen »Smog«, aber die wuchernde, undefinierbare Hässlichkeit von Los Angeles, verbunden mit dem grauenvollen Schlendrian von Filmstudio und Hotel, hätte uns alle Freude an dieser Expedition verdorben, wenn uns nicht ein australischer Freund schon bald mit den unübertroffenen Herrlichkeiten jenes Friedhofs bekannt gemacht hätte, dem ich hier den Namen »Elysische Gefilde« gegeben habe. Täglich kam ein riesiges Auto, um mich ins Studio zu fahren, und täglich dirigierte ich es zum Friedhof, wo ich erbauliche Stunden damit zubrachte, die Geheimnisse jenes schillernden Gewerbes zu ergründen.
Mich packte dort wohl der archaische Jagdtrieb des Schriftstellers, der eine Story wittert. Ich habe diese rare Hochstimmung auf den Helden dieses Buches übertragen und ihn im Verlauf des Schreibens vom Romancier zum Dichter gemacht.
[6]Es dauerte eine Weile, bis das Buch Gestalt annahm. Ich möchte Lady Milbanke danken (wie sie damals noch hieß), dass sie meine Schritte auf diesen erfreulichen Pfad gelenkt hat; Mr.Cyril Connolly hat mein Englisch korrigiert und Mrs.Reginald Allen mein Amerikanisch.
Seit Erscheinen dieses Buches haben sich viele freundliche Leute bemüßigt gefühlt, mir weitere bizarre Einzelheiten über die Welt der Leichenbestatter zukommen zu lassen. Hiermit möchte ich allen künftigen Lesern versichern, dass ich von diesem Thema keineswegs besessen bin; es hat mich für die Dauer eines kurzen amerikanischen Exils getröstet, aber jetzt brauche ich keine weiteren Belege.
[7]1
Den ganzen Tag über war die Hitze kaum erträglich gewesen, doch abends kam ein leichter Westwind auf; er wehte aus dem Herzen der untergehenden Sonne und vom Ozean herüber, der unsichtbar, unhörbar hinter den mit Buschwerk bewachsenen Vorbergen lag. Die Brise schüttelte die rostroten Finger der Palmwedel und ließ die trockenen Geräusche des Sommers anschwellen, die Rufe der Frösche, das Singen der Zikaden und das allgegenwärtige Pulsieren der Musik aus den Eingeborenenhütten in der Umgebung.
In diesem freundlichen Licht sahen die schmutzige, abblätternde Farbe des Bungalows und das Fleckchen Unkraut zwischen der Veranda und dem ausgedörrten Wasserloch nicht mehr ganz so schäbig aus, und die beiden Engländer in ihren Schaukelstühlen, mit ihrem Whisky-Soda und den vorgestrigen Zeitschriften typische Stellvertreter zahlloser Landsleute, die in barbarischen Weltregionen im Exil lebten, hatten Teil an der kurzen trügerischen Neubelebung.
»Ambrose Abercrombie kreuzt gleich hier auf«, sagte der Ältere. »Ich weiß nicht, warum. Er hat ausrichten lassen, er würde kommen. Schau nach, Dennis, ob du noch ein Glas findest.« Dann fuhr er gereizt fort: »Kierkegaard, Kafka, Connolly, Compton-Burnett, Sartre, ›Scottie‹ Wilson. Wer ist das? Was wollen die?«
[8]»Von einigen habe ich schon gehört. In London hat man über sie gesprochen, als ich damals abreiste.«
»Man hat über ›Scottie‹ Wilson gesprochen?«
»Nein. Ich glaube nicht. Über den nicht.«
»Das hier ist ›Scottie‹ Wilson. Diese Zeichnungen da. Wirst du aus denen schlau?«
»Nein.«
»Nein.«
Sir Francis Hinsleys kurzlebige Munterkeit flaute wieder ab. Er ließ den Horizon sinken und starrte auf den dunkler werdenden Schattenfleck, der einmal ein Schwimmbecken gewesen war. Er hatte ein sensibles, kluges Gesicht, das unter dem angenehmen Leben und der ewigen Langeweile etwas gelitten hatte. »Früher sprach man über Hopkins, Joyce, Freud und Gertrude Stein«, sagte er. »Aus denen bin ich auch nicht schlau geworden. Bei so neuen Sachen war ich nie gut. ›Arnold Bennett und der Einfluss von Zola‹, ›Flecker und der Einfluss von Henley‹. Näher bin ich der Moderne nicht gekommen. Meine besten Themen waren ›Der Pfarrer in der englischen Prosa‹ oder ›Kavalleriegefechte in der Dichtung‹ – solche Dinge. Früher hat das den Leuten anscheinend gefallen. Dann haben sie das Interesse daran verloren. Ich übrigens auch. Als Schreiberling hat mich immer alles schnell angeödet. Ich brauchte die Veränderung. Ich habe nie bedauert, dass ich weggegangen bin. Das Klima hier sagt mir zu. Die Leute sind äußerst anständig und großzügig, und sie erwarten nicht, dass man ihnen zuhört. Das musst du dir immer vor Augen halten, lieber Junge. Es ist das Geheimnis des lockeren Umgangs in diesem Land. Alle reden nur zu ihrem eigenen Vergnügen. [9]Nichts, was sie sagen, ist dazu bestimmt, gehört zu werden.«
»Da kommt Ambrose Abercrombie«, sagte der junge Mann.
