Mach neu, was dich kaputt macht - Johanna Beck - E-Book

Mach neu, was dich kaputt macht E-Book

Johanna Beck

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Beschreibung

Ausgeliefert, klein und machtlos – so fühlt sich Johanna Beck in ihrer Kindheit in einer heftig umstrittenen katholischen Jugendgruppe oft. Gott lernt sie als einen strafenden und bedrohlichen Gott kennen, Priester als seine übermächtigen Vertreter. Traumatisiert durch den geistlichen und sexuellen Missbrauch, der ihr widerfahren ist, meidet sie als junge Erwachsene alles, was mit der katholischen Kirche zu tun hat. Eher zufällig führt sie ihr Weg viele Jahre später in einen Gottesdienst. Sie hört von einem Gott der Freiheit und der Begegnung, ist tief berührt und ihr Weg zurück in die Kirche beginnt. Heute kämpft sie nicht nur für eine lückenlose Aufarbeitung des geistlichen und sexuellen Missbrauchs durch Kleriker, sondern auch für einen radikalen Neuanfang der Kirche. Ein aufrüttelndes Buch, das die klerikalen Abgründe, aber auch neue Perspektiven für eine zukunftsfähige Kirche aufzeigt.

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Johanna Beck

Mach neu, was dich kaputt macht

Warum ich in die Kirche zurückkehre und das Schweigen breche

Für meinen Mann,

meine Kinder,

und meine Wegbegleiterinnen

und -begleiter

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Bibeltexte sind entnommen aus:Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Vollständige deutsche Ausgabe © Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf

Umschlagmotiv: © Heinz Heiss, Stuttgart

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print 978-3-451-38991-7

ISBN E-Book 978-3-451-82677-1

Inhalt

Teil 1: Blick zurück

Eine seltsame Form von Stockholm-Syndrom?

Von schlechten Mächten

Nie wieder!

Teil 2: Blick in die Gegenwart

Rückkehr in die Kirche und Rückkehr der Vergangenheit

Höhen und Tiefen

Turning Point

Mach neu, was dich kaputt macht

»Madame Survivante«

Schuld und Entschuldigung

Die Damentoilette als Erzählraum

Was ist das für eine Kirche?

Teil 3: Blick nach vorn

Im Anfang war die Missbrauchskrise

»Oh, wie groß ist der Priester!«

Eine Kirche der Frauen

Die Familien-»Gottglaub-Party«

Tod oder Auferstehung?

Mein Thesenanschlag

Dank

Mitschrift des Referats »Die Reinheit und Keuschheit«

Textnachweise

Literatur

Über die Autorin

Teil 1 Blick zurück

Eine seltsame Form von Stockholm-Syndrom?

Liebe Schwester,

du hast doch bestimmt Erfahrung mit Zweifeln – und vielleicht einen Tipp für mich. Ich weiß nicht, was dir in der KPE so passiert ist. Aber für mich war all das der Hauptgrund, warum ich mich lange Zeit gegen die Kirche & Co entschieden habe. Dann hatte ich das Glück, dass ich in den letzten Jahren erfahren durfte, dass die Kirche auch für viel Gutes steht. Und dann kommen so Tage wie heute, an denen der Skandal in Amerika durch die Presse geht, und das, von dem ich dachte, es hätte das Negative positiv überschrieben, fällt ein bisschen in sich zusammen und alles lässt mich vor allem mit Wut zurück. Und in ganz dunklen Momenten frage ich mich, ob meine Rückkehr zur katholischen Kirche eine seltsame Form von Stockholm-Syndrom ist …

Diese Mail habe ich Ende August 2018 aus dem Italienurlaub an eine meiner Schwestern geschrieben. An dem Tag, an dem mich meine Missbrauchs-Vergangenheit, die ich für mehr als zwanzig Jahre verdrängt hatte, schlagartig eingeholt und mein Leben völlig aus der Bahn geworfen hat – gerade in dem Moment, in dem ich wieder meinen Platz in der Kirche gefunden zu haben glaubte.

Mein Weg mit der katholischen Kirche ist ein gewundener und ein verschlungener. Er hat mich einmal in die Abgründe der katholischen Kirche hinein- und wieder aus ihnen herausgeführt. Er hat für mich die Kirche von einem Heils- zu einem Unheilsort werden lassen, mich aus einer für mich kontaminierten Kirche fliehen lassen und mich in eine spirituelle Unbehaustheit vertrieben. Er hat mich auf rätselhafte Weise wieder in die Kirche zurückgeführt und mich kurz darauf erneut mit den katholischen Abgründen konfrontiert. Aber trotz allem habe ich mich vorerst dafür entschieden, zu bleiben, meinen Kirchen-Weg weiterzugehen und mit meiner Vergangenheit im Gepäck von innen heraus für Missbrauchsaufarbeitung, Kirchenreformen und Geschlechtergerechtigkeit zu kämpfen. Von diesem Weg möchte ich im Folgenden erzählen und dabei nicht nur zurück, sondern auch nach vorn blicken.

Was dich kaputt macht …

Auf der einen Seite will ich in meinem Buch jene dunklen Seiten der katholischen Kirche beleuchten, denen ich als Kind und Jugendliche ausgesetzt war, die mich nachhaltig traumatisiert und mich geradezu kaputt gemacht haben. Ich berichte von diesem Teil meiner Vergangenheit, weil ich exemplarisch aufzeigen möchte, welche Formen sexueller und geistlicher Missbrauch haben und welche seelischen, körperlichen und auch spirituellen Folgen er nach sich ziehen kann. Und ich erzähle meine Geschichte, weil ich so vielleicht auch anderen Betroffenen zeigen kann, dass sie mit diesen schmerzvollen Erfahrungen nicht allein sind – denn wir sind viele und gemeinsam sind wir stärker!

… mach neu

Auf der anderen Seite will ich aber nicht beim Blick in die Abgründe der katholischen Kirche stehenbleiben, sondern auch einen Blick nach vorn richten. Ich will anhand dessen, was mich kaputt gemacht hat, zeigen, was sich in der Kirche ändern und was neu gemacht werden muss – denn es kann, ja darf kein katholisches »Weiter so« geben! Die Kirche muss ihre Missbrauchsabgründe lückenlos beleuchten, sie grundlegend aufarbeiten und den Betroffenen endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie muss ihre missbrauchsbegünstigenden Machtstrukturen reformieren, ihre Sexualmoral neu buchstabieren und endlich Geschlechtergerechtigkeit herstellen. Geschieht das nicht, dann riskiert sie zum einen grob fahrlässig ein Andauern der Missbrauchsgeschehen und zum anderen widerspricht sie damit eklatant ihrer eigenen Botschaft und beraubt sich so auf Dauer ihrer eigenen Glaubwürdigkeit und Zukunft.

Natürlich ist meine Entscheidung für das »Mach neu, was dich kaputt macht« nicht repräsentativ. Es gibt auch sehr viele Betroffene, die sich – verständlicherweise! – von der Kirche abgewandt haben oder ihr absolut unversöhnlich gegenüberstehen.

Auch ich muss mich immer wieder fragen, ob ich angesichts meiner Vergangenheit meinen Kirchenweg weitergehen kann oder ob es sich hierbei nicht vielmehr um »eine seltsame Form von Stockholm-Syndrom« handelt. Aber ich will bis auf Weiteres den Weg des »Mach neu, was dich kaputt macht« weitergehen: Weil diese Kirche jetzt auch wieder die meine ist und ich sie nicht einfach kampflos aufgeben, sondern alles in meiner Macht Stehende tun will, um etwas zu verändern. Weil ich dort auch viele wunderbare, tröstende und ermutigende Menschen kennenlernen durfte. Weil es die Frohe Botschaft von Glaube, Hoffnung, Liebe und Gerechtigkeit sowie der besonderen Zuwendung zu den Verwundeten gibt und ich sie nicht den Menschen, die das Evangelium verdunkeln, überlassen will. Und weil ich ohne meinen Glauben die letzten drei Jahre vermutlich nicht überstanden hätte.