»Abend, Frank. Abend, Barlow«, sagte Ambrose Abercrombie, als er die Stufen hochkam. »Das war ja wieder eine Affenhitze heute! Was dagegen, wenn ich mich hier hinpflanze? Ganz voll«, flüsterte er dem jungen Mann zu, der ihm Whisky einschenkte, »mit Soda, bitte.«
Sir Ambrose trug dunkelgraue Flanellhosen, eine Krawatte vom Cricketclub Eton Rambler und an seiner Kreissäge ein Band des Cricketclubs I Zingari – wie immer an sonnigen Tagen. Sobald es das Wetter erlaubte, setzte er eine Deerstalkermütze auf und zog einen Havelock an. Er war, wie Lady Abercrombie es albern nannte, noch keine »zehnundfünfzig«, doch nachdem er jahrelang angestrengt den Jugendlichen gespielt hatte, strebte er nun ein Alter in Würde an. Sein neuester, bislang vergeblicher Wunsch war, dass die Leute von ihm als »großartigem alten Burschen« sprachen.
»Hab schon ewig vorgehabt, dich zu besuchen. Das Ärgerliche an einer Stadt wie der hier ist, dass man so verdammt viel zu tun hat, alles geht seinen gewohnten Trott und man bleibt nicht in Kontakt. Das darf nicht passieren. Wir Tommys müssen zusammenhalten. Du solltest dich nicht so einigeln, Frank, du alter Einsiedler.«
»Ich erinnere mich an eine Zeit, wo du nicht so weit weg gewohnt hast.«
»So? Meine Güte – du hast wohl recht. Da kommen einem die alten Zeiten in den Sinn. Das war, bevor wir nach [10]Beverly Hills gezogen sind. Jetzt wohnen wir in Bel Air, wie du ja weißt. Aber offen gestanden hab ich da auch keine rechte Ruhe mehr. Ich hab mir ein kleines Grundstück draußen in Pacific Palisades gekauft und warte nur noch darauf, dass die Baukosten sinken. Wo hab ich noch mal gewohnt? Gleich gegenüber, oder?«
Gleich gegenüber, vor zwanzig Jahren oder mehr, als dieses heruntergekommene Viertel groß in Mode war und Sir Francis in der Blütezeit seiner mittleren Jahre stand, damals als »Ritter« der einzige Adlige in Hollywood, Doyen des englischen Zirkels, wichtigster Drehbuchautor von Megalopolitan Pictures und Präsident des Cricketclubs. Damals war der junge oder noch einigermaßen junge Ambrose Abercrombie berühmt dafür, dass er in zahllosen anstrengenden Rollen durch die Studios hüpfte, in akrobatischen, heroischen und historischen, und er erschien fast allabendlich bei Sir Francis, um dort aufzutanken. Jetzt gab es in Hollywood englische Adelstitel im Überfluss, manche davon echt, und jeder wusste, dass Sir Ambrose Sir Francis abschätzig als »Geschöpf von Premierminister Lloyd George« bezeichnet hatte. Die Siebenmeilenstiefel des Misserfolgs hatten den alten Mann weit von dem alternden Mann weggetragen. Sir Francis war in die Werbeabteilung abgerutscht und bekleidete nun mit einem Dutzend anderer das Amt eines Vizepräsidenten des Cricketclubs. Sein Swimmingpool, der einst als Aquarium für die Gliedmaßen längst entschwundener Schönheiten gedient hatte, war jetzt leer, rissig und von Unkraut überwuchert.
Dennoch verband die beiden eine ritterliche Loyalität.
»Wie steht’s bei Megalo?«, fragte Sir Ambrose.