Von schlechten Mächten

Es ist Winter. Vor dem Fenster zieht Nebel auf, es wird langsam dunkel. Hier drinnen, im Versammlungsraum unseres Pfadfinderstammes, ist es trotz der vielen Menschen kühl und es riecht leicht muffig nach Heizungsluft. An der Wand hängt ein großes Kruzifix. Ich sitze zusammengekauert auf einem der Stühle und lausche angstvoll gebannt dem mitreißenden Vortrag von Pater Hönisch, dem allseits verehrten Gründer der Katholischen Pfadfinderschaft Europas (KPE). Über dreißig Jahre später werde ich bei meinen Recherchen auf eine 1989 in der Zeitschrift »Pfadfinder Mariens« abgedruckte Rede von Pater Hönisch stoßen, deren Wortlaut mit meinen Erinnerungen an seinen damaligen Vortrag weitestgehend übereinstimmt:

Eine Reinigung steht bevor. Vieles deutet darauf hin, dass Gott uns durch eine Anhäufung von Katastrophen vorbereiten will auf die große Reinigung der Menschheit. Diese Reinigung würde wohl sehr wehtun; aber sie würde dazu dienen, die Menschen wieder zu Gott zurückzuführen. Alle Leiden und Strafen, soweit sie von Gott verhängt werden, haben immer die Besserung des Täters zum Ziel. (…) Viele von uns [ahnen], dass die schmerzvolle Reinigung, die unserem vermessenen Streben nach Fortschritt und unserem Glaubensabfall ein vorübergehendes Ende setzen würde, kurz vor der Tür steht. Umso wichtiger ist es, in der Gnade Gottes zu leben und die von Gott uns angebotenen Hilfsmittel auszunützen! (…) Ich denke vor allem an den regelmäßigen würdigen Empfang der Sakramente, besonders der wenigstens monatlichen Heiligen Beichte und der häufigen Heiligen Kommunion, verbunden mit der Mitfeier der Heiligen Messe. (…) Ich denke weiter an die täglichen Gebete, vor allem an den Rosenkranz (…); eine geweihte Kerze vor dem Kreuz und dem Muttergottesbild zu Hause. (…) [Es ist] klar, dass wir in einem gigantischen, ja gerade apokalyptisch anmutenden Kampf stehen. Es ist der Kampf, den der Teufel um jede einzelne Seele führt, um sie vom Himmel fernzuhalten, um den er den Menschen beneidet. (…) Der in der Gottlosigkeit verharrende Mensch wird zum ›Freund‹ Satans und verfällt ihm immer mehr. (…) In der Ablehnung Gottes sind sich Satan und die gefallenen Engeldämonen mit den gottlosen Menschen einig ...1

Als ich Pater Hönisch in dieser Art und Weise reden höre, bin ich etwa sechs Jahre alt. Gerade habe ich mir aus Versehen heißen Tee über mein Bein geschüttet, aber ich bin so verstört von Pater Hönischs Worten, dass ich die Schmerzen kaum spüre. Um mich herum sitzen zumeist Erwachsene in Pfadfinderkluft, die dem Vortrag wie gebannt folgen. Manchmal bekreuzigt sich jemand. Nach einer Stunde ist der Vortrag endlich vorbei, es wird noch etwas gesungen und gebetet, dann werden wir in die Nacht entlassen.

Wie benommen laufe ich auf dem Heimweg hinter meiner Mutter her. In dieser Nacht werde ich, wie so oft nach den Predigten und Vorträgen von Pater Hönisch, lange wachliegen. Ich habe Angst, dass ich mich an diesem Tag auf irgendeine Weise versündigt haben könnte und dafür von Gott umgehend mit einer Krankheit oder gar mit dem Tod bestraft werde. Ich habe Angst, dass ich einschlafen könnte, bevor ich mein obligatorisches Abendgebet zu Ende gesprochen habe und somit dem Teufel Tür und Tor öffne. Und vor allem habe ich furchtbare Angst vor dem großen »Endkampf« zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Satan, der offenbar unmittelbar bevorsteht und den nur diejenigen überstehen, die ein völlig sündenfreies Leben geführt haben. Irgendwann nicke ich ein – und werde sofort von Albträumen gequält.

Geformt und rein

Im Jahre 1976 wurde die KPE von Pater Hönisch, einem ehemaligen Jesuiten, der kurze Zeit später aus diesem Orden ausgeschlossen wurde, und Günther Walter, einem Lehrer, gegründet. Dass in anderen Pfadfinderverbänden die Gruppen nun selbstverständlich von Jungen und Mädchen gemeinsam besucht wurden, war den Gründern ein besonderer Dorn im Auge und für sie ein klares Zeichen für den vermeintlich grassierenden Werteverfall. Die neu gegründete KPE verstand sich als besonders linientreues katholisches Bollwerk gegen die anderen »lau-katholischen« Pfadfinderverbände, gegen die durch die Kirchenreformen des Zweiten Vatikanischen Konzils vermeintlich aufgeweichte und verweltlichte katholische Kirche und gegen die sündige, heidnische und vom Satan umworbene Welt da draußen.2 Die KPE trat als äußerst lehramts- und papsttreu auf, verteidigte flammend die katholische Sexualmoral, positionierte sich deutlich gegen Abtreibung und Verhütung, pflegte eine Vorliebe für den alten Ritus, hatte viele Priester- und Ordensberufungen sowie Vorzeigefamilien mit vielen Kindern vorzuweisen, konnte bei Weltjugendtagen und Papstaudienzen mit streng uniformierten und enthusiastisch jubelnden Jugendlichen aufwarten und gewann so schnell einige finanzstarke Unterstützer, schützende Bischofshände3 und vor allem mächtige Freunde im Vatikan.

»Das Pfadfindertum ist eine Erziehungsmethode«4, heißt es bis heute im Grundsatzprogramm der KPE. Praktisch bedeutet das: Mit Elementen aus dem Pfadfindertum und der Verheißung von Abenteuer und Naturnähe versucht man Kinder und Jugendliche für sich zu gewinnen, um sie auf diese Weise so früh wie möglich an die Ideologie der KPE heranzuführen. So sollen sie dementsprechend »geformt« werden, wie im Grundsatzprogramm erläutert wird. In den Zeltlagern, bei den Kursen, den Exerzitien, den Wallfahrten und bei anderen Veranstaltungen der Organisation herrschte zu meiner Zeit eine Kombination aus militärischem Drill und strengen religiösen Verpflichtungen vor, wie z. B. diesem Tagesplan eines Gildenführerinnen-Kurses, den ich damals in mein Kursheft notiert habe, zu entnehmen ist:

Auch die Kleidung ist strikt geregelt und die Einhaltung der Kleiderordnung wird streng angemahnt.5 Mädchen und Frauen müssen auch auf Wanderungen und bei anderen sportlichen Aktivitäten zu allen Jahreszeiten Halstuch, Barett, Kniestrümpfe und dunkle, lange (!) Röcke tragen, die weit über die Knie reichen. Das Klufthemd der Mädchen und Frauen ist aus dickem Stoff und bewusst weit geschnitten. Wenn man vergisst, den obersten Knopf seiner Bluse zu schließen, wird man angehalten, diesen umgehend zuzuknöpfen, denn »sonst bekommst du eine Lungenentzündung«.

Master Mind und geistlicher »Guru« der KPE war bis zu seinem Tod im Jahr 2008 der aufgrund seines Charismas und seiner mitreißenden Rhetorik allseits hochverehrte Gründer ­Pater Hönisch, der in den 1990er Jahren in mehreren deutschen Diözesen Predigtverbot hatte.6 Wenn ich heute seine Texte von damals lese, dann wird mir klar, dass der KPE-Gründer seine eigene Stimme an die Stelle der Stimme Gottes setzte und seine eigenen ideologischen Überzeugungen als geradezu dogmatisch verkündete. So prägte und predigte er das aus meiner Sicht fundamentalistische KPE-Weltbild: Über allem throne ein strafender Gott, der die Menschen für ihre Sünden und den Abfall vom wahren Glauben mit Krankheit, Katastrophen oder gar dem Tod sanktioniere. Zum einen wird die Drohkulisse eines nahenden apokalyptischen Endkampfes zwischen Gut und Böse aufgebaut, zum anderen wurde als Antwort darauf ein einzig wahrer Weg, dem Strafgericht zu entkommen, aufgezeigt: ein völlig sündenfreies, Heiligkeit anstrebendes Leben, tägliche Messe, täglicher Rosenkranz und diverse andere Pflicht-Gebete, regelmäßige Beichte, extreme Marienverehrung sowie ein keusches Leben.

Generell herrschte zu meiner Zeit innerhalb des KPE-­Orbits ein starkes Schwarz-Weiß-Denken.7 Ich erinnere mich daran, dass die Welt außerhalb der KPE als böse, heidnisch, moralisch verkommen, übersexualisiert, vom Satan durchdrungen und somit dem Untergang geweiht – und die Welt innerhalb des KPE-­Orbits als rein, moralisch überlegen, rechtgläubig und heil dargestellt wurde. Von dieser bösen Außenwelt galt es sich abzusondern oder noch besser diese als Märtyrer wider den Zeitgeist aktiv zu bekämpfen.