[11]»Es geht drunter und drüber. Wir haben Probleme mit Juanita del Pablo.«
»›Lecker, lässig, lüstern?‹«
»Das trifft es nicht ganz. Sie ist – oder vielmehr war – widerspenstig, brillant, sadistisch. Ich muss das wissen, denn ich habe die Schlagworte erfunden. Es war ein Bombenerfolg, wie man so schön sagt, und setzte neue Akzente in der Imagewerbung.
Miss del Pablo war von Anfang an mein besonderer Schützling. Ich erinnere mich noch an den Tag, als sie bei uns ankam. Der arme Leo hat sie wegen ihrer Augen eingekauft. Damals hieß sie Baby Aaronson – wunderbare Augen und schönes schwarzes Haar. Also hat Leo sie zur Spanierin gemacht. Er ließ ihre Nase zurechtschnitzen und schickte sie für sechs Wochen nach Mexiko, damit sie Flamenco singen lernt. Dann hat er sie an mich weitergereicht. Ich habe ihr einen Namen gegeben und sie zu einem antifaschistischen Flüchtling gemacht. Ich habe verbreitet, dass ihr alle Männer zuwider seien, nach dem, was Francos Mauren mit ihr angestellt hätten. Das war damals eine völlig neue Masche. Das hat eingeschlagen. Und auf ihre Art war sie ja wirklich gut – sie konnte entsetzlich finster dreinschauen, und das ganz natürlich. Ihre Beine waren zwar nie fotogen, aber wir haben ihr immer lange Röcke angezogen und bei den Gewaltszenen für die untere Hälfte ein Double genommen. Ich war stolz auf sie, und sie hat mindestens zehn Jahre lang gute Arbeit geleistet.
Aber jetzt hat sich die Strategie an der Spitze geändert. Wir drehen nur noch leicht verdauliche Kost, die der Legion of Decency, der Liga für Anstand und Sitte, gefällt. Deshalb [12]muss die arme Juanita wieder von vorn anfangen, diesmal als irisches Mädchen. Sie haben ihr das Haar gebleicht und zinnoberrot gefärbt. Ich habe versucht, ihnen klarzumachen, dass irische Mädchen dunkelhaarig sind, aber die Technicolor-Männer blieben stur. Jetzt schuftet sie zehn Stunden am Tag, um den irischen Akzent hinzukriegen, aber damit nicht genug – sie haben dem armen Mädchen auch noch alle Zähne gezogen. Bisher hat sie nie lächeln müssen, und für ein Zähnefletschen waren ihre eigenen gut genug. Jetzt muss sie die ganze Zeit schelmisch lachen, und das bedeutet: Gebiss.
Drei Tage lang habe ich versucht, einen Namen für sie zu finden, der ihr gefällt. Sie hat alles abgelehnt. Maureen – davon gibt’s hier schon zwei. Deirdre – das kann niemand aussprechen. Oonagh – klingt chinesisch. Bridget – zu gewöhnlich. Ehrlich gesagt, ist sie äußerst mies gelaunt.«
Gemäß den ortsüblichen Gepflogenheiten hatte Sir Ambrose überhaupt nicht zugehört.
»Aha«, sagte er, »leicht verdauliche Kost. Wie sie meinen. Im Knife and Fork Club habe ich gesagt, dass ich mein Leben lang beim Film immer nach zwei Grundsätzen gehandelt habe: Tu nichts vor der Kamera, was du nicht auch zu Hause tun würdest, und tu niemals zu Hause, was du nicht auch vor der Kamera tun würdest.«
Er ließ sich des Längeren über dieses Thema aus, während Sir Francis wiederum seinen eigenen Gedanken nachhing. So saßen die beiden Ritter fast eine Stunde lang nebeneinander in ihren Schaukelstühlen, abwechselnd redselig und unaufmerksam, und starrten durch ihre Monokel in die Dämmerung, während der junge Mann ab und zu ihre Gläser und auch sein eigenes nachfüllte.
[13]Die Stunde war wie geschaffen für Erinnerungen, und in seinen Schweigeminuten wanderte Sir Francis ein Vierteljahrhundert oder mehr zurück in die nebligen Straßen Londons, die vor kurzem für alle Zeit von der Angst vor dem Zeppelin befreit worden waren, zu Harold Monro, der in seinem Poetry Bookshop Lesungen veranstaltete, zu Blundens Gedichten im London Mercury, zu Robin de la Condamine in den Phoenix-Matineen, zum Lunch mit Maud am Grosvenor Square, zum Tee mit Gosse an der Hanover Terrace, zu den elf neurotischen Bänkelsängern in einem Pub in der Fleet Street, die sich einen Tag freigenommen hatten, um irgendwo am Stadtrand Cricket zu spielen, zu dem Jungen mit den Druckfahnen, der ihn am Ärmel zupfte, zu zahllosen Trinksprüchen auf zahllosen Feiern anlässlich zahlloser denkwürdiger Jubiläen…
Sir Ambrose hatte eine aufregendere Vergangenheit, lebte aber existenzialistisch. Er dachte über sich nach, so wie er zurzeit war, sann liebevoll über jede einzelne seiner guten Eigenschaften nach und freute sich.
»So«, sagte er schließlich, »jetzt muss ich los. Darf meine bessere Hälfte nicht warten lassen.« Aber er rührte sich nicht vom Fleck, sondern wandte sich an den jungen Mann. »Und wie steht’s bei Ihnen, Barlow? Wir haben Sie in letzter Zeit gar nicht mehr auf dem Cricketfeld gesehen. Viel zu tun bei Megalo, nehme ich an?«
»Nein. Genau genommen ist mein Vertrag schon vor drei Wochen ausgelaufen.«
»Sagen Sie bloß! Na, da sind Sie bestimmt froh über eine Ruhepause. Mir würde es jedenfalls so gehen.« Der junge Mann antwortete nicht. »Wenn Sie meinen Rat hören [14]wollen, legen Sie für eine Weile die Hände in den Schoß, bis etwas Interessantes auftaucht. Greifen Sie nicht gleich bei der erstbesten Gelegenheit zu. Die Burschen hier respektieren einen Mann, der weiß, was er wert ist. Das Wichtigste ist, sich den Respekt dieser Burschen zu bewahren.
Wir Tommys haben nämlich eine besondere Stellung zu verteidigen, Barlow. Die Amerikaner mögen uns belächeln – wie wir reden und wie wir uns kleiden, unsere Monokel–, sie mögen uns für eine unnahbare Clique halten, aber sie respektieren uns, weiß Gott. Der Schacherer hierzulande hat einen Sinn für Qualität. Er weiß, was er kauft, und in Hollywood findet er nur den vornehmsten Typus des Engländers. Ich fühle mich oft wie ein Botschafter, Barlow. Ich sag Ihnen, es ist eine Verantwortung, und jeder Engländer hierzulande trägt sie in unterschiedlichem Maße mit. Wir können nicht alle die höchsten Würden erklimmen, aber wir sind alle Männer, die sich ihrer Verantwortung stellen. Unter den Verlierern werden Sie nie einen Engländer finden – außer in England natürlich. Dank unserem guten Beispiel versteht sich das hier von selbst. Es gibt Jobs, die ein Engländer einfach nicht annimmt.
Vor einigen Jahren hatten wir den unglücklichen Fall eines hochanständigen jungen Burschen, der sich als Szenenbildner einen Namen machte. Kluges Kerlchen, aber er hat sich vollständig den Eingeborenen angepasst – trug Konfektionsschuhe und Gürtel statt Hosenträger, ließ sich ohne Krawatte auf der Straße blicken und aß in Drugstores. Dann verließ er das Studio, ob Sie es glauben oder nicht, und machte mit einem italienischen Partner ein Restaurant auf. Natürlich wurde er reingelegt, und als Nächstes stand er [15]hinter einer Bar und mixte Cocktails. Himmelschreiend. Wir haben im Cricketclub gesammelt, um ihn heimzuschicken, aber der Tunichtgut wollte nicht. Sagte, es würde ihm hier gefallen. Ich bitte Sie! Dieser Mann hat einen nicht wiedergutzumachenden Schaden angerichtet, Barlow. Er war ein regelrechter Überläufer. Zum Glück kam dann der Krieg. Da fuhr er brav heim und ließ sich in Norwegen erschießen. Er hat gebüßt, aber ich finde immer, es wäre viel besser, wenn man erst gar nichts hätte, wofür man büßen müsste, meinen Sie nicht auch?
Sie sind doch in Ihrem Fach ein angesehener Mann, Barlow, sonst wären Sie ja nicht hier. Ich will nicht behaupten, dass Dichter sehr gefragt sind, aber früher oder später braucht man bestimmt wieder einen, und dann kommt man auf Knien zu Ihnen gerutscht – wenn Sie in der Zwischenzeit nicht durch irgendetwas Ihren guten Ruf verloren haben. Verstehen Sie, was ich meine?