»Das Pfadfindertum will einen gläubigen Menschen, einen Sohn der Kirche bilden«8, formulierten die Gründer 1976 ihr Ziel. Und so lerne ich die KPE als einen Ort kennen, in dem eine neue katholische, Heiligkeit anstrebende Elite geschaffen werden soll. Die erwachsenen Mitglieder sollten am besten entweder ein anderes KPE-Mitglied heiraten und so eine umfangreiche und linientreue Familie gründen, oder – noch besser – Priester oder Ordensmensch werden. So wurde in einem Rückblick zum 30. Jubiläum der KPE 2007 stolz verkündet: »›Gute Früchte – guter Baum‹: Ergebnisse der KPE nach 30 J. Bestehen in D mit etwa 2.500 Mitgliedern: 101 Pfadfinder-Ehepaare (2 Eheleute Pfadfinder), keine Scheidung, über 400 Kinder, 64 Priester/Patres und 91 Ordensfrauen!«9

Für die aus der KPE-Arbeit hervorgehenden Priester und Ordensleute gründete Pater Hönisch 1988 sogar einen eigenen Orden: die Servi Jesu et Mariae (SJM).

Die KPE und die SJM stießen innerhalb der katholischen Kirche sowohl auf Unterstützung als auch auf Kritik: Während Kardinal Meisner sich »sehr dankbar« für die Jugendpastoral der KPE zeigte, die seiner Meinung nach von »einer engen Verbundenheit mit Jesus Christus und einer treuen Liebe zur Gottesmutter«10 getragen sei und Kardinal Joseph Ratzinger kurz vor seiner Wahl zum Papst noch die Unterstützung der KPE empfahl und schrieb: »die Jugendarbeit der KPE ist im Ganzen durchaus positiv einzuschätzen und gibt vielen jungen Menschen eine solide Grundlage für ihren Weg im Leben«,11 bezeichneten kritische Stimmen die KPE als sektenartig: 2000 warnte die Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz: »Orden und Pfandfinderschaft tragen Merkmale einer Sekte.«12 2004 distanzierte sich die DBK erneut von der KPE13 und betonte, die KPE sei kein »offiziell anerkannter Jugendverband innerhalb der katholischen Kirche auf Bundesebene«14. Ende Januar 2022 wurde bekannt, dass die DBK die KPE nun offiziell als privaten kanonischen Verband anerkannt hat – doch dazu in Teil 2 mehr.

Vonseiten der KPE und der SJM gab es nachweislich enge Verbindungen zum Engelwerk (Opus Angelorum), das auf den Privatoffenbarungen von Gabriele Bitterlich beruht und mit einem toxischen und hochmanipulativen Konglomerat an Engeln, Dämonen und Höllenstrafen aufwartet: »Kern des Glaubens: Jeder Mensch hat einen Schutzengel und einen satanistischen Gegenspieler, wir leben in einer Zeit des apokalyptischen Kampfes zwischen Engeln und Dämonen. Durch regelmäßige Exorzismusgebete und Sühne sollen die Dämonen vertrieben werden.«15, fasste eine SPIEGEL-Recherche 2009 zusammen.

Das Engelwerk wird von vielen Seiten als sektenartige Gruppierung eingestuft.16 So betonte der Historiker Wolfgang Benz 2020, das Opus Angelorum trage »den Charakter einer Sekte, ist als Geheimbund strukturiert und wirkt im Spannungsfeld von Argwohn und Duldung, das ihr Verhältnis zu Rom charakterisiert.«17 In er katholischen Kirche stießen in der Vergangenheit v. a. die Sonderlehren auf Kritik: »Wegen der weder der Schrift noch der Tradition entspr. Engellehren u. daraus erwachsener Mißbräuche« wurden 1992 zumindest offiziell die »Verwendung u. Verbreitung der Sonderlehren über die Engel (einschließlich der entspr. Schriften), Engelweihen u. Fernspendung v. Sakramenten u. a. verboten«18, informiert das »Lexikon für Theologie und Kirche«. Der Orden von Heiligen Kreuz durfte jedoch weiter bestehen. 2008 wurden die erneuerten Engelwerks-Statuten von Papst Benedikt anerkannt.19