Ach, da nehme ich Sie hier ins Gebet – dabei wartet meine bessere Hälfte mit dem Essen auf mich! Ich muss los. Bis bald, Frank, war nett, mit dir zu reden. Ich wollte, wir würden dich öfter im Cricketclub sehen. Wiedersehen, junger Mann, und denken Sie an das, was ich Ihnen gesagt habe. Ich wirke vielleicht wie ein alter Kauz, aber ich weiß, wovon ich rede. Bleibt sitzen, ihr beiden. Ich weiß, wo’s rausgeht.«
Mittlerweile war es ziemlich dunkel. Die Scheinwerfer des wartenden Autos legten einen leuchtenden Lichtfächer hinter die Palmen, glitten an der Wand des Bungalows entlang und entschwanden Richtung Hollywood Boulevard.
»Was hältst du davon?«, fragte Dennis Barlow.
[16]»Er hat was gehört. Deswegen ist er hier aufgetaucht.«
»Es musste ja rauskommen.«
»Natürlich. Wenn der Ausschluss aus dem britischen Zirkel als Martyrium gilt, kannst du dich auf die Märtyrerpalme und den Heiligenschein gefasst machen. Du warst heute nicht in der Arbeit?«
»Ich habe Nachtschicht. Ich habe heute sogar etwas geschrieben. Dreißig Zeilen. Möchtest du es sehen?«
»Nein«, sagte Sir Francis. »Es gehört zu den zahllosen Dingen, die mich für das Exil entschädigen, dass ich keine unveröffentlichten Gedichte mehr lesen muss – oder eigentlich gar keine wie auch immer gearteten Gedichte. Steck sie weg, mein lieber Junge, kürze und feile nach eigenem Gusto. Mich würden sie nur in Bedrängnis bringen. Ich würde sie nicht verstehen und wäre vielleicht versucht, den Wert eines Opfers in Frage zu stellen, das ich jetzt noch würdige. Du bist ein genialer junger Mann, die Hoffnung der englischen Dichtkunst. Das wurde mir zugetragen, und ich glaube es gern. Ich habe der Sache der Kunst schon einen ausreichend großen Dienst erwiesen, indem ich darüber hinwegsah, dass du aus einer Gefangenschaft entflohen bist, mit der ich mich lange Zeit glücklich arrangiert habe.
Warst du als Kind jemals in einem Weihnachtsmärchen mit dem Titel Am Ende des Regenbogens?Einganz dämliches Stück. Der heilige Georg und ein Marineleutnant retten mit Hilfe eines fliegenden Teppichs verirrte Kinder aus dem Reich eines Drachen. Ich habe das immer als plumpe Einmischung empfunden. Die Kinder waren dort nämlich ganz glücklich. Ich weiß noch, sie zahlten dem Drachen den schuldigen Tribut, indem sie ihm ihre Briefe von zu Hause [17]ungeöffnet übergaben. Deine Gedichte sind meine Briefe von zu Hause – so wie Kierkegaard und Kafka und ›Scottie‹ Wilson. Ich zahle ohne Widerworte und Groll. Gieß mir noch mal ein, mein lieber Junge. Ich bin dein memento mori. Ich bin dem Drachenkönig hörig. Hollywood ist mein Leben.
Hast du vor einiger Zeit in einer der Zeitschriften das Foto mit dem abgeschlagenen Hundekopf gesehen, den die Russen zu irgendeinem obszönen moskowitischen Zweck am Leben erhalten, indem sie Blut aus einer Flasche hindurchpumpen? Der Hundekopf fängt an zu sabbern, wenn er eine Katze riecht. Nicht anders ergeht es uns allen hier. Die Studios halten uns mit einer Pumpe am Laufen. Wir sind nur noch zu ein paar wenigen primitiven Reaktionen imstande, mehr nicht. Wenn wir von der Flasche getrennt würden, gingen wir einfach zugrunde. Es war wohl mein Beispiel, das du über ein Jahr lang Tag für Tag vor Augen hattest, was dich zu dem heldenhaften Entschluss bewog, in eine unabhängige Branche zu wechseln. Der Gedanke gefällt mir. Mein Beispiel und vielleicht ab und zu meine lehrreichen Worte. Kann sein, dass ich dir sogar ausdrücklich geraten habe, das Studio zu verlassen, solange du noch dazu in der Lage bist.«
»Ja, das hast du mir geraten. Tausendmal.«
»Nun, so oft wohl kaum. Ein- oder zweimal, wenn ich betrunken war. Keine tausendmal. Und ich glaube, ich habe dir geraten, nach Europa zurückzugehen. Niemals habe ich dir etwas so fürchterlich Makabres, so Elisabethanisches vorgeschlagen wie den Job, den du dir ausgesucht hast. Sag mal, ist dein neuer Chef mit dir zufrieden, was meinst du?«
[18]