KPE-Gründer Pater Hönisch hatte in den 80er und 90er Jahren wiederholt das Engelwerk empfohlen20 und »nach eigenen Angaben viele Jugendliche, die Priester werden wollten, zum Engelwerk geschickt.«21 Zudem war einer der KPE-Lagerkuraten, die als geistliche Leiter die Zeltlager begleiteten, in den 1980er Jahren Donate im Kreuzorden.22 Andere prominente Engelwerkler durften in den KPE-Medien23 und auf KPE-Veranstaltungen24 für ihre Gruppierung werben und deren abstruse Weltsichten verbreiten.

Drastische Schilderungen von Höllenstrafen,25 ständiges Drohen mit dem Fegefeuer, ein auf Außenstehende völlig abstrus wirkendes Konglomerat an Engeln und Dämonen, ständige Aufforderung zum Beichten, Anpreisen von Ablässen und Propagieren des Schutzengelversprechens­ – die kritischen Stimmen und Berichte decken sich mit meinen negativen, ja traumatisierenden Erfahrungen mit der KPE und den Vertretern der SJM und ich bin der festen Überzeugung, dass Pater Hönisch mit der KPE eine hochproblematische bis gefährliche fundamentalistische und sektenartige Gruppierung gründete, in der ich massivem geistlichem Missbrauch ausgesetzt war. Ich kann also gar nicht genug davor warnen.

»Der Wölfling ist immer froh«

Ich bin nicht freiwillig in die KPE eingetreten. Ich bin in sie hineingeboren worden. Im Bauch meiner Mutter, die an unserem Ort Stammesleiterin war, nehme ich an meinem ersten KPE-Zeltlager teil, ich sauge die Reden und Gebete im wahrsten Sinne des Wortes mit der Muttermilch auf und werde schon als kleines Kind auf sämtliche Veranstaltungen, Versammlungen, Kurse, Wallfahrten, Gottesdienste usw. mitgeschleppt. Aber nicht nur ich, sondern auch meine Geschwister wachsen im Inner Circle dieser Gruppierung auf, weshalb für uns die KPE nicht nach den Gruppenstunden und Zeltlagern endet, sondern viele unserer Lebensbereiche durchdringt und kontaminiert. Nur mein Vater, der im liberalen und offenen Orbit der Würzburger Augustinerkirche aufgewachsen ist und der der KPE kritisch gegenübersteht, bildet ein kleines – aber leider nicht durchsetzungsstarkes – Gegengewicht. Er wird dennoch in mir einen der kleinen Samen pflanzen, aus denen mein heutiges Verständnis von Kirche und Glaube erwachsen ist.

Als ich pünktlich zu meinem befreienden Auszug von zu Hause meinen Mann kennenlerne und ihm zum ersten Mal Fotos aus meiner KPE-Kindheit zeige – ordentlich aufgereihte, fahnenschwenkende KPElerinnen bei einer Wallfahrt, ich als Kleinkind in Kluft gekleidet neben Pater Hönisch, Pfadfinderinnen andächtig vor einem SJM-Pater kniend –, lautet sein erster, entgeisterter Kommentar: »Das sieht aus wie eine Sekte!« Es ist das erste Mal, dass ich ihm zumindest in groben Zügen von der KPE berichte. Ich bemerke aber schnell, dass es unglaublich schwierig ist, jemandem Außenstehenden dieses hochproblematische Setting angemessen und verständlich zu schildern, und außerdem will ich zu diesem Zeitpunkt all das eigentlich nur noch vergessen.

Von mir wird berichtet, dass ich mein Umfeld schon als kleines Kind mit theologischen Fragen gelöchert habe, gerne in der Kinderbibel gelesen und mich mit Gott »unterhalten« habe. Aber meine zaghaften Herantastversuche an den Glauben und an Gott werden von den schon früh stattfindenden KPE-Indoktrinationen jäh unterbrochen – und Schritt für Schritt zerstört.

An die Stelle eines erahnten göttlichen Gegenübers, mit dem man in eine freundschaftliche Beziehung treten kann, tritt im Laufe meiner Kindheit ein herrschaftlicher, ferner und strafender Gott, zu dem man angstvoll aufschauen muss, der streng über die Einhaltung der Gebete wacht, der einen selbst bei kleineren Vergehen (oder vielleicht sogar aus Willkür) zumindest ins Fegefeuer, wenn nicht sogar in die Hölle schicken kann. Ein Gott, der ständig fordert und dem man doch nie genügen kann. An die Stelle der Bibelgeschichten von Jesus und seinen Jüngerinnen und Jünger treten apokalyptische Szenerien. An die Stelle eines kindlichen Herantastens an die eigene Spiritualität tritt ein erzwungenes und drillartiges Gemisch aus stundenlangen Gottesdiensten (oft im sogenannten tridentinischen Ritus auf Latein), ständigen Rosenkränzen, Gebetszwang und nächtlicher Anbetungen. Ich werde verlernen, wie Glaube jenseits dieser Indoktrination noch gelebt und wie Gott noch gedacht werden kann – und werde es zum Glück in dem Moment wiederentdecken, in dem ich es am dringendsten brauche.

Kurze Zeit nach dem eingangs geschilderten Abend mit Pater Hönisch werde ich sechs Jahre alt und darf nun endlich zu den Wölflingen, der Pfadfinderstufe für die Sechs- bis Zwölfjährigen, gehen. Jetzt bin ich nicht mehr nur Begleitung meiner Mutter, sondern darf allein in die Gruppenstunden gehen. Die Wöflingsmeuten sollen für die Kinder wie eine »glückliche Familie« sein, wie es in der Bundesordnung heißt.26 Mir gefallen die Spiele mit den anderen Mädchen, das Basteln und die kleinen Zeltlager. Was mir allerdings gar nicht gefällt, ist die Gebetspflicht und die wiederholten Vorträge über Maria, über Sünde, Fegefeuer und Hölle, über Heilige und Märtyrer und darüber, dass wir selbst eines Tages Heilige werden sollen. Einen kleinen Einblick in dieses, uns Kindern aufoktroyierte Gedankengut bildet dieser Ausschnitt aus der Kinderseite der KPE-Zeitung Die Spur aus dem Jahr 1994:

Lieber Wölfling,

Gott hat uns dem Herzen Mariens anvertraut, damit sie sich in mütterlicher Sorge um uns müht und wir, von ihrer Liebe angezogen, lernen, auf sie zu schauen. (…) In Maria hat uns Gott zugleich das beste Vorbild und die beste Hilfe gegeben. Denn da Maria ohne Fehl und Makel ist, können wir nichts falsch machen, wenn wir ihr nacheifern. (…) Hinzukommt, dass sie unsere größte und mächtigste Fürsprecherin bei Gott ist. Du siehst also, dass es sich lohnt, auf Maria zu schauen und dass wir eigentlich nichts Besseres tun können, als sie zu unserem Vorbild zu nehmen. Wenn wir Maria wirklich nacheifern wollen, um Gott möglichst vollkommen zu lieben, um eine Heilige oder ein Heiliger zu werden, um Gott zu helfen, viele Seelen für den Himmel zu retten, dann müssen wir uns eifrig bemühen, uns zum Besseren zu ändern. Denn nur so können wir ihr ähnlich werden.27

Wenn ich diesen Text heute lese, halte ich ihn nicht nur für aus theologischer Sicht äußerst fragwürdig, sondern schlichtweg für geistlichen Missbrauch an Kindern. Besonders verheerend finde ich dabei das unerreichbare Ideal eines verzerrten Marienbildes und den damit einhergehenden Druck, ihr und den anderen Heiligen gleich werden zu müssen, wodurch das permanente Gefühl des Scheiterns und der eigenen Schuld schon vorprogrammiert ist.

Natürlich bin ich auch als Wölfling bei diversen Gelegenheiten den stundenlangen, donnernden Predigten und Vorträgen von Pater Hönisch ausgesetzt, die sich immer und immer wieder um Hölle, Sünde, eine drohende Apokalypse, die moralisch verkommene Welt und – nicht zu vergessen – um möglichst blutige und drastische Legenden von Heiligen drehen und denen Jung und Alt gebannt folgen. Ich beobachte sogar KPElerinnen, die während seiner Predigten ehrfurchtsvoll niederknien. Warum also sollte ich diesen Reden von Pater Hönisch, die mich regelmäßig in Angst und Schrecken versetzen und mich um den Schlaf bringen, nicht Glauben schenken? Scheint er doch besonders gut über den Willen Gottes Bescheid zu wissen und viele um mich herum verehren ihn wie einen lebenden Heiligen. Er muss wohl recht haben. Statt mich zu ängstigen, sollte ich lieber »immer froh«28 sein, wie es Wölflingen von der Bundesverordnung aufgetragen wird.

So dominiert und durchdringt eine Theologie, die ich heute als zutiefst toxisch betrachte, über Jahre hinweg meine Erfahrungen, die ich mit Gott, Glaube, Gewissen, Gut und Böse mache. Bis zu einem Moment, der sich mir bis heute ins Bewusstsein eingebrannt hat, in dem ich das erste Mal zu zweifeln beginne, in dem ich ein Gefühl kennenlerne, das in den nächsten Jahren stärker werden und sich schließlich bestätigen soll: Hier stimmt etwas nicht!

Ich bin acht Jahre alt. Wieder ist Pater Hönisch zu Besuch in unserem Stamm und wieder hält er uns einen seiner stundenlangen feurigen Vorträge. Ich erinnere mich noch gut daran, wie er am Ende seiner Rede auf das »Heilige Haus von Loreto« zu sprechen kam. Mit drastischen Worten schilderte er, wie die feindlichen Muslime im 13. Jahrhundert Jerusalem einnahmen und wie mitten im Schlachtgetümmel eine Schar Engel angeflogen kam und das Geburtshaus der Heiligen Maria nach Europa trug und es so vor den gegnerischen Truppen rettete. Er betonte, dass es sich genau so zugetragen habe und dass er es genau vor sich sehe, wie die Engel das Haus in ihre Hände nahmen, anhoben und durch die Luft nach Italien beförderten.

Ich sitze da, lausche den Worten von Pater Hönisch und in mir regt sich Widerstand: »Nein! Das glaube ich einfach nicht! Das kann ich nicht glauben!«, aber meine Sitznachbarinnen sitzen staunend da und nicken begeistert. Es ist das erste Mal, dass ich ihn wahrnehme, meinen inneren Kompass. Dieser Kompass wird für mich von da an Segen und Rettung, aber auch ein wenig Fluch sein. Er wird dafür sorgen, dass ich schon früh beginne, die mir aufoktroyierten Denkmuster zu hinterfragen und schließlich sogar aus Überzeugung abzulehnen, und er bewahrt mich so vor einem ideologischen Eingefangenwerden. Gleichzeitig bringt er mich über die Jahre zunehmend in heftige Konflikte mit den KPE-Leiterinnen und -Leitern und auch mit meiner Mutter, die meine Kritik und Ablehnung der Gruppenstunden mit meiner »glücklichen Familie«, der Wölflingsmeute, nicht gelten lässt. Erst als ältere Pfadfinderin werde ich feststellen, dass auch einige andere KPElerinnen den Indoktrinationen und dem religiösen Drill durchaus kritisch gegenüberstehen.

Besonders verheerend wirkt sich für mich aber die Tatsache aus, dass ich – insbesondere auch durch die späteren Erlebnisse mit Pater Dietmar – zwar oft das Gefühl habe, dass hier etwas falsch läuft, mir aber vonseiten der KPE-Oberen ständig suggeriert wird, all das sei völlig normal – oder mehr noch: das einzig Wahre und Gute –, und so musste wohl etwas mit meiner Wahrnehmung nicht stimmen. All das unterminiert auf die Dauer massiv mein Selbstvertrauen. Und wenn es überhaupt etwas in meinem Aufarbeitungsprozess gibt, das mir heute so etwas wie Genugtuung verschafft, dann die Erkenntnis und die Bestätigung, dass mein innerer Kompass richtig lag, dass meine Wahrnehmung mich nicht getrogen hat, dass hier etwas gehörig falsch lief.

»Die Pfadfinderin ist rein in Gedanken, Worten und Werken«

Als Elfjährige trete ich zu den Pfadfinderinnen über. Zu meinen Gesetzen zählen jetzt »Die Pfadfinderin ist rein in Gedanken, Worten und Werken« und »Die Pfadfinderin beherrscht sich, sie lacht und singt in Schwierigkeiten.«29